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Die Geschichte der Familie Hahn ist einerseits nicht besonders außergewöhnlich, lässt dadurch aber andererseits immer wieder ungewöhnliche Entscheidungen zu. Gemeinsame Planungen und deren konsequente Ausführung in Erziehung und Lebensentwürfen ermöglichen, auch schwierige Hürden zu überwinden. Verschiedene Tiere und einige alte Autos spielen nicht unwesentliche Nebenrollen. In der Rahmenerzählung offenbart sich eine völlig unerwartete Begebenheit aus der Vergangenheit, deren Aufarbeitung erhebliche Erleichterung schaffen konnte.
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Seitenzahl: 148
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Prolog
Dorfkinder
Gymnasiasten
Lehr- und Studienjahre
Das Hexenhaus
Neue Möglichkeiten
Anfänge
Aufbauzeiten
Engagement
Wachstum und Reife
Weitere Neuanfänge
Alterungsprozesse
Epilog
Alle Handlungen und Personen sind frei ersonnen.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt
Wie ein barmherziger Schleier liegt ein leichter Morgendunst über den ungewöhnlich trockenen Weiden. Wer in der Rüstringer Marsch zwischen Nordsee, Weser und Jadebusen wohnt, konnte sich bislang kaum vorstellen, dass die stets satt grünen Wiesenflächen so blass, so grau, an manchen Stellen sogar regelrecht braun werden könnten. Doch dieser heiße und trockene Sommer hat alle überrascht, die Landwirte schlechte Silage- und Heuernten einbringen lassen und selbst für das Weidevieh einmal täglich zusätzliche Fütterungen erzwungen. Die Hitze hat sogar den Singvögeln die Stimme verschlagen. Und meine Amseln, von denen hier sonst mindestens drei Brutpaare genistet haben, sind spurlos verschwunden. Nur die Krähen und Dohlen sind frech und laut wie eh und je.
Als unsere Tochter Anke mit ihrer Familie unser Haus übernommen hat, haben meine Frau und ich unsere angrenzende frühere Ferienwohnung ein wenig modernisiert und für uns eingerichtet. Seit ihrem Tod vor einigen Jahren lebe ich hier alleine, aber mit Tochter, Schwiegersohn und jetzt noch einem Enkel im Haupthaus beileibe nicht einsam. Und ab heute wird´s sogar noch viel besser!
Aus meinem Küchenfenster beobachte ich, wie der graue Dunstschleier allmählich andere Farben bekommt. Alle möglichen Schattierungen der Farbscala von Gelb bis Rot erwecken den Eindruck einer fernen Feuersbrunst. Und wenig später zeigt sich über dem Horizont der obere Rand der Herbstsonne, die sich als deutliche Urheberin dieses wundersamen Farbenspiels unaufhaltsam nach oben schiebt und schnell so stark blendet, dass der Zauber dieser Morgenstunde schon verflogen ist, bevor er richtig begonnen hat. So schön ist es nicht jeden Tag, aber ,alles kommt wieder‘ sagte mein Vater oft.
Nun gibt es keine Ausrede mehr, nicht zum Briefkasten zu gehen, um die Tageszeitung und eventuell zugestellte Briefe herein zu holen. Ein Brief ist tatsächlich im Kasten. Ich erkenne sofort die markante Handschrift meiner Schwester Anne. Die säuberlich geordnete Adresse füllt wie immer die halbe Fläche des Umschlags. Das muss wichtig sein. Sie wird am heutigen 10. Oktober einundachtzig Jahre alt. An ihren Geburtstag erinnern musste sie mich noch nie. Sie weiß doch, dass ich kurz nach neun der zumeist Erste sein werde, der sie anruft. So muss die Zeitung warten. Ich werde Annes Schreiben zuerst öffnen und in aller Ruhe lesen. So schwer, wie der Brief ist, dürfte er einige Blätter enthalten.
Unsere Kindheit und Jugend verbrachten wir Geschwister Hahn in einem mittelgroßen Dorf im oberhessischen Vogelsberg. Dieses Dorf Wackerstein verdankt seinen Namen einem riesigen Basaltfelsen, der ein Bestandteil der Turmmauer der bulligen Kirche ist, die auf der höchsten Stelle eines lang gezogenen Hügels wohl direkt unter Einbeziehung dieses Felsens vor Jahrhunderten errichtet und mindestens zwei Mal umgebaut worden ist. Das Dorf bedeckt den Hügel zu beiden Seiten. Zu jener Zeit war es komplett landwirtschaftlich geprägt. Ein Lädchen, zwei Kneipen, eine Schreinerei, eine Schmiede und die Werkstätten eines Schusters und eines Wagners ernährten ihre Inhaber nur deshalb, weil sie außerdem noch einiges Vieh hielten und ein paar karge Streifen Äcker und Wiesen bewirtschafteten. Ohne das historische Backhaus, das laut Inschrift im Sturzbalken über der Tür älter als die Kirche ist, hätte es kein Brot gegeben. Jede Familie hatte mit einigen anderen zusammen ihren festen Backtag. Und das Fleisch, das unsere Mutter sonntags auf den Tisch brachte, kaufte sie bei unserem Nachbarn, dem größten Bauer, der lustiger Weise auch Hermann Bauer hieß. Eier hatten wir genügend, denn Mutter hielt in unserem großen Garten in einem riesigen Pferch stets mehr als zwanzig Hühner und einen stolzen bunten Hahn. Und alles Gemüse baute sie, wie auch die Kartoffeln, dort selbst an.
Während meine Schwester Anne von unserem Vater schmunzelnd als „Vorkriegsmodell“ bezeichnet werden konnte, war zur Zeit meiner Geburt der Zweite Weltkrieg bereits heftig im Gange. Vater war an der Front, und unsere Mutter wurstelte sich schlecht und recht alleine mit uns durch die schwierigen Jahre. Die Schulbehörde hatte dafür gesorgt, dass sie wenige Wochen nach meiner Geburt den Unterricht unseres Vaters in unserer kleinen Dorfschule übernahm, immerhin hatte sie fast die gleiche Ausbildung wie er, lediglich das letzte Praktikum hatten Annes Geburt und Säuglingszeit zuerst nur verschoben, wurde dann aber endgültig ein Opfer des beginnenden Weltkrieges. Wirtschaftlich waren wir dadurch zwar gesichert, aber Mutters Ängste um Vater und die alltägliche hohe Arbeitsbelastung ließen sie doch oft ungeduldig werden. Bald entwickelten wir Kinder einige Methoden, sie nicht zu reizen, besser gesagt alles unbemerkt zu veranstalten, was sie nach unserer Einschätzung gereizt haben könnte. Besonders Anne wurde eine Meisterin im Tarnen und Verschweigen.
Die beiden Schulräume und die Toiletten bildeten ein langgezogenes niedriges Gebäude. Daneben unser „Lehrerhaus“, wie es im Dorf hieß, umfasste zwei bewohnbare Stockwerke. Das Schlafzimmer unserer Eltern, unsere beiden Kinderzimmer - ein großer Luxus in jener Zeit - und zusätzlich ein kleines Gästezimmer fanden sich im ersten Stock. Sogar Toiletten mit Spülung gab es in beiden Stockwerken, wohl später in einem zweistöckigen Erkerchen außen an das Haus angebaut. Mutter hatte eine fröhliche und fleißige junge Frau aus dem Dorf gefunden, die mit ihrem kleinen Karli, der nur einige Wochen älter war als ich, während der Schulzeit als zugleich Kindermädchen und Haushaltshilfe im Haus war. Auch ihr Mann war eingezogen worden. Bertha Schmidt und Mutter hatten so viele Gemeinsamkeiten, dass sich bald eine ganz herzliche Freundschaft entwickelte. Als Karli und ich dann laufen konnten, war allerlei kindlicher Unfug angesagt, Anne aber hielt diesen, den Anordnungen unserer „Tante Bertha“ folgend, als ordentliche große Schwester bestens unter Kontrolle. Hie und da hatten unsere Väter Heimaturlaub. Tante Bertha brachte 1943 noch ein Mädchen zur Welt. Dass unsere Mutter 1944 eine Fehlgeburt erleben musste, haben wir natürlich nicht mitbekommen und erst Jahre später erfahren. Immerhin war aus diesem Grund unsere geliebte gütige Großmutter aus der Wetterau für drei Wochen bei uns „zu Besuch“.
Vater und Tante Berthas Mann „Onkel Erich“ hatten beide den Weltkrieg unversehrt überlebt und wurden noch im Jahr 1945 kurz nach einander aus ihren Gefangenenlagern entlassen. Tante Bertha wurde sofort wieder schwanger. So bekamen Karli und die kleine Erna im Spätsommer 1946 noch ein kleines Schwesterchen. Karli und ich waren nach den Osterferien eingeschult worden, und ich hatte das zweifelhafte Vergnügen, nun von meinem Vater unterrichtet zu werden. Während Anne, die noch zuerst von Mutter beschult worden war, den Unterricht bei unserem Vater genoss und sich als die bestens trainierte Verschweigerin perfekt darauf eingerichtet hatte, ihn nie merken zu lassen, was in ihr vorging, war ich vorwiegend damit beschäftigt, ihm den Krieg zu erklären und auch auszufechten. Heute bewundere ich ihn im Rückblick, mit welcher Geduld und Geschicklichkeit er es schließlich schaffte, mich so für die Unterrichtsinhalte zu begeistern, dass ich mich zu einem kleinen Streber fortentwickelte, indem ich ihm ständig zeigen wollte, dass ich schneller denken könne, als Vater selbst. Das misslang zwar oft, er ließ es mich aber selten merken. Karli setzte alles daran, von mir, seinem Freund, nicht zurückgesetzt zu werden. So hatte mein Vater in unserem Schuljahr gleich zwei wissbegierige kleine Kerlchen.
Die gleiche Wissbegierde legten wir auch außerhalb der Schule zu Tage. Wie das in dieser Nachkriegszeit so war, konnten wir uns ungehindert im ganzen Dorf bewegen und spielten bis zum Abendläuten mit den etwa gleichaltrigen Kindern auf der Straße, in den Wiesen am Dorfrand und am Bach, der hinter den Scheunen des Unterdorfes flink zum Wald hin unterwegs war. Jenseits der Brücke weidete immer einmal wieder für einige Tage die recht große Schafherde unserer Gemeinde. Der alte Schäfer Albrecht Scheuer hatte aus fast jedem Haus des Dorfes einige oder viele Schafe in der Herde zusammen, zwei gehörten meinen Eltern, vier gehörten den Schmidts, Karlis Eltern, und sogar unser alter Pfarrer Habermann hatte drei Schafe in der Herde. Im Scherz meinte er oft, diese drei wären doch viel pflegeleichter als die „Schafe“, die er als Hirte seiner Gemeinde zu hüten habe. Immerhin vier Dörfer mit insgesamt zwei Gotteshäusern.
Als Albrecht im Herbst 1946 sich wieder einmal mit seinen Schafen in Dorfnähe aufhielt, war gerade die Zeit gekommen, in denen der Schafbock wild damit beschäftigt war, so viele Mutterschafe zu decken, wie er in diesen Tagen als brünstig erkannte und zu fassen bekam. Karli und ich hatten gerade von der anderen Bachseite einen solchen Deckakt beobachtet. Natürlich wollten wir sofort wissen, was da geschehen war und welche Bewandtnis es damit hatte. Also rannten wir über die Brücke und rückten dem alten klugen Schäfer mit unseren Fragen auf die Pelle. Bedächtig setzte er sich auf einen dicken Basaltstein am Rand der Wiese, stützte sich auf den langen Stab seines Schäferschäufelchens und erklärte uns geduldig und - heute stelle ich fest: verblüffend kindgerecht - die körperlichen Unterschiede zwischen den Böcken und den Mutterschafen, die Notwendigkeit einer Befruchtung des mütterlichen Eies durch den väterlichen Samen, den Vorgang der Begattung und das daraus hoffentlich hervorgehende Wachstum des befruchteten Eies zum Lämmchen. „Dann wird der Bauch des Mutterschafes langsam immer dicker, weil innen drin das Lämmchen aus dem Ei heranwächst. Wenn es dann geburtsreif ist, kommt es genau dort wieder aus dem Schaf heraus, wo der Bock seinen Samen hineingeschafft hat. Ach guckt, jetzt steigt er wieder auf ein noch ganz junges weibliches Schaf, das wird dann wohl im Frühjahr zum ersten Mal Mutter.“
Von meinem Zimmerfenster aus hatte ich einen Einblick in den Hof des Bauern Theo Schwarz, unseres zweiten Nachbarn. Bereits mehrfach hatte ich beobachtet, wie dort der eine oder andere Bauer aus dem Dorf eine Kuh herbei brachte, Theo ein besonders starkes und wildes Rindvieh an einem Nasenring aus dem Stall führte, und dieses Ungeheuer dann prustend und schnaubend die herbeigebrachte Kuh bestieg. Da ich immer auf den Rücken der Tiere schaute, konnte ich mehr nicht erkennen. Als ich meine Eltern fragte, was da wohl passiere, antwortete mein Vater, Theo Schwarz betreibe den Faselstall des Dorfes, das diene der Zucht. Was ich mit dieser Antwort anfangen sollte, blieb mir verschlossen.
Jetzt war mir das plötzlich klar, auch da war ich schon mehrfach Augenzeuge von Deckakten geworden. Diesen Begriff hatte uns Albrecht beigebracht. Auf meine Frage, ob das eigentlich bei allen Tieren so sei, antwortete er: „Bei sehr vielen, zumindest aber bei allen Säugetieren. Ihr habt ja schon oft im Frühjahr gesehen, dass die Lämmchen bei der Mutter Milch nuckeln. Kälber saufen am Euter der Mutterkuh, Pferdefohlen tun das zum Beispiel genau so auch bei ihren Müttern, die man Stuten nennt, und so ist das praktisch eingerichtet. Erst werden die späteren Einzelbestandteile des Jungtieres beim Deckakt zusammen gefügt, dann wächst es im Bauch der Mutter, und schließlich kann die nach der Geburt ihm auch noch die ersten Monate als Nahrungsquelle dienen.“ „Meine Mama kann das aber auch.“ Karli strahlte vor Eifer, seine Erfahrung mitzuteilen. „Die kleine Gertraud nuckelt bei Mama an der Brust und ist dann so satt, dass sie gleich einschläft. Mama sagt, sie stillt die Kleine.“ „Richtig“, antwortete Albrecht, „bei uns Menschen ist das auch so.“ Schnell hatte ich geschaltet. „Dann sind wir Menschen also auch Säugetiere?“ „Richtig.“ Karli berichtete eifrig: „Ja, vor der Geburt unserer Gertraut war Mama auch ganz dick, da ist sicher die Kleine in ihrem Bauch drin gewesen.“ „Richtig.“ Albrecht war etwas einsilbig geworden. Heute denke ich, er musste schnell nachdenken, wie er mit unseren nächsten Fragen umgehen sollte. Die blieben auch nicht aus.
„Dann wächst das Baby auch von einem befruchteten Ei?“ fragte ich. „Richtig.“ „Und Onkel Erich hat seinen Samen mit einem Deckakt in die Tante Berta hinein gemacht.“ „Das ist tatsächlich ganz ähnlich wie bei unseren Haustieren. Nur laufen wir Menschen ja auf zwei Beinen. Da geht das nicht ganz so, wie ihr das bei den Schafen gesehen habt.“ Und dann wuchs der alte Schäfer regelrecht über sich hinaus. Er beschrieb uns behutsam den menschlichen Geschlechtsverkehr. Wir erfuhren das als etwas Wunderbares zwischen Mann und Frau, die sich lieb haben. Und dass man da nicht von einem „Deckakt“ spräche, sondern vom „Geschlechtsakt“, meistens aber vom „Beischlaf“, erklärte er uns auch. Karlis Einwand: „Da muss mein Papa aber doch wach gewesen sein.“ nahm er schmunzelnd auf und erklärte uns, die meisten Leute schämten sich, über den „Geschlechtsakt“ zu sprechen, da hätte man diesen schönen Begriff „Beischlaf“ erfunden, weil Mann und Frau ja dabei meistens zusammen im Bett seien und anschließend auch tatsächlich bei einander einschliefen. Und dann warnte er uns auch, dass wir wohl manchmal weniger schöne Begriffe hören würden, das sei halt so, weil sich die Leute schämten. Diese Scham sei aber eigentlich gut und ein ganz nützlicher Schutz.
Mit so viel neuem Wissen gingen wir beide nachdenklich zurück über den Bach, und da es bereits Zeit geworden war, auch jeder nach Hause. In den ersten Tagen bewahrten wir unsere neuen Kenntnisse wie ein Heiligtum zwischen uns. Wir empfanden jetzt plötzlich die von Albrecht beschriebene Scham überdeutlich selbst und verstanden sofort, was er gemeint hatte. Nach einigen Tagen begann unser Vater beim Abendessen eine ungewohnt feierliche Rede, in der er Anne und mir mitteilte, dass wir in einigen Monaten wohl ein Geschwisterchen bekommen sollten. Er war kaum mit seiner sichtlich mühselig formulierten Mitteilung fertig, da stand ich von meinem Stuhl auf, legte unserer Mutter meine Hand auf den Bauch und meinte „Da bekommst du jetzt bald einen richtig schön dicken Bauch, wenn das Kindchen darin wächst.“ Dann wendete ich mich zu meinem Vater und fragte ihn „War der Beischlaf schön? Bist du auch wirklich zärtlich zu Mama gewesen?“ Unsere Eltern bekamen beide rote Köpfe und Anne vor Erstaunen über diese meine Bemerkungen ihren Mund nicht mehr zu.
Heute in der Rückschau erfasst mich eine große Hochachtung vor unseren Eltern, die in Windeseile über ihr erstes Gefühl der Peinlichkeit hinweggekommen waren, uns - Mutter mich und Vater Anne - auf ihren Schoß nahmen und nun ihrerseits erstens wissen wollten, woher meine überraschende Weisheit stamme, zweitens Anne recht geschickt auf meinen Wissensstand brachten und zudem klar und deutlich erkennen ließen, dass sowohl wir beide als auch unser werdendes Geschwisterchen echte Kinder ihrer zärtlichen Liebe seien.
Für Vater war dieser Abend sichtlich ein pädagogisches Aha-Erlebnis. Er wurde regelrecht zu einem Pionier der schulischen Sexualerziehung im Grundschulalter. Nach meiner Berichterstattung tat er sich mit dem alten Schäfer Albrecht Scheuer zusammen. Jährlich, wenn die Brunstwochen in dessen munterer Schafherde einsetzten, wanderte Vater mit seiner aus den vier Grundschuljahren zusammengesetzten ziemlich großen Zwergschulklasse zur Beobachtungsveranstaltung, die den Kindern anschaulich machte, was zwischen den Geschlechtern so alles abläuft. Mit geschickten Kreidezeichnungen an der Tafel wurde dann das Ganze so ausgeweitet, dass kein Kind aus unserem Dorf unaufgeklärt in die höheren Klassenstufen entlassen wurde. Wir lernten sogar, über unser Wissen Stillschweigen zu bewahren. Unser Vater hat immer mit außerordentlicher Hochachtung von der Weltklugheit und Herzensgüte unseres alten Schäfers gesprochen. Und ich bin, als dieser schließlich mit 98 Jahren verstorben war, mit meiner Frau aus unserem knapp 450 Kilometer entfernten Wohnort zu seiner Beerdigung gefahren.
Die allergrößte Leistung hat aber schließlich unsere Mutter erbracht. Bald nach unserem vertrauten Aufklärungsabend entschloss sie sich mit unserer Hebamme Paula Heller aus dem Nachbarort gemeinsam, uns beide wie unseren Vater bei der Geburt unseres Geschwisterchens dabei haben zu wollen. Wir wurden perfekt von den Erwachsenen darauf vorbereitet und erlebten tief beeindruckt, mit welcher Kraft und Tapferkeit Mutter dann unsere kleine Schwester Hiltrud zu Welt brachte. Dass wir bei der Geburt dabei sein durften, haben wir niemandem erzählt. Umso mehr aber, wie süß die kleine blonde Dame mit den blauen Äugelchen sei. Wir waren in jeder Hinsicht mächtig stolz, wohl auch ganz unbewusst auf das Vertrauen unserer Eltern.
Als Anne nach dem vierten Schuljahr in das Lauterbacher Gymnasium wechselte, veränderte sich plötzlich ihre Sprache. Wir beide sind zweisprachig aufgewachsen, beherrschten von Anfang an das Hochdeutsche ebenso sicher wie die Wackersteiner Mundart, und das im fehlerfreien Wechsel. Wir Kinder miteinander redeten nur „Platt“, wie dort die Mundart fälschlich genannt wird. Auch mit der erwachsenen Dorfbevölkerung. Dabei ist das echte Plattdeutsche ja bekanntlich die niederdeutsche Sprache, die in meiner jetzigen langjährigen Heimat gerade mit großer Mühe am Leben gehalten wird, da sie sonst zu verschwinden droht. Mit unseren Eltern redeten wir ein leicht hessisch gefärbtes Hochdeutsch, das zumindest in Satzbau, Grammatik und Begrifflichkeit durchaus korrekt war. Anne begann aber nun, mit großem Ehrgeiz den hessischen Akzent zu bekämpfen. Das klang manchmal recht witzig und gestelzt, und die Kinder, die bei unserem zweiten Lehrer, Herrn Buchholz aus Lauterbach, in der oberen Wackersteiner Klasse aus den Schuljahren fünf bis acht unterrichtet wurden, machten sich manchmal darüber lustig. Anne, die Meisterin der Anpassung an die Erwartungen anderer Menschen, entwickelte daraufhin in wenigen Wochen eine verblüffende Dreisprachigkeit. Das ist mir nie gelungen. Selbst nach mehr als fünfzig Jahren Norddeutschland kann ich meine hessische Herkunft nicht ganz verleugnen.
Während aus der Klasse über Anne zwei und der Klasse zwischen uns sogar drei Kinder nach Lauterbach in fortbildende Schulen gingen, war sie in ihrem Alter die Einzige. Wir waren dann auch wieder drei. Karl, der sein „i“ am Ende seines Namens nicht mehr haben wollte, und ich kamen ins Gymnasium und Elfriede Bauer aus dem Nachbarhof in die Mittelschule. In den ersten Jahren war unser Schulgebäude für die große Schülerzahl viel zu klein. Der Not gehorchend war vorerst Schichtunterricht eingerichtet worden. Eine Woche Frühschicht, eine Woche Nachmittagsschicht. Allen Schülern fiel dieser Wechsel sehr schwer. Mit der Zeit wurden zusätzlich andere Lösungen gesucht. Je größer die Schülerzahl wurde, desto mehr Zusatzräume mussten gefunden werden. So wurden neben dem schlecht geheizten Konfirmandensaal hinter der Evangelischen Kirche auch noch Räume der benachbarten Landwirtschaftsschule und der Gemeindesaal der Katholischen Kirche zum Unterricht genutzt. Dann begannen 1954 die Arbeiten an den geplanten Neubauten.