6,99 €
Der neue Glossenband des beliebten ZEIT-Journalisten
Harald Martenstein weiß, worauf es ankommt. Seine Texte bringen das Wesentliche immer auf den Punkt. Auch im neuen Band sind Kolumnen versammelt, die sich um die Widrigkeiten des Alltags drehen: Probleme, die die Menschheit seit Urzeiten mit sich herumschleppt oder welche, die manchmal nur so kurz aufblitzen, dass sie nur von Harald Martenstein verewigt werden können.
In seinen Gedankenlabyrinthen kann man sich kichernd verlieren oder auch stirnrunzelnd Zeitgeistanalyse betreiben. Auf Martenstein ist Verlass. Immer.
»Der Titel ist die halbe Miete« – eine grundlegende Weisheit von Verlagsleuten und Buchhändlern darf endlich beweisen, dass sie den Praxistest besteht.
Martensteins Roman »Heimweg« wurde mit dem Corine-Preis ausgezeichnet.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 145
Harald Martenstein
Der Titel ist die halbe Miete
Mehrere Versuche
über die Welt von heute
Die meisten Texte dieses Bandes erscheinen zuerst als Kolumnen in der Wochenzeitung DIE ZEIT. Im Tagesspiegel erschienen »Über Berlin«, »Über die deutsch-jüdische Tradition«, »Über die deutschen Bundeskanzler«, »Über den Einbürgerungstest«, »Über Hunde«, »Über Mahnmale«, »Über Peter Stein«, und »Über den Roman ›Ezra‹«. Die beiden Texte »Über Sex mit Tieren« stammen aus dem Magazin GEO.
1. Auflage
Copyright © 2008 by C. Bertelsmann Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbHISBN 978-3-641-01157-4
www.cbertelsmann.de
Mir ist ein Trend aufgefallen. Seit Jahren kommt ein Buch nach dem anderen auf den Markt, das im Titel das Wort »Anleitung« führt. In jüngerer Zeit sind unter anderem erschienen: Anleitung zum Unschuldigsein, Anleitung zum Männlichsein, Anleitung zum Alleinsein, Anleitung zum Zukunfts-Optimismus, Anleitung zur sexuellen Unzufriedenheit, Anleitung zum Mächtigsein, Anleitung zum Misserfolg, Anleitung zum Philosophieren, Anleitung zum erotischen Fesseln, Anleitung zum Dickwerden, Anleitung zum Müßiggang, Anleitung zum Jagdhornblasen, Anleitung zum Zickigsein, Anleitung zum Faulsein, Anleitung zum Flechten mit Weiden, Anleitung zum Selbstbetrug sowie die Anleitung zum Leben als Bodhisattva.
Diese Anleitungsbücher sind zum Teil von bekannten Autoren verfasst worden, ein paar von ihnen sind Bestseller. Einige sind vermutlich gut, andere nicht.
Das erste Anleitungsbuch, quasi die Anleitung zur Verfertigung von Anleitungstiteln, stammt, wenn ich nicht irre, von Paul Watzlawick. Es heißt Anleitung zum Unglücklichsein.
Ein nicht geringer Teil der Anleitungstitel ist ironisch gemeint, weil sie zu etwas anzuleiten vorgeben, worauf normalerweise kein Mensch Wert legt (Unglücklichsein, Misserfolg). Eine zweite Gruppe meint es mit dem Anleiten wahrscheinlich ernst (Flechten mit Weiden, sexuelles Fesseln). Die dritte Sorte von Titeln schillert in ihrer Aussage, denn das Faulsein oder der Selbstbetrug haben, nach meiner Lebenserfahrung, sowohl Licht- als auch Schattenseiten, man kann beides, je nachdem, wie man gestrickt ist, verdammen oder verteidigen. Ähnliches gilt für das Jagdhornblasen. In Untergruppe vier würde ich jene Anleitungsbücher einsortieren, die zu etwas anzuleiten vorgeben, was sich eigentlich gar nicht lernen lässt, zum Beispiel Unschuldigsein. Dies ist ebenfalls Ironie, aber eine andere Art von Ironie als bei Gruppe eins.
Vor einiger Zeit musste ich mit Verlagsleuten über einen Buchtitel diskutieren. Jemand sagte: »Bei einem Buch ist der Titel die halbe Miete.« Da schlug ich spontan als Titel vor: Der Titel ist die halbe Miete. Die Verlagsleute meinten, so eine Art von Ironie würde nicht verstanden werden. Wenn das Buch aber tatsächlich unter diesem Titel herauskommt und ein Erfolg wird, dann werden sehr bald Bücher erscheinen, die Der Titel zumindest ist schon mal ziemlich geil heißen oder Buch ohne Titel, aber mit umso interessanterem Text.
Andererseits wird nicht jeder Bestsellertitel kopiert. Nach Der Schwarm ist ja keineswegs ein Roman herausgekommen, welcher Das Rudel hieß, auf Das Parfum ist nicht Das Shampoo gefolgt. Susanne Fröhlich aber hat an ihr Gewichtsproblembuch Moppel-ich sogleich das Faltenproblembuch Runzel-ich drangehängt, als Nächstes dürften das Gehproblembuch Wackel-ich und das Vergesslichkeitsbuch Schussel-ich herauskommen.
Da habe ich begriffen, dass es sich, damit man sie kopieren kann, bei der Titelidee um ein klares, einfaches Prinzip handeln muss. Den größten Ehrgeiz bei der Titelfindung haben bekanntlich die Friseure, das Schreiben über drollige Friseurnamen wie »Haarem« oder »Mata Haari« ist fast schon ein eigenes journalistisches Genre. Folgende Friseurnamen habe ich persönlich erfunden und erhebe Copyright: »Haarmageddon«, »Haary, hol schon mal den Wagen«, »Haarminia Bielefeld«, »Haarabische Liga« sowie speziell für den Salon von Susanne Fröhlich: »Zottel-ich«. Mehr davon finden Sie in meinem Bestseller Anleitung zum Friseurnamenerfinden.
Für die Zugfahrt zur Documenta hatte ich ein Buch des neuerdings bei Intellektuellen hoch angesehenen, christlich-konservativen Denkers Nicolás Gómez Dávila gekauft. Es handelt sich um christlich-konservative Aphorismen.
»In demokratischen Epochen verbringt alles Überlegene die Zeit damit, sich zu entschuldigen.«
»Das Kunstwerk ist ein Pakt mit Gott.«
So gehen Aphorismen von Dávila. Nun einige Aphorismen aus meiner Produktion.
Der Irrtum der Konservativen besteht darin, dass man Hochmut nicht essen kann.
Der Sozialist glaubt an den Fortschritt. Der Konservative glaubt an handgenähte Maßschuhe.
Gute Kunst drückt komplizierte Gedanken auf einfache Weise aus. Schlechte Kunst drückt einfache Gedanken auf komplizierte Weise aus.
Bei der Documenta traf ich dann zufällig Kurt Beck. Er machte einen Rundgang, hinterher sagte er in ein Mikrofon: »Ich habe mir diese Dichte an Eindrücken so nicht vorgestellt.«
Er war erstaunlich dünn. Angeblich ist Kurt Beck im Urlaub 80 Kilometer am Tag Rad gefahren. Wie Scharping. Schon wieder ein SPD-Vorsitzender, der exzessiv Rad fährt und den die Partei killt.
Radfahren ist der Extremismus der linken Mitte.
In der Halle, die Kurt Beck besichtigt hatte, waren Fotos einer älteren Dame zu sehen, Jo Spence, sie fotografiert häufig sich selber mit nackten Brüsten, auf eine ihrer Brüste hatte sie geschrieben: »Eigentum von Jo Spence.« Ein einfacher Gedanke, einfach ausgedrückt. Daneben standen etwa ein Dutzend E-Gitarren auf dem Boden, die abwechselnd einen Akkord spielten, immer den gleichen. Ein Mann fragte seinen Begleiter: »Da brauchst du viel Platz. Wer kauft so etwas?« Der andere Mann, ein Galerist, erklärte, es gäbe zwei Sorten Kunst, erstens Kunst für den Privatverbrauch, zweitens Museumskunst. Früher hätten die Museen aus der Gesamtmasse der Kunst herausgekauft, was als besonders gut oder typisch galt, heute würden viele Künstler direkt fürs Museum produzieren, zum Beispiel dieser Typ mit den Gitarren. Weil die meisten Museen immer geringere Anschaffungsetats hätten, sei die Museumskunst in der Krise und würde vielleicht sogar wieder verschwinden.
Ich bemerkte, dass die meisten Kunstwerke der Documenta darauf abzielten, einen Denkanstoß zu geben. Das Problem bei Denkanstößen besteht darin, dass sie nur ein Mal funktionieren, wie Chinakracher. Sobald man kapiert hat, was das Werk sagen will, kann man es abhaken.
Es gibt drei Arten von Kunst. Vieldeutige Kunst, dekorative Kunst und schlechte Kunst.
Auffällig war ein Maler, der riesige Bilder herstellte, auf denen jede Person, unabhängig von ihrem Geschlecht, einen erigierten Penis besaß, in Rot oder Lila. Die Personen taten so dies oder das, ihre Penisse waren ausnahmslos damit befasst, zu ejakulieren. Auf einem Bild war die Jungfrau Maria zu sehen, selbstverständlich ebenfalls mit einem ejakulierenden Penis versehen.
Die provokative Kunst ist ebenso gedankenarm wie die röhrenden Hirsche, die es früher im Kaufhaus gab.
Ich schaute, wie der Maler hieß. Manno, der hieß ebenfalls Davila! Juan Davila! Ich habe mir sofort ein Familiendrama vorgestellt. Der alte, elitäre Dávila schnarrt »Das Kunstwerk ist ein Pakt mit Gott«, worauf der junge, provokative Davila sofort lila Penisse an alle Heiligenbildchen seines Vaters malt.
Juan Davilas Kunst ist ein Pakt mit dem Penis.
Ich dachte, wenn es so ist, dann verzeihe ich der von ihrem Schöpfer mit zwei Furien unserer tragischen Gegenwart geschlagenen Familie Davila fürs Erste, aber dem Kurt Beck, dem verzeihe ich nicht, denn die Zahl »80 Kilometer am Tag« war garantiert übertrieben.
Bei uns in Berlin ist schon wieder eine neue Institution gegründet worden, der oder das Berlin-Board. Diese neue Institution soll eine Werbekampagne dirigieren, welche demnächst weltweit losbrechen wird. Überall in der Welt, von Feuerland bis Santa Fu, sollen die Menschen erfahren, wie geil Berlin ist.
Ich verstehe das nicht. Brad Pitt und Angelina Jolie sind doch auch ohne Werbekampagne nach Berlin gekommen, angeblich wollten sie sogar hierherziehen. Aber das reicht offenbar nicht. Sie wollen auch Liz Taylor. Bis auf Weiteres kostet die Maßnahme »Liz Taylor soll nach Berlin ziehen« Berlin fünf Millionen Euro im Jahr. Dem Gremium gehören unter anderem der Vorstandschef von Bayer, die Chefin des Fernsehsenders MTV und der Bundesvorsitzende der Jusos an sowie Frank Schirrmacher und ein Genforscher namens Thomas Tuschl.
Die erste Aufgabe des Berlin-Boards besteht darin, einen neuen Werbespruch für Berlin zu finden, oder ein Branding. Der Regierende Bürgermeister sagt lieber Branding, eine unbewusste Hommage an seinen Vorgänger Willy Brandt. Es gibt bereits einen Arbeitstitel für das Branding und zwar »City of Change«, was man in der anglophonen Welt, je nach Situation und soziokulturellem Hintergrund, mit »Stadt des Geldwechselns«, »Stadt des Kleingelds«, »Stadt der Veränderung« oder »Stadt des Sich-dauernd-Umziehens« übersetzt. Das Sich-dauernd-Umziehen, würde ich spontan sagen, ist nicht jedermanns Sache. Kleingeld findet jeder gut. Aber gerade an Kleingeld fehlt es in Berlin doch immer!
Der Bürgermeister jedenfalls hat gesagt, dass in der weltweiten Kampagne generell die Stärken von Berlin herausgestellt werden sollen. Es wäre seiner Ansicht nach unklug von dem Board, die Schwächen Berlins herauszustellen.
Jetzt besteht aber das Problem, dass man erst einmal herausfinden muss, was überhaupt als Stärke von Berlin in der Welt wahrgenommen wird. Wenn es zum Beispiel, was meiner laienhaften Erfahrung nach bei der Jugend der Welt gar nicht so selten der Fall ist, heißen würde, »in Berlin ist die Rum-Cola billig, die Bullen sind überfordert und es gibt keine Sperrstunde«, dann könnte der Slogan theoretisch »City of Hangover« heißen – das aber stößt, abgesehen von der Verwechslungsgefahr mit Hannover, natürlich auch wieder Menschen ab.
Deswegen haben sie eine Werbeagentur damit beauftragt, überall in der Welt das Image von Berlin zu erforschen und es dann dem Berlin-Board mitzuteilen. Wie man das erforscht, weiß ich auch nicht. Interessanterweise stand in der Zeitung direkt neben dem Artikel über das Berlin-Board eine Meldung über das Sankt-Hedwigs-Krankenhaus in Berlin, wo sie 47 Patienten ihre künstlichen Kniegelenke falsch eingesetzt haben. Wenn man ein Kniegelenk falsch herum trägt, tritt man sich jedes Mal, wenn man einen Schritt tun möchte, in den Po. Das wäre ja für Liz Taylor ein Albtraum.
Sie hatten aber die Gelenke erstaunlicherweise richtig herum eingesetzt, nur hatten sie vergessen, die Gelenke am restlichen Bein zu befestigen, sodass bei den 47 Patienten das neue künstliche Kniegelenk im Bein herumschlackerte wie eine Flipperkugel. Das Einsetzen von künstlichen Kniegelenken gehört offenbar eher zu den Schwächen von Berlin und wird in der weltweiten Kampagne »Liz Taylor soll nach Berlin ziehen« folglich nicht herausgestellt werden. Eine Werbekampagne, die vorher nicht gründlich durchdacht worden ist, bringt nämlich nichts.
Früher waren Bücher für mich ein Statussymbol. Ich dachte: »Wer meine Wohnung betritt, erkennt sofort, dass er es mit einem gebildeten Menschen zu tun hat, einem Menschen, mit dem eine nähere Bekanntschaft intellektuell lohnt.« Heute kommt mir das albern vor. Meine Persönlichkeit kann ich doch auch anders rüberbringen. Man braucht nicht so viele Bücher. Das, was man wirklich braucht, ist Platz.
Gut, an ein paar Büchern hängt man. Ein paar Romane findet man so gut, dass man sie Freunden leihweise aufdrängt. Aber normalerweise liest man einen Roman, auch einen guten, kein zweites Mal. Ich habe beschlossen, dass meine Wohnung nicht wie eine Bibliothek aussehen soll.
In meiner Wohnung stehen zurzeit etwa 2000 Bücher. Das ist, glaube ich, relativ wenig für jemanden mit meinem Beruf. Ich hatte mal mehr, ich habe viel verschenkt oder weggeworfen oder sogar verbrannt. Pro Jahr lese ich etwa 80 Bücher, normalerweise eines pro Woche, im Urlaub eines am Tag. Dazu kommen Nachschlagewerke et cetera, pro Jahr wächst der Bücherbestand um mindestens 100.
Seit einiger Zeit überlege ich mir bei jedem Buch nach der Lektüre, ob ich es wirklich, wirklich behalten möchte. Falls dem so ist, sortiere ich dafür ein anderes aus, welches ich der Stadtbibliothek stifte oder, falls es zu zerfleddert ist, irgendwo liegen lasse. Ich schenke meinen kleinen zerfledderten Freunden die Freiheit. Vielleicht finden sie ein neues Herrchen beziehungsweise Frauchen.
Meine kleine Bibliothek wird, für mich, immer besser, wie eine Soße, die man einkocht. Es stehen immer weniger Autoren darin. Es finden Verdrängungswettkämpfe statt. Zuletzt habe ich für Böse Schafe von Katja Lange-Müller mein einziges Julia-Franck-Buch aussortiert, eine Autorin, die sicher ganz gut ist, aber mit der ich nichts anfangen kann. Ich habe den Bayern Ludwig Thoma und den Aphoristiker Dávila* weggetan, wichtig, wichtig, gewiss, aber nicht mein Ding.
Von Autoren, die ich eigentlich mag, sortiere ich weg, was ihnen in meinen Augen misslungen ist, das peinliche Die Kluft von Doris Lessing, von Woody Allen die Pure Anarchie, sterbenslangweilig, auch Montauk von Max Frisch kann mir gestohlen bleiben, ich bin zweimal dabei eingeschlafen. Für Mobbing von Annette Pehnt wurde A Long Way Down von Nick Hornby freigesetzt.
Ich werde niemals mehr ein zusätzliches Bücherregal brauchen. Ich werde am Ende nur noch Bücher besitzen, von denen ich überzeugt bin. Im Moment schauen mich aus dem Regal noch zahlreiche Fremde an, eines Tages stehen dort nur noch Freunde.
Mit allen anderen Besitztümern sollte man es genauso halten. Irgendwann im Leben sollte man einen Strich ziehen. Genug Besteck, genug Bilder, genug Bettbezüge. Neue Gegenstände werden nur dann aufgenommen, wenn sie sich gegen einen der Platzhalter qualifizieren, ansonsten: Annahme verweigert. Status, materieller Wert oder Angebertum dürfen keine Rolle spielen, es zählen nur Schönheit, Witz oder emotionale Werte, zum Beispiel bei Geschenken, die ruhig hässlich sein dürfen, falls sie an eine angenehme Bekanntschaft erinnern.
* Dazu auch: »Über Aphorismen«