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Der vielfach preisgekrönte ZEIT-Kolumnist und hochgelobte Romanautor Harald Martenstein bringt endlich ein Buch über seine erste Liebe heraus: das Kino. Als Kritiker und Kulturreporter, aber auch als Humorist schreibt Martenstein seit seinen Anfängen immer wieder über Filme, Festivals und das Filmbusiness, über die großen Stars und ihre kleinen Missgeschicke. Seine tägliche Kolumne während der Berlinale genießt bei Lesern und Radiohörern Kultstatus.
Martensteins Texte über Filme haben auch für Leser, die nur hin und wieder ins Kino gehen, einen hohen Unterhaltungswert. Wie in seinen Kolumnen ist er auch als Kritiker und Beobachter einer eitlen Branche immer überraschend – mal absurd, satirisch oder brüllend komisch, dann wieder genau reflektierend. Immer sind dabei die Zuneigung und der Respekt spürbar, die er für seine Lieblingskunst empfindet. So lustig ist das Kino selten gefeiert worden.
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Seitenzahl: 167
Harald Martenstein
Im Kino
C. Bertelsmann
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Copyright © 2017 by C. Bertelsmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: www.buerosued.de, München
Lektorat: Rainer Wieland
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-17695-2V005
www.cbertelsmann.de
Inhalt
Warum das Ganze?
Filmredakteur
Kritik des Antikolumnismus
In Afrika ist auch nicht immer aufgeräumt
Herva mit Mosel
Berlin 99
Geschichte als Treppenwitz
Liebe, Gnade, Paradiso
Frösche und Zwerge
Cocktail in Stalingrad
Der große Gleichmacher
Kanzler, Gott, ein Clown
Kill Me if You Can
Kaukasier bin ich selber
Stadt der Angst
In letzter Sekunde
Bei uns haben die Huren alle Abitur
Generation Viagra
Kritik der Pappe
Big Art
Völkerkunde
Wowis Botschaft
Alte Schachteln
Drei Hunde auf dem Dach
Die Nackten und die Zoten
Das Leben ist schöner
Vogelgrippe
Kosslick ist Kult
Angelina Jolie
Robert De Niro
Ganz schön zu
Lob des Handwerks
Schlechte Zähne, böse Seele
Pop and Circumstance
Die dicken Männer von Mumbai
Atomkrieg der Häschen
Fernsehfilme
Schneetreiben
Gefangene Wahrheit
Die ersten und die letzten zwanzig
Krieg spielen
Schal und Mütze
Der Vorleser
Letzte Gerichte
Sex
Seife im Kopf
Deutschland 09
Heiner Geißler isst Krabbenfleisch
Alles auf Asperger
Gute Filme
Friseusen
Glück und so weiter
Überall ist Heimat
Goebbels in Namibia
Schlechte Filme
Peitschen aus Hanf
Identitätsfragen
Konsensfilme
Mal jemand anders sein
Rolf Eden und die Kinder
Das Nordkorea Europas
Falsche Mittel
Underground!
Wer darf sagen, wie es war?
Kinoanzeigen
Ein Penis im Glück
Das Schweigen der Ziegen
Pu, der Bär
Lob des Schlussmachens
Im Bahnhofskino
Nackte Rabbis sieht man besser
No Risk, no Art
Houellebecq im Dschungelcamp
Schleimen und schmachten
Kunstscheiß
Multimediabubble
Leni und ihre Töchter
Urteile
Ai Weiwei macht Party
Das Licht geht aus
Henry Hübchens Geheimnis
Männer mit feuchten Hosen
Die Moralfrage
Abblende
Dank
Personenregister
Im Text erwähnte Filmtitel
Ich habe mit etwa zwanzig Jahren angefangen, professionell zu schreiben, bei einer Lokalzeitung. Es gibt kaum eine journalistische oder literarische Gattung, die ich seitdem nicht ausprobiert habe, zum Teil freiwillig, zum Teil auf Wunsch meiner Vorgesetzten und Auftraggeber. Lokalglossen, Kolumnen, Reportagen, Leitartikel, Romane, Essays, Kritiken, Werbetexte, Reden, Comictexte, Radiofeatures, Ghostwriting, ein Drehbuch, das zu Recht nicht genommen wurde, schlechte Gedichte und den ganzen anderen Kleinkram, das habe ich alles auf dem Kerbholz.
Ich bin kein Journalist, kein Reporter, kein Kritiker, kein Schriftsteller. Ich bin ein Schreiber. Das Schreiben gehört zu meinem Leben wie das Atmen, ich schreibe fast täglich. Das Schreiben macht mich manchmal glücklich, wie eine Droge. Schreiben ist ein Selbstgespräch, bei dem ich auf Dinge stoße, nennen Sie es meinetwegen »Erkenntnisse«, auf die ich ohne mein Schreibgerät niemals gekommen wäre. Schreiben und Lesen, immer hübsch abwechselnd, so sieht für mich das Paradies aus. Früher habe ich jedes gottverdammte Langweilerthema dankend akzeptiert, heute, als alter Knabe, erlaube ich mir den Luxus, wählerisch zu sein. Aber ich bin im Prinzip immer noch ein Allesfresser, wie mein Hund.
Weil das so ist, bin ich nie ein Spezialist geworden, ich habe mich zu oft und zu gern ablenken lassen. Nur als Filmkritiker hätte ich gut gelaunt alt werden können. Die Filme sind so verschieden, mit dem Film lässt sich so viel mehr anstellen als mit dem Theater, und du kannst an einem Tag drei Filme sehen, drei Romane täglich sind nicht zu schaffen. Ein langweiliger oder schlecht gemachter Film ist besser auszuhalten als schlechtes Theater oder schlechte Literatur. Ich mochte das Kino auch als Ort, weil ich schüchtern war und es mir gefiel, im Dunkeln zu sitzen und anderen Leuten zuzusehen.
Ein paar Jahre, drei, glaube ich, war ich Filmredakteur. Ich durfte zu Filmfestivals fahren, die in faszinierenden Städten wie Hof, Oberhausen oder Saarbrücken stattfanden. Für Cannes fehlte der Zeitung das Geld, aber für Venedig hat es immerhin gereicht. Eine meiner neuen Mitarbeiterinnen verließ nach kurzer Zeit empört das Ressort, mit der Begründung, ich hätte keine Ahnung von Filmen. Das stimmte. Meine filmhistorische Bildung war und blieb lückenhaft, nicht zu vergleichen mit den echten Spezialisten, die pro Jahr 200 Filme sehen oder mehr. Ich habe in meinen besten Zeiten höchstens 100 geschafft, heute sind es viel weniger. Aber das Kino, sagte ich mir, wird für Leute wie mich gemacht, für die hoffentlich nicht ganz blöde Masse, nicht für die Handvoll Spezialisten, deshalb ist es in Ordnung, wenn ich mir dazu eine Meinung erlaube.
Ein Film, den ich mögen soll, muss mich unterhalten, aber das kann auf tausend Arten geschehen, ruhig auch auf eine komplizierte, langsame und elaborierte. Filme, die klüger erscheinen wollen, als sie es sind, Angeber- und Bescheidwisserfilme, Werbefilme für eine bestimmte Meinung, manipulativen Kitsch und ranschmeißerische Zielgruppenfilme mag ich zum Beispiel nicht. Ich muss spüren, dass die Filmemacher nicht in erster Linie auf einem Egotrip sind oder einfach ein kommerzielles Rezept anwenden, ich will spüren, dass sie bei ihrer Arbeit an ihr Thema gedacht haben und an mich, ihr Publikum, dass sie auf der Suche waren nach etwas. Im Idealfall vergesse ich dann alles, auch, dass ich hinterher eine Kritik schreiben muss. Ich lasse mich willen- und meinungslos treiben in diesem Film, und am Ende ist es, als erwachte ich aus einem Traum.
Kritiken sollten ebenfalls unterhaltsam und ehrlich sein, sie müssen eine Meinung riskieren und damit das Risiko des Irrtums. Kritiken sollten sich nicht lesen wie ein Lexikonartikel, sie dürfen ihre Subjektivität ruhig offen ausstellen. Dann fühle ich mich ernst genommen. Da ist ein Mensch, dessen charakterliche Konturen ich bei der Lektüre erahnen kann, da spricht keine höhere Instanz zu mir, »die Zeitung«, »die Kritik«, »der Sender«, sondern einer wie ich. Er sagt klar, was er denkt, aber er lässt durchblicken, dass ein anderer Zuschauer vielleicht zu einem anderen Urteil gelangen könnte.
Eines Tages bekamen wir im Ressort einen neuen Chef, mit dem ich nicht klarkam. Ich kündigte, und als ich nach einiger Zeit zu der alten Zeitung zurückkehrte, war dieser Chef weg, und ein Kollege war inzwischen Filmredakteur, so wurde ich für ein paar Jahre Reporter. Auch schön! Kritiken habe ich nur noch selten geschrieben, aber während der Berlinale sollte ich eine tägliche Kolumne verfassen. Dies tue ich jetzt schon seit einer Ewigkeit, bald zwanzig Jahre, fürchte ich – davor, die genaue Zahl nachzuschlagen, habe ich ein bisschen Angst. Die Texte dieses Buches beruhen zum größten Teil auf den neueren dieser Kolumnen, sie wurden überarbeitet, manchmal umgeschrieben. Es ist also nicht nur ein Buch über Filme, Filmschaffende und das ganze Drumherum, sondern auch ein Buch über Berlin und die Berlinale, das wichtigste deutsche Filmfestival und alljährlich größte Kulturereignis dieser nicht gerade ereignisarmen Stadt. Ich liebe die Berlinale, auch wenn ich mich oft genug über einzelne Aspekte des Festivals lustig gemacht habe. Wissen Sie, ich bin in der Stadt Mainz geboren, da gehört es zum guten Ton, sich auch über Personen und Ereignisse lustig zu machen, die man im Grunde mag.
Zur Orientierung erwähne ich das Jahr, in dem ich den jeweiligen Text produziert habe, also die Urfassung. Manche Leute, die auftauchen, sind inzwischen leider gestorben, und ich möchte den Eindruck vermeiden, dies sei mir entgangen. Warum habe ich dieses Buch zusammengestellt? Weil ich hoffe, dass ein paar Leute es unterhaltsam finden, und weil es vielleicht ein paar Erkenntnisse enthält, auf die ich nie gekommen wäre, wenn ich nicht schreiben würde.
Venedig ist wunderbar, ich fahre da immer wieder gern hin. Ich wäre am liebsten Kulturkorrespondent in Venedig. Es soll Zeitungen in Deutschland geben, die so etwas haben.
Venedig hat vieles mit der Insel Sylt gemeinsam. Auch Sylt ist wunderbar, außerdem sehr beliebt bei Autoren und Journalisten. Rudolf Augstein hat sich dort sogar begraben lassen. Es gibt allerdings kaum noch Sylter, die Sylter können sich Sylt nicht mehr leisten. Ich frage mich, wer zuerst geht, der letzte Sylter oder der letzte Venezianer.
Einige Male war ich als junger Kulturjournalist immerhin bei dem Filmfestival, welches am Lido stattfindet, am Strand von Venedig. Es war oft schwierig, in die Filme hineinzukommen, die Plätze waren knapp. Ich habe getan, was ich konnte, es war einfach kein Platz. Dann bin ich essen gegangen oder habe am Strand gelegen, viele Filmkritiker taten das. Hinterher hat man sich die Filme erzählen lassen. Natürlich habe ich, auf der schmalen Basis dieser subjektiv gefärbten Informationen, keinen Verriss geschrieben, auch keine Lobeshymne. Es waren abwägende, manches bewusst in der Schwebe haltende Filmkritiken, sehr fair, sehr gerecht, auf das souveräne Urteil der Leser vertrauend, vielleicht die objektivsten Filmkritiken meines Lebens.
Die Hotelzimmer waren so teuer, dass meine mittelbedeutende Zeitung nur ein handtuchgroßes Zimmer zu bezahlen in der Lage war. Ich habe vor diesem Zimmer ein bisschen Angst gehabt. So ging es vielen. Die Kritiker der nicht so bedeutenden Zeitungen saßen bis in die Morgenstunden in den Lokalen, im Freien, es war September, und tranken vino di tavola. Das Schreibzimmer für die Presse war fast so winzig wie die Hotelzimmer, und voller italienischer Kollegen, die sich lautstark und gestenreich über die Qualität der Filme stritten.
Meine Kritiken schrieb ich mit der Hand, auf einer Parkbank sitzend, und telefonierte sie aus einer glutheißen Telefonzelle durch, während andere Kritiker, bei denen der Redaktionsschluss drohte, verzweifelt an die Scheibe klopften. Nach meiner Rückkehr las ich, dass sie in der telefonischen Aufnahme aus der »eigenwilligen Bildsprache« des Regisseurs etwas völlig anderes gemacht hatten, nämlich eine »allzu billige Blutlache«. Ich galt von da an als origineller Autor.
Zum ersten Mal im Leben sah ich mehrere italienische Filme an einem einzigen Tag. Die meisten italienischen Filme waren grauenhaft. Was war aus diesem Land geworden, dem Land von Fellini und Pasolini? Aber ich dachte, wenn du sie verreißt, kriegst du im nächsten Jahr keine Akkreditierung, und zu Hause sagt der Chefredakteur: »Was wollen Sie bei so einem Festival? Sie schreiben doch selbst, dass die Filme nichts taugen.« Ich habe die italienischen Filme also immer nur ganz vorsichtig kritisiert. Zumindest die Hauptdarstellerinnen waren wirklich schön, sogar in den sozialkritischsten Dokumentarfilmen haben sie auf schöne Hauptdarstellerinnen geachtet.
Für die deutschen Filme bekam ich in den Kinos von Venedig immer einen Platz. Die deutschen Kritiker haben die deutschen Filme meistens niedergemacht, weil sie die wirklich gesehen hatten, und irgendwas muss man ja auch mal verreißen. Wie mag es heute sein? Venedig ist ein wunderbarer Arbeitsplatz gewesen. Dann wurde ich Kolumnist.
2014
In »Der gute Deutsche« spielt George Clooney einen Kolumnisten im Berlin des Jahres 1945. Es ist vermutlich der erste Kolumnistenfilm, der jemals im Wettbewerb einer Berlinale lief. Wie Kolumnisten aussehen, wie mutig sie Gefahren meistern, welch tolle Uniformen sie tragen und wie überwältigend sie auf Frauen wirken, zeichnet der Film einigermaßen realistisch. Dann aber wird, ohne erkennbaren Grund, etwa alle zehn Minuten dem Kolumnisten von hinten ein Stuhl über den Kopf gehauen. »Der gute Deutsche« ist kein guter Film.
1945 schien eine Epoche der Freiheit zu beginnen, stattdessen senkte sich die Nacht des Antikolumnismus über Europa, und in den USA begannen unter McCarthy die berüchtigten Kolumnistenjäger mit ihrer Arbeit.
Immerhin wollten sie für die Dreharbeiten zu »Der gute Deutsche« in Los Angeles das zerstörte Berlin nachbauen, aber es ist im Studio eine Verwechslung passiert, aus Versehen haben sie eine zerstörte süddeutsche Kleinstadt gebaut, ich tippe auf München. Die niedrigen Häuser, die Butzenscheiben und geschnitzten Türen, die Korkenziehertreppenhäuser, der hohe Alkoholkonsum, die Männer, die anderen Männern ohne Grund Stühle auf den Kopf hauen: alles typisch München. Deswegen reagieren die Deutschen in dem Film so verwirrt, oder lachen verlegen, wenn Cate Blanchett, obwohl sie doch längst in München ist, ununterbrochen sagt: »Ich will weg aus Berlin, bringt mich raus aus Berlin, ich will Berlin verlassen«, das klingt genau wie der späte Edmund Stoiber.
In dem Edith-Piaf-Film »La vie en rose« trat ebenfalls eine gute Deutsche auf, nämlich Marlene Dietrich. Die Marlene-Dietrich-Darstellerin trug am Kinn allerdings eine dicke, dunkle Warze, wie die in jeder Hinsicht makellose Marlene Dietrich sie niemals besessen hat. Die einzige singende, blonde Person mit einer Warze, die wir in Deutschland haben, ist Peter Maffay. Auch hier ist also ausländischen Filmemachern aus Unkenntnis der deutschen Verhältnisse eine Verwechslung passiert.
2007
Vor vier Jahren hat die Geschichte dieses Films angefangen. Es war in den deutschen Kinos die große Zeit der Beziehungskomödien. Aber der Produzent Peter Rommel und der Regisseur Andreas Dresen wollten etwas anderes, Neuartiges machen, einen Film, wie sie vor vier Jahren vor allem aus England und Frankreich ins Kino kamen. Etwas über Obdachlose und Junkies, Prostituierte und Asylbewerber. Mit Handkamera und fast ohne Kunstlicht. In Berlin. Nachts.
Jetzt ist der Film fertig, und jetzt, vier Jahre später, wimmelt es in den Kinos und auf den Festivals plötzlich von solchen Geschichten aus Deutschland. »Nachtgestalten« liegt voll im neuen Trend des deutschen Films, der sich heutzutage mit der gleichen Unbedingtheit dem Schauplatz Berlin und dem Sozialrealismus hingibt wie gestern noch dem Liebeskummer gut verdienender Dreitagebärte aus München.
Aber damit wir uns richtig verstehen: »Nachtgestalten«, Regie: Andreas Dresen, ist ein wunderbarer Film geworden. Es ist der Film, den die Regisseure von »Das Leben ist eine Baustelle« und von »Fette Welt« wohl gerne gemacht hätten. Der erste deutsche Beitrag im Wettbewerb dieser Berlinale, »Aimée und Jaguar«, war zur allgemeinen Erleichterung zumindest nicht misslungen, dieser hier, der zweite, ist richtig gut.
Dresen kam auf seine Idee, als er für eine Dokumentation über Kinder aus der Dritten Welt recherchierte, Kinder, die von ihren Eltern nach Deutschland geschleust werden, allein, um hier ihr Glück zu machen. Außerdem wusste er, dass der Papst nach Berlin kommt. Die Idee lautete, das Erhabene, den Papstbesuch nämlich und seine Fernsehbilder, mit dem wirklichen Leben zu kontrastieren – mit Leuten vom Ende der sozialen Skala, die um ein wenig Würde und Liebe kämpfen. Daraus hätte, wie man sich denken kann, leicht Kitsch werden können. Deswegen musste der Film berlinisch werden. Sarkastisch also, beiläufig, unsentimental, und nur mit zartesten Anflügen von Romantik. Das Kunststück besteht darin, solche Zutaten richtig zu dosieren.
»Nachtgestalten« erzählt drei Episoden aus einer Nacht des Jahres 1996, der Nacht des Papstbesuches, lose verbunden durch einen Taxifahrer, der alle Hauptfiguren in dieser Nacht fährt. Es funktioniert ähnlich wie »Keiner liebt mich« von Doris Dörrie, mit einer Prise Jim Jarmusch, aus »Night on Earth«. Drei Paare. Drei unmögliche Liebesgeschichten. Drei Geschichten, in denen Gewalt vorkommt. Eine Obdachlose bekommt 100 Mark geschenkt und beschließt gemeinsam mit ihrem Freund, die Nacht in einem billigen Hotel zu verbringen. Ein Bauer kommt nach Berlin, um sich auf dem Metropolenstrich eine Nutte zu suchen. Dem Mädchen gibt er 500 Mark, damit sie die ganze Nacht mit ihm verbringt, der Abend endet im Chaos einer Junkiewohnung. Ein älterer Angestellter soll Kunden auf dem Flughafen abholen und schenkt einem Jungen aus Afrika sein angebissenes Brötchen. Es endet damit, dass er das Kind, das nicht spricht und niemandem zu gehören scheint, in seiner Junggesellenwohnung übernachten lässt.
Dresen, der auch das Drehbuch geschrieben hat, gehört zur letzten Regisseursgeneration, die ihr Handwerk noch zum Teil in der DDR gelernt hat. Vielleicht könnte man »Nachtgestalten« das attestieren, was in der DDR gerne eine »humanistische Grundhaltung« genannt wurde, also eine grundsätzliche, wenn auch skeptische Sympathie, den Homo sapiens betreffend. »Nachtgestalten« ist deshalb kein kalter und kein düsterer Film geworden, obwohl er drei erbärmliche Milieus vorführt, drei Varianten der Einsamkeit, und obwohl jede seiner Episoden sich mühelos hätte kalt und düster erzählen lassen. Allen seinen Figuren, auch den seelisch Heruntergekommensten, gelingt hin und wieder eine menschliche Geste. Sie sind alle auf der Kippe, im Zwischenzustand – wie Berlin, das aber von Andreas Höfer ohne die üblichen Baustellen fotografiert wird.
Sie wissen alle nicht genau, ob sie von ihrem Gegenüber angezogen oder abgestoßen werden, das Gute ist in jeder Figur ebenso angelegt wie das Böse. Das macht den Film differenziert, genau und unberechenbar, das unterscheidet ihn auch von dem modischen Neoexistenzialismus, der zurzeit in den Kinos umgeht. Die Nutte räumt ihrem naiven Freier, der ihr eine Rose geschenkt hat und sie retten möchte, die Brieftasche aus, aber dann steckt sie ihm eben doch einen Hunderter für den Nachhauseweg zurück. Die Autodiebe halten an, als sie die blutüberströmte Obdachlose auf der Straße liegen sehen, sie kriegt einen Schluck Schnaps. Aber dann fahren sie eben doch weiter und überlassen die Frau sich selbst.
Unter den sechs Hauptdarstellern, die von etlichen, für deutsche Verhältnisse ungewöhnlich liebevoll und klischeefrei gezeichneten Nebenfiguren umgeben sind, ragen zwei heraus. Da ist einerseits die 19-jährige Susanne Bormann als Stricherin. Und da ist andererseits Gwisdek. Michael Gwisdek hatte vor einem Jahr im Wettbewerb der Berlinale als Regisseur Pech, mit seinem »Mambospiel«, das zu privat und zu skurril war für eine solch große Bühne. Diesmal wird es ihm besser gehen. Gwisdek kommt in »Nachtgestalten« die dankbare Aufgabe zu, komödiantische Effekte zu setzen, als Berliner Edelspießer vom Typus »Herz mit Schnauze«, der zuerst rassistische Sprüche klopft und dann mit wachsender Begeisterung den Vater spielt.
Hendrik Peschke: ein Name, der Berlin auf den Begriff bringt, halb große Welt, halb Schrebergarten. Hendrik Peschke führt das schwarze Kind in seine Neubau-Singlewohnung, in der überall Hemden zum Trocknen hängen, und dann sagt er nonchalant: »Bei euch in Afrika ist auch nicht immer aufgeräumt.« So, genau so lakonisch ist die Tonlage von »Nachtgestalten«.
1999
Immer ist es schön und oft ist es nur allzu nötig, der Jugend etwas beizubringen. Junge Menschen: Wisst ihr, was »Herva mit Mosel« ist? Das ist, wenn ich es richtig erinnere, Kräuterpampe mit Süßwein. Vor etwa dreißig Sommern war »Herva mit Mosel« das Lieblingsgetränk sonnengegerbter älterer Damen, ungefähr von achtzig Lenzen aufwärts, die unsereinem das Knabenköpfchen tätschelten. Das Verschwinden dieses Getränks aus dem öffentlichen Raum hängt, wie zu befürchten steht, mit dem biologisch bedingten Verschwinden seiner Zielgruppe zusammen. Aber dann ist plötzlich Berlinale, und im Delphi öffnet in einer Nische eine Fünfzigerjahre-Bar, die in normalen Zeiten nutzlos vor sich hin dämmert.
Und welche drei Worte stehen riesengroß über der Bar?
Dieser Text ist Shirley MacLaine gewidmet und behandelt das Älterwerden. Woran merken wir Männer, dass wir alt geworden sind? Daran, dass Wim Wenders beginnt, sich für uns zu interessieren. Wim Wenders ist sozusagen der Talent-Scout des Sensenmannes. Bei der Berlinale hat er jetzt – nach seiner erfolgreichen Zusammenarbeit mit Curt Bois, Heinz Rühmann, Michelangelo Antonioni und Federico Fellini – ein Werk über einen neunzigjährigen kubanischen Unterhaltungsmusiker vorgestellt.
Alte sind für Wim Wenders das, was für Frank Castorf der Kartoffelsalat ist: eine Obsession. Ohne Obsession läuft bei den meisten Künstlern kunstmäßig nix. Wenn Wim Wenders aber eines Tages mal selber tot ist und ins Fegefeuer kommt, dann werden ihn viele kleine Teufelinnen mit glühenden Zangen zwicken und dazu zwingen, Tausende von Filmen zu drehen, in denen ausschließlich junge Frauen vorkommen.
1999
Es liegt Patina über unserer Gegend. Die Kreuzung Suarezstraße/Kantstraße in Charlottenburg zum Beispiel: ein, wie man früher sagte, bürgerliches Viertel im Westen von Berlin. Als wir dorthin zogen, kurz nach dem Fall der Mauer, befanden sich an den vier Ecken der Kreuzung eine Drogerie, eine Buchhandlung, eine Boutique und eine Videothek. Boutique und Buchhandlung haben inzwischen dichtgemacht, beide Läden stehen leer. Die Videothek hat sich gehalten.
Bei vielen Häusern bröckelt der Putz. Die Geschäfte, die noch nicht zugemacht haben, sehen oft nach Siebzigerjahre aus: »Offenbacher Lederwaren«, dass es diese Ladenkette noch gibt! In manchen Boutiquen, Uhrläden, Bestattungsunternehmen haben sie, seit wir hier wohnen, kein einziges Mal die Schaufensterdekoration geändert.
Das Berlin-Klischee – immer in Bewegung! – findet in unserer Gegend nicht statt. Morbide Grundstimmung, wie in Wien. Aber Wien verfällt prächtiger.