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Neue geistreiche Kolumnen von Deutschlands spitzester Zunge: Harald Martenstein
Harald Martenstein schreibt seit vielen Jahren eine nach ihm benannte Kolumne in der
ZEIT. Er gehört zu den meistgelesenen Autoren Deutschlands und laut
Cicero zu den einflußreichsten deutschen Intellektuellen. Auch in seinen neuen Texten spart er kaum ein umstrittenes Thema aus, ob es nun »Cancel Culture« heißt, ob es um die Machtfülle der Virologen geht oder um gendergerechte Mathematik. Daneben macht er immer wieder seinen Alltag zum Thema, etwa den Kampf gegen das Altern und eine Eichhörncheninvasion in der Wohnung. Martenstein provoziert und eckt an, ist dabei aber immer überraschend, oft sehr komisch und manchmal anrührend. Dieser Kolumnist schreibt die Chronik seines Landes, seiner Generation und seiner Irrtümer.
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Seitenzahl: 182
Zum Buch:
Harald Martenstein schreibt seit vielen Jahren eine nach ihm benannte Kolumne in der ZEIT. Er gehört zu den meistgelesenen Autoren Deutschlands und laut Cicero zu den einflussreichsten deutschen Intellektuellen. Auch in seinen neuen Texten spart er kaum ein umstrittenes Thema aus, ob es nun »Cancel Culture« heißt, ob es um die Machtfülle der Virologen geht oder um gendergerechte Mathematik. Daneben macht er immer wieder seinen Alltag zum Thema, etwa den Kampf gegen das Altern und eine Eichhörncheninvasion in der Wohnung. Martenstein provoziert und eckt an, ist dabei aber immer überraschend, oft sehr komisch und manchmal anrührend. Dieser Kolumnist schreibt die Chronik seines Landes, seiner Generation und seiner Irrtümer.
Zum Autor:
Harald Martenstein, 1953 geboren in Mainz, ist Autor zahlreicher Sachbücher und Romane. Er wurde unter anderem mit dem Henri-Nannen-Preis, dem Egon-Erwin-Kisch-Preis und dem Theodor-Wolff-Preis ausgezeichnet und unterrichtet an Journalistenschulen in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Bei C. Bertelsmann erschien zuletzt der Kolumnenband Jeder lügt so gut er kann. Martenstein lebt in Berlin und in der Uckermark.
Harald Martenstein
Alles im Griff auf dem sinkenden Schiff
Optimistische Kolumnen
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Copyright © 2022 by C. Bertelsmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: www.buerosued.de, München
Umschlagmotiv: Benjamin Zibner
Lektorat: Rainer Wieland
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-27986-8V001
www.cbertelsmann.de
Gebrauchsanweisung
Schreiben
Das Hochbett
Ordnung halten
Greta oder Kafka
Optimismus
Die Klassenfrage
Marie Bäumer
Mitte des Restes des Lebens
Jan Böhmermann
Überlegungen eines Politikers nach der Wahl
Milch, die man rauchen kann
Warum Sex?
Smalltalk
Nur der Mann im Mond schaut zu
Ein Junge
Die Erbschaft
Rettet das Krümelmonster
Erziehungsberatung
Indianer
Chancengleichheit
Geschäftsmodell Tugend
Männer
Ärzte
Väter
Der Relotius in uns
Neid
Bücherverbrennung
Dummheit
Feindliche Übernahme
Entschuldigungen
Pronomenrunden
Alle Macht der Pussy!
Lob des Kolonialismus
Lob des Fliesenlegers
Gerechte Mathematik
Gute Wörter, böse Wörter
Von Menschen und Möhren
Auch Kiel wird gerechter
Sensitivity Reading
Duldsamkeit
Blutiger Sonntag
Corona-Nächte
Covidioten
Stehblues
Labeln
Drosten oder Kekulé
Prinzipien
Ein Hühnchen rupfen
Interview
Helmut Kohl und die Fische
Katzenmusik
Lob des Leonbergers
Der Eichhörnchen-Shitstorm
Lenny
F***
Key West
Christ sein
Triage
Kontaktschuld
Zombies
Angriff der Weltraumechsen
Die Weihnachtsgans
Die Weihnachtsfrau
Wiederholungen
Es reicht!
Vermischtes
Ende gut, alles gut
Dank
Was sind Kolumnen? Kleine Texte, entstanden im Niemandsland zwischen Literatur und Journalismus. Sie sind subjektiv und erheben keinen Anspruch auf ewige Wahrheit. Vielleicht haben sie einen gewissen Unterhaltungswert. Vielleicht zeigen sie dem einen oder der anderen, dass sie mit ihren Gedanken, ihrem Ärger oder ihren Zweifeln nicht allein sind auf der Welt. Vielleicht gestatten sie nur den Blick in das Hirn einer verwirrten Person, auch das kann interessant sein.
Ich bin zu dieser Textgattung gekommen, weil ich gerne Geschichten erzähle oder im Kopf Pirouetten drehe. Im Journalismus wird man dann bald zum Glossenautor, von der Glosse zur Kolumne ist es kein allzu großer Schritt. Diese Kolumnen ergeben in ihrer Summe eine Art Lebenschronik, begonnen mit Ende vierzig, das Ende werden andere Mächte bestimmen. Jede Woche schreibe ich über das, was passiert, was mich bewegt, freut oder aufregt, worüber ich nachdenke. Dabei versuche ich, ehrlich zu sein, auch meine Schattenseiten nicht zu verschweigen und keine Angst davor zu haben, mich bei wichtigen Leuten und manchen Kolleg*innen unbeliebt zu machen. Nicht immer schaffe ich das.
Ich bin, vermute ich, einigermaßen typisch für meine Generation, mein Geschlecht, meine Herkunft. Meine Themen haben sich geändert, das Alter und die Wehwehchen werden allmählich wichtiger, auch die Politik ist wichtiger geworden. Dass die Gesellschaft auseinanderdriftet in verfeindete Lager, spüren fast alle. Es gibt Themen, bei denen Widerspruch in beiden Lagern nicht gern gehört wird, das war wohl immer so. Heute aber werden Andersdenkende oft in einer Weise diffamiert und ausgegrenzt, die neu für mich ist. Noch in den Siebzigerjahren saßen Menschen, die unser System ablehnten und etwas ganz anderes wollten, in Talkshows und wurden, wie etwa Rudi Dutschke, im öffentlich-rechtlichen Fernsehen lange und mit Erkenntnisinteresse interviewt. Das war gut. Es ist vorbei.
Mein Kompass ist der Glaube daran, dass wir alle frei und mit gleichen Rechten geboren wurden, auch mit dem gleichen Recht, »nein« zu sagen. Das gilt für alle und für fast alles, die Grenzen bestimmen Gesetze, nicht irgendein wütender Mob. Diese Idee halte ich für vernünftig, weil sie im Interesse aller liegt. Wer zum Beispiel hinnimmt, dass nicht Gesetze und Gerichte über die Grenzen unserer Freiheit bestimmen, sondern Shitstürme, kann schon bald, bei anderer Gelegenheit, selber das nächste Opfer sein. Ich bin trotzdem optimistisch, weil die Vernunft eine starke Kraft ist. Vieles von dem, was auf den nächsten Seiten als Thema auftaucht – lassen Sie sich überraschen –, ist so offenkundig vernunftwidrig, dass es unmöglich das letzte Wort der Geschichte sein kann.
Auch Corona taucht natürlich auf, aber ich habe nicht viele Corona-Kolumnen in dieses Buch aufgenommen. Die Dinge sind im Fluss, Corona-Kolumnen veralten schnell. Die Texte dieses Buches sind, mit einer Ausnahme, zwischen dem Sommer 2018 und dem Sommer 2021 entstanden. Die meisten standen zuerst in der Wochenzeitung DIEZEIT, einige im Berliner Tagesspiegel. Manche davon habe ich leicht überarbeitet oder leicht gekürzt, dort, wo mir etwas überholt erschien, zu weitschweifig vorkam oder ich selbst inzwischen ein wenig anders denke als damals. Ewige Wahrheiten sind nicht so mein Ding, wie gesagt.
Fast alles, was man über Politik wissen muss, steht meiner Ansicht nach bei George Orwell, dem Autor von 1984 und Farm der Tiere. Vor Jahren habe ich ein kurzes Orwell-Zitat über das Schreiben gefunden, es stammt aus seinem Essay Politik und die englische Sprache. Von Zeit zu Zeit lese ich diese Bauanleitung für Texte, bevor ich mein Tagwerk beginne. Hier ist sie:
»Benutze niemals eine Metapher, einen Vergleich oder eine Redewendung, die man oft gedruckt sieht. Benutze niemals ein langes Wort, wo es auch ein kurzes tut. Wenn ein Wort gestrichen werden kann, dann streiche es. Benutze niemals das Passiv, wo auch das Aktiv geht. Benutze niemals ein Fremdwort, ein Fachwort oder einen Jargon-Ausdruck, wo ein umgangssprachlicher Ausdruck passt.« Am besten gefällt mir der Schlusssatz, mit dem Orwell sein Dogmengebäude sofort wieder einreißt: »Brich jede dieser Regeln, bevor du etwas völlig Schreckliches schreibst.« Das Wort »schrecklich« heißt im Original barbarious.
Selbst Orwell schafft es nicht oder will es nicht schaffen, auf diesen paar Zeilen seine Regeln einzuhalten. Wenn ein Wort gestrichen werden kann, dann streiche es? Das »dann« könnte bei Orwell ohne Weiteres gestrichen werden. Dies gilt auch für das englische Original, wo es heißt »always cut it«, ohne always versteht man es auch. Pittoreske Fremdwörter oder abgefuckte Jargon-Ausdrücke können außerdem überraschend wirken oder dem Text Farbe geben.
Man muss es machen wie beim Würzen, nach Gefühl.
Schreiben ist mein Lebensinhalt. Natürlich gibt es auch andere Dinge, die mir wichtig sind. Wenn jemand mich fragen würde, wen oder was ich als Letztes verlieren wollte, wenn mir nach und nach alles genommen wird, würde ich sicher nicht »Schreiben« antworten. Aber der Drang zu schreiben ist etwas, das mich von anderen unterscheidet, meine übrigen Vorlieben sind ziemlich gewöhnlich.
Trotzdem muss ich immer einen inneren Widerstand überwinden, bevor ich mit dem Schreiben anfange. Es hat nur Sinn, wenn man bereit ist, sich angreifbar zu machen, das heißt, ehrlich ist und Phrasen vermeidet. Nachdem ich fertig bin, sehe ich mich beim Wiederlesen wie im Spiegel und erschrecke darüber, wie oft ich missverständlich formuliere oder Fehler mache. Etwas Perfektes habe ich leider nie zustande gebracht. Einen sehr schlechten Autor erkennt man meistens daran, dass er sich für sehr gut hält.
Ich schreibe über das Schreiben, weil ich Angst davor habe, dass es mir eines Tages entgleitet. Heute habe ich die letzten drei, vier Mails meiner Mutter an mich noch einmal gelesen, Sätze, die im Nirgendwo enden, Wörter, die nur noch ein Schrottplatz für Buchstaben sind. Dazwischen manchmal Klares, auch den »Senden«-Button erkannte sie noch. Ich wusste, wie es um sie steht, sie muss es auch gewusst haben. Sie wollte es nicht aussprechen, wie so viele. Sie dachte wohl, sie könne es vertuschen oder es gehe wieder weg. Alle, deren Eltern dement geworden sind, leben mit der Wahrscheinlichkeit, dass es sie auch erwischt. Vor dem Tod habe ich weniger Angst als vor diesem Zustand, dem Ausgeliefertsein, gegen den Tod kannst du eh nichts machen. Wenn ich eines Morgens nach dem Aufstehen meine Brille suche und ich finde sie im Kühlschrank, in der Butter steckend – was für ein Stoff für eine selbstironische Kolumne wäre das! Aber ich werde es vermutlich vertuschen und denken, dass es wieder weggeht. Die Idee des ewigen Kreislaufs steht ja auch bei Orwell im Mittelpunkt, die Opfer von gestern sind die Täter von morgen, so, wie die Schlaumeier von heute die Dementen von morgen sind.
Eine typische Begleiterscheinung des Älterwerdens besteht darin, dass man selber häufig der Letzte ist, der es bemerkt. Für meine Umwelt mag ich ein älterer Herr mit einem etwas unpassenden Haarschnitt sein, aber für mich selbst bin ich im Großen und Ganzen immer noch der Mensch, der ich vor dreißig Jahren gewesen bin. Dieser Mensch, der in mir wohnt und einfach nicht ausziehen möchte, hat sich jetzt ein Hochbett zugelegt.
Als Student habe ich die Mitstudierenden beneidet, die ein Hochbett besaßen. Ich fand das cool und enorm platzsparend. Aber ich bin damals oft umgezogen. Das Hochbett hätte ich bei diesen Umzügen schwerlich mitnehmen können. Ich hätte jedes Mal ein neues Hochbett anschaffen müssen. Ein bisschen geizig bin ich ja auch.
Nun hat mein kleiner Sohn ein Hochbett, und als ich ihm dort zum ersten Mal eine Gutenachtgeschichte erzählt habe, stand der Entschluss fest. Andere alte Knacker schaffen sich ein Motorrad an, wenn bei ihnen der Lack ab ist. Ein Hochbett ist jedenfalls ungefährlicher. Und nicht jeder sieht es.
Der Bettenbauer hat mir vorsichtig geraten, keine Leiter zu nehmen, sondern eine richtige Treppe mit Handlauf. Auf diese Weise bestehe eine Chance, wenn auch eine kleine, dass ich auch noch in zehn Jahren jederzeit zu Bett gehen kann, wenn ich müde bin. Mein neues Hochbett ist eine strahlend weiße Luxusversion, extrabreit, mit Bücherregal und Strahlern, die sich dimmen lassen, eigentlich sieht es wie eine Jacht aus.
Es hat mehrere Wochen gedauert, bis ich bereit war, mir einzugestehen, dass es mühsam ist, auf das Bett hinaufzukommen. Die Treppe musste nämlich relativ steil ausfallen, damit sie nicht das gesamte Zimmer ausfüllt. Nun liege ich nachts oft wach und überlege, ob ich wirklich so dringend auf die Toilette muss, wie es mir scheint, oder ob sich dieser Gang nicht bis zum Morgen aufschieben lässt.
Es ist auch sehr warm da oben. Im Grunde sollte man sich, wenn man ein Hochbett kauft, gleichzeitig eine Klimaanlage anschaffen. Von da oben habe ich auch freien Blick auf mein Bücherregal. Mein letzter Gedanke vor dem Einschlafen ist jetzt immer: Auf dem Bücherregal müsste dringend mal Staub gewischt werden. Meine Gattin, die meist schon vor dem Morgengrauen aufsteht, brachte mir früher auf die denkbar liebenswürdigste Weise eine Tasse Kaffee ans Bett. Nun höre ich immer öfter den Satz: »Der Kaffee steht unten.« Aber heimelig und cool ist das Hochbett zweifellos.
Kürzlich war in unserem Viertel ein Flohmarkt. An einem Stand wurden CDs angeboten, fünf Stück für zwei Euro. Ein Paar, schätzungsweise um die vierzig, verkaufte. Sie hatten jede Menge CDs von Ry Cooder. Der Gitarrist und Sänger Ry Cooder bedeutet für mich etwa das, was Greta Thunberg für Robert Habeck bedeutet. Ich sagte: »Ry Cooder, wie toll, ihr seid wohl auch Fans.« Die Frau sagte: »Nee, nicht so, die sind von meinem Vater.« Mir fiel ein, was auf den Flohmärkten verscherbelt wurde, als ich vierzig war, das waren Platten von Zarah Leander und Hans Albers.
In der Pubertät wollen viele unbedingt älter wirken, um so richtig dazuzugehören. Und irgendwann ist es dann genau umgekehrt. Man macht sich im Leben meistens zweimal lächerlich, dachte ich, als ich mühsam auf mein luxuriöses Hochbett kletterte.
Ich möchte kurz meine Umgebung beschreiben, dies ist eine home story. Im Moment sitze ich in meiner Küche. Als Kind habe ich in der Küche meiner Oma Hausaufgaben gemacht. Seitdem bin ich von dem Glauben besessen, dass ich nur in Küchen gut arbeiten kann. In jeder Wohnung, die ich allein bewohnte, habe ich sofort den Küchentisch zum Arbeitsplatz gemacht. Zum Essen bin ich in der Wohnung irgendwo anders hingegangen, ich habe sogar schon in der Badewanne gegessen. Beim Zusammenleben kann meine Küchenfixierung zu Problemen führen, die Küche gehört ja irgendwie allen Bewohnern.
Als wir eine Wohnung kauften, habe ich eine zweite Küche einbauen lassen. Es gibt keinen Bedarf für eine zweite Küche. Dort wurde folglich noch nie gekocht oder auch nur ein Brot geschmiert. Die zweite Küche ist trotzdem keine Attrappe, sonst würde der Zauber nicht funktionieren. Es gibt dort alles, Besteck, Herd, Kühlschrank, Töpfe, Vorratskammer, sogar Topflappen. Jamie Oliver könnte sofort loslegen.
Auf dem Tisch liegen Papierstapel. Um ehrlich zu sein, der Tisch ist komplett von Stapeln mit Dokumenten, Briefen, Ausdrucken und ausgerissenen Zeitungsartikeln bedeckt, nein, Moment, da sehe ich auch Stapel mit Büchern und sogar einen mit CDs, keine Ahnung, wieso. Auf dem Boden befinden sich weitere Stapel. Jeder Stapel steht für ein Projekt, eine Idee oder einen Vorgang, für Sachen, die ich erledigen muss. Es herrscht also Ordnung, in gewisser Weise. Meistens schaue ich mir einen Stapel nie wieder an, nachdem ich ihn angelegt habe. Aber ich lege gewissenhaft jedes neue Dokument oben auf den richtigen Stapel, dabei irre ich mich fast nie. Und wenn es wirklich mal dringend wird, habe ich sofort alles griffbereit. Es wird selten dringend, aber es kommt schon mal vor.
Wie jeder weiß, erledigen sich die meisten Dinge von selbst. Ich kann also relativ oft einen dieser Stapel komplett und ungesehen wegwerfen. Dieses System funktioniert seit vielen Jahren, genau gesagt, seit ich in der Küche meiner Oma keine Hausaufgaben mehr mache. Meine Oma hat meine Stapel abends eingesammelt, einen einzigen Großstapel oder Nachtstapel gebildet und zwischen die Unterstapel Kaffeelöffel gelegt, damit ich mich zurechtfinde. Manchmal frage ich mich, wieso ich seit vielen Jahren einem Beruf nachgehe, ohne sozial auffällig zu werden.
Ich war begeistert, als ich ein Buch über effektives Arbeiten in die Finger bekam, es stammt von dem Philosophen John Perry. Er schreibt, dass es zwei Sorten Menschen gibt, die horizontal organisierten, zu denen Perry und ich gehören, und die vertikal organisierten. Die Vertikalen legen Ordner an, heute meist auf dem Computer. Sie ersticken nach einer Weile in Ordnern, in die sie aber genauso selten hineinschauen wie ich in meine Stapel. Ihre Schränke sind voll, von Zeit zu Zeit kaufen sie größere, ihr Schreibtisch aber ist fast leer. Deshalb glauben sie, alles im Griff zu haben. Großer Irrtum! Die Vertikalen gehen morgens ins Büro, lassen den Blick über die Leere schweifen und denken: »Es gibt nichts zu tun, eigentlich könnte ich faulenzen.«
Auf diese Idee komme ich nie. Denn wir Horizontalen haben immer den totalen Überblick, was unser Pensum betrifft. Wenn Küchenboden und Tisch komplett von Papier bedeckt sind und sogar die Vorratskammer, weiß ich, dass etwas passieren muss. Dann erledige ich tatsächlich zwei oder drei Stapel und werfe drei andere weg. Niemals habe ich etwas aus den weggeworfenen Stapeln vermisst.
Ich saß mit einem alten Freund beim Wein. »Kann doch auch sein«, sagte er, »dass wir einfach nur zu alt sind. Vielleicht kapieren wir deshalb manche Sachen nicht mehr, die in der Gesellschaft vor sich gehen. Nimm nur den Greta-Wahnsinn.«
Es sei doch immer so gewesen, fuhr er fort, dass Menschen unseres Alters die Gegenwart und die Jugend skeptisch beurteilten. Seit der Antike schon! Man müsse nur daran denken, wie es war, als wir zwanzig, dreißig gewesen sind – irgendwie genauso. Die meisten Alten waren entsetzt darüber, wie wir dachten. Und das, begreife er heute, sei ja auch ihr gutes Recht gewesen. Der Unterschied zu damals sei natürlich, dass »Alter« heute negativ besetzt ist, weil Erfahrung nicht mehr zählt und so weiter. »Das macht einen dann schon wütend«, sagte er. »Alle kriegen heute Respekt, bloß wir nicht mehr. Das soll jetzt aber nicht weinerlich klingen.«
»Das Niveau ist heute ja auch ganz anders«, sagte ich. »Ob die Idole einer Generation Camus, Kant und Kafka heißen oder Joko Winterscheidt und Greta Thunberg, das ist schon ein Unterschied. Auch zwischen den theoretischen Schriften von Lenin und den Interviews von Robert Habeck ist ein Gefälle erkennbar, bei aller Kritik an Lenin.«
»Deine Vergleiche sind unfair«, sagte der Freund. »Unsere Greta Thunberg war doch nicht Kafka. Das war Nicole mit dem Song Ein bisschen Frieden. Es ist ja dann auch tatsächlich jahrelang kein großer Krieg ausgebrochen, nach dem Lied von Nicole. Wir haben aufs richtige Pferd gesetzt.«
»Die Entwertung des Alters hat mit der Popkultur zu tun«, sagte ich. »Die Popkultur mit ihrem Jugendkult war ein Werk von Menschen unserer Generation und der Generation vor uns. Wir haben’s uns selbst eingebrockt. Bizarr ist, dass ausgerechnet die alten Stars, die Stones, Rod Stewart, Elton John, sich heute generationsübergreifenden Respekts erfreuen. Man dachte früher, die dürfen nicht alt werden. Nein, die dürfen es. Man müsste Klavier spielen können.«
Interessanterweise, stellten wir übereinstimmend fest, seien heute tendenziell eher die Alten rebellisch als die Jungen. Es hat sich umgekehrt. Wobei man sich natürlich erst mal über die Definition des Wortes »rebellisch« einigen muss. Manche halten ja Greta für rebellisch. Aber jemand, der vom medialen Mainstream bejubelt wird und vor den Vereinten Nationen spricht, kann unmöglich rebellisch sein. Echte Rebellen werden vom Mainstream erst mal gehasst, das steht fest.
Der Freund sagte: »Unsere Generation ist zweimal rebellisch gewesen, erst als junge und jetzt wieder. Eigentlich toll. Neu ist, dass es mit Twitter und Shitstürmen eine Art geistige Massenvernichtungswaffe gibt, um Leute einzuschüchtern. Es gibt diese Angst, als Person fertiggemacht zu werden, die eindeutig neu ist. Wenn man alt ist und seine Schäfchen im Trockenen hat, ist man dafür weniger anfällig. Auch gut.«
Vor der Lektüre von Artikeln schaue er sich neuerdings immer die Fotos an. Aus dem Foto der Person, um die es geht, lasse sich sofort die Tendenz des Textes erkennen. »Wenn sie jemanden runtermachen wollen, suchen sie ein unvorteilhaftes Foto aus. Dann weißt du, was im Text steht, und kannst weiterblättern.«
Ich sagte: »Radikale Bewegungen sind immer Jugendbewegungen. Nimm die Nazis, die Bolschewiken, den Islamischen Staat, es stimmt immer.«
»Und? Was soll das heißen?«
»Wir sind die, die auf der Bremse stehen. Wir sind die Klügeren, und wir bremsen auch für Dumme. Wozu hat man jahrzehntelang Kafka gelesen?« Es wurde Zeit für einen weiteren Wein.
Was die Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse betrifft, versprechen sich meiner Erfahrung nach die meisten arbeitenden Menschen in Deutschland mehr von ihrem Steuerberater als von der SPD. Auch ich gehöre zu denen, deren Zukunftshoffnungen, soweit vorhanden, eher von der Wissenschaft genährt werden als von der Politik. Wenn Sie mich fragen, welcher Intellektuelle am meisten für die Menschheit getan hat, lautet meine Antwort: Alexander Fleming, Entdecker des Penicillins. Kürzlich wurde in Israel aus menschlichem Gewebe von einem 3-D-Drucker ein funktionierendes Herz hergestellt. Es war klein, aber das ist ja erst der Anfang. In nicht allzu ferner Zukunft können wir uns also, wenn ein Organ versagt, aus ein paar Zellen ein Ersatzorgan züchten lassen, das wird ausgedruckt, wahrscheinlich in Israel, fertig. Die Organspenderausweise, über die wir in Deutschland so ausführlich diskutieren, können dann ins Altpapier. Dies würde unter anderem bedeuten, dass israelische Wissenschaftler zur Rettung arabischer Menschen mehr bewirkt hätten als sämtliche arabischen Politiker zusammengenommen.
Politik wird überbewertet, so könnte man es vielleicht ausdrücken, und wer an der Gegenwart verzweifelt, sollte einfach öfter die Nachrichten im Wissenschaftsteil der Zeitung studieren. Über bahnbrechende Erfindungen aus Deutschland steht da natürlich seit längerer Zeit relativ selten etwas. Wir in Deutschland haben zum Beispiel ein Gerät zur Kontrolle der Lkw-Maut mithilfe von Infrarot erfunden. Ich nehme an, dass sie in Israel längst an einem Gerät forschen, welches die Waren an einen 3-D-Drucker am Zielort beamt und Lastwagen überflüssig macht.
Natürlich habe ich mit Interesse ein Bild-Interview mit dem Zukunftsforscher Sven Gábor Jánszky gelesen, die Zukunft der Medizin betreffend. Jánszky hat sich einen Chip unter die Haut pflanzen lassen, der angeblich automatisch die Haustür öffnen kann, solche Chips könnten demnächst auch Krankheiten im Frühstadium erkennen. Er hält es sogar für möglich, dass die Neugeborenen von heute unsterblich sein könnten. Sie leben zwar nicht ewig, trotz aller Ersatzorgane, aber um 2100 herum werde es wahrscheinlich möglich sein, das Bewusstsein einer Person im Computer zu speichern, Erinnerungen, Wissen, Denken, alles. Man kann dann allerdings nicht mehr viel machen, als Chip, möglicherweise kann man Game of Thrones schauen oder Rammstein hören. Die Nachfahren werden vielleicht eine Art Schrein haben und besuchen von Zeit zu Zeit für einen kleinen Plausch ihre Ahnen, die in Deutschland unermüdlich Datenschutz für ihr Gehirn fordern und vor der Profitgier der Chiphersteller warnen.
Es kann natürlich auch sein, dass die Computer die Macht an sich reißen, ich sehe das eher positiv. Computer sind ideologiefrei, damit fallen schon mal viele Menschheitsgeißeln weg. Ein bisschen Ethik können sie den Computern vielleicht auch einprogrammieren, mit Gottes Hilfe wird dies gelingen. Die Computer brauchen uns außerdem, höchstwahrscheinlich, für manuelle Wartungsarbeiten. Insofern haben sie ein Interesse daran, dass wir keine Dummheiten machen, ein Atomkrieg, die Ökokatastrophe oder eine Hungersnot sind nicht in ihrem Interesse.
Der Gedanke, dass ich weiterlebe, als Erinnerung in den gespeicherten Hirnen meiner Kinder oder sogar des einen oder anderen Lesers, ist mir jedenfalls angenehm. Damit diese Utopie Realität wird, hoffe ich, dass die deutsche Politik sich weiterhin ausgiebig mit Nebensachen beschäftigt und die Forscher in Ruhe lässt.