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Gerhard Roos

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Beschreibung

Martin und Brigitte Kern sind entsetzt. Nun holt sie Martins Entstehungsgeschichte bedrohlich ein. Ein Fehler seiner Mutter lässt ihn einst entstehen. Doch eine glückliche neue Partnerschaft löst vorerst ihre Probleme. Der Fehler seines Erzeugers hält dessen Lebensentwurf in der Schwebe. Seine erste Familie wird sein Glück und sein Unglück. Er rutscht ab. Doch dann zieht ihn eine neue, sehr spezielle Partnerschaft aus seinem Elend heraus. Das unkonventionelle Leben mit seiner zweiten Frau bringt Erfolg und Wohlstand. Eine erst im Nachhinein erkannte Begegnung mit seinem Spross Martin und dessen Familie ändert sein Leben erneut. Aber innerlich zueinander können die beiden Männer nicht finden. Schließlich aber droht die Keule des Rechtsstaates. Gibt es ein Entkommen?

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roos-gerhard-autor.de

Inhalt

Unerwartet

Dornröschen

Der Prinz

Wilde Wochen

Überraschungen

Was nun?

Alles wie immer

Maßnahmen

Der Mitwisser

Die schwarze Witwe

Die Jagdhütte

Pläne

Lösungen

Neubeginn

Erste Probleme in Bremen

Alltag bis zur Geburt

Ende des Verschweigens

Jugendjahre

Die Katastrophe

Ein neues Kapitel

Die Verfahren

Alternativen

Die Firma

Das Suchergebnis

Studium, Beruf und Familie

Einmal muss Schluss sein

Wunsch und Wirklichkeit

Campingurlaub

Entdeckungen

Buße und Vergängnis

Der Rechtsstreit

Titelfoto: „Therme Brigerbad am Morgen“

Nicolas Glauser/ travelita.ch

Alle Handlungen und Personen sind frei ersonnen.

Ähnlichkeiten mit Lebenden oder Verstorbenen sind

zufällig und ungewollt.

Unerwartet

Martin Kern staunte nicht schlecht, als er am späten Samstagvormittag den grauen, sichtlich amtlichen Einschreibebrief aus den Händen des Briefzustellers entgegen nahm. Was wollte wohl die „Freie Hansestadt Bremen“ von ihm? Seit bestimmt drei Jahren war er nicht mehr mit dem Auto in oder durch diese Stadt gekommen, also dürfte es kein Bußgeldbescheid wegen eines Verkehrsvergehens sein. Als er den Umschlag geöffnet und das Schreiben gelesen hatte, hatte sein Gesicht fast völlig seine Farbe verloren. Wortlos schob er den Brief über den Tisch. Seine Frau Brigitte las nun auch:

„Sehr geehrter Herr Kern, nach monatelangen Nachforschungen hat sich ergeben, dass Sie als der einzige noch lebende Nachkomme des langjährigen Bremer Bürgers Klaus-Georg Hoppenstedt, geb. 17.07.1937 in Bassum, festgestellt werden konnten. Da Herr Hoppenstedt seit nunmehr 18 Monaten in einer Seniorenpflegeeinrichtung in Lilienthal/Niedersachsen lebt, seine Rente jedoch zur Kostendeckung bei Weitem nicht ausreicht, hat die Freie Hansestadt Bremen, in der er bis zur Aufnahme in der genannten Einrichtung seinen ,gewöhnlichen Aufenthalt‘ gehabt hatte, nach geltendem Recht vorleistend die ungedeckten Kosten übernommen.

Gemäß § 1601 BGB sind Verwandte in gerader Linie grundsätzlich verpflichtet, einander Unterhalt zu gewähren. Verwandte in gerader Linie sind, von den Eltern aus gesehen, ihre Kinder oder Enkelkinder, aber auch ihre Eltern, sofern noch vorhanden. Wie oben angegeben sind Sie als leiblicher Sohn nach derzeitigem Wissensstand der Einzige, der dieser Pflicht unterliegt. Gegebenenfalls kämen Ihre Kinder, soweit vorhanden, zusätzlich als Verpflichtete in Frage.

Hiermit werden sie aufgefordert, die inzwischen aufgelaufenen Leistungen für Ihren genannten Vater in Höhe von bis zu 35.281,80 € auszugleichen und mit Wirkung vom Datum des Posteinganges dieses Schreibens den aktuellen Selbstzahlungsbetrag von bis zu 1.960,20 € monatlich zu zahlen.

Da die Freie Hansestadt Bremen bisher keine Kenntnis über Ihre wirtschaftlichen Verhältnisse hat, fordern wir Sie hiermit auf, diese binnen vier Wochen zur Prüfung offen zu legen, um gegebenenfalls Freibeträge und Schonvermögen festzusetzen, die Ihre o.a. Verpflichtung in der Höhe beeinflussen könnten. Die Forderung bleibt bis zum erwarteten Prüfungsergebnis ausgesetzt.“ Die vorgeschriebenen Widerspruchsbelehrungen und eine Unterschrift vervollständigten das Ganze.

Brigitte und Martin Kern waren wie vom Donner gerührt. Martin seufzte: „Nun hat mich diese unerwünschte Beziehung zu diesem Mann doch wieder eingeholt. Das alles hatten wir so schön für erledigt und ausgestanden gehalten. Ich muss sofort mit deinem Bruder reden.“ Brigittes Bruder war Anwalt und Mitinhaber einer Kanzlei in Koblenz.

Dornröschen

Gudrun Wellmann war die Erste ihrer Familie, die es geschafft hatte, ins Gymnasium eingeschult zu werden, nach der Mittleren Reife nicht direkt eine Berufsausbildung zu beginnen und mit achtbarem Notenerfolg allmählich dem Abitur näher zu kommen. Nach den Osterferien 1957 würde sie die Oberprima besuchen und im Frühjahr 1958 dann dieses Abitur ablegen. Ihr Vater Walter betrieb in Oberlahnstein eine gut eingeführte Tischlerei, in der inzwischen ihr ältester Bruder Günter seiner Meisterprüfung zustrebte und, seit acht Monaten verheiratet, der Geburt seines ersten Kindes entgegen fieberte. Der zweite, Manfred, hatte nach der Mittleren Reife eine Ausbildung beim Amtsgericht in Oberlahnstein gemacht und saß nun, frischgebackener Beamter, als Rechtspfleger in eben jenem Gericht seiner Heimatstadt.

Wie das so ist mit kleinen Schwestern großer Brüder, wenn sie auch noch Familienjüngste sind, Gudrun hatte für die damalige Zeit recht viele Freiheiten. Da sie auch noch ein durchaus ansehnliches junges Weib war, konnte sie schon recht früh über einen Mangel an Verehrern nicht klagen. Direkt nach der Gründung der örtlichen Funkengarde Blau-Weiß hatte ihre karnevalsbegeisterte Mutter Ingrid sie überredet, sich bei dieser Truppe anzumelden, wo sie mit großem Eifer und auch ordentlicher Begabung recht schnell ein unverzichtbares Mitglied wurde. Bereits nach wenigen Monaten wurde sie mit noch Siebzehn zielsicher von den beiden Trainerinnen darauf vorbereitet, in der ersten Kampagne 1956/57 als Zweitbesetzung zum Notfallersatz für das offizielle Funkenmariechen bereit zu stehen. Man konnte ja nie wissen. Bereits ihr erster Auftritt am Faschingsdienstag, das Funkenmariechen hatte sich kräftig erkältet und fiel tatsächlich am letzten Tag aus, wurde ein voller Erfolg.

Die Tänzer der Garde rissen sich um die Aufgabe, mit Gudrun die besonderen Tanz- und Hebefiguren zu trainieren und ihr auch persönlich auf diese Weise näher zu kommen. Sie hatte sich jedoch vorgenommen, allen diesen Werbungen zu widerstehen. Erstens hielt sie sich selbst noch für zu jung, zweitens war letztlich keiner der netten Kerle so besonders, dass sie sich hätte auf ihn einlassen wollen. Selbst bei den nicht seltenen Partys - der Begriff kam damals gerade in Mode - wahrte sie gekonnt ihre Grenzen. Bei ihren Schulkameraden und den Jungs der Garde hatte sie deshalb bald den Spitznamen „Dornröschen“.

Natürlich brachten ihre Brüder die Kunde von ihrer legendären Vorsicht im Umgang mit dem anderen Geschlecht ins Elternhaus, und sowohl Gudruns Mutter als auch ihr Vater waren mächtig stolz auf ihre vernünftige Tochter. Dafür gab es einen weiteren Grund. Trotz Gudruns Eifer bei den Funken, sie fehlte bei keiner Trainingsstunde, und auch trotz ihrer Rolle als stets gern geladenes Partymädchen vernachlässigte sie ihre Schule keineswegs. Im Gegenteil, ihre Noten verbesserten sich sogar im Lauf der Zeit.

Irgendwann in einer Schulpause, in der die Schüler des Lahnsteiner Gymnasiums wegen des recht ekligen Schneematsches in den Fluren und Klassen bleiben durften, bemerkte Gudruns Lateinlehrer, der alte Doktor Kessel, verwundert, dass sie von ihren Mitschülerinnen und Mitschülern stets als „Dornröschen“ angeredet wurde. Im Unterricht konnte er es sich dann nicht verkneifen, sie direkt zu fragen, wie sie denn zu diesem Spitznamen komme. Die Antwort kam aber nicht von ihr, sondern blitzschnell vom eigentlich ständig vorlauten Klassenkameraden Peter Kern, der dem verdutzten Lateinlehrer erklärte: „Sie sitzt unzugänglich in ihrem selbst gebauten Schloss und verteidigt ihre Unnahbarkeit mit einer unsichtbaren Dornenhecke.“ Auf die Frage des Lehrers „Ja, kränkt sie das denn nicht, Gudrun?“ antwortete die vergnügt: „Nein, im Gegenteil. Auf diesen Namen bin ich richtig stolz.“

Der Prinz

Klaus-Georg Hoppenstedt war als einziger Junge und mit acht Jahren Altersabstand der Jüngste in einer Geschwisterschar mit vier älteren Schwestern. Als sein Vater 1939 aus der kleinen verstreuten Siedlung zwischen Diepholz und Bassum zum Militär und direkt in den Krieg eingezogen worden war, umhegten und verwöhnten die fünf weiblichen Familienmitglieder den Kleinen in jeder Hinsicht. In gewisser Weise ähnelte seine Rolle in der Familie der eines Teddybären. So wurde ihm auch nicht beigebracht, für irgendetwas Verantwortung zu übernehmen. Alles erledigte sich wie von selbst. Auch als sein Vater 1947 aus britischkanadischer Gefangenschaft entlassen worden war, änderte sich nichts an diesem Zustand. Sein Vater konnte direkt wieder in seinem früheren Beruf als Torfstecher anfangen und seine Mutter blieb bei ihrer Beschäftigung als Schwesternhelferin im Bassumer Krankenhaus, die sie seit Kriegsbeginn ausgeübt hatte, um sich und ihre Kinder durchzubringen. So waren die großen Schwestern seine Prägepersonen, die ihm jedes Hindernis aus dem Weg räumten.

Immerhin gelang ihm eine ordentliche Schulkarriere, die mit der Mittleren Reife der Realschule Diepholz gekrönt wurde. Anschließend fand er eine Ausbildungsstelle bei der Post, wurde Schalterbeamter und pendelte täglich mit dem Postbus in den Stadtsüden Bremens. Im Laufe des Jahres 1956 ergab sich durch die täglich zweimalige gemeinsame Busfahrt, dass er einer ebenfalls gerade Neunzehnjährigen aus Bassum namens Christiane allmählich näher kam. Kaum waren sie einige Male miteinander ausgegangen, auch zweimal gemeinsam ins Kino, wo im Dunkeln erste Zärtlichkeiten ausgetauscht worden waren, erhielt Klaus als einer der Ersten aus diesem Gebiet und der Republik überhaupt den Einberufungsbefehl zur neu gegründeten Bundeswehr, die eigentlich erst zum ersten April als ordentliche Wehrmacht der Bundesrepublik ihre offizielle Funktion erhielt.

Wie das zu jener Anfangszeit der Wehrpflicht war, wurden die jungen Rekruten nach undurchschaubaren Maßstäben über die Republik verteilt, zumeist weit weg von Wohnort stationiert und somit im Sinne der aktuellen Politik „verselbstständigt“. Klaus-Georg, den jedermann nur Klaus nannte, erhielt seine Einberufung in die wieder eröffnete Pionierkaserne in Niederlahnstein. Als er seiner Freundin Christiane von dieser neuen Situation Bericht erstattete, gab es bei der jungen Dame heftige Tränen. Angesichts der zu erwartenden Trennung auf Zeit suchte sie nun noch jede freie Minute mit ihrem Klaus zu verbringen. Wie wichtig oder nicht ihm die Beziehung zu Christiane wirklich war, durchdachte er gar nicht, sondern genoss es, in Kürze vermisst zu werden. Als es sich dann am letzten gemeinsamen Abend, dem Altjahresabend 1956, in alkoholisierter Laune sogar ergab, dass sie ihm anbot, über Nacht bei ihr zu bleiben, widerstrebte er diesem Ansinnen nicht. Es schmeichelte seiner Teddyseele, begehrt zu werden. Und Christianes Mutter, die bei Bekannten ins Neue Jahr hinein feierte und dort über Nacht blieb, bekam von dieser ersten Nacht der Beiden gar nichts mit.

Am kommenden Morgen erschien er dann zur Frühstückszeit in seinem Elternhaus, log, er habe bei einem Kumpel geschlafen, ergriff seinen längst gepackten Koffer und kam gerade noch rechtzeitig zum Hauptbahnhof in Bremen, um die sorgfältig geplante Reise nach Niederlahnstein pünktlich anzutreten. Ausgeschlafen und bereit zum Dienst erlebte er schließlich am 2. Januar den ersten Apell.

Wilde Wochen

Einerseits gefiel ihm das Soldatenleben ganz gut, bei dem ihm das Denken und Planen abgenommen wurde. Andererseits fehlte ihm dann doch ein wenig die Freiheit der Freizeitgestaltung, die er bislang ja reichlich zur Verfügung hatte. So ging er sofort und gerne auf den Vorschlag ein, den ihm einige andere Rekruten machten, jeweils am Wochenende gemeinsam Lahnstein und vielleicht auch Koblenz „unsicher zu machen“. Alle waren fern der Heimat und mussten sich in der neuen Situation zurechtfinden. Die sich wieder langsam formierende Karnevalsszene im Mittelrheingebiet bot genügend Gelegenheiten, ordentlich zu feiern und junge Leute aus der Gegend kennenzulernen. So hatte es sich dann am 28. Februar, dem „Schwerdonnerstag“, in Lahnstein auch „Schmutziger Donnerstag“ genannt, ergeben, dass die fünf jungen Soldaten mit Genehmigung ihres Vorgesetzten mit anderen jungen Leuten und einem Teil der Funken Blau-Weiß am Abend nach deren Auftritt am Rathaus, dem ersten überhaupt in ihrer kurzen Vereinsgeschichte, in einer Niederlahnsteiner Tanzkneipe ans Feiern kamen. Hier begegneten sich Gudrun Wellmann und Klaus-Georg Hoppenstedt zum ersten Mal.

Klaus war ja nun unzweifelhaft ein hübscher, großgewachsener Kerl, dessen wasserblaue Augen so sanft zu blicken verstanden, dass bereits während ihres ersten Tanzes mit ihm Dornröschens Dornenhecke alle Dornen verlor und ihre Schlossmauern, die doch ihr ganzer Stolz waren, wie die Wände eines Kartenhauses zusammenbrachen. Aber auch Klaus war vom Reiz der attraktiven Einheimischen sofort verzaubert. Bereits an diesem Abend waren sie unzertrennlich und verabredeten sich für die jeweils gemeinsame freie Zeit des folgenden Karnevalswochenendes, als sie sich zur Sperrstunde mit einem ersten innigen Kuss von einander verabschiedeten. Irgendeinen Gedanken oder ein Gefühl an Christiane daheim verschwendete Klaus nicht, dies hier war anders, in Gudrun hatte er sich ernsthaft verliebt. Und Dornröschen war von seinem Prinzen „befreit“ worden.

Nachdem die Beiden jede gemeinsam freie Minute des Wochenendes zusammen zugebracht und eine Menge Zärtlichkeiten ausgetauscht hatten, kam nun Gudruns besonderer Auftritt als Ersatz-Funkenmariechen am Faschingsdienstag. Und da Klaus wie alle anderen Soldaten des Standortes Sonderurlaub für diesen Tag erhalten hatte, konnte er das Ereignis auch direkt miterleben und anschließend mit Gudrun und den Anderen deren Erfolg gebührend feiern. Weil Gudruns Eltern und ihr noch daheim wohnender Bruder Manfred sicherlich erst nach Mitternacht nach Hause kommen würden, nahm Gudrun, als es dunkel wurde, ganz unauffällig ihren Prinzen mit nach Hause. Vor lauter gemeinsamer Leidenschaft wäre Klaus fast zu spät aus ihrem Bett und dem Haus ihrer Familie gekommen.

Am Freitag nach den tollen Tagen erhielten alle Niederlahnsteiner Rekruten ihre Einsatzbefehle für die Zeit nach der Grundausbildung. Etwa ein Drittel blieb am Standort, der Rest wurde über die ganze Republik verstreut. Klaus würde nach Oldenburg verlegt, wo der Umbau der bis vor Kurzem britisch genutzten Kaserne, die 1958 der neu entstehenden Luftwaffe übergeben werden sollte, eifrig betrieben wurde. Obwohl er weiter Uniform tragen würde, sollte er seiner zivilen Ausbildung wegen in die kleine Verwaltungseinheit abkommandiert werden, welche die Abrechnungen der Oldenburger Baukosten durchführen und deren Korrektheit überwachen sollte. Er war dann zwar weiterhin Pionier, aber im Sondereinsatz für die Luftwaffe, die es noch gar nicht gab.

Nachdem Gudrun und ihm nun klar war, wie kurz ihre gemeinsame Zeit sein werde, suchten sie einen geheimen Ort für unentdeckte Zweisamkeit. Gudruns genaue Ortskenntnisse machten es möglich, in einer kleinen Pension im Lahntal bei der verschwiegenen Wirtin Herta Lotz ein Zimmer zu mieten, in dessen Bett die Beiden nun bis zum Monatsende jede gemeinsam freie Zeit verbrachten. Anders als in der ersten ungeplanten Nacht hatte Klaus auf Gudruns Bitte hin nun auch für Kondome gesorgt. Sonstige Gedanken an irgendeine Zukunft verschwendeten beide nicht, nur ihre wilde Leidenschaft hatte Bedeutung. Gudrun konnte trotz Allem ihre Schulleistungen ganz gut auf dem üblichen Niveau halten. Und die Geschichten, mit denen sie ihre Abwesenheit von daheim zu ungewöhnlichen Zeiten erklärte, waren durchaus glaubhaft.

Für Samstag, den 29. März, war nun für Klaus unwiderruflich die Abreise Richtung Norden geplant. Er wollte zu Hause für zwei Nächte Station machen und hatte sich dann am 1. April um 15 Uhr in Oldenburg bei seinen zukünftigen Vorgesetzten einzufinden. Er hatte erfahren, mit ihm zusammen seien nur drei weitere junge Soldaten zu dieser etwas ungewöhnlichen Aufgabe kommandiert.

Gudrun hatte sich ab Freitagnachmittag bei ihrer Familie mit der Aussage abgemeldet, sie wolle über das Wochenende eine Schulfreundin im Taunusdorf Dachsenhausen aufsuchen. Die war eingeweiht und hatte zugesagt, ihr auch schon für die Nacht zum Samstag notfalls ein Alibi zu geben. Gudrun wollte ja in Wirklichkeit erst samstags zu ihr kommen.

Viel geschlafen hatten weder Dornröschen noch ihr Prinz, als sie sich in Koblenz am Bahnhof verabschiedeten. Gudrun würde als Erste einen Brief schreiben, Klaus hatte ihr die Büroadresse seiner Einheit gegeben. Und Post an sie solle vorerst einmal unterbleiben, ihre Familie war ja ahnungslos. Ein paar Tränen gab es schon, aber der Abschied war kurz, und dann verschwand die Bahn schnell aus Gudruns Blicken.

Überraschungen

Die Fahrt in Richtung Heimat wurde für Klaus schwieriger als gedacht. Weil er einen Anschlusszug durch die Verspätung seines Zuges verpasste, kam er erst am frühen Nachmittag in Bremen an, von wo er aber immerhin sofort mit dem Lilienbus nach Hause fahren konnte. Als er sein Elternhaus betrat, staunte er nicht schlecht. Um den großen Esstisch herum saßen nicht nur seine Eltern und zwei seiner Schwestern mit ihren Männern und Kindern, sondern auch Christiane. Er spürte sofort, dass hier während seiner Abwesenheit nicht nur eine überraschende Vertrautheit zwischen seiner Familie und ihr entstanden war, sondern dass irgendein Vorfall bei allen eine auffällige Spannung hatte entstehen lassen. Das Rätsel sollte sich sofort lösen.

Er wurde zuerst auf einen Platz neben Christiane gewiesen, von dieser mit einem herzlichen Kuss begrüßt und schnell mit Kaffee und Kuchen versorgt. Dann setzte seine Mutter ihr feierlichstes Gesicht auf und verkündete: „Ja, mein lieber Sohn, da wart ihr beide nun unerwartet erfolgreich. Christiane ist schwanger. Du wirst ja wohl die Verantwortung für euer Kind übernehmen. Nach unserer Ansicht wäre es vorteilhaft, ihr würdet so bald als möglich heiraten. Dann ist das Kind ein eheliches Kind, Christiane abgesichert, und du wirst ein ordentlicher verantwortungsvoller Vater.“

Alles war von den Frauen vorbedacht. Sein Vater schwieg wie immer, hielt die vorgesehene Lösung aber natürlich für richtig. Gerede der Leute im Dorf konnte er überhaupt nicht gebrauchen. Schließlich war er der Stellvertreter des Bürgermeisters. Es war also wie stets, und Klaus verfiel sofort wieder in seine gewohnte Teddybärrolle. Natürlich würde er zu seinem Kind stehen, natürlich hatten die Frauen recht, natürlich würde er sich in die ganze Geschichte fügen. Christiane war schließlich schon am Beginn des vierten Monats. Kurz und ein wenig schmerzend blitze durch seinen Kopf der Gedanke: „Und Gudrun? Was wird mit ihr?“ Doch schon war seine Bequemlichkeit, sich steuern zu lassen, wieder stärker. „Die ist so hübsch, die wird schon einen anderen finden.“ Damit war Lahnstein für ihn erledigt. Zumindest dachte er das.

Alle Vorbereitungen für eine baldige Hochzeit waren schon so weit vorangetrieben, dass er gar nicht mehr viel tun musste. Das Gespräch mit dem Pfarrer war schon für diesen Nachmittag verabredet. Und morgen früh vor seiner Abreise würde es sich sicherlich einrichten lassen, dass er eben mal schnell die vorbereitete Bestellung des Aufgebotes würde unterschreiben können. Eine Woche nach Ostern wären Christiane und er dann verheiratet und alles einigermaßen im Sinne örtlicher Sitten geregelt. Mit dieser Zuversicht fuhr er, nachdem alles plangerecht erledigt worden war, schließlich am Montag früh nach Oldenburg.

Sein Vorgesetzter war ein älterer Unteroffizier, der noch Kriegsteilnehmer gewesen war und gerne davon erzählte, dass er seine sofortige Einstellung als Berufssoldat der Tatsache verdanke, dass er Ende April 1945 zwölf Rekruten im Kindesalter des allerletzten Aufgebotes am Westwall dadurch gerettet habe, dass er sich mit den Jungs bis zum Kriegsende in einem Waldstück in der Eifel habe verstecken können und ihnen damit das Leben gerettet habe, rein rechtlich aber eigentlich desertiert sei. Dessen rheinische Mundart erinnerte Klaus deutlich an seine Lahnsteiner Zeit. Die Arbeit als solche war typische Schreibstubenarbeit, durch das Tempo der Maßnahmen und Abrechnungen nicht langweilig und dank der netten Kameraden durchaus angenehm.