Heimweg - Harald Martenstein - E-Book

Heimweg E-Book

Harald Martenstein

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Beschreibung

Ein ungewöhnlicher Blick auf die Kinderjahre der Republik, ein berührender Heimkehrer-Roman

Als Joseph aus russischer Kriegsgefangenschaft zurückkommt, ist er trotz Lungendurchschuss topfit verglichen mit dem, was sonst noch aus dem Zug steigt. Dass er von seiner Frau Katharina, der schönen Tänzerin vom Rhein, nicht abgeholt wird, überrascht ihn kaum. Er ist Realist. Aber das Eifersuchtsdrama, in das er hineingerät, verblüfft ihn doch gehörig ...

Mit unterkühlter Ironie schafft Martenstein die Balance zwischen Trauer, Melancholie und Komik. »Heimweg« ist ein großartiger Roman über die Geister der Vergangenheit und die falschen Versprechungen der Zukunft.

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Seitenzahl: 286

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HARALD MARTENSTEIN, geboren 1953, ist Autor der Kolumne »Martenstein« im ZEITmagazin und Redakteur beim Tagesspiegel. 2004 erhielt er den Egon-Erwin-Kisch-Preis, 2010 bekam er den Curt-Goetz-Ring verliehen. Seine Kolumnenbände waren allesamt Best- und Longseller.

»Heimweg ist eines der interessantesten literarischen Debüts dieses Jahres.« FAZ

Außerdem von Harald Martenstein lieferbar:

Der Titel ist die halbe Miete. Mehrere Versuche über die Welt von heute

Gefühlte Nähe, Roman in 23 Paarungen

Ansichten eines Hausschweins. Neue Geschichten über alte Probleme

Wachsen Ananas auf Bäumen? Wie ich meinem Kind die Welt erkläre

Freut Euch, Bernhard kommt bald! 12 unweihnachtliche Weihnachtsgeschichten

Nettsein ist auch keine Lösung. Einfache Geschichten aus einem schwierigen Land

Jeder lügt so gut er kann. Alternativen für Wahrheitssucher

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Harald Martenstein

HEIMWEG

Roman

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hier unter Lizenz benutzt.

Copyright © 2007 by C. Bertelsmann Verlag,

in der Verlagsgruppe Random House,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlag: Hafen Werbeagentur, Hamburg

unter Verwendung eines Motivs © ullstein bild – Oscar Poss

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-26603-5V001

www.penguin-verlag.de

1

Die Heimkehr meines Großvaters aus dem Krieg stand unter keinem guten Stern. Als seine Gruppe am Bahnhof ankam, zwanzig dünne Männer in grauen Wattejacken, spielte eine Kapelle Walzermelodien und Luftballons hingen an einem Reklameschild für Pepsi Cola. Die Wattejacken waren ein Abschiedsgeschenk der Sowjetunion, an ihre langjährigen deutschen Gäste. Der stellvertretende Bürgermeister hielt eine Rede und drückte jedem Spätheimkehrer die Hand, sofern eine solche noch vorhanden war. Die Zeitung würde ein Foto mit Bildtext bringen.

Die jüngeren Kinder, gezeugt während der letzten Heimaturlaube, hatten Angst vor den verdreckten Gestalten, die aus dem Zug kletterten, und versuchten, sich hinter ihren Müttern zu verstecken. Die Heimkehrer hatten ihre Stadt im Kopf, wie sie früher aussah. Sie sah jetzt aber völlig anders aus. Ihre Frauen waren älter als auf dem Foto in der Brieftasche, Gott allein wusste, was sie erlebt hatten. Mein Großvater trug einen unter widrigsten Umständen selbstgebauten Koffer, auf den er stolz war, aus Birkenholz, grau gestrichen, mit einem Griff aus original russischem Lagermaschendraht. Von seiner Russlandreise hatte er außerdem zwei steife Finger, einen Lungendurchschuss und eine nicht genau zu bestimmende Zahl von Lungenstecksplittern mitgebracht, das heißt, er war geradezu in Topform, verglichen mit einigen anderen armen Teufeln in seinem Eisenbahnwaggon. Er hatte nicht erwartet, dass jemand ihn abholt.

Vom Bahnhof lief er langsam nach Hause, schnupperte die feuchte Luft, die an manchen Tagen vom Fluss in die Stadt suppt, Rheinluft, die einen automatisch durstig macht. Erfreut stellte er fest, dass die restliche Neustadt weniger schlimm aussah als die Gegend direkt am Bahnhof. In einem Laden kaufte er von seinem Willkommensgeld Zigaretten, Schokolade, eine Flasche Bier und einen Blumenstrauß. Er klingelte an der Tür, zwei Mal, die Tür ging auf und er sah in das Gesicht eines unbekannten Mannes, der einen Schnurrbart trug und schwarze Haare hatte.

Mit so etwas war zu rechnen gewesen. Von seiner Grundhaltung her war mein Großvater Realist, vor allem, was die Liebe betraf. Er hatte sich schon im Zug die Worte zurechtgelegt, die er sagen würde. Deutliche, aber besonnene Worte. Falls der Mann Deutsch verstand. Andernfalls würde es schwierig werden.

Als er den Mund aufmachte, bemerkte er kleine Blutstropfen im Gesicht des fremden Mannes. Das Gesicht war blutgesprenkelt, als ob neben dem Mann jemand auf eine Mine getreten wäre, jemand, den es in kleine Stücke gerissen hat. Solche Gesichter hatte mein Großvater schon das eine oder andere Mal gesehen, in Russland. Der Mann schwankte, er hielt eine Pistole in der Hand. Hinter ihm lag meine Großmutter auf dem Teppich im Flur, sie schrie und fluchte gurgelnd und hielt sich den Hals, aus dem in regelmäßigen Abständen eine dünne rote Fontäne herausschoss. Der unbekannte Mann schrie ebenfalls, allerdings auf Französisch. Mein Großvater sagte gar nichts.

Mein Großvater hieß Joseph. Er war vor dem Krieg Bahnarbeiter gewesen, ein blondes, gut aussehendes Muskelpaket, einige Jahre jünger als meine Großmutter. Sie hieß Katharina, war Schönheitstänzerin und bildete unter dem Künstlernamen Salomé de los Rios mit ihrer Schwester ein Duett, das im Reich ein gewisses Aufsehen erregte, weil es hart am Rande der Schicklichkeit tanzte, bei ausreichender Gage auch ein kleines Stück über diesen Rand hinaus. Später arbeitete sie in einer Nachtbar, nicht mehr als Tänzerin im engeren Sinn, mehr in der Animierbranche. Sie saß mit großen grünen Augen und honigfarbenen Beinen an der Bar, in Tüll und Seide verpackt wie eine Praline und verbreitete eine einladende Aura, die sich ins Unermessliche steigern konnte, sofern ihr ein Gast einen Drink ausgab.

Sie war ein Naturtalent, weil die Liebe wirklich ihre Lieblingsbeschäftigung war. Das ist bei den deutschen Frauen ihrer Generation – nach allem, was man hört – nicht unbedingt die Regel gewesen. Meine Großmutter vermittelte den Männern das Gefühl, dass sie auch ohne Geld mit ihnen gegangen wäre. Sie hatte Freude an dem, was sie tat. Freude ist in jeder Branche ein entscheidender Vorteil. Sie war großzügig. Diese Großzügigkeit wirkte ansteckend auf die Männer. Man bekommt immer das zurück, was man gibt. Die Bar, die ihrer Schwester gehörte, lebte fast nur von ihr.

Morgens um vier tauchten manchmal Männer vor der Bar auf, die gerade erst geschlossen hatte, klingelten Sturm, machten ihr auf der Straße Heiratsanträge, während ringsheum die Lichter angingen und wütende Nachbarn ans Fenster rannten. Die Männer kauften Farbe und malten rote Herzen vor der Bar auf den Bürgersteig, mit Initialen darin, einer ließ sich ihren Namen auf den Unterarm tätowieren, ein anderer engagierte einen Stehgeiger für sie, wieder andere brachten Schubkarren voller Blumen und Cognac.

Das alles war im Grunde nicht nötig. Es war ihr beinahe egal. Ein Mann musste sich in Wirklichkeit nicht groß anstrengen, damit sie ihm ihren Zimmerschlüssel in die Brusttasche seines Jacketts gleiten ließ. Den Entschluss dazu fasste sie in dem einen kurzen Moment, in dem sie ihn zum ersten Mal sah. Andererseits konnte ein Mann sich noch so sehr anstrengen, wenn sie ihn nicht wollte, dann wollte sie ihn eben nicht. Daran hätten auch zwanzig Schubkarren voller Cognac nichts geändert.

Ihre Liebe verteilte sie nach klaren Kriterien. Sie liebte reiche Männer, und sie liebte schöne Männer. Es war nur leider so, dass die reichen Männer fast nie schön waren, und umgekehrt. An diejenigen aber, die beides waren, reich und schön, kam sie nicht heran. Die suchten sich andere Frauen, elegantere und klügere als sie. Sie begriff, dass sie sich zwischen den beiden Männersorten entscheiden musste. Sie entschied sich für die Schönheit.

Der Mann, den sie aussuchte, war nicht groß, aber muskulös, mit breiten Schultern und blonden Locken, einem Flaum auf der Brust und weißen Zähnen. Es machte ihm nichts aus, dass sie in einer Bar arbeitete. Es machte ihm nichts aus, dass er nicht ihre erste große Liebe war, auch nicht ihre fünfte, nicht einmal ihre zwanzigste. So gab sie sich hin auf dem Altar der Schönheit.

Mein Großvater meldete sich freiwillig, um etwas für seinen sozialen Status zu tun. Die Wehrmacht war für ihn die einzige realistische Aufstiegschance. Er wollte Offizier werden. Das war sein Traum: ein Offizier und eine Tänzerin.

Meine Großmutter brachte ihn zur Kaserne. Sie küsste ein Medaillon mit der Muttergottes darauf und hängte es ihm um den Hals. In der Kaserne rannten alle zu den Fenstern, sie pfiffen und winkten mit ihren Taschentüchern. Einige der Soldaten kannten meine Großmutter ja bestens.

Mein Großvater aber schwor beim Namen der Muttergottes, dass er für diese Frau bis in die hinterste Mongolei marschieren würde. Er würde Ninive erobern, Babylon befreien und Samarkand einäschern, sämtliche Völker würde er besiegen, die es hinter dem Ural gibt, und zwar, wenn es sein musste, mit nichts weiter bewaffnet als einem Taschenmesser. Anschließend würde er zwischen ihren Schenkeln versinken und frühestens in zweitausend Jahren bei bester Laune wieder hervorkommen. Mit dieser Haltung fuhr er in den Krieg. Wer immer sich ihm auf seinem Feldzug in den Weg stellte, der hatte es nicht leicht.

Er bekam das Eiserne Kreuz zweiter Klasse, die Nahkampfspange und den Gefrierfleischorden, letzteren für die Teilnahme an einem Gefecht bei minus fünfzig Grad. Mit zuerst zwanzig, zuletzt nur noch mit sieben Mann verteidigte er stundenlang ein Rollfeld gegen dreihundert Feinde. Am Ende wurde er, trotz seiner fast nicht vorhandenen Schulbildung, trotz seiner zurückhaltenden Art und trotz seiner geringen Körpergröße, wegen besonderer Tapferkeit und wegen der strategischen Fähigkeiten, die er bei der Verteidigung des Rollfeldes bewiesen hatte, für den Offizierslehrgang vorgeschlagen. Mein Großvater dachte: Ein Wunder. In diesem Krieg hat sich ein Wunder ereignet. Bald darauf war der Krieg vorbei.

Ein halbes Jahr länger hätten wir durchhalten müssen, dachte mein Großvater sein Leben lang, eine einzige gewonnene Abwehrschlacht mehr oder ein Erfolg bei der letzten Großoffensive am Kursker Bogen, dieser Sieg, der tagelang zum Greifen nahe schien, und ich wäre bei Kriegsende zumindest Leutnant gewesen.

Er kam ohne Hoffnung zurück, ohne Schwung und mit einer schlechten Meinung von der deutschen Obrigkeit. Schön war er auch nicht mehr. Schon bei seinem letzten Heimaturlaub war er nicht mehr schön gewesen. Dazu musste er nicht in den Spiegel schauen, das sah er in ihren Augen.

Der blutbespritzte Mann schien unverletzt zu sein. Er trat einen Schritt zu Seite, damit mein Großvater in die Diele eintreten konnte, dann ging er zum Küchentisch, setzte sich, vergrub seinen Kopf in den Händen und schluchzte. Alles Theater, fand mein Großvater. Er suchte Verbandszeug, fand aber keines, rannte zu meiner Großmutter und beugte sich über sie. »Hast du das Verbandszeug woanders hingepackt, das war doch im roten Schränkchen?«, rief er, laut und mit möglichst genauer Artikulation. Dies waren die ersten Worte, die er nach sechs Jahren Abwesenheit an sie richtete.

Meine Großmutter gab als Antwort ein gurgelndes Geräusch von sich, ruderte hektisch mit den Beinen und deutete auf ihren Hals. Dann griff sie nach dem Garderobentischchen und versuchte, sich hochzuziehen. Aber sie rutschte auf einer Blutpfütze aus. Sie war nackt oder im Negligé, darüber gehen die Darstellungen auseinander. Fest steht, dass meine Großmutter auch in der extremsten Situation eine makellos schöne Frau war.

Mein Großvater rannte in die Küche, riss dem weinenden Franzosen die Pistole aus der Hand, damit er sich nichts antut, dieses Arschloch, rannte mit den Geschirrabtrockentüchern zurück, wickelte meiner Großmutter ein paar Geschirrtücher um den Hals und lief nach unten, um Hilfe zu holen. Telefon hatte im Haus niemand. Auf der Straße lief er, während er »Sanni! Sanni!« rief, als wäre er wieder bei der Wehrmacht, in der Schlacht am Kursker Bogen, von der er sein Lebtag regelmäßig erzählen würde, einer Patrouille der französischen Militärpolizei in die Arme. Er wurde ohne langes Gefackel unter Verdacht des Mordversuchs verhaftet. Immerhin hatte er eine Pistole in der Hand, immerhin war er von oben bis unten mit Blut bespritzt. Er war klepperdürr, dazu klapperte er mit den fünf Zähnen, die er noch hatte, und rollte mit den Augen wie ein Wahnsinniger.

Deswegen musste mein Großvater das Wiedersehen mit seiner Frau erst einmal verschieben. Der Franzose hieß Raymond, das Tatmotiv war Eifersucht. Natürlich nicht Eifersucht auf meinen Großvater, sondern Eifersucht auf einen anderen Franzosen namens Antoine. Raymond und Antoine wurden ermahnt und in verschiedene, weit entfernte Garnisonen strafversetzt. Das Problem war die Tatwaffe, ein russisches Modell. Raymond erklärte, dass er die Waffe im Nachttisch meiner Großmutter gefunden habe, als er auf der Suche nach einem Kondom die falsche Schublade aufzog. Beim Anblick der Waffe hätten ihn urplötzlich seine verletzten Gefühle übermannt. Der Schuss hatte die Hauptader um ein paar Millimeter verfehlt.

»Woher hatten Sie die Pistole, gnädige Frau?«

»Von meinem Mann.«

»Und? Weiter?«

»Der hat sie im Urlaub aus Russland mitgebracht. Sie hat einem russischen Kommissar gehört. Den sie erschossen haben.«

»Wussten Sie nicht, dass Ihr Mann an diesem Tag nach Hause kommt? Haben Sie die Benachrichtigung nicht bekommen?«

»Die hab ich verloren.«

»Wussten Sie nicht, dass Deutsche keine Waffen besitzen dürfen?«

»Das hab ich vergessen. Entschuldigung.«

»Was sollen wir Ihrer Ansicht nach jetzt tun?«

»Er ist ein Kriegsverbrecher. Ein Faschist. Sperren Sie ihn ein.«

»Wegen dieses Kommissars? Das interessiert uns im Moment nicht.«

Meine Großmutter hatte ihrem Mann eine Scheidungsklage in das Lager geschickt, nach Westsibirien, wo er sich auf einem Donnerbalken die Seele aus dem Leib schiss. Aber das ging nicht. Kriegsgefangene sollten aus humanitären Gründen nicht geschieden werden, so bestimmte es das Rote Kreuz. Es war ein Präzedenzfall, vielleicht gibt es Akten darüber. Können Sie denn nicht ein bisschen warten, sagte die Frau vom Roten Kreuz, das kann sich doch auch von ganz alleine regeln, in den Lagern sterben doch so viele.

Mein Großvater wurde bereits nach ein paar Tagen aus dem Gefängnis entlassen und zog in die Wohnung seiner Frau, ein Zimmer, Küche, Diele. Zum zweiten Mal stand er mit seinem Birkenholzkoffer in der Tür und sagte: »Ich verzeihe dir.« Das war der zweite Satz, den er nach sechs Jahren zu ihr sprach.

Sie sah ihn nicht an. Aber sie warf ihn auch nicht raus. Sie hätte, um ihm rauszuwerfen, jederzeit jemanden aus der Bar zu Hilfe rufen können. In einer Schublade fand er die Postkarten, die er aus dem Lager geschrieben hatte.

»Mein liebes Frauchen, heiß geliebte Frau, teile dir wieder mal kurz mit, dass ich noch lebe. Wartete sehnsüchtig und vergebens auf Post von dir. Hatten am vergangenen Sonntag Wunschkonzert. Ich bekam solches Heimweh. Die Sowjetunion hat einen Plan aufgestellt, nach dem wir alle bis Ende 1949 zu Hause sein sollen. Habe große Hoffnung, aber den Glauben vollkommen verloren.«

Wegen der Zensur durfte man nichts Konkreteres schreiben. Man konnte nicht schreiben: Ich habe die Ruhr, drückt mir die Daumen, die Überlebenschance liegt bei fünfzig Prozent. Dergleichen war aus politischen Gründen verboten. Das Thema Liebe war erlaubt. Liebe wurde, im Gegensatz zur Ruhr, als politisch harmlos angesehen.

Einige Monate nach seiner Rückkehr baute er einen Vogelkäfig, der ein Viertel der Küche einnahm, kaufte Wellensittiche und brachte ihnen russische Flüche bei. In dieser Hinsicht ist der Reichtum der russischen Sprache groß. Fast alle Wellensittiche konnten »V pizdu!« rufen, was vom Sinn her ungefähr das Gleiche wie »Scheiße!« bedeutet, nur, dass es im Russischen nicht auf die menschliche Ausscheidung als imaginäre Ursache aller Probleme Bezug nimmt, sondern auf das weibliche Geschlechtsteil.

Er redete stundenlang mit den Wellensittichen, über alle möglichen Themen. Er erzählte ihnen vom Lager, auf Russisch, erzählte ihnen Witze und die neuesten Fußballergebnisse. Er erzählte, wie viele Männer jede Nacht gestorben waren und wie er sie am Morgen, als sie schon steif waren, zusammen mit einem anderen Gefangenen nach draußen getragen hatte. Er erzählte, dass viele dabei waren, die er für stärker und widerstandsfähiger hielt als sich selber, starke Kerle, mit Köpfen wie Stiere, kluge Kerle, denen immer etwas einfiel. Sie alle aßen Gras, sie alle soffen aus Pfützen, fast alle bekamen den verdammten Durchfall und das Leben floss aus ihnen heraus, als ob man einen Stöpsel gezogen hätte. Es war im Lager nicht vorherzusagen, wer überlebte und wer nicht, niemals, so wenig, wie man den Gewinner einer Fußballweltmeisterschaft vorhersagen kann. Favoriten sterben. Der Außenseiter kommt ins Finale.

Überleben, das war die überragende Leistung, die er vollbracht hatte, die einzige Sensation, die er jemals vollbringen würde. Aber wer nahm eigentlich Kenntnis davon? Das war doch nicht nichts. Weltmeister im Nichtsterben. Elf Jahre lang fallen sie links und fallen sie rechts, verhungern, gehen ein, weil sie nicht aufpassen, weil sie Pech haben, weil sie schwach sind. Du aber überlebst. Es ist, wie sich später herausstellt, völlig egal. Du hast unter allergrößter Gefahr ein Leben gerettet und kein Hahn kräht danach, bloß, weil es zufällig dein eigenes war.

Die Postkarten aus dem Lager packte er in den Birkenholzkoffer und trug sie in den Keller. Er fand eine Stelle als Packer in einer Zahnpastafabrik. Nach einer Weile wollten sie ihn befördern, er kündigte lieber. Irgendwo wartete eine Karriere auf ihn, aber nicht in der Packerbranche. Er sagte: Mit Hartnäckigkeit kannst du alles schaffen, nur keinen Krieg gewinnen.

Warum liebte sie ihn nicht mehr? Warum hatte sie ihn von Heimaturlaub zu Heimaturlaub immer kälter behandelt? Warum hasste sie ihn so sehr, dass sie versuchte, ihn zu denunzieren? Nur, weil er nicht mehr schön war? Konnte das wirklich der Grund sein?

Meine Großmutter arbeitete weiter bei ihrer Schwester. Um ihren Hals trug sie ein Seidentuch, obwohl die Narbe nur klein war. In der Bar hing auch ein Bild ihres Vaters. Wenn ein französischer Soldat nach dem Mann auf dem Foto fragte, antwortete sie: »Er war Widerstandskämpfer. Résistance. Die Nazis haben ihn umgebracht.« Wenn ein Deutscher fragte, sagte sie: »Vermisst in Russland. Ritterkreuzträger.«

Wenn es spät wurde, in den weißen Stunden vor Sonnenaufgang, in denen sie meistens beschwipst war, sah sie ihn sitzen, ihren Vater, immer am selben Tisch. Er sah glücklich aus. Auf seinem Schoß saß ihr Bruder Otto und schmiegte sich an ihn. Neben ihnen aber hockte der Heigl, total verdreckt, schon halb vermodert, aber immer noch mit seinem siegesgewissen Lächeln. »Meine beiden besten Männer«, flüsterte er und zwinkerte meiner Großmutter verschwörerisch zu.

Am Anfang waren sie nur Schatten. Aber von Mal zu Mal sah Katharina die drei deutlicher. Sie kamen immer früher. Manchmal schon vor Mitternacht. Eines Abends brachten sie einen Gast mit. Der Neue trug eine verbogene Brille und eine verwahrloste Uniform. Es war ein nicht unsympathisch wirkender, aber, dem Geruch nach zu urteilen, seit längerer Zeit ungeduschter Mann von schätzungsweise Mitte zwanzig. Er stand auf, ging zu ihr, quer durch den ganzen Raum an die Bar, wo Katharina gerade mit einem Gast bei einem Piccolo saß. »Entschuldige die Störung«, sagte der Neue mit einem starken Akzent, »aber ich wollte mich vorstellen. Ich bin ein alter Bekannter von deinem Mann. Ich war politischer Kommissar der Roten Armee in Smolensk.« Der Kommissar lächelte schelmisch und verbeugte sich, eine Verbeugung, die offenbar ironisch gemeint war. Dann ging er zurück zu den anderen, und der Heigl holte ein Skatspiel heraus.

Katharina machte sich Sorgen. Sie bekam allmählich Angst.

Mein Großvater aber stellte sich endlich vor den Spiegel und versuchte, sich mit den Augen einer Frau zu sehen. Er sah ein zerknittertes Persönchen mit zu großer Nase und schütterem Haar. Dann dachte er an Russland, wo seine Muskeln und seine Zähne begraben lagen. Er hasste dieses Russland so sehr, dass er keine Worte dafür finden konnte. Wer hatte bloß Schuld an dieser ganzen Scheiße?

2

Ich bin nur ein Kind, obwohl ich schon so lange auf der Welt bin. Es ist das erste Mal, dass ich eine Geschichte aufschreibe. Ich habe keine Erfahrung mit so etwas. Es ist wohl eine Art Liebesgeschichte, und sie spielt größtenteils zwischen ungefähr 1950 und ungefähr 1990. Fragen Sie nicht, in welchem Jahr jedes einzelne Kapitel spielt, nicht einmal mein Großvater würde es schaffen, diese Frage zu beantworten. Natürlich könnte man zu den einzelnen Kapiteln im Hintergrund eine Fernseh- oder Radiosendung laufen lassen, wie es in Filmen oft gemacht wird, mit dem ostdeutschen Aufstand von 1953, mit dem ersten Elvis-Presley-Hit oder irgendeinem Wahltag, dann hängt zufällig auf der Straße ein Plakat mit dem Kopf von Konrad Adenauer. Aber das ist doch nur ein Trick. Als ob Elvis Presley und Konrad Adenauer so wichtig wären für alle und jeden.

Meinen Großeltern sind solche Sachen egal gewesen. Für sie gab es eigentlich nur die Zeit vor dem Krieg, eine kurze Zeit, in der sie sehr jung waren, es gab den Krieg und es gab die endlos lange Zeit danach, diese Zeit, die den weitaus größten Teil ihres Lebens ausmachte und die ihnen doch in manchen Momenten beinahe bedeutungslos vorkam, weil ihr Leben für immer im Schatten der beiden früheren, kürzeren Episoden lag. Es war so ähnlich wie bei einem erfolgreichen Sportler, nehmen Sie Boris Becker, dessen Karriere früh endet und der sein weiteres, womöglich sehr langes Leben als ein endloses Danach zu empfinden gezwungen ist. Mit dem Unterschied, dass die entscheidenden Jahre von Boris Beckers Leben, diese Erinnerung, die er niemals los wird, Jahre des Triumphes gewesen sind. Das kann man von der Generation meiner Großeltern nicht behaupten.

Das ganze Geschichtenerzählen ist ein einziger Betrug. Ich meine – man kennt als Erzähler das Ende, tut aber so, als ob man es nicht kennt. Man könnte alles ganz schnell erzählen und sich viel Zeit sparen, aber nein, man erzählt es langsam. Das, was man schreibt, ist manchmal klüger oder dümmer als man selber, genau wie ein Kind, bei dem die Eltern manchmal staunen, was, das soll von uns abstammen, aber wir verstehen es nicht, es ist anders.

Da es sich um meine Großeltern handelt und da es mich zweifellos gibt, muss irgendwann ein Kind auftauchen, das sagt einem der gesunde Menschenverstand. Es dauert aber eine Weile, werden Sie in dieser Hinsicht nicht ungeduldig.

Das Ziel meines Großvaters ist klar. Er möchte die Liebe seiner Frau zurückerobern, ohne genau zu wissen, ob er diese Liebe überhaupt jemals besessen hat. Und er möchte seine Kriegserinnerungen los werden. Das Ziel meiner Großmutter besteht darin, dass sie ihr Leben genießen und ein Stück Sonne sehen will.

Sie hatten beides hinter sich, den Krieg und die Liebe. Das sind wahrscheinlich die wichtigsten Dinge, die in einem Leben passieren können, vom Kinderkriegen abgesehen. Aber seltsamerweise waren sie immer noch jung. Stellen Sie sich eine Flut vor, die ein Drittel eines Dorfes wegreißt. Ein Teil der Überlebenden ist an dieser Flut schuld gewesen. Sie haben den Staudamm aus irgendeinem Grund kaputtgemacht. Von einigen Dorfbewohnern weiß man, dass sie mit dieser Sache zu tun hatten, bei anderen ist es unklar. Viele Überlebende fragen sich: Warum bin gerade ich übrig geblieben? Manche versuchen, eine Beziehung zwischen ihrem Überleben und ihrer Schuld oder Unschuld herzustellen. In Wirklichkeit ist so etwas Zufall. Das Leben belohnt oder bestraft einen nicht. Das Leben ist den Menschen furchtbar wichtig, umgekehrt aber sind die Menschen und ihr Schicksal der Natur vollkommen gleichgültig.

Am Besten denkt man nicht weiter darüber nach. Genau das versuchten sie.

Die Kinderzeit meiner Großmutter fiel in die Zeit kurz nach dem ersten großen Krieg, sie erinnerte sich an Brauereipferde, die mit Bierfässern beladene Wagen über Kopfsteinpflaster zogen und an Bahngleise, weit draußen am Rand der Stadt, wo sie mit ihrem jüngeren Bruder Otto hinter Büschen versteckt auf Züge wartete. An einer bestimmten Stelle gab es ein Signallicht, das manchmal rot leuchtete und die Züge zum Halten zwang. Dann stürzte sie mit Otto aus ihrem Versteck heraus, kletterte auf einen der Waggons, der Kohlen geladen hatte, und warf so viele Kohlen wie möglich hinab. Otto versuchte, möglichst viele davon zu fangen, wobei er wild um sich schlug und um sich biss, denn es gab immer noch andere Kinder, die ebenfalls auf der Jagd waren, Schmarotzer, die Otto seine Beute aus der Hand zu reißen versuchten. Aber den Mut, auf einen Waggon zu klettern, hatten die anderen Kinder nicht. Wenn der Zug anfuhr, sprang sie erst im letztmöglichen Augenblick ab, kurz bevor der Zug zu schnell wurde. Sie versuchte, diesen Moment von Mal zu Mal immer weiter hinauszuzögern.

Manchmal sprach sie mit Otto über den Mann, den sie einmal heiraten würde, obwohl Otto dazu nicht unbedingt der geeignete Gesprächspartner war, als Junge, aber er war nun mal da, und er war ein guter Zuhörer. Otto selber sagte, dass es ganz einfach darauf ankommt, den Richtigen oder die Richtige zu finden, dann heiratet man und ist glücklich. Meine Großmutter lachte ihn aus. So einfach ist das nicht. Es gibt sehr viele, die in Frage kommen, eine bestimmte Person, ich zum Beispiel, könnte mit vielleicht zehn Prozent aller Männer glücklich sein, das heißt, dass sie mir gefallen, dass sie ungefähr richtig sind und dass ich mit ihnen auskomme, und von diesen zehn Prozent gefalle ich vielleicht der Hälfte, das heißt, es kommt in der passenden Altersgruppe ungefähr, na, ich würde sagen, jeder Zwanzigste in Frage, das sind Tausende allein in Deutschland, in die ich mich verlieben könnte und umgekehrt sie in mich.

Ja, sagte Otto, einen von denen triffst du halt, verstehst dich gut mit ihm und entscheidest dich, ganz einfach. Du hast deine Ruhe und bist zufrieden.

Oh nein, antwortete meine Großmutter. Das ist nicht so einfach. Jeder, der eine Wohnung hat, träumt von einer besseren Wohnung, noch besser, egal, wie schön die Wohnung ist, in der diese Person gerade wohnt. Jeder, der eine Stelle hat, denkt darüber nach, ob es nicht eine noch bessere Stelle gebe oder möchte befördert werden. Das ist immer und überall so, ich kann mir nicht vorstellen, dass es mit den Frauen und den Männern anders ist.

Aber wenn man heiratet, liebt man sich, sagte Otto. Das ist was ganz anderes als eine Wohnung. Eine Wohnung ist was Nützliches.

Damals, als sie zwölf oder dreizehn war, spürte sie zum ersten Mal eine Unruhe, die sie niemals mehr verlassen würde. Ihr erster Freund war ein Student, der Sohn eines reichen Bierbrauers. Er schenkte ihr ein Fahrrad, ein viel zu kostbares Geschenk, von dem ihre Eltern nichts erfahren durften. Der Student stellte das Fahrrad in sein Zimmer in der Altstadt neben sein eigenes Fahrrad und brachte es zu den Verabredungen mit, die ebenfalls heimlich blieben. Sie fuhren zu zweit den Rhein entlang, zu Plätzen, die der Student kannte und die einsam waren. Dort sahen meine Großmutter und der Student einander in die Augen, das heißt, sie taten natürlich auch andere Dinge, Verbotenes, der Student hätte ins Gefängnis gehen müssen, wenn es herausgekommen wäre. In den Augen des Studenten sah meine Großmutter das Feuer der Leidenschaft, jene erste, frühe, bedingungslos begehrende Liebe, die, wie die Erwachsenen sagen, nach einer gewissen Zeit etwas anderem Platz macht, das angeblich tiefer und reifer ist, der wahren Liebe sozusagen. Meine Großmutter spürte, dass der Student sie in genau diesem Moment wahrscheinlich genauso liebte, wie sie sich selbst liebte, nämlich ohne jeden Vorbehalt, ohne Zukunft, ohne Vergangenheit und ohne darüber nachzudenken. Sie ahnte, dass diese Einheit früher oder später zerfallen würde, der Student würde einen Schritt zurücktreten, er und sie wären wieder zwei verschiedene Menschen, er würde ihre Fehler und ihre Vorzüge sehen, abwägen, sich entscheiden. Sie dachte, dass man sich auf diese Weise nur nahe sein kann, wenn man sich nicht oder fast nicht kennt, nur dann sieht man im anderen sich selber und liebt den anderen wie sich selbst. Es ist Betrug, dachte sie, es ist wie im Kino. Alles nur gespielt.

Wenn ich heirate, sagte sie zu Otto, möchte ich auf keinen Fall so etwas Ähnliches werden wie eine Wohnung.

Otto, mein Großonkel, der noch klein war, erzählte immer, dass er in seinem ganzen Leben nur ein einziges Mädchen küssen wird, und zwar eines, das ihm allein gehört. Denn er fand es schon eklig, aus einem Glas zu trinken, aus dem schon jemand anderer getrunken hat. Ein Mädchen zu küssen, das schon einmal einen anderen geküsst hat, wäre noch tausendmal ekliger. Die Erwachsenen lachten, wenn er das sagte. Aber er hat es tatsächlich geschafft.

Ich habe gesagt, dass ich das Geschichtenerzählen für einen Betrug halte, weil der Erzähler sich ständig verstellen muss. Jetzt sage ich, was ich am Geschichtenerzählen gut finde. Ich finde es gut, dass man zwischen den verschiedenen Personen oder zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart einfach hin- und herspringen darf. Im Kopf geht es genauso. Im Kopf denkt man auch nicht immer fein säuberlich und in der richtigen Reihenfolge eins nach dem anderen. Man darf es nur nicht übertreiben.

Ich erzähle, wie Joseph, mein Großvater, in den neunziger Jahren war. Daraus können Sie mühelos ersehen, dass er überlebt. Falls er also in eine gefährliche Situation gerät, wissen Sie schon jetzt, dass er irgendwie davonkommt, es sei denn, die neunziger Jahre sind dran.

Er lebte in dieser Stadt, in der er immer gelebt hatte und in der er fast alle Leute kannte, in seinem Viertel zumindest. Er war freundlich und ließ sich gerne auf ein Gespräch ein, aber lud nie jemanden ein. Er selber wurde auch niemals eingeladen, weil man wusste, dass er nicht kommen würde. Im Fernsehen schaute er sich am liebsten Tierfilme, Fußball und die Tagesschau an. Meistens trug er einen Poncho und eine Pelzmütze wie ein kanadischer Trapper, dazu eine Brille mit sehr großen, blau getönten Gläsern, die seiner Erscheinung etwas von einem alten, allerdings nicht besonders weisen Uhu gaben. Er hatte lange, schneeweiße Haare, lange Koteletten und einen buschigen Schnurrbart, außerdem Untergewicht. Seine Arme und Beine waren dünn und seine Haut war milchweiß wie bei einem Schwerkranken, aber er hatte nicht Krebs, obwohl jeder, der ihn sah, darauf getippt hätte. Fünfzehn, zwanzig Jahre lang lebte er in diesem Zustand und bekam die verschiedensten Krankheiten, aber niemals Krebs. Meistens hing eine Zigarette in seinem Mundwinkel, HB natürlich, die Marke der Arbeiter. An den Fingern trug er Ringe mit bunten Glassteinen. Er sah aus wie ein Freak. Wenn ihm die echten Freaks begegneten, die Jahrzehnte jünger waren als er, wussten sie nicht, was sie denken sollten – war er eine Parodie oder war er ein Zeitreisender, der ihnen warnend ihre eigene Zukunft vorführte? Er war damals schon in seinen Siebzigern und ging etwas unsicher. Er hatte Stil. Aber keiner konnte sagen, welcher Stil es war.

3

Die Bar hieß »Rheingoldschänke«, sie lag in der Nähe des Südbahnhofs. Alle anderen Häuser in der Gegend hatten Bomben abbekommen, einige davon Volltreffer. Die Fassaden standen meistens noch. Manche Gebäude sahen auf den ersten Blick beinahe normal aus. Hinter den Fassaden aber befanden sich keine Wohnungen, Büros oder Geschäfte mehr. Hinter den Fassaden erstreckte sich das Reich der Erinnerung.

Die Stadt war zu einer optischen Illusion geworden, wie ein Westerndorf in einem Filmstudio. Einzig die Rheingoldschänke stand treu und fest und zwinkerte verführerisch mit ihren zwei roten Glühbirnen, die links und rechts neben dem Eingang befestigt waren und im Drei-Sekunden-Rhythmus an- und ausgingen.

Die Schänke gehörte meiner Tante Rosalie, der älteren Schwester meiner Großmutter. Sie war eine knochige Kettenraucherin und aufgrund eines leidenschaftlichen Konflikts mit einem Mann, der es nicht wert war – ein Ereignis, über das niemals gesprochen wurde –, schon mit Mitte dreißig Gebissträgerin.

Tante Rosalie hatte schöne Augen, ein klassisches Profil, das heißt eine etwas zu große Nase, und sprach sehr schnell. Dabei schob sie mit der Zunge ihre Zähne im Mund hin und her. Sie trug fast immer Schwarz, dazu eine rote Korallenkette, die ihr bis zum Bauchnabel reichte. Die Korallenkette war ein Stilzitat aus den zwanziger Jahren, aber damals dachte man noch nicht in solchen Begriffen.

Die Einrichtung der Rheingoldschänke bestand aus einer Theke mit Messinggeländer und etwa einem halben Dutzend runder Bistrotischchen, zu denen rote Kunstledersessel mit sinnlich geschwungenen Beinen gehörten. Neben der Theke befand sich eine Tür. Wer diese Tür öffnete, sah eine Treppe. Die Treppe führte nach oben zu drei kleinen Dachkammern, die »Chambres séparées« genannt wurden und den besonderen Reiz dieses Lokals ausmachten.

Nach der Schlacht von Stalingrad, als man überall in Deutschland die letzten Reserven mobilisierte, wurde in einer der unseren Totalmobilmachungsbehörden der Gedanke geboren, dass eine dieser letzten, noch nicht optimal eingesetzten, womöglich kriegsentscheidenden deutschen Reserven aus dem weiblichen Personal der Rheingoldschänke bestehen könnte. Führer, Volk und Vaterland verpflichteten meine Großmutter zum Bau von Panzerfäusten. Der Panzerfaustbau sollte in den Opel-Automobilwerken vonstatten gehen, auf der anderen Rheinseite. Meine Großmutter zog sich ihre Arbeitskleidung an, also das, was sie trug, wenn sie zur Arbeit in der Rheingoldschänke ging, ihre Netzstrümpfe, einen sehr engen Rock und eine ärmellose Chiffonbluse. So fuhr sie in die Opelwerke. Dort bekam sie eine Kittelschürze, die sie, entgegen den Vorschriften, aufgeknöpft trug.

Die Aufgabe bestand darin, in einer Halle an langen Tischen zu sitzen und Sprengpulver in die Panzerfäuste einzufüllen. Rauchen war verboten. Die noch leeren Panzerfäuste wurden von so genannten Fremdarbeitern, meist weiblichen, zu den Tischen geschleppt. Die Aufsicht führten ältere deutsche Männer. Nach einigen Tagen stellte sich heraus, dass sich das männliche Aufsichtspersonal in der Halle, in der meine Großmutter ihren Dienst verrichtete, besonders zahlreich und lange aufhielt. Dort gab es offenbar einen stark erhöhten Aufsichtsbedarf, während die Produktion in anderen Hallen nahezu sich selber überlassen blieb, was in diesen Hallen nicht ohne Einfluss auf die Produktionszahlen war.

Wahrscheinlich hat meine Großmutter, obwohl sie sich als vollkommen unpolitisch verstand, auf ihre Weise die Dauer des Zweiten Weltkrieges um zumindest einige Sekunden verkürzt, Sekunden, in denen das Deutsche Reich weitergekämpft hätte, wenn es nur einige wenige, zusätzliche Panzerfäuste besessen hätte. Das heißt, sie hat, lediglich indem sie ihre Kittelschürze aufgeknöpft trug und eine enge Bluse anzog, das Leben von zumindest einigen Menschen gerettet, ich behaupte einmal: mehrere Dutzend. Den Unterhaltungskünstlern dieser Zeit, Leuten wie Heinz Rühmann oder Johannes Heesters, wird oft vorgeworfen, dass sie mit ihrer Kunst das Reich unterstützt und den Durchhaltewillen gestärkt haben, obwohl sie selber immer wieder sagten, dass sie vollkommen unpolitisch waren, ahnungslos und sich keiner Schuld bewusst. Meine Großmutter ist, natürlich auf eine bescheidene Weise, der genau umgekehrte Fall. Heinz Rühmann drehte Durchhaltefilme. Meine Großmutter trug eine Kapitulationsbluse.

Abends fuhr sie meist in Begleitung zurück in die Rheingoldschänke. Bei den älteren Herren von der Hallenaufsicht war sie extrem beliebt, trotzdem wurde sie häufig ermahnt, weil ihr Arbeitstempo, auch bei größtmöglichem Wohlwollen, nicht den Notwendigkeiten des totalen Krieges entsprach. Nach einigen Wochen fanden die Kontrolleure in einer der Panzerfäuste einen Lippenstift, Farbe Hellrosa, den meine Großmutter, als beim Luftalarm die Sirenen losheulten, aus Zerstreutheit oder Schreck fallen gelassen hatte. Sie gab die Tat zu, zeigte aber wenig Schuldbewusstsein, sondern verlangte, dass man ihr den Lippenstift zurückgibt. Nach Rücksprache mit der Staatspolizei war die Produktionsleitung der Ansicht, dass es sich nicht um einen Fall von Sabotage handelte, sondern um einen Fall von mangelndem Talent zu selbst einfachsten Tätigkeiten in der Rüstungsproduktion. Im Interesse des Endsiegs sei eine Tätigkeit meiner Großmutter in der Rheingoldschänke sowie in ihrem eingetragenen, immerhin erfolgreich ausgeübten Beruf als Schönheitstänzerin wahrscheinlich sinnvoller als eine Tätigkeit im Panzerfaustbau.

In jedem Jahr, wenn es Mai wird, denke ich daran. Das Deutsche Reich hat am 8. Mai kapituliert. Wenn meine Großmutter bis zum Ende in der Panzerfaustproduktion geblieben wäre, hätte das Reich bereits am 7. Mai kapitulieren müssen. So haben wir Geschichte gemacht.