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Die aus einer böhmischen Roma-Sippe stammende Alice Kurt wird mit ihrem Mann Karl Weber im Deutschland des neunzehnten Jahrhunderts sesshaft. Sie und ihre Nachkommen, insbesondere ihre jüngste Tochter, die Hebamme Charlotte, erleben die Belastungen der beiden Weltkriege. Der Verlust von Familienmitgliedern und die Entdeckung neuer Lebensziele verschieben Generationen, lassen neue Familienkonstellationen entstehen und verändern Perspektiven. Besonders die Lebensumstände des Karl Weber und der Familien seines zweimaligen Schwiegersohnes Helmut Hinkel sind in Bewegung. Ebenso auch die Nachkriegsgeschichte des verwitweten Arztes Peter Makowski. Sie bringt ihm in einem neuen Lebensumfeld allmählich Arbeit, Heimat und schließlich eine neue Liebe. Die meisten der dargestellten Vorgänge spielen in verschiedenen Ortschaften am Ried und am angrenzenden Braunkohlengebiet der oberhessischen Wetterau. Darsteller sind die durch die Weltkriege und deren Folgen entstandenen Rumpf-Familien. Die wirtschaftlichen wie seelischen Nöte und Chancen liefern den sozialen Hintergrund.
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Seitenzahl: 179
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Kaum zu glauben
Kriegsende
Das verbotene Dorf
Endlich frei
Das Lebensbuch
Heuchelheim
Der Fremde
Angekommen
Neuanfänge
Praxiseinstieg
Frühere Kriegszeiten
Ärztliche Zusammenarbeit
Veränderungen
Problemlösungen
Vollblutweib
Manöverschäden
Bekanntgaben
Nachkriegsregelungen
Freud und Leid
Vorbereitungen zum Wechsel
Erinnerungen
Heftiger Dienstbeginn
Jahreswechsel
Umbrüche im Dorf
Die Wespe
Wahltag zu neuen Ufern
Einschneidende Veränderungen
Werden und Vergehen
Das Treffen
Alle Handlungen und Personen sind frei ersonnen. Ähnlichkeiten mit Lebenden oder Verstorbenen sind zufällig und ungewollt.
Am frühen Abend des 26. Mai 1945, dem ersten Pfingstsamstag nach dem Ende des 2. Weltkrieges, wurde Helmut Hinkel am Bahnhof erwartet, der einst in der oberhessischen Wetterau für zwei Nachbardörfer nahe eines Bachlaufs gebaut worden war. Lotte, seine Frau, hatte durch ihren Nachbarn Heinz Winter erfahren, dass nun auch die Geschäftsführer und Vorarbeiter des Kraftwerks in Wölfersheim das von den Amerikanern besetzte Gelände verlassen dürften, wenn sie denn bereit waren, wieder täglich zur Arbeit zu kommen, um die Stromversorgung der Region und des ganzen Nordens der Stadt Frankfurt weiterhin zu sichern. Die normalen Kraftwerker wie Heinz, alles ältere Männer und inzwischen auch eine ganze Reihe jüngerer Frauen, waren schon früher in ihr Alltagsleben rückgegliedert worden. Der amerikanischen Besatzungsmacht war die geregelte Energieversorgung einige Lockerungen im Umgang mit den Beschäftigten wert.
Lotte war ziemlich nervös. Als ihr Mann aus dem Zug stieg und sie erleichtert, wenn auch erschöpft, herzhaft in die Arme nahm, liefen ihr Tränen des Glücks über ihr hübsches Gesicht. Man sah ihr ihre 41 Lebensjahre wahrhaft nicht an. Aber Helmut merkte sofort, dass sie mit irgendetwas Wichtigem beschäftigt und deshalb so aufgeregt war. Als sie die alte Lindenallee zum Dorf entlang gingen, legte er ihr den Arm um die Schulter und fragte ganz direkt: „So, Mädchen, was ist los mit dir?“ „Ach“, sie strahlte ihn an, „eigentlich wollte ich es dir erst daheim sagen, aber du hast´s halt gemerkt, dass es etwas Wichtiges gibt. Das Wichtige ist: Helmut, wir bekommen ein Kind. Ich bin schwanger!“ „Mädchen!“ Er legte ihr die Hände auf die Hüften und tanzte auf der holprigen Straße einige Dreher. Dann ließ er sie los und fragte: „Wie kann das jetzt sein?“ Lotte versprach, ihm zu Hause beim Abendessen genau zu berichten, was ihr der alte Doktor Lohfink alles erklärt habe. Helmut sagte geduldig: „Gut, wenn der dich untersucht und dir die Erklärungen gegeben hat, will ich wohl bis nachher warten.“
In ihrer Küche am gemütlichen Esstisch berichtete sie dann, was sie erlebt und der Arzt ihr erklärt hatte: „Als wir in den ersten Jahren nach unserer Hochzeit keine Kinder bekommen konnten, meinte er damals ja, vielleicht spiele unser Altersunterschied eine Rolle. Du bist schließlich 22 Jahre älter als ich. Natürlich hattest du damals schon drei Kinder gezeugt, aber ,die Natur spielt seltsame Spiele‘ meinte der Doktor. Jetzt hatten Dich im Februar die Nazis drei Wochen in Haft. Danach wäre wohl dein Same so kraftstrotzend gewesen, dass unsere erste Nacht danach den längst nicht mehr erhofften Erfolg brachte. Ist aber gleichgültig. Ach, Helmut, ich bin so glücklich!“ „Und meine Enkel bekommen jetzt eine erheblich jüngere Tante oder einen solchen Onkel.“ Beide lachten und beschlossen anschließend, Helmuts Kindern noch an diesem Pfingstwochenende die reichlich überraschende Nachricht mitzuteilen.
An diesem Abend lag Helmut noch lange wach, nachdem seine glückliche Frau neben ihm längst selig schlief. Wie ein Film lief ihm sein ungewöhnliches Leben noch einmal durch den Kopf. Ihm war, als wäre vieles gerade eben erst geschehen.
Seine Kindertage im elterlichen Bauernhof waren nicht anders als die anderer Dorfkinder. Spielen in den Gärten und auf den Gassen, selbstverständliche Mithilfe im Stall und auf den Feldern, eine Schulzeit ohne besondere Ereignisse. Immerhin war er eines der ganz wenigen Kinder des Dorfes, die täglich über die gerade fertiggestellte Teilstrecke der neuen Horlofftalbahn nach Friedberg zur Mittelschule fuhren. Außer ihm nur noch Norbert, der zweite Sohn des Metzger- und Gastwirtsehepaars Wolf sowie die kecke Erna mit den pechschwarzen Haaren und den blauen Augen, die älteste Tochter des Schneiders Weber und seiner Frau, der Hebamme. Sie war ein gutes Jahr jünger als die beiden Buben.
Sein Vater wollte ihn, den Ältesten und einzigen Sohn, gerne als Nachfolger auf dem Hof halten und sorgte deshalb dafür, dass er eine damals seltene richtige landwirtschaftliche Lehre bei dem Verwalter der Domäne erhielt, die zwölf Kilometer vom Dorf entfernt für ihn ganz gut mit dem Fahrrad erreichbar war. Er hatte dort aber auch seine Stube und kam nur ab und an nach Hause. Nach dem dritten Lehrjahr und seiner Prüfung blieb er vorerst auf der Domäne, weil sein Ausbilder nach einem Sturz in der Scheune und folgender Operation noch einige Zeit arbeitsunfähig war. Infolge dieser Umstände kam er erst nach längerer Pause einige Wochen nach seinem zwanzigsten Geburtstag zum Freitags-Tanz der alljährlich gefeierten Kirmes nach Hause.
Seine Eltern übertrugen ihm die Verantwortung für seine beiden knapp achtzehnjährigen Schwestern, die Zwillinge Marie und Emmi, und schickten die drei Geschwister zum Tanzvergnügen in das Gasthaus Wolf. Während sich die beiden Mädchen zu seiner Verblüffung direkt zu zwei Burschen aus dem Nachbardorf setzten, die ihnen sichtlich Plätze frei gehalten hatten, überschaute er das jugendliche Gewusel in der Hoffnung, einige vertraute Gesichter zu finden. Plötzlich fiel ihm auf, dass er von einem der Mädchen mit deutlich interessiertem Lächeln beobachtet wurde. Beim genaueren Hinsehen erwies sich dieses als seine frühere Schulkameradin Erna, die inzwischen zu einer bildhübschen jungen Frau erblüht war. Pechschwarze wellige Haare, blaue Augen, eine ganz seltene Zusammenstellung. Sogleich holte er sie zum nächsten Tanz. Seine Fürsorge für seine Schwestern war schlagartig verflogen, er sah nur noch Erna, saß mit ihr zusammen an einem der langen Tische oder tanzte mit ihr ohne auf andere Leute zu achten bis in den frühen Morgen. Mehrere Male gingen sie aus der schlechten Luft des Saales nach außerhalb und küssten sich atemlos. Beim dritten oder vierten Mal erklang plötzlich aus einer dunklen Ecke die helle Stimme seiner kleinen Schwester Emmi: „Du sagst den Eltern nichts, wir halten auch dicht. Abgemacht?“ So ging seine Bruderautorität endgültig verloren.
Erna erzählte ihm im Laufe der Veranstaltung, dass sie in die Fußstapfen ihrer Mutter getreten sei und seit der Beendigung der Mittelschule bei einer Hebamme im nahen Städtchen Nidda mitarbeite und somit nun zur Hebamme ausgebildet sei. Da ihre Mutter inzwischen mit leichten gesundheitlichen Schwierigkeiten kämpfe, wolle sie nun die eigene Zulassung beantragen und ab Anfang des neuen Jahres mit ihr zusammen arbeiten, der große Bezirk würde sicher beide bei Mutters Einschränkung genügend beschäftigen. „Dass es Mutter nicht so gut geht, hat einen überraschenden Grund. Vierzehn Jahre nach der Geburt meines zweiten Bruders Jakob ist sie wieder schwanger. Und wenn das Kind dann da ist, wird sie erst recht froh sein, dass ich bei ihr mitarbeite.“
Alle drei Hinkel-Geschwister waren rechtzeitig zum Stalldienst wieder zu Hause und packten ohne eine Minute Schlaf munter ihre Arbeit an. Als sie die Kälber gefüttert hatte, zog sich ihre Mutter statt des Stallkittels eine saubere Schürze an und lief zum ausnahmsweise geöffneten Bäckerladen, um zur Feier der Kirmes die obligatorischen Eierwecke - Brötchen ähnlich derer, die es in dieser Gegend traditionell bei Beerdigungen gab - für das Frühstück einzukaufen. „Na, da hast du ja nun deine Drei alle auf einmal unter der Haube!“, scherzte die Bäckersfrau, „Die Sorge bist du jetzt schon mal los.“ Agnes Hinkel verzog keine Miene, sollte doch keiner wissen, dass sie völlig ahnungslos war. Auf dem Rückweg plante sie schnell, wie sie sich verhalten wollte. Während sie sich mit ihrem Mann Johann für den Kirmesgottesdienst fein machte, setzte sie ihn von den Neuigkeiten und ihrem Plan in Kenntnis. Er war sofort bereit mitzuspielen.
Schließlich saßen alle Fünf wohlgekleidet um den Frühstückstisch. Nachdem jeder seinen Marmeladeweck verzehrt hatte, verkündete Mutter Agnes: „Heute Nachmittag gibt es für uns alle Acht eine Kirmeskaffeetafel hier zu Hause, Kuchen habe ich genug gebacken - als ob ich gewusst hätte, dass ihr alle drei jemanden mitbringt.“ Kurzes verlegenes Schweigen, dann platzte die temperamentvolle Emmi heraus: „Bäckersch Elsbeth, die alte Tratsche!“ Alle lachten herzlich und brachen dann zur Kirche auf. Erst während des Mittagessens fanden die Eltern Hinkel dann Zeit, sich berichten zu lassen, wer denn die drei Glücklichen wären. Die stillere Marie nannte den Sohn Otto des einzigen Obstbauern weit und breit. Der war der älteste Sohn der Familie Wolf und schon 24 Jahre alt. Bislang hatten ihn nur Bäume interessiert, wie man hörte, das hatte sich ja nun wohl geändert. Emmi berichtete von ihrem 21jährigen Jakob aus dem gleichen Nachbardorf. Er war der zweite Sohn des Dreschmaschinen- und Kartoffeldämpfer-Unternehmers Sargk und fest in dessen Unternehmen tätig.
Helmut nannte nun den Namen Erna Weber. „Donnerwetter“, meinte sein Vater, „hast du einen guten Fang gemacht …“ und verstummte sofort unter dem tadelnden Blick seiner Frau. Beide wussten, dass dieses Mädchen nicht nur eine außergewöhnliche Schönheit war, sondern auch klug und tüchtig. Zudem viel selbstbewusster als viele andere Mädchen in ihrem Alter und trotzdem ohne Überheblichkeit. Ihre Eltern waren gute Leute.
Im Kirmeszug durch das Dorf wanderten die drei Pärchen dann einträchtig mit, jeder konnte es wissen, sie „gingen nun miteinander“.
Nachdem sich in den Folgemonaten alle drei Beziehungen als tragfähig erwiesen und sich ein gutes Einvernehmen mit den jeweiligen Eltern ergeben hatte, beschlossen die Geschwister, gemeinsam am Silvestertag ihre Verlobungen zu feiern. Alle vier Familien legten zusammen und mieteten Wolfs Saal. Der Wirt machte seinem Vetter aus dem Nachbardorf zudem noch einen Sonderpreis, sodass die Sache bezahlbar blieb.
Am folgenden Neujahrstag besuchten die frisch verlobten Burschen traditionell die Familien der Bräute. Helmut erinnerte sich, dass er ganz froh war, im Haus seiner zukünftigen Schwiegereltern sein zu können, nahe bei seiner Erna und im ruhigen Gespräch mit dem Schneider und der inzwischen schon gut sichtbar schwangeren Hebamme. Karl Weber verzichtete sogar wegen der Schwangerschaft seiner Frau auf seine geliebte Pfeife, die er sowieso nur außerhalb seiner Werkstadt anzündete. Die Kunden sollten im edlen Stoff keinen Rauchduft finden. Schmunzelnd betrachtete er das frisch verlobte Paar und fragte dann seine Frau: „Ist es nicht wie bei uns? Der Jüngling mit der hellen und das Mädchen mit der dunkleren Haut - wie Milch und Honig.“
Alice Weber hatte sich schon länger vorgenommen, dem zukünftigen Schwiegersohn über ihre ungewöhnliche Herkunft und das damit zusammenhängende Aussehen Auskunft zu geben und ihn zu bitten, alles Wissen darüber für sich zu behalten. Es sollte genügen, dass man in der Gegend wusste, ihr eigenwilliger Akzent entstamme ihrer böhmischen Heimat. Diese Auskunft sollte er nun erhalten.
Im Nachsinnen über diese wichtige Stunde in seinem und Ernas Leben schlief er endlich ein, nachdem er noch einmal ganz vorsichtig seine Hand auf den Bauch seiner Lotte gelegt hatte, in dem ja nun sein viertes Kind heranwuchs.
„Doktor, sagen sie mir bitte das heutige Datum!“ Der mit einem Durchschuss im Oberarm schwer verwundete Oberleutnant Vieth war gerade aus einem fiebrigen Schlaf aufgewacht, sie hatten ihm im engen Bauch des einzigen fast unbeschädigten Tigers eine halbwegs erträgliche Sitzlagerung eingerichtet, und er war mehrere Tage nur entweder am Schlafen oder phantasierte in kaum verständlichen Worten. Nur den Namen Ilse konnten sie verstehen, wohl hundertmal. Jetzt ging es dem jungen schwäbischen Offizier sichtlich etwas besser.
Der blonde Stabsarzt Dr. Peter Makowski, mit seinen fast 41 Jahren der älteste der drei Männer im Panzer, antwortete ihm gerne. „Wir schreiben den 26. Mai 1945, morgen ist Pfingsten. Wie fühlen sie sich jetzt?“ Er segnete insgeheim ihren seltsamen Fund, der ihnen vor zwanzig Tagen vor die Fahrzeuge gekommen war, kurz bevor ein kurzer Tieffliegerbeschuss, von welchem Gegner auch immer, vier Fahrzeuge der kleinen Panzerkolonne mit allen Mann Besatzung kurz und klein gemacht hatte. Ihr Marschbefehl war gewesen, möglichst den Vormarsch der Sowjettruppen in das riesige Waldgebiet im Norden des bayrischen Waldes zu irritieren und soweit zu verzögern, dass noch weitere Reste der Panzerdivision zusammengezogen werden könnten, die bisher die Vorstöße der roten Armee nicht ohne Erfolge gestört hatten.
Ein Geschoss hatte das Scharnier auch ihres Turmes durchschlagen und einen Brocken des Deckels in Hermann Vieths Oberarm geschleudert. Ohne geeignetes Verbandmaterial und Medikamente wäre der Offizier sicherlich am Wundbrand gestorben. Zwei Tage zuvor jedoch hatten die fünf Panzer plötzlich am Rand einer Lichtung einen verlassenen amerikanischen Sanitätswagen aufgebracht, den Makowski rigoros plündern konnte. Besonders ein großer Salbentiegel mit der rätselhaften Aufschrift „Penicillin ointment, for open wounds and scab“ (Penicillinsalbe, für offene Wunden und Schorf) hatte seine Begehrlichkeit geweckt, er hatte sie eingepackt. Aber: der Ami war also auch schon da!
In diese fast lächerliche Panzerkolonne war er geraten, weil sein Oberstabsarzt das mobile Frontlazarett, in dem er bis Ende April arbeitete, aufgelöst und ihn kurzerhand als Funker in den unterbesetzen Tiger gesetzt hatte, sicherlich, um ihm so einen relativ sicheren Rückzug zu ermöglichen. Sein Glück war sein Funkerschein. Nach Breslau, seiner Heimatstadt, gab es eh keine Rückkehr mehr. Mit dem Oberleutnant Hermann Vieth, der die fünf Panzer zu befehligen hatte, und dem rheinischen Fahrer Jochen Schanz, dessen unverwüstlicher Humor manche schwierige Situation erträglicher machte, war die Rückwärtsbewegung aus Böhmen nach Bayern hinein gar nicht so übel - bis dann die beiden Tiefflieger das Inferno verursachten, das nur ihren Kasten und sie Drei übrig ließ.
Schanz hatte die Nerven, allen Treibstoff, den er aus den Trümmern der anderen Panzer bergen konnte, zu übernehmen und gedachte, sich damit weit aus dem relativ offenen Schrott- und Leichengebiet zu entfernen. Im Schritttempo erreichten sie schließlich einen dichten Hochwald und verkrochen sich vorerst so gut es ging. Das Funkgerät war intakt, aber der Äther sonderbar tot. Makowski vermutete im Riesenwald ein Riesenfunkloch.
Glücklich waren er und Schanz, dass die Wundersalbe dem Offizier offenbar wirklich geholfen hatte. Makowski wusste, der würde diesen Arm niemals mehr sinnvoll gebrauchen können, aber es gab auch zufriedene Einarmige auf dieser Erde.
Als Schanz das Datum hörte, wurde ihm plötzlich ganz wehmütig: „Morgen hat meine Braut ihren Zwanzigsten, und ich bin nicht zu Hause!“ „Das ist nicht schlimm, jetzt schaffen wir das“, brummte Vieth, aber alle drei wussten plötzlich, dass jeder verflixte Angst hatte.
Es war schon fast Abend und ihre Vorräte erwiesen sich als ziemlich aufgebraucht, da hörten sie plötzlich Hundegebell. Schanz versuchte durch seinen Sehschlitz zu erkennen, was da los sei. „Mensch, ein ganz rassiger Jagdhund, der hebt das Pfötchen und guckt uns an.“ Und schon erklang eine muntere Stimme: „Sei stad! Is da wer im Panzer? I bin der Förster, kommt´s ruhig aussa.“ Makowski drückte vorsichtig den defekten Deckel hoch und sah in geringer Entfernung tatsächlich einen Grünrock mit weißem Vollbart und einem typischen Hut der königlich-bayrischen Forstbeamten.
„Jo, traut´s eich ruhig, der Krieg is eh vorbei, schon seit dem achten Mai!“ Vieth, völlig fertig vom Blutverlust, den Schmerzen und dem Fieber, weinte wie ein kleiner Junge, während Makowski und Schanz aus dem Turm kletterten und den alten Förster glücklich begrüßten. Schnell war besprochen, wie und wohin der schwer verwundete Offizier transportiert werden könne. Der alte Förster Aicher, der mit seinen achtundsechzig Jahren wieder aktiviert worden war, als alle jungen Kollegen an die Front gemusst hatten, organisierte mit einer kurzen Nachricht, die er seinem Hund unter das Führgeschirr schob, dass seine Frau den amerikanischen Sanitätsdienst, der in Furth im Wald vorübergehend lagerte, flott machte und den Verletzten abholen ließ. „Auffi, Wastl, spring hoam!“ Und der Hund sauste los wie gejagt. Zu dritt schafften sie es dann, Vieth aus dem Turm zu heben und auf dem moosigen Waldboden in einem Sonnenfleck endlich hinzulegen.
Nach geraumer Zeit näherten sich ein Jeep und ein Sanitätskraftwagen der US-Army und brachten die ersehnte Hilfe. Der amerikanische Militärarzt, etwa im Alter Makowskis, stellte sich vor: „Doktor Johnny Bachmeyer, und wie heißen sie?“ Verdutzt antwortete der müde Stabsarzt: „Doktor Peter Makowski. Woher können sie so gut deutsch?“ „Erst kommt der Patient, dann die Lebensbeichte!“ Bachmeyer und Makowski untersuchten gemeinsam Vieths Arm. Der Amerikaner war sehr erstaunt, dass nach so langer Zeit die Wunde so gut aussah. Als ihm Makowski die Salbe zeigte, grinste er: „Peter, jeder Raub hat was Gutes!“
Jochen Schanz durfte im Sanka mitfahren und sollte sich am „Standörtchen“, wie Bachmeyer sagte, melden. Makowski konnte mit ihm den Jeep benutzen. Unterwegs erzählte er, dass seine jüdischen Eltern 1917 dem ersten Weltkrieg über die Schweiz entronnen seien, in die USA übergesiedelt und in Florida ein Hotel übernommen hätten, das sein Bruder heute führe. Er habe immer Mediziner werden wollen und sei durch die Invasion wegen seiner Deutschkenntnisse wieder nach hier gekommen. „Aber, Peter, als befreundeter Feind“, ergänzte er, „mit dem festen Willen, beim Wiederanfang nach dem Krieg Hilfe zu leisten. Ich habe keine eigene Familie, also bin ich dafür frei.“
„Das ist dankenswert, Jonny, aber was um Himmels Willen ist Penicillin?“ „Ende der zwanziger Jahre hat der schottische Arzt Alexander Fleming zufällig entdeckt, dass bestimmte Schimmelpilze antibiotische Wirkung haben, also Bakterien abtöten können. Die amerikanische Pharmaindustrie hat das Zeug praxisgerecht gezüchtet. Wir verwenden es in Salben, aber auch in der Inneren Medizin. Ich denke, bei euch hat nie jemand davon gehört, der liebe Führer hat euch ja wissenschaftlich völlig vom Rest der Welt isoliert.“
Inzwischen war es dunkel geworden. Die beiden Fahrzeuge bogen auf einen kleinen Platz, sichtlich ein Schulhof. Emsig eilten Sanitätssoldaten herbei, und wenig später lag Vieth bestens versorgt in einem Lazarettbett.
Als die beiden Ärzte den Bettenraum, wohl ein Klassenzimmer, verlassen wollten, wurde Makowski von einem riesigen rothaarigen Navysoldaten aufgehalten, der ihn recht höflich aufforderte: „Follow me, please!“ In einem kleinen Büro empfing ihn ein Offizier, der gerade mit Hilfe einer jungen deutschen Frau als Übersetzerin die Personalien von Schanz aufgenommen hatte und ihn davon im Kenntnis setzte, er sei nun Kriegsgefangener und werde morgen in die Gegend von Nürnberg überstellt. Die gleiche Prozedur musste Makowski über sich ergehen lassen. Verwundert stellten beide fest, dass man ihnen Schlafplätze in einem kleinen Raum eingerichtet hatte, der nicht abgeschlossen wurde.
Am anderen Morgen wurden sie wieder von dem roten Riesen begleitet, der Schanz an eine lange Tafel verwies, wo die offensichtlich unteren Dienstgrade auf lustig kleinen Schülerbänkchen saßen und frühstückten. Makowski durfte sich zu den wenigen Offizieren setzen und erhielt einen Platz neben Jonny Bachmeyer. Während dieser dem Kollegen, der keine großen Englischkenntnisse besaß, als Übersetzer diente und so einige interessierte Fragen der Offiziere beantworten half, fing Schanz zu Makowskis großer Verwunderung sofort an, sich in geläufigem Englisch mit den Amerikanern zu unterhalten. Bald gab es brüllendes Gelächter. Schanz hatte offensichtlich einige gute Witze zum Besten gegeben.
Schließlich mussten beide wieder in ihre Kammer. Zwei Jeeps mit sichtlich einem Vorgesetzten waren vorgefahren. Nach kurzer Zeit begann ein emsiges Treiben, Lastwagen wurden gepackt, Vieth behutsam in den Sanka gehievt, die Schule wieder verblüffend ordentlich aufgeräumt, schließlich auch die beiden Gefangenen ordnungsgemäß mit Handschellen versorgt und zum Schluss getrennt in zwei Jeeps verfrachtet. Einen chauffierte der große Rothaarige. Lange vor Mittag war das Ganze perfekt erledigt, und der ganze Treck setzte sich Richtung Westen in Bewegung.
Nach zwei Pausen mit einfacher, aber guter Verpflegung erreichten die Fahrzeuge das seltsam tot wirkende Dorf Bernreuth am Rande des Truppenübungsplatzes Grafenwöhr. Zielsicher schwenkten die beiden Jeeps aus der Kolonne und stoppten kurz darauf vor einem Gebäude in der Dorfmitte. Hier brachte man die Beiden in eine mit Etagenbett ausgestattete schlichte Zelle, versorgte sie mit Abendessen und Tee und bewies ihnen durch Gebrauch des Schlüssels, dass sie nun wirklich Kriegsgefangene waren.
Schanz fragte mit plötzlich aufkommender Sorge: „Wie wird das wohl weitergehen, Herr Stabsarzt?“ „Weiß ich auch nicht.“ Makowski schüttelte den Kopf, dann füllte er ihre zwei Gläser mit dem aus dem alten Hahn brav rinnenden Wasser, gab Schanz eines in die Hand und sprach feierlich: „Lieber Jochen, der Krieg ist aus, der Stabsarzt Geschichte und wir beide stecken in der selben Misere. Ich bin der Peter, und wir schaffen jetzt das ,sie‘ ab. Prost, mein Junge!“ Mit ernsten Gesichtern stießen sie mit den Wassergläsern an, tranken jeder einen Schluck und fingen dann plötzlich gemeinsam an, prustend zu lachen. Und Schanz stellte fest: „Mensch, Peter, was ein Glück, dass wir den Amis in die Hände gefallen sind und nicht den Sowjets. Hier die kann ich prima verstehen, schließlich habe ich mein Studium zum Englisch- und Französischlehrer fast fertig gehabt, als ich eingezogen wurde.“
„Und ich habe mich schon gefragt, woher spricht der so gut Englisch. Wo genau kommst du eigentlich her?“ Sie machten es sich, so gut es ging, auf dem unteren Bett bequem. Und Schanz begann zu erzählen.
„Mitten in Köln bin ich geboren, im Klösterchen, einem kleinen Krankenhaus mit alten Nonnen als Stationsschwestern, soweit meine Mutter berichtete. Vater hat eine kleine Buchhandlung in Porz. Arme Zeiten verderben das Geschäft, deshalb hat er sich schon früh ein zweites Standbein geschaffen, er hat ein Import-Geschäft für feines Leder. Bis 1941 lief das trotz der Grenzprobleme sehr gut, da er vorwiegend Lieferanten aus Italien hatte und die Wehrmacht bei seinen Kunden Stiefel in rauen Mengen bestellte. Dann ging es langsam bergab. Aber zum Leben reichte es wohl für die Beiden, denn wir drei Kinder brauchten von ihm kein Geld mehr. Meine große Schwester Irmela ist mit einem Flugzeugingenieur nach Bremen verheiratet, der ist wehrnotwendig bei Messerschmidt beschäftigt und kann Frau und Kind gut ernähren. Mein etwas jüngerer Bruder Klaus, der bei Deutz Mechaniker war, und ich, der Student, sind - unfreiwillig - Soldaten geworden. Wo der abgeblieben ist, wusste bei meinem letzten Kontakt mit meinen Eltern niemand, Mutter fürchtet das Schlimmste. Auf ihn warten die Eltern, auch auf mich, aber da wartet auch noch meine Inge. Und die wissen nun auch von mir nichts.“ Er seufzte leise und schaute sehnsuchtsvoll durch das vergitterte Fenster in den unschuldigen Maiabend hinaus.