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Der Werdegang zweier ganz unterschiedlich behinderter Pflegekinder in ihren Pflegefamilien zeigt, wozu kompetente, gefühlsmäßig unbelastete und geduldige Familienpflege in der Lage sein kann. Norbert hat eigentlich mit seinem spärlichen Schädelinhalt gar keine Aussicht auf ein irgendwie erträgliches Leben. Im Gegenteil, seine Lebenserwartung in sehr begrenzt. Doch er erlebt Jahre der Behütung, Zufriedenheit und Freude. So wird sein Abschied einer aus einem - für seine Möglichkeiten - glücklichen Dasein. Ümit ist zwar körperlich sehr stark eingeschränkt, nicht aber gleich schwer im Intellekt. Mit guter Förderung durch ein starkes Helfernetzwerk und großer eigener Zielstrebigkeit erreicht er ein Leben, das gar nicht sehr weit entfernt ist von dem, das Menschen ohne Beeinträchtigungen führen.
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Seitenzahl: 156
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Entfernte Ähnlichkeiten mit lebenden und verstorbenen Personen sind durchaus beabsichtigt, jedoch ist niemand direkt dargestellt
Ich danke den Pflegefamilien, die mir von ihren Kindern erzählt und Auswahl-Privatfotos zur Gestaltung des Umschlags zur Verfügung gestellt haben.
Die Uhr tickt
Kennen Lernen
Heim Holen
Zur Sache
Ärzte
Der Tankstutzen
Sitzen und Liegen
Nächtliche Unruhe
Erste Krise
„Brief an unser Pflegekind“
PEG-Probleme
Doch noch das Herz?
Kindergarten?
Die Pflegeversicherung
Tag oder Nacht?
Neues für die Fachfrau
Gesprächsbedarf
Der Schlafsack
Die empfindsame Lunge
Ruhige Zeiten
Orthopädisches
Zukunftspläne
Es wird ernst
Alles kommt anders
Ende einer Familienära
Hoffnung schafft's
Die Geburt
Das Unerwartete
Die Lösung
Der Anfang
Alltag einer Pflegefamilie
Kindergartenzeit
Grundschule
Hauptschule
Freud und Leid
Erste Werkstattzeit
Heimbewohner
Betreutes Wohnen
Neuanfänge
Ein Lebenstraum
Sechs Monate alt soll er sein, aber er hat gerade die Größe eines Neugeborenen. Platt liegt er auf dem Rücken inmitten des Krankenhausbettchens, das viel zu groß für ihn ist. Links und rechts vom Kopf hält er seine geschlossenen Fäustchen, das Einzige an ihm, was fest und ausgereift erscheint. Nein, nicht ganz. Auch seine breite kurze Nase scheint seltsam unpassend stabil und jung in diesem uralt wirkenden Säuglingsgesichtchen. Offensichtlich ist das Kerlchen reichlich ausgetrocknet.
Heike und Jens Stuppe wissen bereits, dass dieses kleine Kind Norbert heißt und leider schon in der sechsundzwanzigsten Schwangerschaftswoche durch eine Sturzgeburt zur Welt gekommen ist. Es ist infolge entsprechender Unreife der Augen blind geblieben und nicht mit großartiger Lebenserwartung gesegnet. In seinem kurzen Leben wurde es bereits mehrfach operiert. Der Sozialdienst Katholischer Frauen, kurz SKF, in dessen Obhut Norberts Mutter seit fast acht Monaten lebt, hat ihn hier in der Klinik „geparkt“ und durch seinen Pflegekinderdienst eine geeignete Pflegfamilie für dieses mehrfach behinderte Bübchen gesucht.
Durch die Vermittlungshilfe des Bundesverbandes behinderter Pflegekinder ist nun das Ehepaar Stuppe als eine mit „solchen“ Kindern schon länger erfahrene Pflegefamilie gefunden worden, die heute einen ersten Kontakt mit diesem Wichtlein aufnehmen will und soll. Die ruhige, sehr freundliche und sichtlich erfahrene Kinderkrankenschwester, die Stuppes ans Bettchen geführt hat, geht nun los, den Oberarzt zu suchen. Heike Stuppe versucht indessen, die Wange des kleinen Kerlchens zu streicheln. Doch sie kommt gar nicht so weit. Als ihre Hand ungefähr dreißig Zentimeter über Norberts Köpfchen angekommen ist, schnellen Ärmchen und Beinchen nach oben. Die festen Fäustchen öffnen sich und ergreifen Heikes Hand. Und wie die greifen.
Es ist schon verwunderlich, dass dieser sogenannte Mororeflex, der für Neugeborene in den ersten Tagen, höchstens Wochen, typisch ist, bei dem Kleinen jetzt noch auftritt. Und sogar auch, ohne dass Norbert die Hand hätte sehen können. Er muss sie wohl gespürt haben. Als er Heikes Hand nun fest in seinen Händchen hält, kneift er die nutzlosen Augen zu und schmunzelt. Beide Stuppes sind völlig verwundert, wissen aber nun auch, dass in diesem Kind eindeutig Möglichkeiten schlummern, auf seine Umwelt zu reagieren. Jens Stuppe begrüßt nun den gerade herzukommenden sehr müde wirkenden jungen Oberarzt und einen noch jüngeren Assistenzarzt. Als der Kleine die Männerstimmen hört, lässt er Heikes Hand los und legt bedächtig Ärmchen und Beinchen wieder auf das Bettlaken. Nur sein Schmunzeln hält sich noch eine ganze Weile.
„Wir bleiben hier bei ihm, wenn Ihnen das recht ist, er freut sich immer über Stimmen in seiner Nähe.“ Nach Stuppes Zustimmung beginnen die Ärzte nun, ihnen in dicht gedrängter Form die ganze Krankengeschichte Norberts darzustellen. Bevor klar war, dass sich die Hornhaut der Augen nicht ordnungsgemäß mit den Augäpfeln werde verkleben können, hatte schon eine Notoperation an seinem Herzchen stattgefunden. Nach einer zweiten unvermeidlichen Operation seien aber Blutdruck und Kreislauf inzwischen stabil und keine Operation mehr nötig. Lediglich eine jährliche Kontrolle sei angebracht. Leistenbrüche habe man einige Wochen später auch operativ beseitigt. Die beiden Aufenthalte in der renommierten Augenklinik einer Universität hätten nichts gebracht außer der endgültigen Erkenntnis, dass er jedenfalls blind bleiben werde.
Während der Berichte der Kinderärzte ist die Schwester wieder hereingekommen, hebt den Kleinen aus dem Bettchen, setzt sich auf einen bereit stehenden Stuhl und reicht ihm die Flasche. Schon das Einführen des Schnullers in den Mund ist eine schwierige Aktion. Norbert drückt ihn mit der Zunge immer wieder aus seinem kleinen Mund. Schließlich hat sie es dann doch geschafft. Der kleine Kerl beginnt zu nuckeln. Doch viel ist es nicht, was er aus der Flasche holen kann, obwohl ihm das Saugen durch ein etwas größeres Loch im Schnuller erleichtert wird. Die müden, aber sehr engagiert wirkenden Ärzte verabschieden sich. Der jüngere Arzt sagt: „Wir haben keine große Hoffnung, dass Norbert älter als etwa drei Jahre werden kann. Die Uhr tickt.“ Da steht also mit Sicherheit eine schwierige Aufgabe ins Land.
Trotzdem, vielleicht auch gerade deswegen bricht das Ehepaar Stuppe umgehend auf, um nun im Büro des SKF die Sache unter Dach und Fach zu bringen. Dort sollten sie eigentlich noch Norberts Mutter kennen lernen. Die aber hat es vorgezogen, am frühen Vormittag ihr bescheidenes Eigentum zu packen und sich davon zu machen. Da sie noch minderjährig ist, hat der SKF schon für eine gerichtliche Anordnung gesorgt, den kleinen Norbert Schulz in Pflege zu geben. So kann die zuständige Sozialarbeiterin zusagen, Stuppes könnten in genau einer Woche den Jungen aus dem Krankenhaus abholen. Bis dahin werde alles Notwendige geregelt sein. Mit den Jugendämtern, die für die Wohnorte der jungen Mutter und des Ehepaars zuständig sind, hat sie bereits die vorerst notwendigen Absprachen erledigt.
Tatsächlich können Stuppes den kleinen Kerl genau eine Woche später zu sich nach Hause holen, immerhin sind das knapp über dreihundert Kilometer einfachen Fahrwegs. Zum Glück kann sich Jens Stuppe seinen Urlaub so frei wählen, dass er hie und da einen einzigen Tag in Anspruch nimmt. Wie sie das für ihre beiden älteren behinderten Pflegekinder, die spastisch gelähmte Wiebke und den mit einer seltenen Muskeldystrophie belasteten Lukas vor einigen Jahren eingerichtet hatten, wird auch Norbert im ungewöhnlich langen und breiten Oberteil eines Kinderwagens transportiert, das seitlich innen ausgepolstert und sorgfältig auf der mittleren Sitzbank ihres Kleinbusses verzurrt ist. Dafür haben sie sogar vor vier Jahren, als Wiebke in die Familie kam, eine Einzelgenehmigung des TÜV erwirken können.
Ob Norbert in einem zugelassenen Autokindersitz für Kleinstkinder mitfahren kann, muss auf kurzen Strecken ausprobiert werden. Jetzt darf er seine gewohnte Rückenlage, flach wie eine Flunder, beibehalten. Zuviel Neues auf einmal wollen ihm Stuppes auf keinen Fall zumuten. Heike hat sich zuerst neben dem Kinderwagenaufsatz mit dem kleinen Mitreisenden angeschnallt. Doch nach wenigen Kilometern Fahrt kommt sie nach vorne auf den Beifahrersitz. Norbert ist tatsächlich sofort eingeschlafen und wirkt völlig zufrieden und entspannt.
Für das erfahrene Pflegeelternpaar ist es eine neue und völlig unerwartete Erfahrung, dass es von der Sozialarbeiterin des SKF alle nur denkbaren Unterlagen erledigt in die Hand bekommen hat. Stuppes haben eine Abstammungsurkunde, alle Arztbriefe, die Kopie eines Antrags der bisher zuständigen Amtsvormünderin auf Übertragung des Sorgerechts auf Heike Stuppe an das nun zuständige Betreuungsgericht und eine polizeiliche Abmeldebestätigung in der Tasche. Die Genehmigung ihres eigenen Jugendamtes, Norbert in Pflege zu nehmen, liegt schon zu Hause auf dem Schreibtisch.
Beiden ist klar, die zuerst größten Herausforderungen werden die Eingewöhnung in das neue zu Hause, in dem es oft recht munter zugeht, und der Kampf gegen die Austrocknung und den Ernährungsmangel des kleinen Kerlchens sein. Daheim angekommen schaffen sie nun zuerst den schweren Kinderwagenaufsatz samt Norbert auf das solide faltbare Fahrgestell und fahren den noch immer fest schlafenden Kleinen behutsam ins Haus. Für eine Familie mit körperbehinderten Kindern geradezu ideal ist das schöne Elternhaus Heikes, ein großer alter friesischer Resthof, in dem sich unglaublich zahlreiche Zimmer haben einrichten lassen. Als ihre größeren leiblichen drei Kinder je ein eigenes Zimmer benötigten und Heikes inzwischen verstorbene Mutter noch eine eigene hübsche Einliegerwohnung haben sollte, war ein kräftiger Ausbau des früheren Wirtschaftsbereiches vorgenommen worden. Als Beamter im gehobenen Dienst einer Wasserwirtschaftsbehörde hatte Jens das gut finanzieren können.
Wiebke ist noch im Kindergarten der Lebenshilfe und Lukas sitzt vergnügt spielend im Laufstall, wohl versorgt durch die tüchtige Hausangestellte Marlies. Die beiden großen Mischlingshunde kommen sofort zum Kinderwagen. Das ist ein neuer Geruch, der muss natürlich erst einmal eingeordnet werden. Aber für die beiden kindergewohnten Hündinnen ist das nur eine Augenblickssache, schon gehört für sie Norbert zur Familienherde. Auf den haben sie nun auch aufzupassen.
Während einer kleinen Mahlzeit, die sich das Ehepaar Stuppe nun gönnt, wacht Norbert langsam auf. Sichtlich aufmerksam horcht und schnuppert er in die Atmosphäre der ihm völlig ungewohnten Umgebung im Haus. Wenn Heike oder Marlies sprechen, reagiert er in keiner auffälligen Weise. Ganz anders ist das, wenn Jens etwas sagt. Sofort geht ein kurzes Leuchten über das Gesichtchen, und er fängt an zu schmunzeln. Wie im Krankenhaus ist die Männerstimme der Auslöser für seine sichtliche Heiterkeit.
Jetzt ist es höchste Zeit, dem kleinen Kerlchen Nahrung und Flüssigkeit zuzuführen. Heike bereitet ihm ein Fläschchen mit einer kalorienreichen Heilnahrung, die sie noch aus den ersten Wochen mit Lukas, der zuerst auch nur sehr schwierig zu füttern war, im Schrank stehen hat. Nach einer kurzen Auseinandersetzung mit der erneut widerspenstigen Zunge hat der Schnuller dann seinen korrekten Platz gefunden. Norbert saugt, aber wie im Krankenhaus ist der Erfolg dieses Saugens nicht eben berauschend. „Der zieht gleichzeitig Luft durch die Nase, deshalb klappt das nicht richtig.“ Heike hat das Problem sogleich erkannt. Dem Kleinen jeweils beim Einsaugen des Inhalts der Flasche kurz die Nase zuzuhalten ist der erste Versuch, das zu unterbinden. Das klappt. Es gelingt aber vorerst nur zu zweit und verlangt einige Konzentration. Das Ergebnis jedoch ist durchaus befriedigend.
Jens und Marlies, die abwechselnd das Näschen zuhalten, müssen dabei ganz still sein. Besonders wenn Jens etwas sagt, beginnt Klein-Norbert mit dem Schnuller im Mund sein Schmunzeln, das mit der Flasche wie Grinsen aussieht. Dann läuft die Nahrung aus den Mundwinkeln. Ein ganz schöner Schlingel, der Kleine. Sichtlich wird recht schnell ein Punkt erreicht, ab dem nichts mehr in den kleinen Magen hinein passt. Die Brühe läuft nur noch neben dem Schnuller aus dem Mund. Also ist der kleine Magen durch den langen Mangel noch kleiner, als er sein dürfte. Da muss jetzt Flasche Trinken ordentlich geübt werden.
Pünktlich - von der Einfuhr der Nahrung verursacht - fängt das Kerlchen plötzlich an, kräftig zu miefen. Prima, das also klappt auch. Auf der breiten elektrisch höhenverstellbaren Bobath-Gymnastik-Liege, die für alle Kinder auch als Wickeltisch verwendet wird, ist der Windelwechsel schnell gemacht. Das erledigt heute Vater Jens. Mit dem Inhalt der Windel ist er nicht ganz zufrieden, aber bei diesen Nahrungsaufnahme-Problemen war kaum Besseres zu erwarten. Die Pflegeeltern und ihre Helferin sind sich einig: Wenn das mit der Nahrungsaufnahme unter Zuhilfenahme des kurzfristigen Nasenverschlusses weiterhin klappt, wird es dem kleinen Norbert bald insgesamt besser gehen.
Die nächste Herausforderung ist nun das Ausprobieren verschiedener Liegeflächen und Orte für seinen Aufenthalt am Tag. Vorerst soll er im Kinderwagen inmitten der großen Diele liegen, damit er sich an alle Geräusche und Gerüche seines neuen Lebensraumes schnell gewöhnen kann. Für die Nacht hat er sein Zimmerchen, das unter Verwendung eines Babyphones überwacht wird. Sollte sich mit der Zeit ergeben, dass er auch eine sitzende Haltung mögen kann, wird er probeweise in eine kleine orthopädische Sitzschale gesetzt werden, die vor knapp vier Jahren für Wiebke hergestellt wurde. Längst ist die inzwischen aus ihr herausgewachsen. Jetzt nutzt sie eine „mitwachsende“, das heißt längerfristig anpassbare Sitzeinheit auf einem größeren Untergestell.
Spannend ist, wie wohl die erste Nacht mit ihm verlaufen wird. Zum Glück geht es ins Wochenende. Jens muss am nächsten Tag, dem Sonnabend, nicht arbeiten. Da kann die Nacht so unruhig werden, wie sie will. Das wird sie aber letztlich gar nicht. Nachdem die größeren Beiden längst in ihren Zimmern schlafen, wird Norbert als Letzter noch einmal gefüttert, frisch gewindelt und schließlich warm in ein Babyschlafsäckchen eingepackt. Da kann er sich nicht frei strampeln; das ist wichtig, denn seit etwa einer Stunde hat er tatsächlich begonnen, seine Arme und Beine häufiger zu bewegen.
Das Kinderbettchen in seinem Zimmer scheint ihm zu gefallen, nach wenigen Minuten schläft er fest. Nur um Punkt vier Uhr mault er kurze Zeit ein bisschen herum. Sein Wimmern klingt, soweit das seine eingeschränkten Kräfte zulassen, ziemlich verärgert. Wäre er stärker, würde er vermutlich zornig weinen. Heike ist kurz bei ihm und streichelt ihm behutsam sein Gesichtchen. Und siehe da, das wirkt. Er beruhigt sich recht schnell und schläft wieder ein, nachdem er kurz ihre Hand im Mororeflex festgehalten hat. Jens ist ein gut trainierter Aufwärmer seiner dabei ausgekühlten Liebsten. Diese nächtlichen elterlichen Wanderungen gibt es seit weit über zwanzig Jahren immer einmal wieder. Einer muss raus, der Andere hält im Bett die Wärme.
Die ersten Tage und Nächte verlaufen ziemlich gleichmäßig. Norbert lässt sich tatsächlich recht gern immer einmal wieder für zwei oder drei Stunden in der alten Sitzschale unterbringen, die für ihn mit einem weichen dünnen Kissen ein Wenig aufgepolstert wird. Auch die Ernährung klappt ganz gut. So informiert Heike Stuppe den Hausarzt, dass sich inzwischen ein neues Familienmitglied eingefunden habe. Dieser erfahrene Allgemeinarzt hat sich recht gründlich in die Probleme der jeweiligen Pflegekinder der Familie Stuppe eingelesen und erspart den Pflegeeltern damit oft den Weg zum Facharzt. Das ist sehr hilfreich, zumal die Wartezeiten beispielsweise im Kinderneurologischen Zentrum, das gut vierzig Kilometer entfernt ist, bis zu neun Monate betragen. Benno Klostermann hingegen praktiziert im Kirchdorf, zu dem Stuppes Resthof, der außerhalb einen knappen Kilometer davon entfernt liegt, gemeindlich gehört.
Bereits zwei Tage später kommt Klostermanns kleiner alter Geländewagen, den er hier im Moorland gut brauchen kann, in die Einfahrt gebrummt. Jens hat ihm alle Arztbriefe kopiert, und Heike berichtet ihm von den Erfahrungen der ersten Zeit mit dem Kleinen. Der Arzt sieht bei der Untersuchung des Kerlchens, dass die Operationen durchaus gelungen scheinen. So sollte es möglich sein, ihm im Zentrum einmal einen Gesamtcheck zu organisieren. Besondere Fragestellung:
Was geht in seinem Gehirn vor? Der immer noch vorhandene Mororeflex und einiges Andere weisen darauf hin, dass dort wohl deutliche Degenerationen zu finden sein dürften. Welche das sind, möchte Klostermann gerne wissen. Nur dann lässt sich entscheiden, inwieweit therapeutische Maßnahmen angebracht sind. Auch einen Augenarztbesuch empfiehlt er und schreibt sofort entsprechende Überweisungen.
Die Wartezeit für den Augenarzt beträgt sechs Wochen. In seine Praxis wird Norbert erstmalig mit dem Babyautositz transportiert, und das gelingt sehr gut. Der Besuch bei diesem Arzt erbringt die Bestätigung, dass der Kleine völlig blind ist. Der klinische Befund der Augäpfel ist so gut, dass nur jeweils alle zwei Jahre eine augenärztliche Kontrolle als sinnreich empfohlen wird. Damit lässt sich sehr gut leben. Im Kinderzentrum veranlasst die zuständige Kinderärztin nach einem sofortigen Elektroenzephalogramm, kurz EEG, dass zwei Wochen nach dem Vorstellungsbesuch der kleine Norbert noch einmal zu einer Nachuntersuchung und einem Nachgespräch ins Zentrum gebracht werden muss. Da er inzwischen erheblich stabiler geworden ist, steht er alle diese Untersuchungen problemlos durch. Das Nachgespräch bei der für ihn zuständigen Ärztin erbringt die erwartete Information, Norbert habe eine extrem geringe Lebenserwartung, vielleicht drei oder dreieinhalb Lebensjahre insgesamt. Jetzt ist er vierzehn Monate alt. Es ist wohl so, die Uhr tickt.
Nachdem er erst einmal ganz gut gelernt hat, auch ohne zugehaltenes Näschen seine Flasche leer zu saugen, lässt diese Fähigkeit allmählich wieder nach. Auch der Nasentrick hilft nicht mehr, er fängt sofort an zu husten und zu spucken. Offensichtlich lässt allmählich sein Schluckreflex nach. Nun wird es Zeit, über eine andere Lösung nachzudenken. Bei einem Familientreffen des Bundesverbandes behinderter Pflegekinder haben Norberts Pflegeeltern einige schluckschwache Kinder erlebt, die mit einer Perkutanen Endoskopischen Gastrostomie, kurz PEG, versorgt waren und damit einen durchaus wohlgenährten Eindruck machten.
Eine Pflegemutter, die gar nicht weit weg von Stuppes Wohnort zu Hause ist, hatte vorübergehend ihr Kind über eine Nasensonde ernährt und dabei festgestellt, dass diese erstens dem kleinen Pflegetöchterchen lästig war, zweitens erzwang, dass die Kleine mit offenem Mund schlief, weil das Atmen durch die Nase gestört war und drittens nun gar nicht mehr schlucken konnte. Daraufhin hatten sie und ihr Mann, gegen den Rat eines Arztes aus dem Zentrum, der Kleinen in einer Bremer Klinik eine PEG setzen lassen. Dieser direkte Zugang zum Magen ist ein dünner Plastikschlauch mit einem schirmartigen Ende im Magen und einer Durchrutschsicherung außen. Der wird durch ein geschickt vom Gastroenterologen gestochenes „Stoma“ geführt, also durch eine künstliche Körperöffnung. Der Erfolg bei diesem Mädchen war erstklassig.
Schnell ist erfragt, wie Kontakt zu dieser Klinik herzustellen ist. Die Wartezeit beträgt nur eine einzige Woche. Der durchführende Arzt ist erst vor Kurzem aus Nürnberg nach Bremen gekommen, wo er her stammt. Mit unglaublicher Behändigkeit versorgt er den Kleinen mit diesem Tankstutzen, wie er die PEG schmunzelnd nennt. Gelernt hat er das bei seinem vorherigen Chefarzt in Nürnberg, wie er sagt. Über eine Nacht bleibt Heike mit Norbert in der Klinik; Vertrauen ist gut, Kontrolle besser. Die Heilung des Stomarandes klappt aber perfekt, und schon sind sie entlassen. Nicht aber, ohne erfahren zu haben, dass nach etwa acht Wochen ein Wechsel zu einem „Button“ stattfinden kann, der dann nicht rumbaumelt und von der Familie selbst gewechselt werden kann. Den will Heike auf jeden Fall für den Kleinen haben.
Nun beginnt ein neues Zeitalter der Ernährung. Jede Mahlzeit beginnt mit einem Fütterungsversuch mit der Flasche. Er soll das Schlucken ja nicht verlernen. Der Rest der Nahrung kommt dann direkt in den Magen. Auch die Nahrung selbst ist neu. Das ist eine speziell für diese Sondenernährung bilanzierte Flüssigkost mit ausgewogenem Verhältnis aus Flüssigkeit, Kalorien und Vitaminen. Vorerst schaffen es die Pflegeeltern noch, etwa ein Drittel der Menge durch den Mund zu füttern. Wobei nach wie vor der kleine Schlingel erheblich entspannter trinkt, wenn Vati das Fläschchen reicht. Seiner Mutti und Marlies gegenüber ist er zwar nicht unfreundlich, aber wenn der Vati auftaucht, zeigt er seine Freude überdeutlich.
Obwohl Norbert noch nicht ganz auf eine altersgerechte Körpergröße herangewachsen ist, wird doch auch ihm langsam die alte Sitzschale seiner Pflegeschwester zu klein. Außerdem ist die Passform nicht ganz ideal. Das ist wie mit getragenen Kinderschuhen, die eigentlich nicht für nachwachsende Geschwister verwendet werden sollten. Nun braucht das Kerlchen also eine eigene orthopädisch korrekt angepasste Schalenversorgung. Der tüchtige und kenntnisreiche Außendienstler des Sanitätshauses, mit dem Stuppes zusammenarbeiten, bringt die Idee für eine „Anschäumung“ einer „Sitzorthese“ mit, die er so geplant hat, dass sie vermittels starker Scharniere und einer teilweise umsetzbaren Polsterung mit wenigen Handgriffen zu einer im Kleinbus verankerbaren Liegestatt verändert werden kann.