Wut - Harald Martenstein - E-Book

Wut E-Book

Harald Martenstein

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Beschreibung

Frank erlebt die Wut seiner Mutter als wilde Ausbrüche. Er liegt unter dem Bett, und sie stochert mit dem Besenstiel nach ihm. Wenn er unter dem Bett bleibt, verliert er, wenn er hervorkrabbelt, verliert er erst recht. Niemand scheint zu bemerken, dass er regelmäßig verprügelt wird. Die Lehrer nicht, sein Vater nicht. Nur die Großmutter sagt hin und wieder etwas zur Mutter. Dann ist für ein paar Wochen Ruhe. Als Kind beginnt Frank zu verstehen, dass er den Träumen seiner alleinerziehenden Mutter im Weg steht. Als Jugendlicher beginnt er zu ahnen, dass sie selbst traumatisiert worden sein muss: Im Krieg, in dem Bordell, wo sie in der Nachkriegszeit Unterschlupf fand, in der Klosterschule, die sie aufnahm, weil sie so intelligent war. Eines Tages eskaliert ein Streit, und die Nachbarn rufen die Polizei. Frank springt panisch aus dem Fenster, doch niemand glaubt ihm, dass er von seiner Mutter angegriffen wurde. Er kehrt nie wieder nach Hause zurück, sondern meistert sein Leben von diesem Moment an selbst. Ein Roman darüber, wie schwer es ist, die Wunden der Kindheit zu heilen.

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Wut

Der Autor

HARALD MARTENSTEIN, geboren 1953 in Mainz, ist ein deutscher Journalist und Autor. Seit 2002 schreibt er eine Kolumne für Die Zeit, die auch im RBB und im NDR zu hören ist. Für seine Arbeit wurde er mit dem Egon-Erwin-Kisch-, dem Henri-Nannen- und dem Theodor-Wolff-Preis ausgezeichnet. Außerdem lehrt er an der Bundesakademie für kulturelle Bildung Wolfenbüttel und an Journalistenschulen in Österreich und der Schweiz. Harald Martenstein lebt in Berlin.

Das Buch

»Ich bin in der Wohnung meiner Mutter, morgen kommen Möbelpacker. Sie ist jetzt im Heim und versteht nicht mehr, was um sie herum geschieht. Die letzten Monate waren hart, mehr für sie als für mich. Sie hat gekämpft um ihr selbstständiges Leben, mit allen Mitteln, sie hat getobt, sie hat geschmeichelt, sie hat mit den besten Anwälten gedroht, sie kannte die Namen, obwohl sie gar nicht mehr telefonieren konnte. Sie vergaß fast alles, nur nicht ihren Freiheitswillen. Sie ist eine große Kämpferin, die man vor der letzten Kraft schützen musste, die sie noch besaß. Jetzt hat sie endlich aufgegeben. Meinen Vater habe ich geliebt, vor meiner Mutter hatte ich Angst. Wir haben jahrelang nicht miteinander gesprochen. Zeitweise habe ich sie gehasst. Als sie sehr jung Mutter wurde, war ich wohl so etwas Ähnliches wie jetzt die Krankheit, etwas, das sie daran hinderte, frei zu sein. Es gibt Dinge, die ich ihr nicht verzeihen kann, obwohl ich sie verstehe. Erst als sie schwächer wurde, konnte ich das plötzlich. Es ist leichter, zu verzeihen, wenn man der Stärkere ist.«

Harald Martenstein

Wut

Roman

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de

ISBN 978-3-8437-2460-9

© 2021 by Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinUmschlaggestaltung: Sabine Wimmer Berlin Umschlagmotive: Gerald von Foris, München Autorenfoto: Hans Scherhaufer, Berlin E-Book Konvertierung powered by pepyrus.comAlle Rechte vorbehalten

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Inhalt

Der Autor / Das Buch

Titelseite

Impressum

Prolog

MARIA

FRED

IMMACULATA

SAID

GRETA

RICHIE

HEMINGWAY

CORAZON

LUCKY

TONI

Epilog

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Prolog

Motto

Gerechtigkeit ist nur in der Hölle, im Himmel ist Gnade, und auf Erden ist das Kreuz.

Gertrud von le Fort

Prolog

Ich bin in der Wohnung meiner Mutter, morgen kommen Möbelpacker. Sie ist jetzt im Heim und versteht nicht mehr, was um sie herum geschieht. Die letzten Monate waren hart, mehr für sie als für mich. Sie hat gekämpft um ihr selbstständiges Leben, mit allen Mitteln, sie hat getobt, sie hat geschmeichelt, hat mit den besten Anwälten gedroht, sie kannte die Namen, obwohl sie gar nicht mehr telefonieren konnte. Sie vergaß fast alles, nur nicht ihren Freiheitswillen. Sie ist eine große Kämpferin, die man vor der letzten Kraft schützen musste, die sie noch besaß. Jetzt hat sie endlich aufgegeben.

Meinen Vater habe ich geliebt, vor meiner Mutter hatte ich Angst. Wir haben jahrelang nicht miteinander gesprochen. Zeitweise habe ich sie gehasst. Als sie sehr jung Mutter wurde, war ich wohl so etwas Ähnliches wie jetzt die Krankheit, etwas, das sie daran hinderte, frei zu sein. Es gibt Dinge, die ich ihr nicht verzeihen kann, obwohl ich sie verstehe. Erst als sie schwächer wurde, konnte ich das plötzlich. Es ist leichter, zu verzeihen, wenn man der Stärkere ist. Wenn man sich ohnmächtig fühlt, gibt einem der Hass wahrscheinlich die Kraft, die man braucht. Und irgendwann muss man sowieso damit aufhören, den Eltern die Schuld an dem fehlerhaften Menschen zu geben, der man ist.

Sie war klug und stark, aber für Frauen wie sie war die Zeit noch nicht reif. Kurz vor dem Abitur hat sie die Schule geschmissen, weil sie dachte, ein toller Mann, mein charismatischer Vater, der Jagdflieger und Jazzmusiker, sei die Lösung für sie. Danach probierte sie es mit anderen Männern, aber das Problem, das sie hatte, lässt sich nicht mit der richtigen Partnerwahl lösen. Sie durfte nie zeigen, was sie kann, und wurde sehr wütend. Das hat sie mir, ihrem Kind, zu spüren gegeben. Das Kind in mir wird ihr nicht verzeihen, der Erwachsene kann es.

Ich habe die Möbel und sonstigen Sachen zusammengesucht, die in ihrem neuen, kleinen Zimmer um sie sein sollen und die sie vielleicht mag, sie selbst kann das nur noch ganz vage sagen. Der Plattenspieler, eine schöne Vase. Ein Foto des Geliebten, an dem die Ehe mit meinem Vater zerbrach. Das immerhin weiß ich von ihr. Darf ich ihre Mails lesen? Besser, man lässt es. Ich hatte eine Fantasie, all die Söhne und Töchter, die in genau diesem Moment genau das Gleiche tun und die gleichen Fragen wälzen wie ich, ein riesiger Split-Screen. Und dann dachte ich, dass in einigen Jahren, gar nicht so vielen, meine Söhne oder meine Witwe das Gleiche tun werden wie ich heute. Man muss rechtzeitig aufräumen.

Sie hat jede Karte aufgehoben, die ich ihr geschickt habe, jedes Foto, Zeitungsartikel, kleine Geschenke, alles, auch in den Jahren, in denen wir nicht miteinander sprachen. Sie hat mich nie aufgegeben, ich sie dagegen schon. Ich schämte mich, weil ich gnadenlos war. Ich dachte, es ist gut, dass sie nicht einfach so stirbt, sondern noch eine Weile in diesem Zwischenreich lebt. Sie wird nicht verstehen, was ich ihr sage, aber sie wird spüren, wenn ich sie streichle.

Dies ist eine Geschichte, die ich erst heute schreiben kann, nach so langer Zeit, noch vor 20 Jahren hätte ich es nicht gekonnt. Sie würde diese Geschichte nicht mögen. Ich mag sie auch nicht. Wir sehen beide nicht gut aus darin.

Und dies ist ein Roman, keine Biographie und keine Reportage. Ein Anderer als ich könnte ihn nicht schreiben, denn ich arbeite, wie jeder Romanautor, im Steinbruch meiner Erinnerungen, eigne mir dieses an, verwerfe jenes, erfinde dazu und vergesse. Ich habe mir alle Freiheiten genommen, die das Genre Roman gestattet. Für manche Personen gibt es Vorbilder, aber in diesem Roman leben sie alle ihr eigenes Leben, keine reale Person ist gemeint. Wer glaubt, sich zu erkennen, irrt sich. Ich beschreibe nur Zustände. Wenn aber die vielen etwas wiedererkennen, die unter ähnlichen Bedingungen aufgewachsen sind, habe ich mein Ziel erreicht.

Der Erzähler heißt Frank.

An einem bestimmten Punkt der Geschichte habe ich mich gefragt: Was hätte ich getan, wenn ich ein anderer wäre? Was hätte geschehen können, wenn ich einen anderen Ausweg gesucht hätte als den, den ich schließlich gefunden habe? Als ich mit dem Schreiben anfing, ein paar Tage vor jenem Tag in der Wohnung meiner Mutter, dachte ich, dass es eine Erleichterung wäre zu erzählen. Das war ein Irrtum.

MARIA

Ich muss damals zwölf gewesen sein, oder dreizehn. Wir wohnen schon in dem Hochhausviertel. Die Tür meines Zimmers ist mit meinem Tisch und mit Stühlen verbarrikadiert, ich habe das gemacht. Einen Zimmerschlüssel besitze ich nicht, Maria hat ihn mir abgenommen.

Die Erinnerung beginnt mit einem Geräusch. Maria tritt die Tür auf, als wäre das gar nichts. Die Barrikade schiebt sie einfach weg. Sie war unglaublich stark.

Ich krieche unters Bett. Sie holt den Besen, mit dem Besen schlägt und stochert sie unter dem Bett nach mir. Dabei schreit sie: »Komm raus, Drecksau, verkriech dich nicht, du Stück Scheiße.« Die genauen Worte habe ich vergessen, es war etwas in dieser Art. Ich erinnere mich an den Staub unterm Bett. Ich kann ihn heute noch riechen. Maria achtete sehr auf Sauberkeit, deshalb habe ich mich gewundert. Aber ein bisschen Staub ist unter einem Bett natürlich immer da. Als Kind weiß man das nicht. Ich erinnere mich an Bettfedern, die an meinen Rücken drückten, und an den Besenstiel, der mich aber nur ein, zwei Mal voll trifft. Die meisten Stöße kann ich mit Händen und Füßen abfangen. Nach einer Weile wird sie ruhig und eisig. Sie sagt: »Komm raus, dir passiert nichts. Ich will nur mit dir reden.«

Ich wusste, dass man ihr, wenn sie in diesem Zustand war, nicht trauen konnte. Andererseits kann ich nicht ewig unter diesem Bett bleiben. Ich gehe ihr sowieso nicht durch die Lappen. Die Wohnungstür hat sie garantiert abgeschlossen und den Schlüssel versteckt.

Als ich hinausgekrochen bin, packt sie meine Haare und reißt den Kopf hin und her, ungefähr wie man eine Fahne schwenkt. Dann nimmt sie mir vorsichtig die Brille ab. Jetzt geht das Ohrfeigen los.

Maria hat mich nach meiner Erinnerung fast immer ins Gesicht geschlagen. Der Rest des Körpers hat sie nie interessiert. Sie schlägt, bis ihre Arme müde werden. Dabei schreit sie ununterbrochen, dass ich ihr Unglück bin, dass ich ihr Leben kaputt mache, dass ich undankbar bin, dass ich ins Internat komme, solche Sachen. Wenn ihre Arme eine Pause brauchen, drückt sie mich an die Wand und bringt ihr Gesicht ganz nah an meines. Da passt nur ein Stück Papier zwischen unsere Gesichter. Auge in Auge. Sie schreit, dass ich genauso bin wie mein Vater. Ein Stück Scheiße eben. Ein Feigling. Der Schlappschwanz des Jahrhunderts. Manchmal spuckt sie mich an, aus kurzer Distanz. Das macht mir mehr aus als die Schläge. Weil sie das mitbekommen hat, tut sie es erst recht. Wenn sie mit Schreien und Spucken fertig ist und sich ihre Arme erholt haben, geht wieder das Ohrfeigen los.

Das ist wie ein Film, der jahrelang immer wieder in meinem Kopf abgelaufen ist. Warum erinnere ich mich gerade an diese eine Szene so intensiv, die mit dem Bett? Vielleicht, weil ich nur ein einziges Mal unter das Bett gekrochen bin. Oder deshalb, weil sie an diesem speziellen Tag unbedingt wollte, dass auch mein Stiefvater mitmacht. Sie brüllt ihn an, tu du doch auch mal was, zeig endlich, dass du ein Mann bist und kein Schwächling. Zeig’s ihm. Ich habe in Erinnerung, dass er sich irgendwie gedrückt hat, wahrscheinlich hat er gesagt, dass er noch zu einem Kunden fahren muss. Er hat mich tatsächlich nie geschlagen, obwohl wir uns nicht mochten und nur das Nötigste miteinander redeten. Bestimmt hat sie ihn sich deswegen hinterher zur Brust genommen. Es wäre einfacher für ihn gewesen, ein paar Mal mit halber Kraft zuzuschlagen.

Mein echter Vater hat mich auf ihren Wunsch ein paar Mal übers Knie gelegt, so hieß das damals. Es war eine richtige Zeremonie. Ich musste vorher die Hose und die Unterhose runterlassen und mich nach vorne beugen, über seine Beine. Dann schlug er mir auf den Hintern, was wirklich eine Kleinigkeit ist, verglichen mit dem Gesicht. Aber das kam selten vor. Vielleicht ist es sogar nur ein oder zwei Mal gewesen. Ich war damals noch klein, höchstens sechs. Später wohnte er nicht mehr bei uns, und er machte so etwas nicht von sich aus. Ich habe in Erinnerung, dass er schwach zuschlug, nicht mal mit halber Kraft, da war nicht dieser unglaubliche Wumm und dieser Hass dahinter wie bei Maria. Er hat mich nicht angeschaut hinterher und ging schnell aus dem Zimmer. Es war ihm unangenehm.

Marias Männer waren immer weich. Ich glaube, dass Marias Stärke und ihre unglaubliche Energie und natürlich ihr tolles Aussehen sie angezogen haben. Wenn man sich ihr unterordnete, wenn man nicht zu dünnhäutig war, dann ging es. Heute glaube ich, dass sie die Männer, die sie liebten, alle verachtet hat. Mit einer Ausnahme. Sie wollte etwas Viriles, Starkes. Einen, der ihr ebenbürtig war und ihr Paroli bieten konnte. Aber wie hätte das funktionieren sollen, sie und einer, der genauso tickt wie sie? Es wäre auf Mord und Totschlag hinausgelaufen.

Für mich wäre es leichter gewesen, wenn ich geheult und um Gnade gefleht hätte. Dann hätte sie früher aufgehört. Ein bisschen Gewinsel, und sie hätte aufgehört. Nicht sofort, aber bald. Ich war der Mann, von dem sie träumte. Ich war stark, ich habe niemals klein beigegeben. Und ich wusste, sie will genau das. Sie will, dass ich in meinem Blut, meinem Rotz und meiner Pisse auf dem Boden krieche und um Gnade winsele, aber das habe ich nicht gemacht. Jedenfalls nicht, als ich schon etwas größer war. Vielleicht war es so, als ich drei gewesen bin, das habe ich vergessen. Ja, irgendwann muss ich kapiert haben, was sie will. Und genau das hat sie nie bekommen.

Ich habe niemals geweint. Ich habe sie angegrinst. Ich habe gelacht, während sie sich die Arme müde schlug, rechts, links, immer voll in die Fresse. In ein lachendes Gesicht. Ich habe dabei gedacht: »Ich bin eine Festung. Diese Festung ist uneinnehmbar. Niemand kommt durch meine Mauern.«

Das hat sie rasend gemacht. Dieses Lachen. Ich habe es gemacht wie Muhammad Ali in dem berühmten Boxkampf gegen George Foreman, Zaire, Rumble in the Jungle. Muhammad Ali stand in seiner Ecke, er wehrte sich kaum, er ließ diesen unglaublich starken und wilden Foreman einfach schlagen, bis Foreman endlich müde war, und am Ende blieb Ali der Sieger. Sie war unbesiegbar, wie Foreman. Aber ich habe gewonnen, wie Ali. Ich habe ihr in die grünen, wutverheulten Augen geschaut und gelacht, bis sie nicht mehr konnte. Das nächste Mal würde sie noch härter zuschlagen, aber ich würde auch dann nicht zu Boden gehen, niemals. Sie hätte mich schon totschlagen müssen, um zu gewinnen. Aber davor hatte sie Angst, und das wusste ich.

Ich bin ins Plaudern geraten, fürchte ich. Ich habe mich in Kindheitserinnerungen verloren.

Viele Erinnerungen habe ich nicht. Meine Kindheit ist nur in Bruchstücken vorhanden. Es sind wenige Szenen, die kurz aufleuchten, in einer leeren Weite des Vergessens. Niemals weiß ich, ob mir meine Erinnerung nicht einen Streich spielt. War es denn wirklich so?

Wenn ich auf meine Geschichte zurückblicke, öffnet sich irgendwann ein Vorhang, das Licht geht an, und ich stehe da, ein Erwachsener auf der Bühne des Lebens, der nicht weiß, wie er da hingekommen ist, in diesen Lichtkegel. Da sind eben nur diese Bruchstücke, Splitter, einzelne grell beleuchtete Bilder, eingebettet in das Vergessen. Die Erinnerung an die Schule ist ab der dritten, vierten Klasse ganz passabel. Da fallen mir Namen ein und ein paar Vorfälle. Das, was zu Hause passierte, ist weg. Bis heute bin ich ein Mensch, der viel vergisst, nicht Termine, nicht Verpflichtungen, das funktioniert, aber das Leben als solches vergesse ich. Manchmal treffe ich Leute, die behaupten, wir seien gute Freunde gewesen, sie erzählen von gemeinsamen Partys, von Streichen, von einer Schülerzeitung, die wir gemeinsam gemacht hätten. Ich weiß nicht, wovon sie reden.

Man denkt da sofort an Verdrängung. Aber das trifft es nicht. Soweit ich weiß, verdrängen Menschen das Unangenehme, das, womit sie nicht zurechtkommen. Mein Gehirn speichert auch angenehme Erinnerungen nicht. Es ist nun mal aufs Löschen programmiert, egal was, es wird gelöscht, sofern die Information nicht notwendig ist, um sich im Leben zurechtzufinden. Und sogar das Notwendige vergesse ich manchmal. Es kommt vor, dass ich mich auf dem Heimweg verirre, oder sogar überrascht bin, wenn jemand sich für eine Einladung vom Vortag bedankt.

Alles, was ich erzähle, ist unter diesem Vorbehalt zu sehen. Ich kann mich täuschen, es kann anders gewesen sein. Einmal, vor Jahren, wollte auf dem Amt ein Mann von mir wissen, wo ich wohne, ich musste kurz überlegen, die Scham, die ich dabei empfunden habe, erinnere ich noch gut. Mein Gedächtnis kommt mir vor wie eine unaufgeräumte Kiste. Du greifst hinein und weißt vorher nie, was du in der Hand halten wirst, eine abgebrochene Türklinke, ein Bündel alter Briefe, eine Dauerwurst oder den Reisepass.

Die Festplatte ist also fast leer. Dafür hat das Gehirn den Arbeitsspeicher großzügig ausgeweitet. Sie würden staunen. Alles hat sein Gutes. Ich lese ein Buch und kann mir für eine gewisse Weile alles merken, fast jeden Satz. Die geistige Energie, die andere für ihr privates Gedächtnis aufwenden müssen, steht mir für andere Aufgaben zur Verfügung, und das ist praktisch.

Mit Leuten zu reden, die ich nicht gut kenne, strengt mich an. Wenn ich die Wahl hätte, mit ein paar unbekannten Menschen, Fremden, kostenlos eine Weltreise zu machen oder stattdessen drei Wochen allein zu Hause zu bleiben, würde ich sofort Letzteres wählen. Ich will niemanden kennenlernen.

Die wenigen Szenen, die noch da sind, habe ich vor mir wie einen Film. Ich betrachte sie, als ob ich einem Fremden zusehe, einem Darsteller, wirklich wie im Kino, ich erkenne auch die Emotionen und kann sie beschreiben, aber ich empfinde nichts mehr dabei. Deshalb habe ich keine Ahnung, ob es wirklich so gewesen ist.

Ich weiß, dass sie manchmal ein nasses Handtuch genommen hat, damit es keine Spuren gibt. Diese Erklärung – es soll keine Spuren geben – füge ich nachträglich ein, als Erwachsener. Das kann ich damals nicht gedacht haben. Was ich sehe: Ich stehe in einer Badewanne, oder in der Küche, ich bin nackt, und sie schlägt mit dem Handtuch. Ich hebe die Arme und wehre das Handtuch ab. Es tut fast nicht weh. Das merkt sie, es macht sie noch wütender. Sie schreit, dass ich feige bin und dass ich die Arme runternehmen soll, sonst würde sie mich so fertigmachen, wie ich es noch nie erlebt habe. Dann wirft sie das Handtuch weg und nimmt wieder die Hände. Das Bild des zusammengerollten Handtuchs habe ich jetzt wieder ganz deutlich vor mir. Es fliegt durch die Luft und klatscht auf den Boden. Es ist blau.

In einer anderen Szene bin ich jünger, es ist noch die Altbauwohnung mit den hohen Decken und mein Vater wohnt noch bei uns. Es gibt eine große Wohnküche, hinter dem Esstisch sehe ich eine Flügeltür, die aber dauerhaft verschlossen ist, ich glaube, in der Türöffnung befindet sich ein Regal mit Küchenkram. Wahrscheinlich hat mein Vater dieses Regal gebaut, er war ein guter Handwerker. Hinter der Tür liegt mein Kinderzimmer, das Fenster geht auf den Hinterhof, ich habe mein eigenes Waschbecken. Das Klo teilen wir uns mit anderen Leuten. Mein Vater sitzt am Küchentisch, sein Kopf ist gesenkt. Er ist betrunken, er ist erst früh am Morgen nach Hause gekommen. Das weiß ich, weil sie es dauernd schreit, von alleine hätte ich es nicht gemerkt. Mein Vater war damals nicht oft betrunken, glaube ich, ich kann mich jedenfalls nur an dieses eine Mal erinnern. Sie steht vor ihm und brüllt. Er sagt nichts, er sitzt nur da. Sie packt mich an den Haaren und schleift mich zu ihm, ganz nah, dann sagt sie ungefähr: »Schau dir dieses Schwein an. Dieses besoffene Schwein da ist dein Vater. Schau ihn dir genau an, den Versager, das Würstchen, den Hurenbock. Ich will, dass du das niemals vergisst. Los, schau hin! Da kommst du her, aus diesem Dreckschwanz. Vergiss das nie.« Dann schlägt sie zu.

Sobald ich den Kopf senke und versuche, die Augen von meinem betrunkenen Vater abzuwenden, kriege ich eine. Und es hat tatsächlich funktioniert. Ich habe es mir gemerkt.

Sie nimmt etwas, eine Pfanne, glaube ich, und versucht, ihm die Pfanne ins Gesicht zu schlagen, aber das klappt nicht, denn er wacht aus seiner Apathie auf und wehrt den Angriff ab. Ich sehe, dass er weint. Noch ein Grund dafür, dass ich mir diesen Tag gut merken konnte. Ich glaube, nur dieses einzige Mal hat er geweint. Ich habe gespürt, dass er sich schämt. Er schämte sich vor mir, so, wie er sich schämte, wenn er mich schlug. In diesem Moment habe ich meinen Vater geliebt. Sie hat also bei mir genau das Gegenteil von dem erreicht, was sie wollte. Dann nehme ich das Brotmesser und halte mir das Brotmesser an den Hals, ich schreie: »Hör auf, hör auf, lass ihn in Ruhe, sonst steche ich zu!« Sie wirft die Pfanne weg, reißt mir das Messer aus der Hand und stürzt sich auf mich.

Dann reißt der Film.

Ich habe nur solche Puzzlestücke, wie ein Anthropologe, der Knochenreste und den Backenzahn eines unbekannten Hominiden gefunden hat und nun versucht, sich etwas über dieses Wesen und seine Lebensweise zusammenzureimen. Es muss zum Beispiel irgendwelche Spuren an meinem Körper gegeben haben, obwohl ich mich zu erinnern glaube, dass sie immer aufhörte, wenn Blut kam. Das passierte schnell, wenn sie den Gürtel genommen hat, sie war ja wie gesagt auf das Gesicht fixiert, deshalb hat sie aufgehört, den Gürtel zu nehmen, als ich in die Schule kam. Ist das niemandem aufgefallen? Ich erinnere mich, dass ich ein paar Mal zu meinen Großeltern gelaufen bin und dort übernachten durfte. Meine Oma sagte dann, das geht nicht, Kind, wie du aussiehst. Und dann hat sie mit Maria geredet. Da war ich nicht dabei. Immer, wenn es besonders heftig gewesen ist und meine Oma mit ihr geredet hatte, kam eine Ruhepause, dann hielt sie sich eine Weile zurück, oder sie war einfach satt und müde. Sie hatte fürs Erste genug.

Ich bin nicht in den Kindergarten gegangen, das habe ich später erfahren. Maria sagte, dass ich Angst hatte, am ersten Tag im Kindergarten hätte ich geschrien und gewinselt, stundenlang, wie ein Tier, die ganze Zeit, und als Maria mich abholen kam, sei ich zu ihr gerannt und hätte ihre Beine umklammert. Die Kindergärtnerin sagte, das geht nicht, mit diesem Kind ist das nicht möglich. Er nässt auch ständig ein. Da hat sie mich mitgenommen und ist nie wieder hingegangen.

Es ist vorbei. Später, als Erwachsener, habe ich oft diesen Satz gedacht: Es ist vorbei. Sicher haben viele Ähnliches erlebt, jeden Tag begegne ich wahrscheinlich solchen Menschen. Man möchte natürlich nicht darüber reden, es soll vorbei sein. Das Gehirn löscht die Bilder, wie die Haut eine Wunde schließt. Und es gibt Schlimmeres, was einem zustoßen könnte. Ich will es nicht dramatisieren. Ich will kein Opfer sein, es gibt genug eingebildete und echte Opfer. Diese Platte lege ich nicht auf. Jahrhundertelang sind wahrscheinlich die meisten Leute auf eine irgendwie ähnliche Weise aufgewachsen, zumindest viele, dann wurden sie erwachsen, schüttelten sich und schrieben eine Oper oder stellten sich an den Pflug. Die Bilder verblassen und verwandeln sich in Gefühle, die sehr wahrscheinlich bei jeder betroffenen Person in einem verschiedenen Mischungsverhältnis vorkommen. Diese Gefühle sind Scham, Angst, Wut und Ehrgeiz. Letzterer ist kein Gefühl, ich weiß, es ist eher eine Lebenseinstellung.

Die Scham kommt von der Ohnmacht. Sobald man davon erzählt, sobald man daran denkt, fühlt man sich wieder klein, man ist ein hilfloser Wicht, einer, der keinen Respekt verdient. Du hast keine Chance, Widerstand ist unmöglich, es sei denn, im Kopf. Das habe ich versucht, indem ich innerlich so hart und so kalt sein wollte wie nur möglich, indem ich gelacht habe und alle Gefühle zu unterdrücken versuchte. Flüchten kann man nicht, realistisch betrachtet. Wie denn, wohin denn? Manche Kinder tun es, die wenigsten haben den Mut dazu, weil ein Fluchtversuch alles nur schlimmer machen würde. Außerdem liebt man die Person, die das mit einem tut, in den meisten Fällen ist es jedenfalls so, bei mir ist es wohl auch so gewesen. Wegen dieser Liebe ist man besonders angreifbar und fühlt sich schuldig, irgendwie hat man die Schläge ja vielleicht verdient.

Es muss angenehmer sein, von einem Fremden geschlagen zu werden, einem Lehrer vielleicht. Die Liebe ist ein Problem, weil sie verwundbar macht. Vor der Liebe muss man sich hüten.

Die Angst wird im Lauf der Zeit schwächer. Es hat eine ganze Weile gedauert, einige Jahre konnte ich mich nur mit Tabletten über Wasser halten. Es ist erstaunlich, wie gut die wirken. Man hat innen ein taubes Gefühl, wie bei eingeschlafenen Füßen, es kribbelt auch manchmal im Bauch. Trotzdem stand ich oft morgens an der Haustür und hatte Angst, auf die Straße zu gehen, habe kehrtgemacht und mich eingeschlossen. Ich liebe es, Türen hinter mir abzuschließen. Was aber noch besser hilft als jedes Medikament, ist der Ehrgeiz. Leute wie ich müssen beweisen, dass sie etwas wert sind, das klingt ein bisschen platt, aber besser kann ich es nicht ausdrücken. Ich bin kein Genie, aber ich habe aus meinen Talenten herausgeholt, was möglich war. Ich erledige jede Aufgabe, die man mir überträgt, zur vollsten Zufriedenheit, mit aller Kraft, ich will niemanden zornig machen und niemanden enttäuschen, davor habe ich immer noch Angst. Weil diese Angst da ist, habe ich im Beruf einen gewissen Erfolg gehabt. Erfolg beruhigt mich. So frisst die Angst sich selbst auf, verstehen Sie?

Maria sagte immer, dass ich alles ihr verdanke, dass ich nur ihre Kreatur bin, mein Talent, mein Geld, der Erfolg, alles ihr Erbe, ihre harte Schule, und in gewisser Weise hat sie damit recht. Ich verdanke ihr alles, was ich bin, im Guten und Schlechten.

Für körperliche Züchtigung gibt es, glaube ich, drei Motive. Es kann sich um eine Erziehungsmethode handeln. Das Kind macht etwas falsch, es wird mit Schlägen bestraft. So war es früher weithin üblich, heute ist es verpönt. Ich lehne das auch ab, aber rückblickend muss ich sagen: So hätte ich es gerne gehabt. Klare Regeln. Du weißt, warum es passiert, und du weißt, wie du es vermeiden kannst. Das zweite Motiv ist Überforderung. Eltern sind hilflos, sie können nicht mehr, sie sind am Rand ihrer Kräfte. Hinterher bereuen sie es. Die dritte Kategorie sind die Sadisten, sie schlagen, weil es ihnen Spaß macht. Maria gehörte zu keiner dieser drei Gruppen.

Für Maria war Gewalt ein Heilmittel, ein Stresskiller, etwas, das den inneren Druck von ihr genommen hat. Sie war verärgert, über irgendwas, es ging ihr nicht gut, ein Mann hatte sie schlecht behandelt, bei der Arbeit gab es Probleme, das Essen war angebrannt, es konnte alles Mögliche sein. Dann schlug sie, und hinterher war ihre Welt wieder in Ordnung. Das Schlagen war immer von einem Wutausbruch begleitet, von Beschimpfungen. Es hatte absolut nichts mit mir zu tun, es war nichts Persönliches. Ich war da, ich stand zur Verfügung. So ging sie auch auf ihre Männer los, aber da blieb es meistens bei Worten. Die Männer konnten sich verteidigen. Wenn sie schlagen wollte, hielten die Männer ihre Hände fest oder hauten ab.

Wenn es vorbei war, ist sie immer zufrieden und sanft gewesen, wohlig erschöpft, mit geschwollenen Augen, denn sie weinte fast immer während eines Ausbruchs und beklagte ihr Schicksal. Sie konnte aber blitzschnell umschalten. Das Telefon klingelte, oder jemand war an der Haustür, und sie ging hin, völlig ruhig, völlig normal, sie redete wie immer, total kontrolliert, dann kam sie zurück, brüllte sofort »Ich hab dich nicht vergessen, Brillenschlange« und schlug wieder zu. Ich wusste also die ganze Zeit, dass sie aufhören könnte, wenn sie wollte. Und dann, danach, nur zehn Minuten später, konnte sie mich auf den Schoß heben und küssen. Nie war sie so nett und weich wie nach einer solchen Szene. Heute glaube ich, dass sie eine Art Orgasmus erlebt hat. Gewalt und Toben, das war für sie schon etwas Ähnliches wie Sex, obwohl sie keine Sadistin war, im engeren Sinn. Ein Sadist muss sich nicht ärgern, um geil zu werden.

Manchmal hasste ich sie. Nachts, im Bett, dachte ich mir Todesarten für sie aus, grausame Todesarten. Ich würde sie mit Benzin übergießen, anzünden und schreiend laufen lassen, ich würde rufen: »Kannst du nicht lauter? Schrei lauter, sonst hört dich niemand!« Ich würde sie festbinden und schlagen, immer ins Gesicht. Aber auf meinen Hass war kein Verlass, er ging an und aus wie ein schwarzes Licht. Wenn sie nett war, jedes Mal, wenn sie nett war, bereute ich meine Fantasien, jedes Mal dachte ich, jetzt ist es für immer vorbei. Von jetzt an bleibt sie so lieb, wie sie gerade ist.

Heute bin ich mir sicher, dass sie mich in diesen Momenten gemocht hat. In diesen Momenten suchte sie körperliche Nähe, nichts Übergriffiges, nichts Sexuelles, sie wollte von mir nur in den Arm genommen und geküsst werden, wie Kinder küssen. Sie war fürsorglich, sie kümmerte sich um alles. Wenn es in der Schule ein Problem gab, schimpfte sie auf die Lehrer und stand auf meiner Seite. Ich erinnere mich, dass ich ihre Umarmungen, später, als ich älter wurde, nie erwidern konnte, ich machte mich steif und drehte den Kopf weg. Ich hatte nun mal Angst vor ihr, oder Angst davor, weich zu werden.

Aber wie war es, als ich klein war? Bin ich in ihr Bett gekrochen, wie andere Kinder das tun? Hat sie sich gefreut, als ich Radfahren lernte? Hat sie manchmal mit mir gespielt? Vielleicht war es so. Ich erinnere mich nicht.

Ihre Stimmung konnte blitzschnell umschlagen, jederzeit. Sie war nett, sie fragte mich etwas, ganz normal, und dann schlug es um, als ob jemand in ihrem Inneren einen Knopf gedrückt hätte. Manchmal ahnte ich, worum es ging, sie hatte einen Brief gelesen, jemand hatte angerufen, einer ihrer Männer, der etwas Unangenehmes sagt, oder mir war etwas passiert, ich hatte ein Glas umgestoßen, ich hatte etwas angestellt. Manchmal wusste ich gar nichts. Nichts war passiert. Plötzlich kam ihre Hand und schlug zu, das konnte in jedem Moment passieren, jederzeit. Es gab keine Regeln. Es gab nichts, was ich hätte tun können.

Ich glaube wirklich, dass es die Kinder besser haben, die auf diese Weise bestraft werden, man kennt das Warum, man weiß, wie man die Strafe vermeiden kann und wie lange es dauern wird. Großartig. Aus heutiger pädagogischer Sicht ist das natürlich verwerflich, aus meiner damaligen Sicht wäre es ein fairer Deal gewesen. Eine Strafe ist berechenbar. Als junger Mann hatte ich einige Tics, ein nervöses Blinzeln, ein Zucken, weil ich im Geist immer noch ihre Hand über mir schweben sah, eine schöne, schlanke Hand, gepflegt, die jederzeit in Aktion treten konnte, aus dem Nichts, ohne Warnung. Ich drehte oft grundlos den Kopf zur Seite, um einem Schlag auszuweichen, obwohl niemand in der Nähe war. Auch das wurde besser mit der Zeit.

Es ist schwierig, über diese Dinge zu sprechen, weil einem das fehlt, was man zum Erzählen wohl braucht, Distanz. Die Gefahr ist groß, sich in Selbstmitleid und Anklagen zu verlieren. Immer ist da diese Wut, sie kommt mir ständig in die Quere. Kinder sind selten gerecht zu den Eltern, und das wütende Kind, das aus mir spricht, ist zur Gerechtigkeit besonders wenig aufgelegt. Immerhin weiß ich das. Ich will versuchen, gerecht zu sein mit Maria, ob es mir gelingt, müssen andere beurteilen. Aber selbst wenn ich scheitere, werde ich es am Ende doch mit aller Kraft versucht haben, und deshalb bitte ich um mildernde Umstände, falls ich scheitere. Ich nehme das Kind an der Hand, das ich einmal war, ich versuche, es zu beruhigen. Es gibt keine Gefahr mehr. Es ist vorbei. Wir müssen uns nicht schämen. Wir können versuchen, auch die andere Seite zu sehen, ihre Seite. Wir können verzeihen – was meinst du, Kleiner? Wir können Frieden schließen.

Das hier wird wirklich keine Horrorgeschichte, auf gar keinen Fall. Dein Leben ist ganz gut gelaufen, Kleiner. Ein paar Träume hast du mir hinterlassen, die haben mir in meinen jungen Jahren ganz schön zugesetzt, später sind sie selten geworden. In einem Traum läufst du weg, Kleiner, irgendwelche Bestien sind hinter dir her, dann fällst du ins Bodenlose und schreist ganz furchtbar. In dem anderen Traum läuft dir die Scheiße an den Beinen herunter und lachende Leute stehen um dich herum. Vermutlich ist das ein Erinnerungsfetzen aus meinem missglückten, einzigen Kindergartentag.

Das Einzige, was nicht weggeht, ist die Wut. Sie hat ihre Wut in dich hineingepflanzt, Kleiner. Immer, wenn ich wütend werde, spüre ich dich in mir, du zitterst, du machst dich hart und kalt, so gut du kannst. Ich würde dich gerne aus deinem Gefängnis befreien. Aber wir beide sind wohl dazu verurteilt, gemeinsam zu sterben.

Maria hat, solange ich denken kann, mit mir gesprochen, als sei ich ein Erwachsener. Es gab keine Tabus. Ich wusste, wann sie ihre erste Periode bekommen hat, wann und von wem sie aufgeklärt wurde, obwohl ich selbst noch nicht aufgeklärt war, ich kannte schon mit acht die Geschichte ihrer ersten Ehe, eine Geschichte, in der mein Vater schlecht aussah. Mein Vater war ganz einfach die größte Drecksau, die herumlief. Diese Geschichten waren mir unangenehm, und die Wochenenden mit meinem Vater liebte ich als Kind auch deshalb, weil er nie schlecht über meine Mutter sprach. Er war auf eine zerstreute Weise freundlich, er wollte nichts von mir und redete nur das Nötigste. Er wollte mir nur so nahekommen, wie ich es zuließ, er stellte keine Fragen, und wenn ich etwas erzählte, hörte er zu oder tat so als ob.

Wenn Maria erzählte, sprach sie zu sich selbst, ich glaube, dass ihr meine Gegenwart kaum bewusst war. Ich wusste also, solange ich denken kann, dass sie viele Abtreibungen hinter sich hatte. Mein Vater benutzte grundsätzlich keine Verhütungsmittel, die Pille gab es noch nicht. Es war schwierig, Ärzte zu finden, die so etwas machten, es war verboten. Manchmal probierte sie es selbst, ich habe vergessen, wie das genau vor sich ging. Der Vater meines Vaters war promovierter Tierarzt beim städtischen Veterinäramt, ein glatzköpfiger Mann mit einem edlen Cäsarenhaupt und Zigarre, ein preußischer Offizier des Ersten Weltkrieges und engagierter Weintrinker, streng und lebenslustig in einer genau austarierten Balance, inzwischen im Ruhestand. Mein Vater hatte wohl eher seine strenge Seite erlebt. Er war nicht nur für Maria, sondern auch in den Augen seines Vaters ein Versager, weil er die Schule nicht geschafft hatte und in der Fabrik arbeitete. Nun ging er also zu ihm und bat ihn, bei der Beseitigung seiner unerwünschten Enkel behilflich zu sein.

Der Alte, stelle ich mir vor, hat sich eine Weile bitten lassen. Etwas Illegales zu tun war keine Kleinigkeit für ihn. Vermutlich hat mein Vater, so war das damals einfach, von dem Alten oft Prügel bekommen, auf die, sage ich, angenehme preußische Art, immer mit einem glasklaren Motiv. Verliert man jemals die Angst? Kann man es irgendwann schaffen, von Gleich zu Gleich miteinander umzugehen? Keine Ahnung, aber die Situation war sowieso nicht danach.

Mein Vater, der noch nicht mein Vater war, schwitzte wahrscheinlich und schilderte mit stockender Stimme seine schwierige Situation, wenig Geld, kleine Wohnung, Ehekrise, wir können das Kind nicht brauchen, dumme Sache. Mein Großvater wies ihn zurecht, verantwortungslos, Präser sind billig, mir ist das nie passiert, wenn der Kaiser noch da wäre. Dann machte er einen Termin für übermorgen und packte noch am selben Abend sein Veterinärbesteck.

Am übernächsten Tag trank mein Großvater zwei Gläser Wein und hörte »La Traviata«, damit seine Hände nicht zitterten, dann machte er sich mit wackligen Beinen auf den Weg. Als ehemaliger leitender Beamter hatte er immer noch ein kleines Büro in der Behörde. Er hatte schon seit vielen Jahren nicht mehr operiert, der letzte Eingriff war ein Kalb gewesen, 1944, danach Volkssturm, später Verwaltung. Über die weibliche Anatomie hatte er sich in der Fachliteratur informieren müssen, bei Rindern sah die Anatomie ja im Prinzip ähnlich aus. Der Teufel steckt im Detail. Er hatte Lampenfieber.

Maria und ihr erster Schwiegervater mochten sich, das machte es einfacher. Seine Frau war spröde und verhutzelt, Maria war sinnlich und lebenslustig wie er, nicht dass es da etwas Erotisches gegeben hätte, aber eine Seelenverwandtschaft war da. Als seine Schwiegertochter mit gespreizten Beinen auf dem Schreibtisch lag, Eiche, Vorkriegsqualität, sah mein Großvater zum ersten Mal die weibliche Anatomie in natura und aus der Nähe, im achten Lebensjahrzehnt wurde ihm diese Gnade zuteil. Er hatte selbstverständlich mit verschiedenen Frauenzimmern kopuliert und mehrere Kinder gezeugt, aber die Details hatten ihn nie interessiert. Mein Großvater schaute, aber schaute nicht zu lang, neben ihm lag auf dem Schreibtisch ein Notizzettel mit dem Ablauf, Punkt für Punkt, in krakeliger Altmännerschrift. Dann machte er sich, mit dem Rinderbesteck, daran, der Existenz seiner potenziellen Enkeltochter, meiner großen Schwester, ein Ende zu bereiten.

Dies wiederholte sich einige Male, und ich habe mir oft vorgestellt, wie es wohl gewesen wäre, mit all diesen Brüdern und Schwestern aufzuwachsen, oder vielleicht zwei von ihnen. Keiner kam durch, dann aber geschah etwas. Maria wurde der Zeremonie müde, das kann sein, oder aber mein Großvater, der von Zeremonie zu Zeremonie ein immer älterer Herr wurde, wenngleich er an Routine gewann, zitterte gar zu arg bei der Handhabung des Rinderbestecks. Maria wurde schwanger und sagte, sie wolle, nach so vielen Malen, keine weitere Zeremonie mehr.

Deshalb lebe ich. Von diesen Brüdern und Schwestern bin ich der Auserwählte. Maria hat bestimmt, dass ich lebe und dass die anderen sterben mussten. Mein Leben verdanke ich ihrer Gnade.

Ich wusste das, seit ich denken kann. Sie war einfach müde. Sie hatte keine Lust mehr auf das Rinderbesteck. Sie wollte das schmatzende Geräusch nicht mehr hören, mit dem eine meiner Schwestern und Brüder in dem Plastikbeutel meines Großvaters verschwand, den er auf dem Nachhauseweg in den Rhein warf.

Eines Morgens änderte sich mein Leben. Said saß am Frühstückstisch. Es gibt noch andere Männer, die kamen, wieder gingen und an die ich mich nur schwach erinnere, aber das war später. Als Said auftauchte, wohnte mein Vater noch bei uns, vielleicht war ich sechs. Es ist schwierig für meinen Vater gewesen, etwas Eigenes zu finden, weil Wohnungen knapp waren, das dauerte Monate. Er schlief für eine gewisse Zeit in meinem Kinderzimmer, ich schlief im Wohnzimmer auf der Couch. Said und Maria hatten das Schlafzimmer.

Ich glaube, dass die beiden Männer sich selten getroffen haben. Mein Vater machte damals oft Nachtschichten und kam fast nur, um zu schlafen oder zu duschen. Manchmal hat er sicher auch bei Frauen übernachtet, aber er hatte nichts Festes. Es war, glaube ich, eine friedliche Zeit. Maria und mein Vater stritten sich nicht mehr, alles war geklärt.

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