Jeder lügt so gut er kann - Harald Martenstein - E-Book
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Jeder lügt so gut er kann E-Book

Harald Martenstein

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Beschreibung

Satirisch, hintersinnig, preisgekrönt

Harald Martenstein ist einer der meistgelesenen Autoren Deutschlands. In seinen kurzen Texten wagt sich der vielfach preisgekrönte ZEIT-Kolumnist immer wieder an die großen Themen der Gegenwart – subjektiv, überraschend, witzig. Ob es um politische Korrektheit, um Migration, Feminismus oder um scheiternde Utopien geht: Martenstein hat keine Angst davor, sich unbeliebt zu machen und dem Mainstream zu widersprechen. In »Jeder lügt so gut er kann« geht es aber auch immer wieder um das private Scheitern und Alltagsprobleme, als Vater, als Berliner, als Mann oder Deutscher. Brillante Glossen – intelligent und amüsant.

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Seitenzahl: 180

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Harald Martenstein

Jeder lügt so gut er kann

Alternativen für Wahrheitssucher

C. Bertelsmann

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Fast alle Texte wurden in den Jahren 2015 bis 2018 im Magazin der ZEIT, in der Literaturbeilage der ZEIT oder im Tagesspiegel veröffentlicht. Sie wurden vor der Neuveröffentlichung überarbeitet, einige gekürzt oder aktualisiert. Das Vorwort (Interview) ist eine Erstveröffentlichung. »Berliner Weihnacht«, »Wir Reichen« und »Die Kunst des Liebens« sind älteren Datums, erschienen dem Autor aber passend. Die Texte »Gegenrede« von Jürgen von Rutenberg und »Schluss jetzt!« von Petra Martenstein erscheinen mit freundlicher Genehmigung der Verfasser.

Copyright © 2018 by C. Bertelsmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: www.buerosued.de unter Verwendung einer Illustration von Rudi Hurzlmeier

Lektorat: Rainer Wieland

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-22325-0V003

www.cbertelsmann.de

Interview

Was ist das für ein Buch?

Ich schreibe Kolumnen für die ZEIT und für den Tagesspiegel, in gewissen Abständen werden daraus Bücher. Man muss die vorherigen nicht kennen, um dieses zu lesen. Ich schreibe über das, was ich erlebe oder mich beschäftigt. Mal ist es lustig, mal ist es ernst. Wenn man alle Bücher liest, entsteht dabei, so hoffe ich, die Chronik eines für meine Generation, meine Herkunft, mein Geschlecht und mein Land typischen Lebens, vielleicht sogar eine Art Gesellschaftsporträt. Zola hat das mit dem Romanzyklus Die Rougon-Macquart versucht, aber Zola ist, fürchte ich, ein anderes Kaliber. Ich bleibe meistens in meinem Milieu. Mein Milieu ist wohl das, was man die »gesellschaftliche Mitte« nennt, weder arm noch reich, weder ungebildet noch hochgebildet, arbeitend, für radikale Lösungen schwer zu begeistern, gutwillig und ein bisschen egoistisch. Keine Heiligen, keine Teufel. Gelegentlich selbstkritisch, doch, das schon auch.

Was ist der Unterschied zu den vorherigen Büchern?

Die Politisierung der letzten Jahre und der Riss, der durch das Land geht, machen sich natürlich auch bei mir bemerkbar. Deshalb ist dieses Buch politischer und damit angreifbarer als frühere. Ich beziehe Positionen, die nicht jeder teilt, aber das ist wohl selbstverständlich. Oder? Streit und Widerspruch sind gut, solange man nicht versucht, die anderen mundtot zu machen. Spott ist, in gewissen Grenzen, jederzeit erlaubt.

Wieso der Titel?

Den Titel habe ich bei Udo Jürgens geklaut, einer seiner Songs heißt so. Udo Jürgens ist ja in seinem Genre ein Genie gewesen, auch was Titel betrifft. Der Titel gefällt mir. Wir lügen alle, weil wir unsere Erinnerungen und unsere Meinungen zurechtschustern, wie es uns am besten in den Kram passt. Die Zukünftigen werden uns weitaus kritischer sehen als wir uns selber. So war es immer. Deshalb empfiehlt es sich, mit der Kritik der Gegenwart gleich heute anzufangen.

Haben Sie mit Ihrer Redaktion nicht Schwierigkeiten?

Nein und ja. Bei manchen Texten gibt es lange Diskussionen mit meinem Redakteur, oft hat er recht, manchmal treibt er mich an den Rand des Wahnsinns. Sobald ich etwas nicht dem linken Mainstream Konformes schreibe, zum Beispiel Kritik an der Einwanderungspolitik, bekomme ich lange Fragenkataloge, alphabetisch sortiert, A, B, C, D und so weiter. Eines Tages treibe ich ihn bis zum Z, dann muss er entweder das griechische Alpha bringen oder das römische »I«, darauf bin ich gespannt. Aber er ist gut, und ich bin froh, diesen Widerpart zu haben. Er wendet eine Zermürbungsstrategie an, ähnlich wie Muhammad Ali gegen George Foreman. Ein Text, der darauf hinauslief, dass Trump manchmal auch recht hat, erwies sich als undruckbar. Nicht weil er explizit verboten worden wäre, sondern weil immer neue Alphabete kamen und ich aus Zeitgründen das Handtuch geworfen habe. Heute finde ich den Text selber nicht mehr so gut, er ist im Buch nicht enthalten. Ein mittelmäßiger Text über Strandkörbe wäre gedruckt worden. Man muss halt bei diesen Themen so gut sein, dass sogar ihm keine Buchstaben mehr einfallen. Find ich prima. Eine unserer Debatten hat in der ZEIT Niederschlag gefunden, da antwortete mir Jürgen von Rutenberg auf dem Kolumnenplatz. Ich bin sehr dankbar dafür, dass er einem Abdruck seiner Widerrede zugestimmt hat, leicht überarbeitet, wie das auch bei meinen Texten der Fall ist. Er ist einer von den Guten, wie gesagt, und Widerspruch muss sein. Ich widerspreche auch ständig.

Gibt es ein Ziel?

Ich hoffe darauf, dass diese Gesellschaft nicht aufhört, liberal zu sein. Ich hoffe darauf, dass nicht im Namen der Buntheit ein monochromes Gemälde entsteht. Ich hoffe darauf, dass wir das positive Erbe der Aufklärung, die Freiheit, die Kritik an Religion und an den jeweils Herrschenden, nicht verraten.

Gibt es Tabus?

Natürlich. Wenn ich feststelle, dass meine Ansichten bereits in Dutzenden von Glossen und Kommentaren Niederschlag gefunden haben, dann verkneife ich es mir, den hundertsten Text mit ebendieser Ansicht zu verfassen. Allem, dem ich nicht ausdrücklich widerspreche, stimme ich in der Regel zu. Themen wie die Gleichstellung homosexueller Lebensgemeinschaften oder das Verbot von Strohhalmen aus Plastik sind deshalb für mich tabu.

Entschuldigung?

Früher habe ich mich manchmal über den Berliner Verkehrslärm geärgert, vor allem über das dauernde Gehupe. Eines Tages dachte ich, toll, die Leute sind endlich rücksichtsvoller geworden. Im vergangenen Frühling sagte ich, beim Frühstück im Garten, dass ich das Summen der Bienen schön finde. Aber da waren keine Bienen, sondern eine Motorradgang mit einem Dutzend schwerer Maschinen fuhr vorbei. Offenbar höre ich schlecht.

Ich merke es vor allem, wenn in meiner Umgebung mehrere Leute gleichzeitig reden, zum Beispiel im Restaurant. Da kriege ich nichts mit. Inzwischen habe ich gelernt, dass es auch sehr gut möglich ist, ohne Gehör an einer Gesprächsrunde teilzunehmen. Hauptsache, man macht einen zugewandten Eindruck. Hin und wieder nicke ich oder lächle wissend. Die Leute mögen das. Seit ich nichts mehr höre, gelte ich zum ersten Mal als ein Mensch, der gut zuhören kann.

Wenn mich jemand etwas fragt und ich nichts mitkriege, antworte ich lächelnd Allgemeinplätze wie »Gute Frage« oder »Ich glaube, darüber muss ich erst mal eine Weile nachdenken«. Das wirkt, je nach Frage, ironisch, antipatriarchal, antihegemonial oder nachdenklich. Inzwischen glaube ich, dass die meisten Menschen, die als nachdenkliche Intellektuelle gelten, einfach nur schwerhörig sind.

Wenn ich etwas nicht verstehe, frage ich auch manchmal: »Entschuldigung?« Die Menschen wiederholen dann ihren letzten Satz. In 70 Prozent der Fälle verstehe ich auch die Wiederholung nicht. Ich sage dann wieder etwas Allgemeines, etwa »Ach so« oder »War ja eh klar«. Die Menschen sind inhaltlich weniger anspruchsvoll, als ich glaubte. In politischen Diskussionen sage ich natürlich andere Sachen, zum Beispiel: »Genau in diese Richtung müsste die Debatte sich endlich bewegen.« Widerspruch, der lange, komplexe Antworten provoziert, kann ich mir wegen meines Gehörs nicht mehr leisten.

Schwierig ist es, wenn ich in einer Runde mithilfe einiger Wortfetzen mitkriege, dass es grundverschiedene inhaltliche Positionen gibt. Wenn ich zu der einen Person gesagt habe: »Das sehe ich ähnlich«, und jetzt hält mir Person Nummer zwei einen langen Monolog, um mich umzustimmen – was tue ich dann? Ich sage: »Darüber muss ich erst mal eine Weile nachdenken.«

Es sind die Gene. Ich war mit meiner Mutter im Restaurant, der Kellner fragte, so laut, dass sogar ich es hörte, was sie zum Nachtisch möchte. Sie lächelte und sagte: »Danke, sehr gut.« In diesem Fall bringen sie immer Tiramisu.

Es gibt natürlich die Option, die Leute dazu zu bringen, richtig laut zu werden. Dann könnte ich wieder mitreden. Aber ich tue mich wahnsinnig schwer damit. Ich könnte sagen: »Sie reden einen totalen Scheiß daher, Sie Schwachkopf«, obwohl das wirklich nicht mein Stil ist. Aber es wäre dann nahezu sicher, dass mein Gegenüber die Stimme hebt. Aber vielleicht hat mein Gegenüber etwas Harmloses gesagt, zum Beispiel: »Meine Tochter ist eine sehr talentierte Zeichnerin, aus der wird mal was.« Und ich antworte: »Sie reden einen totalen Scheiß daher, Sie Schwachkopf!« Da antworte ich dem stolzen Vater doch lieber: »Darüber muss ich erst mal eine Weile nachdenken.«

Ich könnte ein Hörgerät kaufen. Aber es ist auch eine spannende Erfahrung, so zu leben. In der aufgeheizten politischen Atmosphäre, die wir im Moment haben, ist Schwerhörigkeit ein Vorteil. Fast alle Leute wirken sympathischer, solange man nicht hört, was sie sagen. Wenn wir uns alle nicht mehr hören, hat dieses Land eine Zukunft.

Ende der Kindheit

Damals standen manchmal Studenten vor dem Gymnasium, die Flugblätter verteilten und Werbung machten für die Revolution. Mein Vater hielt von der Revolution gar nichts. Er war für den Jazz, der Jazz war seine Partei, der er sich schon während des Krieges angeschlossen hatte. Er unterschied sich von den anderen Vätern, die fast alle ebenfalls nichts hielten von der Revolution. Er war cooler.

Manchmal übte er zu Hause auf seinem Kontrabass, ein tiefes Blubbern, Töne wie aus der Tiefsee. Manchmal trank er Whisky und hörte Platten von Dizzy Gillespie. Seine Band war nach dem Krieg ziemlich angesagt gewesen, sie machten Amimusik. Er sang recht gut, ein Show-Typ, dem die Herzen der Frauen zuflogen. Ein bisschen was von dieser Aura hatte er sich bewahrt, obwohl er inzwischen bei Opel arbeitete. Er war noch nicht alt, als ich ihn wirklich kennenlernte, um die vierzig. Einer der Leute, die er von früher kannte, war der Kabarettist Hanns Dieter Hüsch. Die meisten älteren Schüler mochten Hüsch nicht, es hieß, er sei zu weich, ein Bürgerlicher.

Eines Tages nahm mein Vater mich mit ins »Unterhaus«. Das Mainzer »Unterhaus« befand sich in einem Keller, es roch ein bisschen modrig. Ich war noch nie abends in einer Veranstaltung gewesen, »ausgegangen«, so nannte man das damals. Ich war nur nachmittags im »Haus der Jugend« gewesen. Da spielten Bands, deren Mitglieder kaum älter waren als ich.

Es war voll und dunkel, vorne, in einem kleinen Lichtkegel, saß Hüsch. Vor ihm stand eine kleine Orgel, auf der er hin und wieder ein paar Tasten drückte. Es klang wie in der Kirche. Manchmal redete er. Manchmal verfiel er, parallel zu seiner sonderbaren Musik, in eine Art Sprechgesang.

Die politischen Anspielungen verstand ich nur zum Teil. Meistens erzählte Hüsch Geschichten, in denen seine Frau auftauchte, die er »Frieda« nannte und die immer recht hatte, vielleicht kam auch ein Mensch vor, der »Hagenbuch« hieß, aber das kann ein späteres Programm gewesen sein. Hüsch war anders als die Bands, die ich kannte, und anders als die politischen Gruppen, zu deren Versammlungen für Schüler ich schon drei, vier Mal gegangen war. Er wirkte fast ein bisschen traurig, irgendwie war er traurig und lustig zugleich.

Die Bands nahmen immer eine Pose ein, rebellisch, wütend, großspurig. Hüsch schien sich nicht groß zu verstellen. Er machte sich nicht toller, als er war, obwohl seine Geschichten den Leuten gefielen, sie klatschten und forderten Zugaben. Viele Dinge passten ihm nicht, das ging aus seinen Geschichten klar hervor, aber an die Revolution schien er genauso wenig zu glauben wie mein Vater. Er beobachtete die Menschen und machte sich ein paar Gedanken, mehr war es eigentlich nicht. Ich merkte, dass ich ihn mochte, sogar wenn er mir altväterlich oder kitschig vorkam. Die sentimentalen Nummern fand ich eher langweilig. Aber ich verstand, dass sie notwendig waren, dabei sammelte er Kraft für die nächste lustige Nummer.

Es wurde sehr spät. Mein Vater wollte Hüsch noch Guten Tag sagen, aber er kam nicht zu ihm durch. Hüsch war in seiner Garderobe und erschöpft. Draußen schien bestimmt der Mond, bestimmt sah man den Dom. An diesem Abend, erinnere ich mich, fasste ich ihn zum letzten Mal an der Hand, wie ein Kind, und er führte mich zu seinem Opel. Er erzählte, ich hörte zu. Wenn es doch bloß nicht so spät wäre, dachte ich, sonst würde er zu Hause bestimmt noch auf seinem Bass spielen. Ich war vierzehn.

Weiße Nächte

Viele Menschen leiden hin und wieder unter Schlafstörungen. Auch ich gehöre zu ihnen, vor allem ist dies auf Lesereisen der Fall. Da schläft man jede Nacht in einem anderen Hotelzimmer, mich irritiert das. Einmal habe ich, in einer kleinen süddeutschen Stadt, ausnahmsweise eine Schlaftablette genommen, eine milde Sorte, nicht rezeptpflichtig. Mir wurde nach kurzer Zeit total schwummrig. Das habe ich für ein gutes Zeichen gehalten. Das Schwummrige ist die kleine Schwester des Tiefschlafs.

Trotzdem bin ich irgendwann aufgewacht. Ich wollte auf die Toilette. Dort merkte ich, dass es in dieser Toilette weder ein Klo gab noch eine Dusche. Stattdessen hingen abstrakte Bilder an der Wand und, noch irritierender, ein Feuerlöscher. Ich dachte, es sei klüger, sich wieder ins Bett zu legen. Da merkte ich, dass ich genau die Tür genommen hatte, die in dem Hotelzimmer der vergangenen Nacht zur Toilette geführt hatte. In diesem Hotel und in dieser Nacht aber führte die Tür, die sich an der nämlichen Stelle des Zimmers befand, auf den Flur. Sie war zugefallen und ließ sich nicht mehr öffnen.

Ich trug lediglich eine Unterhose, ein älteres Exemplar, das ich schon längst wegwerfen wollte. Auch meine Brille lag im Zimmer. Alles sah verschwommen aus.

Die Uhrzeit war mir unbekannt. Zwei? Drei? Im Hotel war es still, kein Licht brannte. Ich habe gedacht, dass ich jetzt flexibel sein muss. Nach einigem Suchen fand ich einen kleinen Raum, der nicht verschlossen war und in dem Reinigungsmittel sowie Handtücher gelagert wurden. Ich breitete einige Handtücher auf dem Boden aus und schlief tatsächlich wieder ein, die Tablette heißt »Vivinox«. Dann wachte ich wieder auf.

Der Wunsch, eine Toilette aufzusuchen, hatte sich von einem eher vagen Bedürfnis in etwas ganz und gar Zwingendes verwandelt. Im Hotel war es immer noch still, der Himmel zeigte einen Vorschein von Dämmerung. Ich bin sehr eilig zur Hotelpforte gegangen, sie war verschlossen. Da wäre ich fast in Panik verfallen. Es gab aber eine Seitentür. Ich holte, möglichst leise, einen der Stühle von der Sitzgruppe im dritten Stock. Damit blockierte ich die Seitentür, damit sie nicht auch noch zufiel. Die Nacht war kalt. Das Hotel lag an einer tagsüber belebten Straße, gegenüber befand sich ein Park mit modernen Skulpturen.

Als ich auf dem Rückweg die Straße wieder überquerte, streiften die Autoscheinwerfer der Frühaufsteher einen zerstrubbelten, barfüßigen Mann in Unterhose, der sich in einer kalten Nacht im Park über den aktuellen Stand der Skulpturenkunst informiert. Kurz darauf schlief ich erneut auf den Handtüchern ein. Als ich aufwachte, war unten im Frühstückszimmer schon einiges los. Das Frühstückszimmer musste ich durchqueren, um zur Rezeption zu gelangen. Selten ist mir ein öffentlicher Auftritt so schwergefallen. Man muss souverän wirken und ganz nah bei sich selbst sein. Die Dame an der Rezeption begleitete mich, freundlich über das Wetter plaudernd und mit großer Selbstverständlichkeit, zu meinem Zimmer, um die Tür zu öffnen, denn ich konnte ohne Brille den Öffnungsschlitz nicht finden. Sie war ein Profi, der schon vieles gesehen hat.

Mein persönliches Leben hat sich durch diese Erfahrung insofern verändert, als ich heute Schlafstörungen, ohne verharmlosen zu wollen, mit größerer Gelassenheit hinnehme. Bei jedem Problem und bei jeder Irritation muss man sich sagen: Es könnte schlimmer kommen.

Anfängerfehler

Von Zeit zu Zeit kommen Bücher unter meinem Namen heraus. Bei einem der ersten Bücher habe ich einen Anfängerfehler gemacht. Als die Fotokopien mit dem Text kamen, steckte ich gerade wegen anderer Dinge schwer im Stress. Ich habe also nicht Korrektur gelesen. Ich dachte, ach, das Verlagskorrektorat wird schon die dicksten Hunde ausfindig machen, den Kleinkram erledige ich dann zur zweiten Auflage. Als ich die erste Auflage in die Hand nahm und nach Kleinkram suchte, fand ich etwa 350 Fehler, darunter 120 dicke Hunde. Dabei hatte das Buch doch nur 200 Seiten.

Mir war nicht klar, dass es in vielen Verlagen gar kein Korrektorat mehr gibt. Da war ich selber schuld. Ich dachte, die Kritiker würden mich fertigmachen. Die Fehler wurden aber in keiner der erfreulich zahlreichen Kritiken erwähnt. Die meisten Kritiker überprüfen sowieso nur, ob ein Buch mit ihrer Weltanschauung übereinstimmt, der Rest ist egal. Wenn ich etwas politisch Unkorrektes schreibe, merkt das immer jemand und läutet die Alarmglocken. Aber wenn ich in einem politisch korrekten Text »Kapitahl« mit »h« schriebe, dann ginge das als doppelbödige Gesellschaftskritik durch.

Beim nächsten Buch habe ich tagelang Korrektur gelesen. Als die erste Auflage kam, erschien sie mir orthografisch korrekt, aber sonderbar dünn. Die letzten 40 Seiten waren vergessen worden. Das Buch endete mitten im Satz. Ich hatte gedacht, dass vor der Auslieferung noch mal jemand so ein Buch in die Hand nimmt und überprüft, ob das Buch vielleicht mitten im Satz endet, dies ist nicht der Fall. Meine Agentin sagte, so was komme öfter vor. Nichts sei unmöglich. Es gebe einen berühmten Großschriftsteller, bei dem sie mal auf dem Cover seinen Namen vergessen haben.

Das nächste Buch ließ sich gut an. Es fehlten nur mitten im Buch fünf Zeilen, da haben sie einfach einen Zettel mit den fehlenden Zeilen an der passenden Stelle ins Buch hineingelegt. Das war okay. Aber bei näherem Hinsehen stellte sich heraus, dass die Seitenzahlen völlig durcheinandergewürfelt waren, auf Seite 55 folgte Seite 163, dann kam Seite 4 und so weiter. Immerhin, es fehlte keine einzige Seite. Die erste Auflage wurde eingestampft. In Auflage zwei stimmte alles, nur dass in einem Teil der zweiten Auflage immer noch der Zettel mit den anfangs fehlenden, inzwischen längst eingefügten fünf Zeilen einsortiert worden war. Vermutlich hat das der Praktikant machen müssen.

Kürzlich habe ich ein Hörbuch aufgenommen. Bei der ersten Auflage ist ein Versehen passiert. Alle Regieanweisungen des Regisseurs sind zu hören. Nach meiner Erinnerung sagt er im Text plötzlich Sachen wie »Also, dein T hört sisch für misch wie ein D an, du bist auch aus Hesse, odder?« oder »Harald, des klingt nuschelisch, das kannst du besser« oder »Isch spür, du brauchst jetzt ’n Kaffee«. Eines steht fest: Wenn die Rüstungsindustrie ähnlich arbeiten würde wie die Verlagsbranche, dann käme aus Afghanistan kein Soldat lebend zurück. Moralisch steht die Verlagsbranche natürlich besser da.

Die Milchstraße schafft sich ab

Ausrufezeichen in Buchtiteln halte ich für ein bisschen aufdringlich, das klingt nach »Kauf mich!«. Andererseits formulieren die Bestseller von Horst Lichter (Keine Zeit für Arschlöcher!) und dem ehrwürdigen Michail Gorbatschow (Kommt endlich zur Vernunft – Nie wieder Krieg!) Thesen, an denen inhaltlich nichts auszusetzen ist. Man kann die beiden Titel sogar mixen, wie Campari und Orangensaft. »Keine Zeit für Krieg!« und »Nie wieder Arschlöcher!« sind ebenfalls Lebensziele, mit denen sich fast jeder identifizieren kann. Das Gleiche gilt für die Bestseller Das Kind in dir muss Heimat finden und Du kannst schlank sein, wenn du willst. Du kannst Kind sein, wenn du willst – warum denn nicht? Und wenn der Dicke in dir Heimat gefunden hat, Platz ist ja genug, dann ist es endlich vorbei mit der Kalorienzählerei. Lebenshilfe schreibt sich gar nicht so schwer.

Sehr erfolgreich war ebenfalls Die Menschheit schafft sich ab von Klaus Kamphausen und Harald Lesch, es geht um den ökologischen Weltuntergang. Ein bisschen rosstäuscherhaft wirkt allerdings die Nähe des Titels zu Thilo Sarrazins Mega-Monster-Seller Deutschland schafft sich ab. Sicher haben etliche Käufer das Menschheits-Buch versehentlich erworben, weil sie es für den zweiten Teil hielten – heute schafft sich Deutschland ab und morgen die ganze Welt. Teil drei müsste dann wohl Die Milchstraße schafft sich ab heißen.

Sarrazin hat dem Buchmarkt wirklich dauerhaft gutgetan. Inzwischen blüht das neue Subgenre des Anti-Sarrazin-Sellers, mit Titeln wie Deutschland schafft sich ab?, Schafft Deutschland sich ab? oder Die Albträume des Dr. Thilo Sarrazin. Im Filmbusiness kennt man das Split-off, da wird ein Seitenaspekt oder eine Nebenfigur eines Blockbusters zum eigenständigen Film aufgeblasen. Es versteht sich von selbst, dass es längst Sarrazin-Split-offs gibt, in denen es um die Abschaffung einzelner Teile von Deutschland geht, etwa Die deutsche Sprache schafft sich ab oder Schafft sich die katholische Kirche ab?. Dieser Trend kommt bestimmt bald in den Regionalverlagen an. Mit dem Titel Dortmund schafft sich ab kann man nicht viel falsch machen, das wird sich auch auf Schalke gut verkaufen. Ich hoffe, dass auch die sehr lesenswerte Roman-Trilogie Abschaffel von Wilhelm Genazino ein wenig von Sarrazin profitiert.

Ein Bestseller, den ich empfehlen kann, heißt Homo Deus, er stammt von dem israelischen Historiker Yuval Noah Harari. Sein Thema ist die Zukunft. Harari unterscheidet sich in seiner Tonlage wohltuend sowohl von den Untergangspropheten als auch von den Hurraoptimisten. Die Menschheit hat, so Harari, die Geißeln Hunger, Krieg und Krankheit heute besser im Griff als jemals zuvor. Das alles gibt es natürlich noch. Aber nie in der Geschichte mussten zum Beispiel, in Prozenten, so wenige von uns Erdenbürgern verhungern wie heute. Und wenn das passiert, dann sind meistens skrupellose Herrscher schuld, Hunger müsste nicht sein. Harari öffnet die Augen dafür, wie groß der Anteil der Forscher an Fortschritt und Lebensqualität ist und wie gering oder sogar kontraproduktiv die Wirkung von politischen Heilslehren. Wenn er über die Entwicklung der künstlichen Intelligenz schreibt oder über Körperoptimierung, kriegt man gerade deshalb Angst. Ein Totalitarismus wird möglich, aus dem es kein Entrinnen mehr gibt. Homo Deus liest sich wie das wissenschaftliche Begleitbuch zum Überraschungs-Bestsellerroman dieser Jahre, zur Wiederauflage von George Orwells 1984.

Erfolgsrezepte

Die Bundeskanzlerin hat gesagt, dass sie die Zeit gern zurückdrehen würde. Wenn ich dies könnte, hätte ich vor ein paar Jahren damit begonnen, ein Anti-Merkel-Buch zu schreiben. Sachbücher, die Angela Merkels Politik schmähen, schaffen es nämlich fast immer in die Bestsellerliste. Das ist ein neues Genre. Während ich dies schreibe, finden sich in der Top Ten der Sachbücher zwei davon, nämlich Deutschland in Gefahr vom Vorsitzenden der Polizeigewerkschaft, Rainer Wendt, sowie Deutschland gehört auf die Couch! von Hans-Olaf Henkel und Joachim Starbatty. Auch Gertrud Höhlers Anti-Merkel-Buch Die Patin, Stephan Hebels Mutter Blamage und Cora Stephans Angela Merkel. Ein Irrtum scheinen sich ordentlich verkauft zu haben, ganz zu schweigen von Thilo Sarrazins jüngstem Hit Wunschdenken, einem Buch, das zumindest in Teilen der Gattung Antimerkeliana zugerechnet werden muss.