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Dienstreisen ermöglichen Jürgen Reimann die Aufarbeitung der belasteten Vergangenheit und unerwartete Begegnungen, die ihm und anderen Menschen seines Umfeldes einen Neubeginn ermöglichen. Besonders das Niemandskind Lara Schubert wird durch diese Aufarbeitung zum Jemand.
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Seitenzahl: 98
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Die Dienstreise
Bildungszeiten
Britta
Die Pension
Die Einweihungsparty
Die Kunden
Die Wohnungsanpassung
Auf Wiedersehen, Wismar
Glückszeiten
Die Heimfahrt
Der Unfall
Zurück
Überraschungen
Lara
Erkenntnisse
Christa
Gabi
Ursula
An der Weser
In der Nordheide
Pläne
Herbstferien
Die Hochzeit
Der Fund
Gabis Erinnerungen
Der Arztbesuch
Die Weihnachtsreise
Familienleben
So richtig darauf eingestellt hat sich Jürgen Reimann noch nicht, nunmehr häufiger mit der Bahn zu fahren. Einsichtig und vernünftig ist es aber schon, nur noch dort den PKW zu nutzen, wo Bahnreisen unzumutbar umständlich oder allzu zeitraubend gewesen wären. Lediglich die Zuwege zu den beiden in Frage kommenden Bahnhöfen muss er dann mit seinem Dienstwagen erledigen. Zu einem von beiden natürlich, je nachdem, ob er mehr im Osten oder mehr im Westen der Republik eingesetzt wird. An den Bahnhöfen jeweils auch für mehrere Tage zu parken, ist problemlos möglich.
In den Regional- und Fernzügen kann er während der Fahrt recht gut arbeiten. So werden gewisse Unpünktlichkeiten nicht übermäßig problematisch. Durch das in den Zügen recht zuverlässige WLAN-Angebot der Bahngesellschaften ist er erkennbar nicht der Einzige, der mit dem offenen Notebook auf den Knien reist. Das ist natürlich viel effektiver als die verlorene Arbeitszeit durch PKW-Fernreisen. Insofern hat sein Chef Gunnar Heyer durchaus richtig entschieden, als er seine drei Revisoren, die zum Teil recht weite Reisen durchführen müssen, vorwiegend zu Bahnreisen verpflichtete.
Jürgen hatte nach seinem BWL-Studium zuerst in der Revisionsabteilung eines ziemlich großen norddeutschen Konzerns gearbeitet, war aber dann seinem bisherigen dortigen Vorgesetzten in dessen Selbstständigkeit gefolgt. Dieser hatte festgestellt, dass viele kleinere und mittlere Unternehmen einerseits einen starken Bedarf hätten, Buchführungen und Bilanzen einer sogfältigen regelmäßigen Kontrolle zu unterziehen, sich jedoch andererseits keine eigene volle Arbeitskraft für diese Aufgabe leisten könnten. Zudem würde eine externe Revision neutraler und damit effektiver sein können. So hatte er schnell genügend Kunden gefunden, die zuerst zwei, dann drei Angestellte vollzeitlich ernährten. Einschließlich Dienstwagen und hübscher Immobilie für die Familie Heyer mit ordentlichem Bürobereich der GHR (Gunnar-Heyer-Revision) im ehemaligen Stall dieses Resthofes.
So hat es sich für die nun anstehende Reise in die Hansestadt Wismar ergeben, dass Jürgen statt einer PKW-Fahrtzeit von mindestens drei Stunden, eher aber infolge der Staus bei Hamburg von dreieinhalb, eine Bahnfahrtzeit von viereinhalb Stunden verfügbar ist, in der er bis etwa Hamburg noch einige Dokumentationen erstellt, dann aber reichlich ruhige Zeit zum Nachdenken geschenkt bekommen hat. Deshalb wohl hängt er endlich einmal ungestört mannigfachen Erinnerungen nach.
Vor allem das sanfte, fast lautlose Dahingleiten des ICE von Hamburg bis Schwerin lässt die Gedanken locker schweifen. Dazu kommt, dass in seinem Abteil nur noch ein weiteres älteres Fahrgastpaar Platz genommen hat, das schon gemeinsam eingeschlafen ist, bevor die letzten Ausläufer der Großstadt Hamburg an den Fenstern der Bahn vorbeigeflogen sind. Ruhe am Sonntagnachmittag,
In seiner niedersächsischen Heimatstadt nahe Hamburg hat er als Sohn eines Beamtenehepaars zusammen mit seinen beiden älteren Schwestern eine unkomplizierte und durchaus wohlbehütete Kindheit und Jugend verbringen können. Im Vorstadtviertel, in dem seine Eltern ein hübsches Zweifamilienhaus hatten erwerben können, gab es zu dieser Zeit recht viele junge Menschen in etwa seinem Alter. Gemeinsame Grundschul- und Gymnasialzeiten ließen feste Cliquen wachsen, deren Zusammenhalt ein gutes Übungsfeld für das Erwachsenenleben ermöglichte.
Eine ganz nette Liebelei mit einem der Mädchen seiner Gruppe – harmloses Händchenhalten und Küsschentauschen – ermöglichte einen weiteren wichtigen Lernschritt. Nach dem Abitur war das alles aber sehr schnell vorbei. Zuerst einmal musste die allgemeine Wehrpflicht erfüllt werden. Und dazu kommandierte ihn das Kreiswehrersatzamt weit in den Süden. Nach Fürstenfeldbruck in Bayern. Das war gar nicht so schlecht. Zum Einen lernte er ganz gut eine andere Mentalität als die seines bisherigen Lebensumfelds kennen. Zum Anderen fanden sich auch in Bayern hübsche Mädchen, und eine brachte ihn sogar zielsicher in ihr Bett. Bis auf immerhin einige erotische Erfreulichkeiten blieb das Ganze aber eher unverbindlich und dank gemeinsamen Verantwortungsbewusstseins folgenlos. Als er dann nach Schleswig-Holstein versetzt wurde, löste sich diese Beziehung ohne großes beiderseitiges Bedauern.
Um nach der Bundeswehr sein Studium an einer geeigneten Fachhochschule beginnen zu können, hatte er sich rechtzeitig an den verschiedensten Hochschulstandorten beworben und durch mehrere Zusagen sogar die freie Auswahl. Warum er sich dann in Absprache mit seiner verwitweten Mutter für die Fachhochschule in der Freien und Hansestadt Bremen entschieden hat, ist ihm eigentlich nie so recht klar geworden. Jedoch war diese seine Entscheidung in mehrfacher Hinsicht goldrichtig.
Erstens fand er dort ohne große Anstrengung ein ganz hübsches leeres Studentenappartement hinter einer der beiden breiten Dachgauben eines der größeren alten Häuser in einem der schmalen Sträßchen zum Leibnizplatzpark. So wohnte er mit eigenen Möbeln, außer dem kleinen Küchenblock, in Hochschulnähe, konnte fast durchweg im Grünen bis zum Krankenhaus „Rotes Kreuz“ und direkt an diesem vorbei an die Weser spazieren und verfügte über die gesamte etwas altväterliche Infrastruktur der Bremer Neustadt am Buntentorsteinweg.
Zweitens erwies sich sein Studiengang mit durchaus erfreulichen Lehrpersonen besetzt, die recht anspruchsvolle Vorlesungen und Seminare anboten. So schaffte er es schließlich sogar ohne Schwierigkeiten, einen ordentlichen Abschluss in der vorgesehenen Regelstudienzeit zu erwerben.
Drittens zudem – und das war sicherlich das Beste, was ihm passieren konnte – lernte er dort Britta kennen.
Gerade, als er sich intensiv an ihr allererstes Zusammentreffen erinnert, hat der schnelle Zug den Schweriner Bahnhof erreicht, in dem Jürgen nun schnellstens in den Regionalzug nach Wismar umsteigen muss. Also müssen die Rückblicke erst einmal eine Pause ertragen. Doch sofort nach der Abfahrt dieser letzten und zugleich langsamsten Bahn seiner Reise sind die Erinnerungen wieder präsent.
Er hatte schon fast ein ganzes Jahr in seiner kleinen Wohnung gelebt, da verließ die ältere Dame, die er – und sie auch ihn – bisher immer freundlich gegrüßt hatte, mit Sack und Pack das benachbarte Appartement, das vermutlich mit dem Seinen ziemlich identisch war.
Am folgenden Wochenende war er nach längerer Zeit wieder einmal für zwei Nächte zu Haus, seine Mutter hatte Geburtstag. Als er dann am späten Sonntagabend – kurz vor Mitternacht – müde zu seiner Wohnungstür kam, sah er unter der Eingangstür der vor dem Wochenende noch leeren Nachbarwohnung einen Lichtschein. Also war an diesem Wochenende schon wieder jemand eingezogen.
Dass er mit dieser Vermutung richtig lag, bemerkte er am nächsten Abend, als er nach zwanzig Uhr aus dem Spätseminar nach Hause zurückkehrte. Direkt vor ihm hatte ein Mensch das Haus betreten und stieg nun, etwa fünf Stufen vor ihm, die Treppen bis ins Dachgeschoss hinauf. Bereits aus diesem Blickwinkel sah er deutlich, dass es sich da um eine sichtlich noch recht junge, ziemlich sportliche und auffällig wohlgestaltete weibliche Person handelte.
Während sie die Tür des nun wieder bewohnten Appartements aufschloss, musste er an ihr vorbei und grüßte sie freundlich. Sie hatte ihn wohl gar nicht kommen gehört, fuhr herum und schaute ihm – kurz überrascht, aber dann außerordentlich fröhlich – ins Gesicht. Spontan reichte sie ihm die Hand und grüßte strahlend: „Moin! Ich bin die Britta Hermes. Und du bist wohl der Bewohner der anderen Dachgeschosswohnung?“ „Richtig. Und ich heiße Jürgen Reimann. Also dann: auf jedenfalls gute Nachbarschaft.“ Und schon verschwanden beide in ihren Wohnungen.
Bereits diese erste Begegnung veränderte sein Leben mit einem Schlag. Britta war etwa einen halben Kopf kleiner als er, hatte halblange blonde Haare, in jeder Wange ein lustiges Grübchen und unglaublich strahlende blaue Augen. Kurz, sie war unverschämt hübsch.
Was bleibt einem jungen Mann, wenn ihn die schöne Nachbarin auf Anhieb so beeindruckt? Er muss sich Gedanken machen, wie er sich ihr erfolgreich nähern kann. Und genau die machte sich Jürgen auch sofort. Das hinderte ihn zwar einige Zeit am Einschlafen, war aber eine außerordentlich angenehme Beschäftigung. Sein Plan war dann verblüffend einfach. Er wollte das Ganze zuerst einmal ganz offen auf sich zukommen lassen.
Das erwies sich schließlich auch als die völlig richtige Entscheidung. Schon am kommenden Tag gab es ein hilfreiches Ereignis. Als er gerade aus der Bibliothek nach Hause kam, begegnete er Britta wieder. Diesmal sogar direkt unten an der Haustür. Sie lachte: „Ach, das trifft sich gut. Ich wollte dich nämlich zu meiner kleinen Einweihungsparty einladen, die am Samstag ab 18 Uhr in meiner Wohnung steigen soll. Außer uns beiden aus dem Haus kommen dazu noch zwei aus meiner Ausbildungsklasse, Connie und Bert. Wir drei waren eine Lerngruppe im Wohnheim der Pflegeschule. Das sind meine besten Freunde geworden.“
„Natürlich komme ich gerne dazu. Danke für die Einladung. Viele mehr als vier Leute kriegt man ja auch in unseren Räumlichkeiten kaum unter. – Pflegeschule? Dann arbeitest du also drüben in der Klinik in der Pflege. Bist du fertig ausgebildet?“ „Ja, seit wenigen Tagen. Deshalb mussten wir alle ja raus aus dem Wohnheim. Und ich hatte das Glück, von unserer netten früheren Stationsleitung ihr Appartement angeboten zu bekommen. Die war gerade in Rente gegangen und ist nun endgültig in ihr Heimatdorf bei Syke zurück gezogen, wo sie eh ihre Hauptwohnung hatte.“
Inzwischen waren sie miteinander die Treppen nach oben gestiegen. Jürgen verabschiedete sich: „Also nochmals danke. Schlaf nachher gut, und bis morgen.“ „Wenn du Zeit und Lust hast, kannst du ja gleich nochmal rüber zu mir kommen. Ich bin nämlich ein ziemlich neugieriges Weib und möchte ganz gern heute schon wissen, woher du kommst, was du arbeitest und ähnliches mehr. Dann ist das am Sonnabend kein Thema mehr, das würde meine Freunde vielleicht auch gar nicht interessieren.“
Dieser Einladung nicht zu folgen wäre das Dümmste gewesen, was dem schockverliebten Studenten Jürgen Reimann hätte passieren dürfen. Natürlich versprach er sofort, nach einer kurzen Abendmahlzeit anzuklopfen. Britta quittierte diese Zusage mit einem Blick, der es ihm heiß und kalt in Einem werden ließ. Während er sein schlichtes Abendbrot vertilgte, versuchte er diesen Blick zu deuten. Das Einzige, was ihm dazu einfiel: Britta musste auch Feuer gefangen haben. Hoffentlich lag er mit seiner Vermutung richtig.
In der Nachbarwohnung staunte er zuerst einmal. In geradezu einmaliger Ausnutzung der bescheidenen Räumlichkeit hatte Britta eine etwas betagte Bettcouch, einen höhenverstellbaren Tisch, zwei Sessel, deren einer durch eine ebenfalls vorhandene Verstellungstechnik der Höhe auch als Stuhl für den kleinen Schreibtisch dienen konnte, sowie eine Singleküche, deren Raumangebot das der Seinen weit überstieg. Die gehörte aber sicherlich wie seine den Vermietern. Die Nasszelle nebenan dürfte wohl spiegelbildlich die gleiche sein wie die in seiner Nachbarwohnung.
Während sie ihn auf die Couch einlud, setzte sie sich ihm gegenüber auf einen der Sessel. Auf dem Tisch standen schon zwei Gläser und zwei Flaschen Bier. „So, nun erzähl´ mir mal, woher du kommst, was du so machst und was deine Ziele sind.“
Das alles ließ sich schnell berichten. Kurz beschrieb er sein Elternhaus, seine Soldatenzeit und sein nun laufendes Studium. „Was ich danach mit meiner Ausbildung anfangen werde, weiß ich noch nicht so ganz genau; aber wohl im Bereich der Buchführung, der Bilanzplanung oder -prüfung sollte das schon sein. Nun ging das so schnell mit meinem Bericht.
Was liegt näher, als dass auch du ein bisschen von dir erzählst?“
Britta hatte inzwischen für beide das Bier eingeschenkt, nippte kurz an ihrem Glas und nickte. „Das will ich wohl gerne tun. Mein Leben ist nun gar nicht so glatt und gediegen verlaufen wie deins. Geboren bin ich vor knapp einundzwanzig Jahren in Oldenburg in Holstein. Meine Eltern Kai und Gabi Sievers wohnten in Kellenhusen und betrieben dort einen Sportbootverleih. Schon der Vater meines Vaters hatte den in der Nachkriegszeit gegründet, ein Pionier des Ostseetourismus.
Dieser Strandbereich war in der DDR berüchtigt. Zahlreiche Schwimmer und Bootsflüchtlinge sind vom gegenüberliegenden Gebiet rund um Wismar, vor allem vom ,Strand am Schwarzen Busch‘ der Insel Poel, dorthin ,rüber gemacht‘, wie das so genannt wurde. Auch von Boltenhagen aus. Nicht umsonst steht am Dahmer Strand nördlich von Kellenhusen der Gedenkstein ,Flucht über die Ostsee‘.