Wo der Anker hält ... - Gerhard Roos - E-Book

Wo der Anker hält ... E-Book

Gerhard Roos

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Beschreibung

Der junge Berufschullehrer Ewald Dohmen, selbst ungewöhnlicher Herkunft, bekommt die Leitung einer Klasse übertragen, deren meiste Schülerinnen und Schüler eine direkte oder indirekte Migrationsgeschichte haben. Es wird ein reiches Schuljahr mit Lerneffekten für Lernende und Lehrende. Besonders Ewalds Leidenschaft für Musik und Kultur bewegt nicht nur sein Lehrerdasein nachhaltig, sondern auch das einiger Personen seiner Klasse. Die Verankerung seiner Schülerinnen und Schüler in ihrer neuen Lebensumgebung zeigt ihm, dass sein pädagogischer Ansatz durchaus richtig zu sein scheint. Dass auch sein Privatleben in diesem besonderen Schuljahr in heftige Bewegung gerät, hätte er aber keinesfalls erwartet. Ein kleiner Kiebitz wird schließlich als Ergebnis der Neuausrichtung seines Daseins zu einem Teil der Verankerung seiner Familie.

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Inhalt

Der Lehrer

Das Haus

Der Schuljahresanfang

Die Klasse

Einzelhilfen

Klassengemeinschaft

Die Jazzband

Vorurteile

Schulalltag

Die Hinfahrt

Dresden

Der Zirkus

Die Rückkehr

Die Musik

Der Umzug

Ewalds Eltern

Der Wettbewerb

Die Hinreise

Südtirol

Die Rückreise

Mischgebiete

Anfänge

Die Kiebitze

Alle Handlungen und Personen sind frei ersonnen. Ähnlichkeiten mit Lebenden oder Verstorbenen sind zufällig und ungewollt.

Der Lehrer

Das wird morgen nach den Sommerferien ein spannender erster Schultag werden. Ewald Dohmen, kurz vor diesen Sommerferien nach entsprechender Zeit als Studienassessor an der Berufsschule zum Studienrat ernannt, sieht sich erstmals vor der Aufgabe, eine recht anspruchsvolle Klasse als Klassenleiter – und durch insgesamt drei Fächer darin meist Unterrichtender – neu zu übernehmen, die zwar schon ein volles Schuljahr hinter sich hat, in der er aber bisher nicht eine einzige Stunde Unterricht hielt.

Diese plötzlich eingetretene Aufgabenstellung ist dem letztlich nicht sehr erfreulichen Umstand geschuldet, dass sein Kollege Franz Schröder, der eigentlich noch zwei Jahre Dienst hatte tun wollen, aus plötzlich aufgetretenen gesundheitlichen Ursachen kurzfristig in den nun vorzeitigen Ruhestand verabschiedet wurde. Eigentlich hätte Ewald die neu eingeschulte Klasse der zweijährigen Fachschule zur Kaufmännischen Assistentin bzw. zum Kaufmännischen Assistenten mit dem Schwerpunkt Informationsverarbeitung übernehmen sollen. Deren Leitung bekommt jetzt eine neue Kollegin, und er „beerbt“ Schröder im selben Fachbereich in dessen überdurchschnittlich leistungsbereiter Klasse. Ob diese Bereitschaft an Schröder gelegen hat oder an den Schülern selbst, wird er bald erfahren. In beiden Fällen muss er sich ordentlich ins Zeug legen, um den Standard zu halten.

Auf seiner Terrasse, von der aus er einen hübschen Blick in die Wiesen am Rand der norddeutschen Kleinstadt hat, in die ihn eigentlich eher ein schulpolitischer Zufall als der eigene Plan verschlagen hat, genießt er den Rest des letzten Ferientages und schaut noch einmal in seine Konzepte für seine Fächer Deutsch, Recht und Politik.

Die sprachlichen und rechtlichen Komponenten des jeweils angestrebten Berufes der Schüler, die teils ein Studium, teils eine kaufmännische, teils eine Verwaltungskarriere planen, gelten als wichtige Schlüsselkompetenzen. Leider sind oft gerade die Voraussetzungen im Verwenden der deutschen Sprache nicht gerade berauschend, da die Kurzsprachenpraxis beispielsweise der WhatsApp-Kommunikation und eine dabei verbreitete Missachtung von Rechtschreibung, Formulierungen, Grammatik und Zeichensetzung den Umgang mit der eigenen Sprache gar nicht erst richtig wachsen lassen. Ewald ist sich seiner Verantwortung in dieser Problematik durchaus bewusst.

Er hat auch in der am vorigen Schuljahresende entlassenen Klasse bereits mit erkennbaren Erfolgen entsprechend unterrichtet und allerlei Erfahrungen gesammelt. Zudem hat sich seine Überzeugung gefestigt, dass sich ein guter und wirksamer Unterricht ganz wesentlich durch ein menschlich positives Vertrauensverhältnis zwischen den Lernenden und dem Lehrenden unterstützen lässt. Eine große Hilfe für diese sozialkompetente Unterrichtsgestaltung ist seine Herkunft, besser gesagt die ganze außergewöhnliche Geschichte seiner Kindheit.

Geboren wurde er im Herbst 1985 in der Universitätsklinik Münster in Westfalen. Da seine Mutter an seinem zweiten Lebenstag plötzlich verstorben und sein Vater bereits drei Monate zuvor durch einen bösen Autounfall gemeinsam mit drei Mitgliedern seiner überregional bekannten Band ums Leben gekommen war, hatte ihn das Jugendamt der Stadt Münster, gestützt durch einen extrem schnell eingeholten Beschluss des Vormundschaftsgerichts, schon an seinem elften Lebenstag seinen zukünftigen Adoptiveltern Sibylle und Hans-Joachim Dohmen in die Verantwortung, also in Adoptionspflege, übergeben.

Seine leiblichen Eltern hatten keine feststellbaren Verwandten mehr, die hätten gefragt werden können oder müssen. Beide diese Eltern waren Nachkommen ehemals reisender Romafamilien, die im „Zigeunerviertel“ im münsteraner Stadtteil Kinderhaus sesshaft geworden waren.

Seine junge Mutter Pusomeri Bacsin war dort von Geburt an aufgewachsen. „Pusomeri“ heißt, übersetzt aus Romani, der Sprache der Roma, „kleiner Floh“. Das ist in dieser Sprache durchaus kein abwertender Name. Er wird für ein kleines, schlankes Mädchen verwendet, das bei der Arbeit oder beim Tanz eine gute Figur macht. Ein Foto seiner Mutter, das er bei seinen Nachforschungen über seine Herkunft hat finden können, beweist, dass dieser Name die hübsche zierliche Person, die ihn geboren hat, perfekt beschreibt.

Sein Vater Rudko Badi gehörte, soweit er das alles inzwischen hat recherchieren können, einer sehr verbreiteten Romasippe an. „Badi“ scheint einer der häufigeren Nachnamen dieser sehr besonderen Volksgruppe zu sein. Die Sippen dieses Namens gelten als hochmusikalisch und auch anderweitig künstlerisch außergewöhnlich begabt. Ihn kann er ebenfalls als vollständige Person auf Bildern anschauen, nämlich auf den Werbeplakaten seiner Band, die nach dem schweren Unfall nur noch zwei Musiker übrig hatte und sich infolgedessen im Sommer 1985 auflöste.

Drei dieser Plakate hat er heute in seinem Besitz, das schönste hängt gerahmt im Flur seiner behaglichen Wohnung. Sein Vater soll tatsächlich neun Musikinstrumente perfekt beherrscht und auch bei den Auftritten der Band immer wieder im Wechsel gespielt haben. Erstaunlicher Weise war der Stil dieser Band nicht etwa nur der aus den Balkanstaaten sondern sogar vorwiegend klassischer New-Orleans-Jazz. Auch dieser Mann war schlank gewesen, aber offensichtlich erheblich größer als seine Frau.

Von beiden hat Ewald sein besonderes Aussehen. Lackschwarze wellige Haare wie die seines Vaters, die sanft bräunliche Haut beider Eltern und das extrem attraktive Gesamtbild seiner Mutter machen ihn zu einem sehr aparten Dreißigjährigen. Sein sorgfältig gepflegter kurzer schwarzer Vollbart unterstreicht seinen Charakter ausgezeichnet.

Umso erstaunlicher ist für viele seiner Verwandten und Bekannten, dass er noch immer alleine lebt, beharrlich fast allen mehr oder weniger deutlichen Avancen zahlreicher Damen widerstand, zwei Versuche schnell wieder abgebrochen hat und sichtlich sein Junggesellendasein genießt. Immerhin gibt ihm das bisher die Freiheit und viel Zeit, neben der verantwortungsvollen Erledigung aller seiner Arbeiten für die und in der Berufsschule seine geliebte Musik konsequent auszuüben. Anders als sein Erzeuger nicht professionell, sondern als - zeitweise sehr zeitintensives - Hobby. Und auch er hat sich dem Jazz verschrieben.

Zuerst hatte ihn bei seinen Nachforschungen ziemlich verwundert, dass seine Herkunftseltern unterschiedliche Nachnamen hatten, und sich deshalb als uneheliches Kind verstanden. Genauere Erkenntnisse über das Leben und die Sitten der Roma belehrten ihn eines Besseren. Sowohl der Umgang mit Namen als auch der Vorgang Eheschließung weichen erheblich von den allgemeinen gesellschaftlichen Regeln ab. Ein Roma-Paar ist verheiratet, wenn der erste Beischlaf stattgefunden hat, und am Tag zuvor oder am darauf folgenden Tag beide Partner vor mindestens der Familie des einen, wenn möglich sogar von beiden, das „Ehegelübde“, eine entsprechende Verpflichtungserklärung, abgelegt haben. Das wird dann, in bescheidenem Rahmen, gebührend gefeiert. Und hat erhebliche Konsequenzen. Trennungen sind nicht vorgesehen, und Ehebruch wird durch Ausschluss aus der Sippe bestraft. Das sesshafte Leben in anderen gesellschaftlichen Umfeldern ergibt jedoch zunehmend, dass Roma-Paare angepasst standesamtlich heiraten und dann oft den gleichen Namen tragen. Auch andere Traditionen gehen allmählich verloren.

In seiner Adoptivfamilie war nicht nur für ihn sondern auch für seine beiden älteren Schwestern stets selbstverständlich, adoptierte Kinder zu sein. Der jeweilige „Holtag“ der Drei wurde ebenso wichtig genommen und gefeiert wie der Geburtstag. Der Pfarrer Doktor Hajo Dohmen stammt aus Ostwestfalen, einem Dorf in der Nähe von Soest. Sibylle Dohmen ist in Bielefeld aufgewachsen. Sie hatten sich als Studenten in Münster kennengelernt und bereits direkt nach ihren Examina geheiratet, durchaus im Bewusstsein, dass sie niemals gemeinsame leibliche Kinder würden haben können. Sibylle hatte infolge einer schwierigen Operation, die durch eine Krebserkrankung schon in ihrem neunzehnten Lebensjahr notwendig geworden war, gar keine Gebärmutter mehr. Sie blieb aber anschließend völlig gesund.

So war es schließlich für beide Eheleute Dohmen fast eine Selbstverständlichkeit, sich zu Adoptionen von Niemandskindern zu entscheiden. Hajo hatte nach einer Assistententätigkeit an der Uni Münster eine Pfarrstelle im ländlichen Umfeld von Osnabrück übertragen bekommen. Sibylle arbeitete in einem Osnabrücker Gymnasium. Nach ihren Bewerbungen bei fünf Jugendämtern dauerte es ganze zwei Jahre, bis sie ihr erstes zur Adoption freigegebenes Kind holen konnten.

Ruth hatte noch keinen Vornamen, als sie in die Familie kam. Ihre Mutter, eine aus Südkorea stammende Krankenschwester, die auf Zeit in einer kleineren Klinik in der Nähe von Osnabrück arbeitete, hatte sich von einem Oberarzt schwängern lassen, konnte ihr Kind aber keinesfalls mit nach Korea nehmen, weil ihr dort verbliebener Ehemann sie sofort verstoßen hätte. Dieser Oberarzt war aber ebenfalls verheiratet und hatte fünf eheliche Kinder. Also kam die kleine Ruth zur Adoption frei. Auch sie war ein Menschenkind mit sehr außergewöhnlichem, bei ihr natürlich ziemlich fernöstlichem Aussehen. Ihre wohl ererbte gewisse Leichtfertigkeit hatte dem Pfarrersehepaar Dohmen manche unruhige Nacht beschert; doch, frei nach Wilhelm Busch: „Jetzt hat sie alles hinter sich und ist, gottlob, recht tugendlich.“ Sie ist Erzieherin geworden, hat einen tüchtigen Mann geheiratet und ist mit ihm und ihren beiden Kindern offensichtlich ein zufriedenes Menschenkind.

Da Sibylle Dohmen nach der Aufnahme Ruths sofort aufgehört hatte zu unterrichten, lag der Entschluss zur Adoption eines weiteren Kindes nahe. Patrizia war ein Findelkind, das in einer Babyklappe abgegeben worden war. Ihr Vorname hatte in kindlicher Handschrift auf ihrem Strampler gestanden. Im Gegensatz zu ihren beiden schwarzhaarigen Geschwistern ist sie blond. Ihre wallende lange Haarpracht schimmert bei entsprechender Beleuchtung wie Gold. Bereits mit Dreizehn war sie umschwärmt, weil sie in ihrem Äußeren da schon dem Ideal der Medien sehr nahe kam. Anders als Ruth hielt sie ihre Verehrer konsequent und erfolgreich auf Abstand. Weil sie eine große Sprachgewandtheit entwickelt hat und eben außerordentlich ansehnlich daherkommt, arbeitet sie heute nach ihrem Journalistikstudium als Fernsehmoderatorin. Mit ihrem Freund lebt sie in Hannover.

Ewald kam wie Ruth ohne einen Vornamen in die Familie Dohmen. Im Bewusstsein, ein Romakind zu adoptieren, und zu Ehren des bekannten Sinti-und-Roma-Funktionärs Ewald Hanstein entschieden sich seine Eltern spontan zu dieser Namensgebung.

Sie hatten erfahren, viele Roma nennen ihre Kinder nach jemandem, der großes Ansehen genießt, etwa einem tatkräftigen Menschen, einem guten Musiker oder einer großartigen Tänzerin. So kam der Junge zu einem in seiner Generation recht seltenen Vornamen.

Das Haus

Bereits als Kind hat Ewald Klarinette und Saxophon spielen gelernt und kann das nach so vielen Jahren jetzt richtig virtuos. Auch mit der Gitarre kann er sich hören lassen. Seine Wohnung liegt in einem hübschen einstöckigen Haus mit steilem ausbaufähigem Krüppelwalmdach, durch einige Busch- und Baumreihen getrennt von der Rückseite einer Gewerbehalle, das ursprünglich der Seniorchef Klaus Bultmann für sich und seine Frau als Altersruhesitz hatte bauen lassen. Aber infolge seines frühen Todes und der folgenden Pflegebedürftigkeit seiner Gattin haben beide das Gebäude nie bewohnt. Der Sohn und der Enkel, gemeinsam Inhaber der Zimmerei, wohnen mit ihren Familien in den beiden Wohnungen des riesigen Haupthauses jenseits der Halle. So hat Ewald sein eigenes Reich, immerhin zwei größere und ein kleineres Zimmer, Küche und Bad in einer ebenerdigen Etage. Zudem stört er hier keinen Nachbarn, wenn er täglich zäh und fleißig sein Instrumentenspiel übt. Und einen großen Garten, in dem er den alten Baumbestand pflegt und allerlei Gemüse, Kräuter sowie heimisches Blütengewächs hält, hat er dabei auch. Ein kleines Insekten- und Vogelparadies. Zumal ein hinter diesem grünen Grundstück, gegenüber der Straßenfront, noch gelegenes kleines Wäldchen und ein Teich perfekt durch seinen Garten ergänzt werden.

Am Weg zur kurzen Straße „Kiebitzweg“, die genau an seiner Zufahrt mit einem Wendehammer endet, steht neben dem Haus ein großer Carport, in dem außer seinem Auto und seinem Fahrrad durchaus noch einmal die gleiche Zusammenstellung trocken unterzubringen wäre. Seine Vermieter sind schließlich beide sehr tüchtige Zimmermeister.

Infolgedessen haben sie natürlich auch an Windschutzflechtwände und sogar einen kleinen Fahrradschuppen gedacht. Da in der direkten Verlängerung des Kiebitzwegs ein mit Pfosten abgesperrter aber gut ausgebauter Wander- und Radwanderweg verläuft, ein seltenes Angebot im Marschenland, hat er immer einmal wieder Zuhörer, die fasziniert von seinem Können einige Zeit an seiner Hecke stehen bleiben und seinem Spiel lauschen. Selbst die zahlreichen vorbeigeführten Hunde spitzen die Ohren.

Weil das Haus mitsamt Grundstück für die Zimmerleute Henning und Florian Bultmann eher eine Last bedeutet, wären sie es gerne los. Es lässt sich aber in diesem Gewerbegebiet, das einst für drei benachbarte größere Gewerbebetriebe und zwei bis vier kleinere auf der anderen Straßenseite ausgewiesen wurde, nicht als Einzelgrundstück abtrennen und verkaufen. Es wurde, um damals überhaupt errichtet werden zu können, als Mitarbeiterwohnung deklariert und darf deshalb im Gewerbegebiet nur als Bestandteil des gesamten Handwerksbetriebs zum Wohnen genutzt werden. Selbst die Vermietung an Ewald wurde nur möglich, nachdem er nebenberuflich die Betreuung der Website der Zimmerei übernommen hatte. Wäre es verkäuflich, würde er es sehr gerne kaufen, denn es liegt trotz der nahen Halle nicht nur recht idyllisch sondern bietet ihm eben auch die Möglichkeit, seine Instrumente zu üben, ohne Nachbarn zu stören. Vielleicht ändert sich doch die Rechtslage irgendwann. Sowohl ihm als auch den Bultmännern käme das sehr gelegen.

Der Schuljahresanfang

Während in den ersten Schultagen die meisten Kolleginnen und Kollegen mit der Aufnahme und dem Unterrichtseinstieg neu gebildeter Berufs- und Berufsfachschulklassen beschäftigt sind, steht vor Ewald die außergewöhnliche Aufgabe, den Zugang zu einer sichtlich recht verschworenen Truppe zu finden, die ihm jetzt erst einmal mit Vorsicht begegnet. Nach drei, vier kurzen freundlichen Begrüßungssätzen erledigt er nun zuerst die notwendigen Formalitäten. Weil eine offensichtlich sehr ordentliche Klassenbuchführerin bereits die Namensliste in das neue Buch eingetragen hat, nimmt er dieses zur Hand und geht nun die ganze Klasse Name für Name durch. Von jeder Schülerin und von jedem der relativ wenigen Schüler lässt er sich kurz Einiges über familiäre und schulische Herkunft, über die Motivation für die gewählte Fachrichtung und über Zukunftspläne berichten.

Die erste Stunde verfliegt durch diese Gespräche schnell und entspannt, einige der Berichte müssen sogar in die zweite Stunde verschoben werden, die zum Glück direkt anschließend stattfindet. Ewald erkennt schnell, dass sein im vorherigen Schuljahr oberflächlich vom äußeren Erscheinungsbild her gewonnener Eindruck, die Schüler dieser Klasse hätten mehrheitlich Migrationsgeschichte in ihren Familien und eigener Vergangenheit, nicht falsch gewesen ist. Es sind eigentlich nur zwei der Mädchen und zwei der Jungs, die ausschließlich aus hiesigen alteingesessenen Familien stammen, in denen teilweise sogar noch Plattdeutsch gesprochen wird. Bei einigen Weiteren ist zumindest ein Elternteil in erster, zweiter oder sogar schon dritter Generation in einer Migrantenfamilie aufgewachsen. Die Mehrheit jedoch ist selbst zweite oder dritte Generation.