Dorfkristallnacht - Gerhard Roos - E-Book

Dorfkristallnacht E-Book

Gerhard Roos

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Beschreibung

Sind diese selbstgewählten Aufgaben zu bewältigen? Alma Diehls Lebens- und Familiengeschichte, die wesentlich von ihren grausigen Erlebnissen in der Reichspogromnacht geprägt ist, gibt die Antwort. Die schreckliche Nacht der Pogrome entscheidet über das Schicksal dreier Neugeborener und einer jüdischen Unternehmerfamilie. Die hat schon einige Zeit vor der Schicksalsnacht die Inhaberschaft ihres Betriebes auf ihre Magd Alma übertragen, deren scharfe Intelligenz ihr gefällt. Alma und ihr Ehemann stellen sich der Verantwortung für den bisher jüdischen Gewerbebetrieb und diese drei Kinder. Sie werden die Stammeltern einer großen Familie mit Nachkommen in ganz unterschiedlichen Lebensumständen - und schließlich einer überraschenden Besonderheit. Diese Erzählung ist in einer Region im westlichen Taunus angesiedelt, nahe der heutigen Grenze zwischen Hessen und Rheinland-Pfalz. Die historischen Ereignisse entsprechen der Realität, die beschriebenen Orte sind teilweise verfremdet, und alle Personen der Handlungen sind ersonnen.

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Alle Handlungen und Personen sind frei ersonnen. Ähnlichkeiten mit Lebenden oder Verstorbenen sind zufällig und ungewollt.

Inhalt

Schneetreiben

Nachkriegsjahre 1

Familienerinnerungen

Schulzeit und Arbeitsbeginn

Ostfrieslandzweig

Endlich!

Weihnachtspause

Zukunftssicherungen

Therapiequalen

SA marschiert

Aufwind

Neubeginn

Gnadenfrist

Krieg und Frieden

Das Vermächtnis

Nachkriegszeit 2

Das Geheimnis

Zweite überarbeitete Auflage mit einem anderen Verlag als die erste.

Der ursprüngliche Verlag ist für immer geschlossen.

Der Verleger Dietmar Fölbach ist leider unverhofft verstorben; ich bin ihm in ehrendem Gedenken zu Dank verpflichtet und widme ihm diese Neuauflage.

Schneetreiben

Dieser Nikolaustag 1997 war schon sehr extrem. Seit kurz vor Mittag schneite es ununterbrochen. In wenigen Stunden hatte sich eine dicke Schneedecke gebildet, und da es zuerst nicht sehr kalt gewesen war, waren die Flocken nass und schwer gefallen, jetzt aber schon recht pulverig. Friedhelm Diehl konnte trotz der starken Scheinwerfer seines LKW im dichten Schneetreiben nicht sehr weit voraus schauen. Es reichte jedoch aus, um mit seinem vorgebauten Räumschild korrekt den Rand der Bäderstraße einzuhalten, deren zweite Fahrspur er nun, auf dem Rückweg von der Landesgrenze in sein Dorf, noch einmal frei räumen wollte, bevor der Feierabendverkehr die Straße zum letzten Mal an diesem Freitag stark belasten würde. Nur einige am Fahrbahnrand liegengebliebene Fahrzeuge musste er vorsichtig umfahren.

Ob später nochmals geräumt werden müsste, hatte schließlich die Straßenmeisterei zu entscheiden, er aber würde dann nicht mehr fahren müssen. Seinen Stammfahrer für diesen Wagen hatte er zum Nachtdienst eingeteilt. An normalen Tagen hatte er selbst nichts mit der Fahrerei zu tun. Sein Betrieb beschäftigte jedoch einschließlich der Springer nicht Fahrer genug, um an Schneetagen ohne seinen Einsatz – und den seines Sohnes Rolf auf dem Unimog – die Straßen frei zu halten, für die er mit seiner Spedition vertraglich zuständig war.

Trotz der notwendigen Konzentration auf Straße und Schneetreiben beschäftigte er sich intensiv mit einer Mitteilung seiner Frau Irmgard vom Vorabend, deren mögliche Tragweite er noch gar nicht abzuschätzen wusste. Nach dem frühen Tod seines Vaters, der bereits 1980 im Alter von knapp 64 Jahren an den Spätfolgen einer Kriegsverletzung gestorben war, hatte er mit seiner Mutter Alma zusammen die Geschäftsführung der „Spedition Diehl vormals Morgenthal GmbH“ übernommen und war nach zwei Jahren Hauptgesellschafter geworden, da ihn die gute Auftragslage für die Fernlastzüge in die Lage versetzt hatte, seiner Zwillingsschwester und seinem erheblich jüngeren Bruder zufriedenstellende Erbanteilzahlungen zu leisten. Diese vorgezogene Lösung hatten sich seine Eltern immer schon gewünscht.

Mit seinen Geschwistern und deren Familien hatte seine Familie ein sehr enges und vertrauensvolles Verhältnis, gar nicht so selbstverständlich, wo das Kapital eines Gewerbebetriebes aufzuteilen war. Der jüngere Bruder Albert hatte sich nach seinem Fachhochschulstudium als Bausachverständiger in Koblenz selbstständig gemacht, war bei Gebäudeversicherern wie auch Bauherren bekannt und beliebt und hatte sogar so intensiv an der Erziehung seiner zwei Töchter mitwirken können, dass seine Frau Hermine ihrem Lehrerberuf recht früh wieder vollzeitlich nachgehen konnte.

Seine Zwillingsschwester Helene, die ihm immer besonders nahe stand, hatte sich bereits mit neunzehn Jahren – noch in ihrer Ausbildungszeit in der Sparkasse – ihrem Herbert „an den Hals geworfen“, wie Vater Otto Diehl gerne scherzte. Herbert war damals gerade mit seiner Lehre zum KFZ-Mechaniker fertig und bei seinem Vater in dessen Landmaschinenhandel eingestiegen. Inzwischen war er längst Inhaber des väterlichen Betriebes und geschätzter Partner der Bauern in den umliegenden Dörfern. Helene und Herbert hatten drei Söhne, der zweite arbeitete bereits als Meister und Mitinhaber im Familienbetrieb und war entschlossen, diesen mit seiner Frau auch weiterhin zu betreiben.

In die seit dem Tod seines Vaters ruhig vor sich hin plätschernden Familienabläufe war nun die ärztliche Diagnose aus dem Krankenhaus Marienhospital in Koblenz wie ein Blitz eingeschlagen. Seine Mutter war vom Hausarzt dorthin eingewiesen worden, weil er bestimmte Schmerzzustände nicht hatte zuordnen können. Und nun das: Alma Diehl hatte Krebs, und den in einem wohl schon fortgeschrittenen Stadium. Obwohl sie bereits fast achtzig Jahre zählte, war das angesichts ihrer bisherigen Robustheit ein völlig unerwarteter Schlag.

Friedhelms Blick war fest auf die Straße im Schneetreiben gerichtet. Der wunderbar verschneite vorweihnachtliche Wald zu beiden Seiten der Straße war sowieso kaum zu erkennen, ihm fehlte heute aber auch jeder Sinn für den Zauber dieses Nachmittags. Schon bevor er das Ende des Waldes erreicht hatte, bemerkte er in den Rückspiegeln, dass sich hinter seinem Räumfahrzeug bereits eine recht lange Fahrzeugschlange von Berufsheimkehrern gebildet hatte. Der außerhalb des Waldes recht starke Wind hatte die Fahrbahn bis auf einige niedrige Schneewehen ziemlich blank gehalten, so setzte er den Blinker und fuhr auf den gegenüber liegenden großen Parkplatz des Schaltgerätewerkes, um die Schlange vorbei zu lassen, einen Augenblick zu verschnaufen, einen Becher Kaffee aus der Thermoskanne zu trinken und das letzte der belegten Brote zu verzehren, die ihm Irmgard in der Frühe vorbereitet und eingepackt hatte.

Er gestand sich ein, dass er seit der Kenntnis der Erkrankung seiner Mutter, vor allem der Schwere, stark um ihr Leben zu fürchten begonnen hatte. Seine Mutter war fast sein ganzes Leben lang eine der wichtigsten Personen seines Daseins geblieben. Seine bisweilen überraschenden Aktionen im Kindesalter hatte sie mit großer Langmut ertragen. Als er in der Realschule im nahen Nastätten erhebliche Probleme bekam, da er gegen einige Lehrer aufbegehrte, hatte sie gemeinsam mit seinem Vater immer zu ihm gestanden. Der Abschluss war dann doch so gut gelungen, dass er in Wiesbaden eine ordentliche Ausbildung als Speditionskaufmann bei einem Kooperationspartner des elterlichen Betriebes machen und direkt danach zu Hause zu arbeiten anfangen konnte. Und auch nach dem Tod seines Vaters hatte ihre Zusammenarbeit stets fast reibungslos geklappt.

Gar nicht selbstverständlich erschien ihm, dass sich seine Mutter so bereitwillig auf seine Irmgard eingestellt hatte. Sie waren beide selbstbewusste Frauen und durchaus nicht immer gleicher Auffassung, aber beide waren stark genug, Kompromisse zu schließen und sogar einen gemeinsamen Haushalt zu führen. Das hatte ihn stets glücklich gemacht. Und die Tatsache, dass ihre drei Kinder die Oma stets respektiert und mit großer Zuneigung behandelt hatten, war ein ganz besonderes Geschenk. Er war bereits 24 Jahre alt gewesen und ziemlich unerfahren im Umgang mit dem anderen Geschlecht, da war ihm die neunzehnjährige Irmgard eines Tages am Güterbahnhof in Lahnstein an den Lastwagen gekommen und hatte ihn gefragt, ob er sie mit nach Hause nehmen könne, er fahre ja immer an ihrem Elternhaus vorbei. Auf dem Weg hinauf in den Taunus hatten sie sich allerlei zu erzählen. Dann fragte er sie an ihrem Elternhaus in einem kleinen Anfall von Wagemut, ob er sie wohl zum Wochenende ins Kino nach Koblenz einladen dürfe. „Sicher. Gerne sogar. Ich freue mich darauf.“ Nach einigen Treffen waren sie sich so nahe gekommen, dass es kein Zurück mehr gab. Warum auch, sie verstanden sich hervorragend. Und das bis heute.

Nun war es Zeit, die letzten Kilometer der beiden sich kreuzenden Bundesstraßen noch bestmöglich zu räumen und dann auf den Betriebshof zurückzukehren. Als er dort die Maschine abstellte, läutete gerade das Achtzehnuhrglöckchen vom nahen Kirchturm. Mit gewohnter Pünktlichkeit bog der kleine Suzuki-Geländewagen seines Fahrers Heiner Schmidt auf den Platz, so konnte dieser den Container auf der Pritsche wieder mit Streusalz beladen und sich wie auch den vereisten LKW für den nächsten Abruf durch die Straßenmeisterei vorbereiten.

Nachkriegsjahre 1

Als der Erste Weltkrieg unter seltsamen Umständen zu Ende ging, der Kaiser abdankte und Zug um Zug die Weimarer Republik entstand, fand sich Johanna Meyer mit ihren sechs Kindern allen Alltagsdingen alleine gegenüber. Jakob Meyer war verspätet eingezogen worden und hatte zwei Heimaturlaube genehmigt bekommen, während denen die beiden jüngsten Kinder gezeugt worden waren. Nun war Johanna seit einigen Monaten ohne Nachricht über seinen Verbleib. Er hatte, wie mehrere Nebenerwerbsbauern seines kleinen Taunusdorfes, als Knecht gearbeitet. Der kleine eigene Viehbestand, drei Milchkühe, meistens zwei Mastschweine und immerhin zwanzig Hühner und ein Hahn, hatten zusammen mit seinem Lohn für ein auskömmliches Leben seiner großen Familie gesorgt. Nun aber war guter Rat teuer. Außer den Erzeugnissen aus Kleinlandwirtschaft und Garten stand Johanna und ihren sechs Kindern nichts zur Verfügung. Und da die kleine Alma erst wenige Wochen alt war, hatte sie auch so viel Arbeit, dass an eine eigene Anstellung als Magd nicht zu denken war. Ihre alten Eltern aus dem Nachbardorf, die in ihrem kleinen Häuschen selbst ihren Lebensunterhalt kaum bewältigen konnten, kamen ab und an herüber gewandert, um ihr zu helfen. So hatte ihr Vater die Mäharbeit für das dringend benötigte Heu und auch den zweiten Schnitt übernommen. Ihre Mutter entlastete sie eher bei den beiden Kleinen, damit sie die notwendige Hof- und Gartenarbeit mit den Großen einigermaßen schaffen konnte.

Johannas Hoffnung war, dass Jakob, der an der Westfront eingesetzt worden war, in französischer Gefangenschaft gelandet sei. Irgendwann musste die ja schließlich einmal zu Ende sein. Kurz nach Weihnachten 1918 bekam sie dann auch über einen bereits entlassenen Gefangenen aus dem nahen Katzenelnbogen die Nachricht, dass Jakob tatsächlich in einem Gefangenenlager in Lothringen sei. Die letzten deutschen Kriegsgefangenen kehrten nach Ratifizierung des Versailler Vertrags im Januar 1920 aus alliierten Lagern in die Heimat zurück. Jakob gehörte zu diesen letzten.

Alma war in der Zwischenzeit ein kleiner schwarzhaariger Feger geworden, wie der ein gutes Jahr ältere Rudi ziemlich verwöhnt von der Oma und den vier großen Geschwistern, die ja schon alle längst Schulkinder waren. Heinrich, der Älteste, sogar schon Lehrling in der Dorfschmiede. Jakob kannte den kleinen Rudi nur als ständig schlafenden Säugling, und Alma hatte er noch nie gesehen, er wusste noch nicht einmal, dass es sie gab. Die ersten Tage waren sowohl für Johanna und ihn als auch die größeren Kinder nicht ganz einfach, die beiden Kleinen aber fanden sehr schnell zu ihrem Vater und erleichterten ihm die Rückkehr in sein altes Leben erheblich.

Bereits nach einer guten Woche sprach ihn sein früherer Arbeitgeber Konrad Schneider an, ob er nicht wieder bei ihm anfangen könne, sein ältester Sohn, der den Hof habe übernehmen sollen und wollen, sei gefallen. Der Jüngste, der nun in den Betrieb eingestiegen sei, benötige dringend die Hilfe eines erfahrenen Landmannes, und er selbst sei der Gesündeste nicht mehr.

So war bis zum zweiten Geburtstag Almas die größte wirtschaftliche Not gebannt, und die Eheleute Meyer schauten wieder zuversichtlich in die Zukunft. Alma erlernte in Windeseile alle kindlichen Tricks, sowohl ihre Geschwister als auch die Erwachsenen charmant um den Finger zu wickeln. Während Rudi sich gerne verhätscheln ließ und bei jeder Kleinigkeit erst einmal sicherheitshalber herzzerreißend zu weinen anfing, war seine kleine Schwester auch noch ziemlich hart im Nehmen. Als sie einmal im hauseigenen Garten beim Spielen in eine Brennnesselecke purzelte, rappelte sie sich sofort wieder auf die Beine, betrachtete ihre sich schnell mit Pusteln überziehende Haut an Ärmchen und Beinchen und knurrte: „Weh tut.“ Dann spielte sie weiter, als sei nichts geschehen. Ihre Oma musste sie zu sich rufen, um die brennende Haut mit Backpulver zu kühlen, einem bewährten Hausmittel.

Alma war ein fröhliches Kind und sich der Wirkung ihrer kleinen Persönlichkeit auf Erwachsene außerordentlich sicher. Wie alle ihre Geschwister lernte sie von klein auf, in Haus und Garten mit anzupacken. Wenn die Großen ihre Hausaufgaben für die Schule zu erledigen hatten, wurden die beiden Kleinen bei schlechtem Wetter mit je einer zerbrochenen Schultafel und einigen kurz gewordenen Schiefergriffeln dazu gesetzt und aufgefordert, zu zeichnen. Während Rudi brav kleine Strichmännchen entstehen ließ, die in erstaunlich aussagekräftigen Bewegungen dargestellt wurden, kopierte Alma besonnen und zielsicher die Buchstaben von der Tafel ihrer siebenjährigen Schwester Marie. Diese las gerne laut vor, was sie aufgeschrieben hatte. Schnell erfasste Alma die Bedeutung der abgeschriebenen Worte und las nach einiger Zeit täglich ihrer verdutzten Mutter vor, was sie – zuerst recht ungelenk – auf ihre Schieferscherbe abgeschrieben hatte. Mit vier Jahren schrieb und las sie bereits so sicher wie ein Zweitklässler. Sie betrachtete das als ein wunderbares Spiel. Irgendwann wurde ihr das Schreiben und Lesen wohl ziemlich langweilig, jedenfalls entdeckte sie den Umgang mit Zahlen als ein neues faszinierendes Spiel. Wenn sie ihrer Mutter in der Küche half, was ihr viel Freude bereitete, zählte sie Gemüsefrüchte, Obst und Getreidekörner mit großer Hingabe. Sie fragte immer wieder: „Und welche Zahl kommt jetzt?“ Johanna beantwortete ihr diese Frage dann immer geduldig und stellte nach einigen Wochen fest, dass ihre Jüngste schon vor der Einschulung, die bald erfolgen sollte, den Zahlenraum bis Tausend zählend begriffen hatte. Die großen Geschwister, auch der zaghafte Rudi, hatten Theo Seibert, dem Zwergschullehrer des Dorfes, immer große Freude gemacht. Alle fünf waren sie wissbegierig und aufmerksam, und die drei ältesten hatte er mit guten Zeugnissen in ihre Berufsausbildungen entlassen können. Heinrich hatte seine Schmiedelehre so gut abgeschlossen, dass ihn sein Meister gerne als Geselle im Betrieb behielt. Pauline fuhr täglich mit der Nassauischen Kleinbahn hinunter nach Katzenelnbogen und lernte in der dortigen Schneiderei. Hermann hatte eine Lehre in der örtlichen Mühle begonnen, die er täglich zu Fuß aufsuchen musste, lag sie doch außerhalb in einem der tief eingeschnittenen Bachtäler. Marie war eine so gute Schülerin geworden, dass sie nach dem vierten Schuljahr per Kleinbahn zur Mittelschule in Katzenelnbogen fahren konnte.