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Vom Wahnsinn umjubelt, ins Scheitern verliebt: die bittersüße Wahrheit über unsere Hauptstadt Kann man Berlin in Worte fassen? Ein Konglomerat aus fast vier Millionen, die sich daran gewöhnt haben, dass man hier zu allem bereit, aber zu nichts zu gebrauchen ist? Berlin sei "dazu verdammt, immerfort zu werden und niemals zu sein" – dies schrieb vor hundert Jahren Karl Scheffler in seinem Buch "Berlin. Ein Stadtschicksal". Lorenz Maroldt und Harald Martenstein, der eine Chefredakteur, der andere Bestsellerautor und beide dicht am unregelmäßigen Pulsschlag der Hauptstadt, machen sich daran, das Schicksal Berlins und das hiesige Durchlavieren neu zu beschreiben. Sie schaffen das erzählerische Porträt einer Stadt, die ihresgleichen sucht – im Guten wie im Bösen, von Bezirk zu Bezirk, zwischen bemitleidenswerten Ordnungsämtern und resignierenden Ordnungshütern, umspült von Touristenmillionen, mit Politikern, für die der Bau eines Flughafens lange Zeit nicht viel mehr war als ein Running Gag. Maroldt und Martenstein schildern in ihrer humorvollen Ortsbegehung, warum man an Berlin so intensiv leidet, wie man gerne hier lebt.
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Berlin in hundert Kapiteln, von denen leider nur dreizehn fertig wurden
Harald Martenstein, geboren 1953 in Mainz, ist ein deutscher Journalist und Autor. Seit 2002 schreibt er eine Kolumne für „Die Zeit“, die auch im RBB und im NDR zu hören ist. Für seine Arbeit wurde er mit dem Egon-Erwin-Kisch-, dem Henri-Nannen- und dem Theodor-Wolff-Preis ausgezeichnet. Außerdem lehrt er an der Bundesakademie für kulturelle Bildung Wolfenbüttel und an Journalistenschulen in Österreich und der Schweiz. Harald Martenstein lebt in Berlin.
Lorenz Maroldt, geboren 1962 in Köln, ist (zusammen mit Mathias Müller von Blumencron) Chefredakteur des „Tagesspiegel“. Besondere Beachtung und mehrere Auszeichnungen hat er für den Newsletter „Tagesspiegel Checkpoint“ erhalten.
Harald Martenstein und Lorenz Maroldt
Ullstein
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Editorische Notiz:Die Kap. 3, 4, 11 und 12 stammen von Harald Martenstein,die Kap. 5, 6, 8, 9 und 10 von Lorenz Maroldt.Die Kap. Vorwort, 1, 2, 7 und 13 wurden von beiden Autoren gemeinsam verfasst.Der Liedtext auf S. 247 f. stammt aus »Schwarz zu Blau« von Peter Fox (aus: Stadtaffe, Downbeat 2008; Text: Peter Fox und David Conen). Der Liedtext auf S. 255 stammt aus »Wer schmeißt den da mit Lehm?« von Claire Waldoff (o. J.; Text: Paul Ortmann)Der Liedtext auf S. 263 stammt aus »Ich steh’ auf Berlin« von Ideal (Eitel Imperial 1980; Text: Anette Humpe)
© 2020 Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin Alle Rechte vorbehalten Lektorat: Swantje Steinbrink Umschlaggestaltung: Sabine Wimmer, Berlin Fotos: Hans Scherhaufer E-Book powered by pepyrus.comISBN 978-3-8437-2254-4
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Die Autoren / Das Buch
Titelseite
Impressum
Vorwort zur Taschenbuchausgabe 2022
1 Wer wir waren
2 Ins Scheitern verliebt
3 Die Bürgschaft
4 Wenn Berlin ein Gedicht wäre
5 Der Kampf um die Stadt
6 Sorry for the delay
7 Weißt du, wo du hier bist?
8 Zurückbleiben bitte
9 Die Stadt als Beute
10 Ich hab’ noch einen Antrag in Berlin …
11 Mental herausgefordert
12 Zurück in die Zukunft
13 Evaluation
Quellen
Social Media
Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
Vorwort zur Taschenbuchausgabe 2022
Seit dem ersten Erscheinen dieses Buches im Frühjahr 2020 ist viel passiert, obwohl wir hier nur über knapp zwei Jahre reden. Berlin hat zum Beispiel endlich einen neuen Flughafen, den BER. Der alte Flughafen in Tegel war seit langem überlastet. Der überlastete, aber funktionierende Flughafen wurde also geschlossen und nach vielen Jahren Bauzeit sowie mit Hilfe vieler Milliarden durch einen neuen ersetzt, der bei stärkerer Belastung zusammenbricht. Bei seinem ersten Härtetest, zu Beginn der Herbstferien 2021, konnten zahlreiche Passagiere ihr Flugzeug nicht rechtzeitig erreichen. Sie warteten stundenlang vor dem Einchecken und vor der Sicherheitskontrolle, so lange, bis mancher Ferientraum platzte. Zeitweise wurden die Fluggäste gebeten, sich bereits vier Stunden vor dem Abflug am Airport einzufinden. Als gemeldet wurde, es gebe ab Mai 2022 von Berlin aus wieder einen Direktflug nach Washington, kommentierte der Journalist Karl Doemens: »Aber man muss spätestens im April am BER sein.«
An der Architektur des BER, die viele gelungen finden, lag das nicht, eher an missglückter oder, was wahrscheinlicher ist, an nicht vorhandener Personalplanung. Allerdings war der Flughafen bei seiner um acht Jahre verspäteten Eröffnung leider schon etwas in die Jahre gekommen. So stellte sich heraus, dass die Laufbänder an den Gates, obwohl nie benutzt, schon wieder schrottreif sind – die einzigen, die hier laufen, sind die Passagiere, und das wird noch lange so bleiben.
An missglückter oder, was wieder wahrscheinlicher ist, nicht vorhandener Finanzplanung lag wohl auch, dass der BER, als er endlich fertig war, statt zwei Milliarden Euro sechs Milliarden gekostet hatte. Klar, dass es dabei nicht bleibt – ein paar Tage nach dem Herbstchaos forderte die neue Chefin Aletta von Massenbach: »Wir brauchen schnell Geld, wir brauchen Cash.« Der alte Chef hatte sich da gerade mit den Worten »Freude am Leben ist jetzt eine meiner Maximen« für immer vom BER verabschiedet.
Jedenfalls wissen wir jetzt, was zu tun ist, um alle klimaschädlichen Binnenflüge in Deutschland ohne lange Diskussion zu beenden: Man müsste bloß den gesamten deutschen Flugverkehr vom BER aus steuern.
Ein paar Wochen zuvor war Berlin an der Aufgabe gescheitert, gleichzeitig eine Bundestagswahl, einen Volksentscheid, eine Landtagswahl und einen Marathonlauf zufriedenstellend zu organisieren. Am besten funktionierte der Marathonlauf. Bei den Wahlen standen, wie am Flughafen, Leute manchmal stundenlang an. Nicht selten, um am Ende der Wartezeit falsche Wahlzettel in die Hand gedrückt zu bekommen. Stimmen waren deshalb massenhaft ungültig - Rekord: 61 Prozent, in einer Neuköllner Grundschule. Aus Reinickendorf wurde eine Wahlbeteiligung von 150 Prozent gemeldet, auch andere schafften es in dieser Hinsicht locker über die 100er-Marke, in Tempelhof-Schöneberg waren es sogar 159 Prozent. Alte Leute gingen resigniert nach Hause, weil sie nicht so lange Schlange stehen konnten; ein Drittel der Wahllokale war zudem nicht barrierefrei zu erreichen. Jugendliche und EU-Bürger dagegen durften, anders als vorgesehen, in unbekannter Zahl auch den Bundestag wählen. In mehreren Stadtteilen gingen die Stimmzettel aus, Wahlvorsteher standen auf und gingen wortlos nach Hause. 22 Wahlbezirke meldeten exakt dasselbe Ergebnis - es stellte sich später heraus: Hier wurde der Ausgang der Wahl nur geschätzt (nein, auch das ist kein Witz). Die letzten Wahlbezirke gaben ihre Stimmen um kurz vor 21 Uhr ab, da waren die Wahllokale offiziell seit drei Stunden geschlossen. Immerhin: Berlin schaffte es so mal wieder in die Tagesschau.
Eines muss man Wladimir Putin lassen: Eine Wahlbeteiligung von 150 Prozent wurde unter seiner Ägide bisher nie ermittelt. Etwas Vergleichbares hatte es in Deutschland nach dem Krieg noch nicht gegeben, nur in Staaten, mit denen Deutschland sich nicht gerne vergleichen lässt und die es oft kritisiert. Selbst die Einheitsliste der Nationalen Front in der DDR kam in den Achtzigerjahren nur auf 99,9 Prozent. Das Ganze war ein Wahldebakel von unvergesslichem Ausmaß, vergleichbar damit, dass es am Wahltag in den Kabinen Frösche regnet. Vor Jahren Verstorbene bekamen Wahleinladungen zugeschickt, Wahlverlierern wurde per amtlichem Brief zum Einzug ins Parlament gratuliert. Womöglich hängt der Wohnungsmangel in Berlin ja damit zusammen, dass Berlin in Wahrheit sechs Millionen Einwohner hat, nicht knapp vier. Insofern könnte die aus Reinickendorf gemeldete Wahlbeteiligung von 150 Prozent am Ende womöglich sogar korrekt gewesen sein.
Nichts ist unmöglich in Berlin.
Verantwortlich fühlte sich niemand. Die Senatskanzlei erklärte, sie sei in der Sache »eher Zuschauer«. Die Innenverwaltung teilte mit, die Sache werde »medial aufgebauscht«. Der Bürgermeister, in dessen Bezirk die Stimmen geschätzt worden waren, fand das alles »normal«.
Vor der Wahl hatte der Senat noch mit Blick auf die Pannen vier Jahre zuvor versichert: »Ich möchte Ihre Sorge, dass es zu Schwierigkeiten bei der Durchführung der Wahlen kommen könnte, zerstreuen. Wir sind sehr gut vorbereitet auf alles, was an diesem Abend geschehen kann.« 2017 war Berlin das letzte Bundesland, das die Ergebnisse an den Bundeswahlleiter gemeldet hatte. Der zeitgleich stattfindende Marathon hatte schon damals einiges durcheinandergebracht. Bei der Veröffentlichung des amtlichen Endergebnisses von 2021 las dann die Landeswahlleiterin eineinhalb Stunden am Stück Fehler vor: Unregelmäßigkeiten in zehn Prozent aller Wahllokale, falsche, fehlende oder nicht ausgeteilte Stimmzettel, eine zeitweise Unterbrechung des Wahlgeschehens in 73 Lokalen - und so weiter. Am Ende kündigte sie einen Einspruch gegen die Wahl beim Verfassungsgerichtshof an und trat zurück. Da stellte auch der Innensenator als letzter der 3 766 082 Berlinerinnen und Berliner überrascht fest: »Das Vertrauen in das ordentliche Funktionieren von Wahlen in Berlin ist erschüttert.«
Eine Wiederholung der Berliner Wahl wurde aber nur kurz und nur für den Fall ins Auge gefasst, dass dieses von niemandem bestrittene Chaos »mandatsrelevant« wäre, das heißt, nachweislich die Zahl der Sitze einer Partei in einem Parlament verändert hätte. Aber wie sollte man das herausfinden, zumal in Berlin? Wie ermittelt man all die älteren Leute, die, ohne abzustimmen, resigniert nach Hause gegangen waren? Wie erkennt man die Wahlzettel der Jüngeren, die für den Bundestag gar nicht hätten abstimmen dürfen?
Dass die Berliner Probleme ab einer gewissen Größenordnung zu einem Legitimitätsproblem werden können, schilderte eine Kollegin in der Neuen Zürcher Zeitung am Beispiel der Meldepflicht: »Berlinerinnen und Berliner können sich gar nicht mehr rechtstreu verhalten, selbst wenn sie wollen. Binnen zwei Wochen nach dem Umzug muss die Meldung auf dem Einwohneramt erfolgen – theoretisch. Praktisch gibt es dafür nicht einmal in zwei Monaten einen Termin.«
Tja, was tun mit Gesetzen, die zu einem Fantasieprodukt geworden sind, weil der Staat die zu ihrer Einhaltung nötige Infrastruktur nicht zur Verfügung stellt? Sollten legitime, aber in Berlin unerfüllbare Vorschriften nicht gesondert gekennzeichnet werden?
Jens Bisky schrieb im SZ-Feuilleton: »Die dysfunktionale Verwaltung dieser Stadt ist das entscheidende Problem der Berliner Gegenwart«; es regiere das Chaos, das zermürbe die Stadtgesellschaft. Auch Fatina Keilani kam in der NZZ zu einem ähnlichen Ergebnis wie wir in diesem Buch: Eine extrem ineffiziente Verwaltungsstruktur sorgt für organisierte Verantwortungslosigkeit. Jede Stadtregierung der vergangenen zwei Jahrzehnte hat zwar eine umfassende Verwaltungsmodernisierung angekündigt, doch nie ist etwas daraus geworden. Auch diesmal stehen die Zeichen nicht gerade auf Aufbruch: Berlins Bildungsverwaltung schrieb direkt nach der Wahl erst einmal die »Lieferung von Matratzen« im Wert von 300 000 Euro aus – unter anderem für »135 Dienststellen des Landes Berlin«. Nahezu zeitgleich verhängte die Bildungssenatorin über die Schulen eine Haushaltssperre.
Selbst Klaus Wowereit kann es nicht mehr mit ansehen - und das will was heißen: »Die Verwaltung ist heute schlechter aufgestellt als jede Kreissparkasse«, schimpfte er im RBB. Der Ex-Regierende sieht in seinem Berlin »so etwas wie eine kollektive Verantwortungslosigkeit« am Werk. Sein Lösungsvorschlag, geäußert kurz nach der Wahl: »Da muss eine Revolution passieren« – jedenfalls in der Verwaltung. Auch der frühere Flughafenchef Engelbert Lütke Daldrup, dem das Kunststück gelang, das »Monster« BER zu eröffnen, sagte feinsinnig im Tagesspiegel: »Manchmal fehlt es an Verantwortungsbewusstsein für Effizienz.« Und in der FAZ schlug Simon Strauss vor, die deutsche Regierung solle wegen der Berliner Minderleister nach Frankfurt umziehen. Warum eigentlich nicht nach Bonn?
Noch etwas ist passiert in den vergangenen Monaten: Die Berliner Regierungskoalition aus Rot, Grün und Rot wurde wiedergewählt. Nein, die Berliner Wählenden standen nicht unter Drogeneinfluss, zumindest nicht alle. Man wählt ja sowieso Parteien, keine Koalitionen. Die SPD-Spitzenkandidatin Franziska Giffey hatte im Wahlkampf den kompetentesten Eindruck gemacht, so wie Olaf Scholz im Bund. Die Berliner CDU präsentierte, auch wie im Bund, einen falschen Kandidaten. Giffey holte ein gutes Ergebnis, scheiterte aber mit ihrem (von vielen ihrer Wähler vermuteten) Wunsch, es mal mit einer anderen, eher bürgerlichen Koalition zu versuchen. Wer an die Verscholzung der Berliner SPD glaubte, hat also Pech gehabt.
Immerhin, Giffey versprach nach der Wahl einen neuen Stil: »Ich finde es auch für Berlin wichtig, dass wir nicht so dahergeschlumpst kommen.« Wenn schon diejenigen, die Berlin »als Weltstadt repräsentieren«, meinten, sie müssten sich »lässig kleiden«, denke sie: »Was ist denn das jetzt hier?« Die Leute könnten erwarten, dass die Person, die sie gewählt haben, »adäquat daherkommt und nicht wie frisch vom Campingplatz«. Umgehend nominierte die SPD daraufhin einen 44-jährigen Turnschuhträger zum Parlamentspräsidenten, der dafür bekannt ist, politische Gegner in die Kategorien »Idioten«, »Lügner«, »Kasperle«, »Arschlöcher« und »Gehirnamputierte« einzusortieren.
Das alles muss man mitlesen auf den folgenden Seiten. Die politisch Verantwortlichen dieses großen Schlamassels haben es irgendwie geschafft, am Ruder zu bleiben. Was beweist, dass in Berlin, trotz alledem, immer noch Unglaubliches geleistet werden kann.
Nichts ist unmöglich.
Vielleicht noch ein Nachsatz zum Vorwort? Ok, aber das überlassen wir mal der neuen Regierenden Bürgermeisterin. In der Talkshow Riverboat gab sie die Richtung für die nächsten fünf Jahre vor:
Meine Güte, man darf das nicht so weitermachen, man muss die guten Sachen über Berlin erzählen! Wenn die Berliner nicht selber gut über ihre Stadt reden, wer soll es denn sonst machen? Wir müssen eine ganz andere Haltung für unsere Stadt entwickeln, dass wir auch mal sagen, wir sind stolz auf Berlin!
Ein schöneres Motto für unser Buch hätten wir uns kaum ausdenken können.
4. November 2021
Die Autoren erzählen, wie sie nach Berlin gekommen sind und warum.
Wenn ich im Ausland bin und dort erzähle, dass ich in Berlin lebe, kommt natürlich meistens die Frage nach der Mauer. Wie war das, als in Berlin die Mauer fiel? Wie haben Sie diesen Tag erlebt? Zweite Frage, in der Regel: Are you East German or West German?
Angela Merkel, East German, war in der Sauna, als die Mauer fiel. Ich war zu Hause. Meine damalige Frau und ich wohnten am Kottbusser Damm, gar nicht weit von der Grenze, in einer dieser schnell und billig ausgebauten West-Berliner Dachgeschosswohnungen aus den frühen Achtzigern. Sie sind in der Regel schön anzuschauen, diese Dachgeschosse. Baulich aber war unsere Wohnung totaler Murks. Die Heizung funktionierte nur hin und wieder, aus der Dusche tröpfelte es lauwarm. Von der bildschönen Dachterrasse konnte man den Fernsehturm im Ostteil Berlins sehen und die Punks aus dem Westen, die an warmen Abenden auf dem Flachdach gegenüber feierten und Dosenbier tranken. Unsere Terrasse war allerdings selten benutzbar, weil der Abfluss für Regenwasser sich nicht etwa an der niedrigsten Stelle des Bodens befand, sondern an der höchsten. Im Hausflur lagen die Spritzen der Junkies.
Seit etwa einem Jahr arbeitete ich als Redakteur für den
Tagesspiegel. Ich wollte unbedingt in Berlin leben, schon seit 1973, als ich zum ersten Mal dort gewesen war. In der Zeit hatte ich eine Stellenanzeige gelesen, Feuilletonredakteur gesucht, und bewarb mich. Hauptsache, Berlin.
In Stuttgart, bei der Stuttgarter Zeitung, schrieb ich damals eine Reportage nach der anderen. In Berlin sollte der Job hauptsächlich darin bestehen, Dreißigzeiler über die freie Theaterszene und Kulturpolitik abzuliefern. Ausgerechnet. Theater interessierte mich deutlich weniger als Film oder Literatur. Und, Herr im Himmel, was ist überhaupt Kulturpolitik?
Im Bewerbungsgespräch hatte ich natürlich so getan, als sei ich praktisch als Experte für Kulturpolitik auf die Welt gekommen. Irgendwie beiß ich mich schon durch, das sagen sich seit 150 Jahren ja fast alle Neuberliner.
Der Tagesspiegel zahlte auch schlechter als die Stuttgarter Zeitung, sogar inklusive der »Berlinzulage«. Die Bundesrepublik subventionierte alle Gehälter im wirtschaftlich darbenden und vom Osten umzingelten West-Berlin mit acht Prozent. Im Volksmund wurde das »Zitterprämie« genannt. Die meisten Arbeitgeber zogen diese acht Prozent einfach vom niedrigst möglichen Gehalt ab, die Zitterprämie brachte nur ihnen etwas. Jetzt, im Herbst 1989, las ich wieder Stellenanzeigen. Ich wollte so schnell wie möglich wieder weg. Das eine Jahr, das du als Arbeitnehmer auf einer neuen Stelle aushalten musst, um zu beweisen, dass du kein Weichei bist, lag endlich hinter mir. Die Zeitung, bei der ich gelandet war, kam mir vor wie ein Museum für die Unternehmenskultur der Fünfzigerjahre. Als ich vor meinem ersten Arbeitstag anrief, um zu fragen, wann es morgens in der Redaktion losgeht, antwortete die Sekretärin:
»Die Herren kommen nicht vor 13 Uhr.«
Wie bitte? Ich war jung, ich brauchte Action.
Beim Tagesspiegel schrieben sie noch auf klapprigen Schreibmaschinen, allein das war eine Zumutung, auch schon 1988. Redaktionskonferenzen, an denen das Fußvolk teilnehmen durfte, gab es nicht, stattdessen eine Rohrpost und staubbedeckte Papierstapel in sämtlichen Ecken. Die neuen Kollegen, meist Männer, pardon, Herren, füllten das Blatt bedächtig mit Agenturmeldungen, die sie in Zeitlupentempo redigierten. Jegliche Form von Originalität schien verboten zu sein. Nur im Lokalen und im Feuilleton durfte das Fußvolk – »Herrenvolk« passt hier wohl nicht – auch mal in die Tasten hauen. Der Leitartikel wurde stets von den Mitgliedern einer kleinen Gruppe eisgrauer Honoratioren verfasst. Er konnte sich an majestätischer Langeweile und inhaltlicher Schwere mit einer Rucksackwanderung durch die Wüste Gobi messen.
Diese Zeitung verdankte ihr Überleben meiner Ansicht nach vor allem ihrem Starautor Günter Matthes, einem der drei Chefredakteure. Matthes, der sich das Wort »Starautor« garantiert verbeten hätte, war schon um die 70, ein relativ kleiner, asketisch wirkender Mann mit intensiven Augen, die tief in ihren Höhlen lagen. Sein Sohn, der Schauspieler Ulrich Matthes, sieht ihm recht ähnlich. Günter Matthes schrieb, mit wenigen Ausnahmen, täglich die Lokalglosse. Sie war fast immer gut. Eine gute Glosse zu schreiben ist nicht einfach, dies täglich zu tun, heißt Hochleistungssport.
Matthes’ Haltung war eine unbeirrbare, unaufgeregte Liberalität, er achtete auf gleichen Abstand zu den Scharfmachern von links und rechts. Der Tagesspiegel war, eigentlich nur seinetwegen, Leib- und Magenblatt des nicht sehr zahlreichen West-Berliner Bürgertums, das weder mit der linken taz noch mit den am entgegengesetzten politischen Ufer befindlichen Zeitungen des Springer-Konzerns etwas anfangen konnte.
Ich lernte ein Berlin kennen, das mir bis dahin unbekannt war. Ich dachte, Berlin sei total locker. Hier aber ging es so hierarchisch zu wie vielleicht einst am Hofe des Kaisers von China. Und die Tabus waren so zahlreich wie die Sommersprossen von Pippi Langstrumpf. Es war beim Tagesspiegel zum Beispiel streng verboten, »Westberlin« statt »West-Berlin« zu schreiben.
»Westberlin« war ein DDR-Wort. Die DDR beharrte darauf, dass der Westteil der Stadt eine »selbständige politische Einheit« sei, das Wort »Westberlin« sollte dies ausdrücken. Auch die DDR träumte von einer Wiedervereinigung, nämlich davon, diese selbständige politische Einheit eines Tages zu schlucken. Als ich mal versehentlich »Westberlin« schrieb und das versehentlich gedruckt wurde, war Matthes sehr verärgert. Die Stimmung in der Redaktion war nach diesem Fauxpas etwa so, als hätte heute ein Autor versehentlich das Wort »Neger« verwendet. Ist dieser Autor einfach nur total blöd oder ist er mit dem Satan im Bunde?
Bis heute schaffe ich es nicht, dieses Wort, das W-Wort, zu verwenden. Wenn ich es täte, würde mich Günter Matthes’ Geist in einem Albtraum heimsuchen.
Einer der Leitartikler, seinen Namen zu nennen verbietet die Pietät, pflegte beim Verfassen seiner Texte stets eine Flasche Whisky zu leeren. Ernest Hemingway hat mit diesem Rezept immerhin Weltliteratur geschrieben. Eines Tages, ich war noch ganz frisch, schütteten ein paar meiner neuen Kollegen seine gesamten Vorräte in den Ausguss und füllten die Whiskyflaschen mit farblich passendem Tee. Der arme Mann leerte zwei Flaschen, ohne dass ihm auch nur ein Anfangssatz eingefallen wäre, geschweige denn eine These. Dann schickte er einen Redaktionsboten zum Einkaufen. Die Täter wurden nie gefasst. Der Tagesspiegel dieser Ära erinnerte mich auch ein bisschen an den Film Die Feuerzangenbowle.
Ich war an jenem 9. November sehr müde. In der Redaktion wurde neuerdings viel diskutiert. Dass die Mauer fallen könnte oder sogar die DDR insgesamt am Ende wäre, kam niemandem in den Sinn. Die Experten teilten sich in zwei Lager. Die einen glaubten, dass die Reformer siegen und die DDR etwas mehr Reisefreiheit zulassen würde, etwas mehr Meinungsfreiheit, mehr Markt, das jugoslawische Modell. Die anderen prophezeiten, dass bald Panzer rollen. Die SED würde darauf setzen, dass die Genossen in der Sowjetunion den Verräter Gorbatschow bald zum Teufel jagen. Niemand hatte genug Fantasie, auch ich nicht.
Ich saß also am 9. November auf dem Sofa und dachte an meinen Freund Michael. Was wird er sagen, wenn ich aus Berlin wieder abhaue? Er hatte mich mit Berlin angefixt. Nach dem Abitur war er nach Berlin gezogen, um Germanistik zu studieren, ein Projekt, das etwa zwanzig Semester dauerte und zu nichts führte. Als sein BAföG versiegte, hielt er sich mit Aushilfsjobs über Wasser, Möbelpacker, Zigarettenfabrik, Briefträger. Er war gut aussehend, klug und traute sich trotzdem nichts zu. Wir stammten beide aus eher kleinen Verhältnissen und fühlten uns beide auf dem humanistischen Gymnasium als Außenseiter. Wir waren beide gleichzeitig sehr links und hörten beide gleichzeitig damit auf.
Ich fuhr fast jedes Jahr für eine Woche oder ein paar Tage nach Berlin und schlief in seinen wechselnden 150-Mark-Einzimmerwohnungen oder WG-Zimmern mit Ofenheizung, auf Matratzen aus dem Sperrmüll. Ins Theater oder zu Konzerten ging ich selten, eher ins Kino. Meistens ließen wir uns durch die Nacht treiben, von Kneipe zu Kneipe, »Leuchtturm«,
»Ruine«, »Leydecke«, »Slumberland« oder das »Bautzener Eck« in der Bautzener Straße, das nichts Besonderes war und gerade deshalb gut. Nach einer durchquatschten und durchtrunkenen Nacht, manchmal aufgelockert durch einen Joint oder eine private Party, blinzelten wir ins erste Morgenlicht. Das war Berlin. Intensiv und billig, wie eine Flasche Steinhäger.
Hin und wieder lernte ich eine Frau kennen, das war in Berlin viel einfacher als anderswo. Ich hatte keine feste Freundin und war begeistert. Aber es kam selten zu einem zweiten Treffen. Wenn ich eine Telefonnummer hatte und anrief, sagte die Frau meistens: »Du, das ist bei mir sehr kompliziert.« Michael hatte genau das, eine komplizierte Beziehung, die ständig flackerte wie eine Glühbirne mit Wackelkontakt. Auch das war Berlin. Fast alle waren auf der Suche, ohne genau zu wissen, wonach.
West-Berlin war ein Ort, wie es ihn in Deutschland nie zuvor gegeben hat und wohl auch nie wieder geben wird. Für uns war es ein Vergnügungspark, in dem wir unseren Erfahrungshunger stillten. Das Wort »Erfahrungshunger« ist der Titel eines Essays von Michael Rutschky über die Siebzigerjahre. Die wichtigste Parole hieß noch nicht »Emanzipation«, das kam später. Es ging um Selbstverwirklichung. Viele der alten Zwänge, die in unserer Kindheit noch mächtig waren, hatten sich aufgelöst, so kam es einem jedenfalls vor. Die Zukunft unserer Eltern war vorgeschrieben, durch Tradition und Regeln, unsere Zukunft dagegen war ein unbekanntes und vielversprechendes Land. Frauen, Männer, Arbeit, Biografie, Liebe, was bedeutete das? Nicht mehr das, was es früher bedeutet hatte, das war klar, aber was sonst? Wohin waren wir unterwegs? Welches Rollenmuster passte?
Wir probierten alles Mögliche aus, Drogenrausch, Ekstase, Armut, Radikalität, Zusammenleben, das war alles nur ein Spiel. Am Tresen versammelte sich eine bunte Mischung der verschiedensten Lebensträume. Wir dachten, wir seien eins, eine Generation. Aber in ein paar Jahren würden unsere Wege sich trennen, die einen würden Karriere machen, andere in ewiger Boheme verharren, manche würden Familien gründen, die denen ihrer Eltern gar nicht so unähnlich waren, andere blieben Aktivisten und verhärteten sich mehr und mehr.
Siebzigerjahre. Die Mauer stand, für ewig. Für uns, die erfahrungshungrigen Mittzwanziger in West-Berlin, waren schon einige Mauern gefallen. Aber auch auf uns warteten, wie auf die Ost-Berliner Demonstranten gut zehn Jahre später, am 4. November 1989, ein paar Enttäuschungen. Die Phase der Anarchie ist immer die schönste Zeit, aber sie ist begrenzt.
Dass ich über Stuttgart in Berlin gelandet war, verdankte ich auch dem Iwan. Als ich in Freiburg studierte, war ich bald Freiburger Korrespondent der Stuttgarter Zeitung, die als eines der besten deutschen Regionalblätter ziemlich renommiert war. Das klingt gut für einen jungen Studenten. Aber in Freiburg passierte nicht viel. Mit den Hausbesetzungen änderte sich das. Peter Schneider, ein literarisches Idol meiner Generation, reiste für eine Solidaritätsveranstaltung extra von Berlin nach Freiburg, unvorstellbar. Die Freiburger Straßenschlachten erregten bundesweit Aufsehen, viele Zeitungen wollten lange Reportagen. Iwan hieß in Wirklichkeit anders, aber er sah wirklich ein bisschen so aus wie der junge Lenin. Er war Pressesprecher der Hausbesetzerbewegung, wir verstanden uns gut, ich bekam Informationen, die andere nicht hatten. Iwan war sehr geschickt, er verriet nie zu viel. Ohne diese Exklusivgeschichten aus dem Inneren der Bewegung hätte ich wohl kein Angebot aus Stuttgart bekommen, für eine unbefristete Anstellung als Redakteur. Jahre später traf ich ihn wieder, er war jetzt Redakteur einer Zeitschrift des Burda-Verlages, Mode oder Frauen, das habe ich vergessen. Lenin und ich waren im gleichen Stall gelandet.
Bei Tag sah West-Berlin ziemlich deprimierend aus. So groß war der Unterschied zum Ostteil gar nicht, wenn man von den Renommierprojekten und dem Zentrum rund um den Kurfürstendamm absah. Die Einschusslöcher an den Häusern stammten von den gleichen Kalaschnikows. Auf den breiten Boulevards rollten relativ wenige Autos, Sund U-Bahn funktionierten viel besser als heute. Es gab auffällig viele alte Frauen, Kriegerwitwen, die riesige Altbauwohnungen besetzt hielten und oft mit einem Schäferhund zusammenlebten. Diese Hunde waren fast immer übergewichtig und meistens angriffslustig, sie hatten ein Bewegungsdefizit. Und sie produzierten unglaubliche Mengen Scheiße, denn sie wurden ja gut gefüttert. In Michaels Wohnungen stand meist eine Plastikwanne, fingerhoch mit Wasser gefüllt, in die man die verschmierten Schuhe hineinstellte. Nach einer Weile schabte man die aufgeweichte Scheiße mit einem Messer ab, das er anschließend, immerhin gespült, zu den übrigen Messern legte.
Kurz bevor ich nach Berlin zog, zog Michael zurück in unsere Heimatstadt. Wir waren jetzt Mitte 30, zu alt für Berlin, meinte er. Bald darauf wurde ich Vater, und das Leben änderte sich sowieso. Michaels komplizierte Beziehung bekam ihr Kind von einem anderen.
Ich schlief auf dem Sofa ein. Meine Frau weckte mich im ersten Morgenlicht und sagte, dass die Mauer offen sei. Es heißt oft, Günter Schabowski habe mit seiner Pressekonferenz und seinen etwas wirren, vielfältig interpretierbaren Äußerungen über eine Grenzöffnung die Mauer zum Einsturz gebracht. Aber eigentlich war es der Fernsehmoderator Hanns Joachim Friedrichs. Um 22 Uhr 42 sagte er im Westfernsehen: »Dieser
9. November ist ein historischer Tag. Die DDR hat heute mitgeteilt, dass ihre Grenzen ab sofort für jeden geöffnet sind.« Danach gab es kein Halten mehr.
So einfach war das also.
Ich fuhr mit dem Auto zum Grenzübergang Heinrich-Heine-Straße. Es war früher Morgen, immer noch wurde jeder Trabbi von einer Menschenmenge jubelnd willkommen geheißen, zum Teil unter Zuhilfenahme von Sekt-Piccolos und langstieligen Rosen. Ich lud ein paar DDR-Bürger zu einer Spazierfahrt durch den Westen ein, zwei Frauen in den Vierzigern und einen wortkargen, bereits erwachsenen Sohn. Dass viele Ostdeutsche schon sehr jung Kinder kriegten, war im Westen weitgehend unbekannt – ach, wir wussten damals noch so wenig voneinander.
»Ich zeig euch Kreuzberg«, sagte ich.
»Der Kudamm würd mich mehr interessieren«, sagte eine der Frauen.
»Das schaffen wir nicht. Die Straßen sind zu voll.«
Wir standen bald im Stau und kamen nur im Schritttempo weiter.
»Det hier is doch Kreuzberg, oder?«, fragte eine der Frauen.
»Ja«, sagte ich. Um uns waren gesichtslose Neubauten, die auch in der DDR so ähnlich standen.
»Kreuzberg hab’ ick mir anders vorjestellt. Keene Türken? Wo issn die Szene? Was zeigt ihr denn im Westfernsehen fürn Quatsch?«
Die Passagiere stiegen nach ein paar Hundert Metern enttäuscht aus. Die Desillusionierung der Ostdeutschen begann für manche von ihnen schon in diesem Augenblick.
Dass die im Osten stärker berlinerten als die West-Berliner, wusste ich schon. Ich war oft im Ostteil. Für uns Bundesbürger ist das einfach gewesen, es gab nur den Zwangsumtausch. Die West-Berliner hatten einen Sonderstatus, für die war es komplizierter. Deshalb waren viele West-Berliner nie im Osten zwischen dem Mauerbau 1961 und 1989. Da waren Missverständnisse programmiert.
Ich ging im Osten billig essen, kaufte Bücher oder ging ins Kino. Der Osten erinnerte viele Westdeutsche an ihre Kindheit. Viele Menschen im Osten wollten, dass ihre Stadt möglichst bald so aussieht wie die Weststädte im Fernsehen, modern und proper. Aber ich fand Ost-Berlin niedlich und gemütlich. In beiden Teilen der Stadt stand die Zeit still, fand ich, aber im Osten war dieser Stillstand immerhin pittoresker. Ende Oktober war ich das letzte Mal drüben. In einer gut besuchten Kneipe, Schönhauser Allee, lief der Fernseher, natürlich das DDR-Programm. Aktuelle Kamera, die Tagesschau des Ostens. Alle schauten, niemand sagte was. Das war gespenstisch. Die politische Lage war explosiv, aber noch wagte keiner, sich durch einen Kommentar zu erkennen zu geben. Die DDR-Bürger hatten gelernt, misstrauisch zu sein, auf irgendwelche Erklärungen von Politikern gaben sie gar nichts.
Ein Ost-Berliner Freund, der nach der Wende anfing, für meine Zeitung zu arbeiten, schrieb unter einem Pseudonym, für den Fall, dass die alte Führung doch wieder ans Ruder kommt und es den Kollaborateuren an den Kragen geht. Und das 1990. Er weigerte sich, seine Texte durchzutelefonieren, was beim Tagesspiegel noch üblich war. Jedes Mal reiste er mühsam von zu Hause an und gab das Manuskript persönlich dem Redakteur in die Hand. Wer zum Teufel sollte das Telefon abhören und sich für Texte interessieren, die am nächsten Morgen eh in der Zeitung stehen? Vielleicht bin ich im gleichen Maß zu vertrauensselig, in dem er damals zu misstrauisch war.
Der Regisseur Heiner Carow, East Germany, feierte am 9. November 1989 im ausverkauften Kino International die Premiere von Coming Out, dem ersten Spielfilm der DDR, der von Homosexualität handelte. Carow hatte sieben Jahre gekämpft, bis die Kulturbürokratie ihren Widerstand aufgab. Coming Out brach sogar noch ein zweites DDR-Tabu. Im Film waren rechtsextreme Skinheads zu sehen, die in einem S-Bahn-Wagen einen Ausländer verprügelten. Offiziell gab es in der DDR keine Neonazis, die Existenz von Homosexualität auch im realen Sozialismus wurde immerhin nicht gänzlich bestritten. Der Verbotsparagraf 175 war im Osten zwar schon 1968 abgeschafft worden, viel früher als im Westen, aber die Tabus und Schikanen blieben.
Die ideologischen Mauern waren ins Wanken geraten, wer sollte da den Fall der steinernen Mauer noch aufhalten? Aber, wie gesagt, man hat nie genug Fantasie, um sich eine große historische Wende vorzustellen.
Es gab zwei Vorstellungen von Coming Out, um 19 Uhr 30 und um 22 Uhr. Die Stimmung im Saal soll euphorisch gewesen sein. Danach zogen große Teile der Ost-Berliner Intelligenz, darunter auch Carow, zum »Burgfrieden«. In dieser vom Staat halbherzig geduldeten Schwulenkneipe waren einige Szenen von Coming Out gedreht worden. Sie lag fußläufig zum Grenzübergang Bornholmer Straße. Viele benutzten für den Weg zum Burgfrieden eines der vielen Schwarz-Taxis. Auch private Taxis waren etwas, das es eigentlich nicht geben durfte.
Wusste wirklich niemand, dass draußen, vor der Kneipentür, gerade das letzte Kapitel der DDR-Geschichte begann und das erste Kapitel des neuen Berlin? Zwei Journalisten, die dabei waren, schrieben später über diese Nacht einen Artikel für die Zeitung Die Welt. Irgendwann sei ein zerstrubbelter Mann in den Burgfrieden gestürzt, er brüllte: »Die haben die Mauer aufgemacht!« Niemand glaubte ihm. Der Wirt sagte: »Trink eenen, und denn isset jut.«
Schließlich waren die Wartburgs und Trabbis nicht mehr zu überhören, die sich draußen, dicht an dicht, viele mit heruntergelassenen Scheiben, Richtung Grenze schoben. Die meisten Partygäste beschlossen, im Burgfrieden zu bleiben. Die beiden Zeugen schilderten, was der DDR-Intelligenz in diesem Moment über die Lippen kam.
»Was wird jetzt aus uns Ostkünstlern?«
»Der Westen hat gesiegt.«
»Das geht alles zu schnell.«
»Aber wir laufen nicht über.«
»Jetzt sind wir von dem Ast gefallen, an dem wir 40 Jahre lang gesägt haben.«
Manche weinten. Man beschloss, die Geschichte noch einmal auszusperren, für diesen einen, letzten Abend. Richtig froh schien nur der kranke Drehbuchautor Wolfram Witt zu sein. Er hoffte, jetzt endlich leichter an Medikamente aus dem Westen zu kommen, die er dringend brauchte. Nach der Wende kam heraus, dass Witt für die Stasi gearbeitet hat.
Welcher Westler kann wissen, ob er das nicht auch getan hätte? Für die überraschenden Wendungen der Geschichte fehlt einem die Vorstellungskraft, und für das, wozu man unter gewissen Umständen imstande wäre, fehlt einem die Illusionslosigkeit, sich selbst betreffend. Am erstaunlichsten finde ich immer noch, dass ausgerechnet die DDR-Intellektuellen, die kritisch waren, die gegen Tabus und für Wandel kämpften, die der Stachel im Fleisch des Regimes gewesen sind, am Ende die Rolle des letzten Mohikaners spielten. Die Unpolitischen, die Angepassten und Gleichgültigen wechseln in Wendezeiten schnell die Seite, die Loyalität der Systemkritiker aber ist nicht zu unterschätzen.
Als ich am 10. November wieder nach Hause kam, war für mich klar, dass ich keine Stellenanzeigen mehr lese. Alles würde ganz anders werden. Berlin war jetzt die interessanteste Stadt Europas. Da möchte man doch dabei sein. Zum Tagesspiegel kamen viele neue Kollegen, die auch dabei sein wollten, die Lethargie war weg. Einer der Neuen war Lorenz Maroldt, er würde nach ein paar Jahren Chefredakteur sein. Er war kein Fan des West-Fußballklubs Hertha BSC und auch keiner des Ost-Klubs Union, er war Fan des 1. FC Köln. Allein daran merkte man, dass in Berlin jetzt Dinge möglich waren, die vorher undenkbar schienen.
Kurz nachdem ich im Sommer 1994 beim Tagesspiegel als Redakteur angefangen hatte, bekam ich eine Absage, und zwar vom Tagesspiegel. Typisch Berlin, dachte ich. Meine Bewerbung lag dort jahrelang rum, ohne Reaktion, jetzt sagten sie ab. Dabei hatte ich meinen Lebenslauf nur deshalb dorthin geschickt, weil der damalige Chefredakteur mich darum bat. Jetzt war ich endlich fest angestellt worden, von einer neuen Chefredaktion, hatte auch schon meine ersten Konferenzen überstanden und Texte redigiert – und die Assistentin des früheren Chefredakteurs, der jetzt Herausgeber war, schrieb mir: »Leider konnten wir Ihre Bewerbung nicht berücksichtigen. Zu unserer Entlastung schicken wir Ihnen hiermit Ihre Unterlagen zurück.« Ich wunderte mich nicht wirklich, so war das hier in dieser Stadt nun mal. Aber ich war natürlich auch froh, dass ich meine neue Zeitung nicht mehr länger belasten musste. Später stellte sich heraus, dass der frühere Chefredakteur gleich nach der Wende vor allem Journalisten aus dem Osten suchte. Ich hatte damals beim Ost-Berliner Morgen als freier Mitarbeiter angefangen und war danach, als die Zeitung vom neuen Eigentümer eingestellt, also »plattgemacht« wurde, zur Ost-Berliner Neuen Zeit gegangen. Die war vor allem bekannt durch die kunstvoll gemalte Reklame auf einer Brandwand am Checkpoint Charlie. Die Redaktionen des Morgen und der Neuen Zeit saßen ein paar Hundert Meter weiter die Friedrichstraße hoch, aber zum Recherchieren kamen wir immer hierher an den Checkpoint Charlie und besetzten die ersten Telefonzellen im Westen. Nicht weil wir Angst davor hatten, abgehört zu werden, davon gingen wir sowieso aus, sondern um überhaupt erst einmal eine freie Leitung zu bekommen.
Der frühere Tagesspiegel-Chefredakteur dachte also, dass ich aus dem Osten komme, und dann stand in meiner Bewerbung: Geburtsort Köln, die Achtzigerjahre an der FU durchstudiert, und das auch noch am Otto-Suhr-Institut, international anerkannt für die Spezialisierung auf angewandte Revolutionswissenschaften. Kein Volontariat, nicht mal fürs Foto gekämmt, aktueller Wohnort Tempelhof. Und wahrscheinlich vor der Bundeswehr gedrückt. Solche Typen hatten sie hier schon genug.
Wegen der Bundeswehr bin ich damals nicht nach Berlin, da musste ich sowieso nicht hin: ausgemustert, T 5, für nichts zu gebrauchen. Die Ärztin beim Kreiswehrersatzamt hatte mir damals eine einfache Frage gestellt: »Wollen Sie, oder wollen Sie nicht?« Sie musste sich bei einer der vielen Friedensdemos einen Peace-Virus eingefangen haben. Ich wollte nicht, und sie hörte ein komisches Knirschen in meinem Knie, das war’s. Ich kam nach Berlin also nicht als Bundeswehrflüchtling wie so viele andere – Berliner wurden damals ja nicht »gezogen« –, ich kam Anfang der Achtzigerjahre als Langeweile-Flüchtling, und ein wichtiges Argument dabei war: Es gab keine Sperrstunde in Berlin.
Die ersten ein, zwei Jahre pendelte ich an den Wochenenden nach Berlin, das fing schon in der Schule an. Einige von uns hatten noch vor dem Abi eine Decke, dicke Socken, den Steppenwolf von Hermann Hesse und das Kursbuch – Revolte 81 in ihren Rucksack gestopft und waren ganz nach Berlin gezogen, die einen wegen Punk, die anderen wegen der Hausbesetzer. Und so gab es immer ein paar feste Anlaufpunkte: eine Ladenwohnung ohne Vorhänge oder Rollos, aber mit Vogelspinne in der Schöneberger Gotenstraße, eine düstere Hinterhauswohnung in der Görlitzer Straße in Kreuzberg, wo die Briketts in beiden Zimmern an den Wänden bis unter die Decke gestapelt waren, ein Erkerzimmer direkt an der Mauer in der Sebastianstraße, in das die Grenzer von ihrem Wachtturm aus glotzten. Es roch nach Ruß, es war duster, und es war arschkalt. Aber toll.
Nach Berlin zu kommen dauerte damals ewig, jedenfalls von Köln aus. Die Bahn brauchte sieben, acht Stunden, über die Autobahn ging es auch nicht schneller, und Fliegen war was für Popper mit Geld. In Helmstedt rissen die Grenzer in den Nachtzügen die Abteiltüren extralaut auf, wenn wir unsere Turnschuhe ausgezogen hatten, und unsere geliehenen Autos mit »Atomkraft? Nein danke«-Sticker auf der Heckklappe – also Käfer, Bullis, R4 und uralte Leichenwagen von Daimler – wurden genau inspiziert, nicht ohne spitze Bemerkung: »Können Sie sich keinen eigenen Wagen leisten?« Immer waren Umzugskisten voller Schallplatten, Fotos und anderem Krempel drin, von denjenigen, die ihre Zimmer in Berlin bereits bezogen hatten.
Unser Soundtrack auf dem nächtlichen Transit: Kassetten mit Live-Aufnahmen von The Cure und Siouxsie, so düster wie die Gegend um Irxleben, Würgsleben und Murxleben oder wie die sachsen-anhaltinischen Dörfer eben hießen, durch die der Weg nach Berlin führte, nur unterbrochen von leuchtenden Inseln mit D-Mark-Shops, wo es den Bison-Vodka mit Grashalm günstiger gab als bei Bolle in West-Berlin.
Mit den Siebzigerjahre-Hippies, die eine halbe Generation vor uns nach Berlin gekommen waren, konnten wir nicht viel anfangen. Sie stammten oft aus Süddeutschland, einige waren sogar aus Stuttgart hergezogen, die Männer hatten ganz lange Haare und die Frauen ganz kurze oder auch keine. Die meisten schwäbelten ein bisschen, pflegten ihre Kefirkulturen und waren seit mindestens zehn Jahren in der Abendschule im Mehringhof angemeldet, schafften es aber meistens nur bis ins »Ex«, so hieß das dortige Kneipenkollektiv. Sie taten so, als gehöre die Stadt ihnen.
Dass die Stadt ihnen gehöre, meinten auch diejenigen, die hier aufgewachsen waren: die Urberliner. Für die Älteren unter ihnen schmeckte Berlin noch nach Luftbrücke, sie befanden sich im permanenten Widerstand gegen alle Kommunisten jenseits und diesseits der Mauer, und das waren eigentlich alle, die keine B.Z. lasen. Die jüngeren West-Berliner strebten wie ihre Eltern eine Karriere als Busfahrer oder Sachbearbeiter in der Kfz-Zulassungsstelle an und gingen zu Hertha oder ins
»Sound«, wo sich Christiane F. ihren ersten Schuss gesetzt hatte. Und dann gab es auch noch die Achtundsechziger, unsere Lehrergeneration. Die saßen am Savignyplatz bei der »Dicken Wirtin« und erzählten von der »Schlacht am Tegeler Weg«, so wie ihre Väter von Stalingrad. Sie alle dachten, die Stadt gehöre ihnen. Aber Berlin gehörte jetzt uns.
Und wir lernten schnell: In der Pankstraße geht nicht der Punk ab, auch wenn es dort ein Straßenfest gibt. Am Anhalter Bahnhof wird nicht getrampt, das macht man an der Auffahrt Dreilinden, es sei denn, es geht mit dem Auto zur Demo nach Brokdorf, dann ist der Treffpunkt der »Kuckuck«, und der ist am Anhalter Bahnhof. Alles klar. Kuckuck hieß das alternative Kulturzentrum in einem besetzten Haus. Die Fassade war spektakulär bemalt: Auf der linken Brandwand der drei Gebäudeflügel waren druidenartige Anarchisten an einem Schmiedefeuer zu sehen, einer trug eine kleine schwarze Bombe mit Lunte davon. Über ihnen blitzte das Besetzersymbol auf, die Spitze ragte, als Holzkonstruktion verlängert, weit über die Fassade hinaus. Das Bild auf der mittleren Wand zeigte am Boden den Müll der Stadt und glatte Neubaufassaden, darüber träumten sich bunte, bewohnte Seifenblasen dem Himmel entgegen. Gefühl und Härte, das Motto zur Zeit. Das Haus stand mitten in der Stadt auf freiem Feld, es hatte den Krieg überlebt, links und rechts davon war alles weggebombt worden.