... gelernt, zu leiden ohne zu zerbrechen? - Gerhard Roos - E-Book

... gelernt, zu leiden ohne zu zerbrechen? E-Book

Gerhard Roos

0,0

Beschreibung

Jonas Schneider schreibt Tagebuch. Schlimme Erlebnisse und Verluste prägen seine Kindheit. Das Leben bei seinen Großeltern lässt ihn aber zur Ruhe kommen. Tiefe Freundschaften und erfüllende Tätigkeiten machen ihn zu einem erfolgreichen Schüler und Studenten. Im ersten Berufsjahr ereilt ihn erneut ein heftiger privater Verlust. Trotzdem arbeitet er unverdrossen an seiner Zukunft. Als ihm die Ereignisse seiner Kindheit und deren Folgen wieder begegnen, wird ihm und weiteren Betroffenen möglich, noch bestehende Spätfolgen endgültig aufzuarbeiten und zu einem erfüllten Leben zu finden, allem Vergangenen zum Trotz.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 155

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Alle Handlungen und Personen sind frei ersonnen. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt

Inhaltsverzeichnis

Samstag, 09. September 1995

Sonntag, 10. September 1995

Sonntag, 17. September 1995

Samstag, 23. September 1995

Dienstag, 03. Oktober 1995

Sonntag, 08.Oktober 1995

Sonntag, 15. Oktober 1995

Sonntag, 22. Oktober 1995

Sonntag, 19.November 1995

Sonntag, 07.01.1996

Montag, 08.04.1996

Samstag, 11.05.1996

Samstag, 29.06.1996

Sonntag, 29.09.1996

Donnerstag, 26. 12. 1996

Dienstag, 07.01.1997

Dienstag, 20.05.1997

Dienstag, 30.12.1997

Mittwoch, 30.12.1998

Donnerstag, 22.07.1999

Sonntag, 05.09.1999

Samstag, 15.04.2000

Sonntag, 22.10.2000

Sonntag, 01.07.2001

Sonntag, 19.08.2001

Sonntag, 03.02.2002

Sonntag, 28.07.2002

Freitag, 27.12.2002

Donnerstag, 21.08.2003

Mittwoch, 11.08.2004

Sonntag, 04.09.2005

Sonntag, 03.09.2006

Montag, 09.04.2007

Dienstag, 29.05.2007

Sonntag, 12.09.2007

Donnerstag, 04.10.2007

Sonntag, 06.01.2008

Sonntag, 20.01.2008

Sonntag, 21.04.2008

Samstag, 24.05.2008

Ich kann´s nicht schreiben, ich kleb´s ein (aus der Zeitung)

Samstag, 23.08.2008

Mittwoch, 30.09.2009

Sonntag, 04.10.2009

Sonntag, 06.12.2009

Donnerstag, 31.12.2009

Sonntag, 07.01.2010

Sonntag, 07.02.2010

Montag, 05.04.2010

Samstag, 15.05.2010

Sonntag, 04.07.2010

Samstag, 30.10.2010

Freitag, 31.12.2010

Freitag, 30.12.2011

Sonntag, 20.05.2012

Sonntag, 27.01.2013

Dienstag, 31.12.2013

Samstag, 09. September 1995

Das hätte ich nun wirklich nicht für möglich gehalten, dass ich einmal anfangen würde, ein Tagebuch zu schreiben. Aber die grausamen Ereignisse der letzten Zeit bringen mich dazu. Ja, liebes Tagebuch, Du sollst alles das, was geschehen ist und deswegen weiterhin noch passiert, sowohl für mich als auch für meine Pflegeschwestern Julia und Kathrin aufbewahren, damit wir es immer nachlesen und uns erinnern können. Vielleicht sogar unsere Nachkommen, wenn wir welche bekommen sollten. Bevor ich aber anfange aufzuschreiben, was Schlimmes in den letzten Tagen herausgekommen ist, weil ausgerechnet ich es zufällig entdeckt habe, sollst Du wissen, wer das ist, der das alles niederschreibt.

Ich heiße Jonas Schneider, bin am 10. März 1983 in Gotha geboren und jetzt also zwölf Jahre alt. Nach der Wende sind meine Mutti und mein Vati mit meiner kleinen Schwester Helene und mir gleich nach Niedersachsen rüber gemacht, weil Vati seine Arbeit verloren hatte. Die Bundesmarine suchte für die Wartung und Pflege der Schiffe im Militärhafen von Wilhelmshaven erfahrene Maschinenbauer, die ohne Uniform als sogenannte zivile Mitarbeiter eingestellt wurden. Vati hatte das zufällig gelesen und sich noch von Gotha aus beworben. Er wurde sofort genommen. Wir zogen in diese Stadt. Unsere Wohnung war ganz ordentlich. Und ich kam in der Grundschule prima mit, das war sehr schön. Leni kam dann 1991 in die Schule. Dort war sie nur vier Tage, dann wurden sie und Mutti von einem besoffenen Autofahrer tot gefahren. Unsere Eltern lebten da schon getrennt, Mutti und Leni in Jever mit Muttis neuem Freund, Vati mit mir weiterhin in Wilhelmshaven.

In den Osterferien 1992 sind wir mit Birgit Böning und ihren beiden unehelichen Töchtern zusammen gezogen. Der Vater von Julia ist ein britischer Ausbilder gewesen, der zu Hause Frau und Kinder hatte, der Vater von Kathrin ist ein ebenfalls verheirateter älterer Fregattenkapitän, in dessen Haushalt Birgit gearbeitet hat. Sie ist nach meiner Meinung nicht besonders intelligent aber lieb und außerordentlich hübsch. So ist auch Vati auf sie geflogen. Immerhin hat er es geschafft, dass sie sich ganz gut um mich und die Mädchen gekümmert hat. Sie ging nicht irgendwo zur Arbeit, Vati hat recht gut verdient und uns alle ordentlich versorgen können. Am Freitag vor dem ersten Advent 1992 sollte geheiratet werden, aber mein Vater brach drei Tage vorher auf der Arbeit zusammen und verstarb im Reinhard-Nieter-Krankenhaus wenige Stunden später. Schwerer Herzinfarkt, und das mit 34 Jahren!

In der Zeit danach zeigte sich, dass Birgit tatsächlich ein guter, vielleicht sogar zu guter Mensch ist. Trotz ihrer Trauer kämpfte sie darum, dass ich bei ihr und den Mädels bleiben durfte. Sie ist jetzt offiziell meine Pflegemutter. Sie bekommt dafür Geld sowie Unterhalt für beide Mädchen. Und die Bundesmarine hat sie als Teilzeitreinigungskraft für die Hafengebäude eingestellt. So kamen wir recht schnell finanziell über die Runden. Im Herbst 1993 beendete einer der zur See fahrenden Zeitsoldaten seine Wehrdienstzeit und wurde in der Marinedruckerei als Fotolaborant angestellt.

Wenige Wochen später hatte er sich mit Birgit zusammengetan und war bei uns eingezogen. Sie heirateten am Freitag nach Ostern 1994. Ich konnte diesen Thorsten Berg, der sich sofort als mein Pflegevater aufspielte, von Anfang an nicht leiden. Da er die Mädels vorgezogen und regelrecht verwöhnt hat, haben ihn beide gleich ins Herz geschlossen.

Die Eltern von meinem Vati sind 1992, als mein Opa nach einem Arbeitsunfall Frührentner wurde und Oma arbeitslos, in den Heidekreis hier in Niedersachsen gezogen. Opa, der Maschinenschlosser war, ist aus Freude an Tieren auf einem Heidehof in der Nähe eines Dorfes bei Schneverdingen zweiter Schafhirte und Oma Helferin im Hofladen. Dafür wohnen sie kostenfrei in einem kleinen Häuschen an der Hofstelle. Opas rechtes Bein ist versteift. Ich habe sie nach Vatis Tod noch viermal besuchen dürfen. Seit der Thorsten mit Birgit zusammen ist, darf ich das nicht mehr.

Sonntag, 10. September 1995

Wir wohnen im Süden von Wilhelmshaven nicht weit von einem Wald, da stehen solche Wohnblöcke, eigentlich für Soldaten. Sehen ähnlich aus wie die Platten in der DDR, sind aber viel moderner. Von dort gehe ich immer gerne in den Wald, Vögel und andere kleine Tiere beobachten. Dafür kann ich ganz still auf dem Boden sitzen und abwarten, bis die Tiere kommen. Viele Kinder können sowas nicht, die sind zu zappelig. Einmal vor einigen Wochen ist mir plötzlich eingefallen, dass auf dem Kleiderschrank in unserem Flur die flache Holzkiste stehen müsste, in der das wertvolle Fernglas von meinem Vati aufbewahrt wird. Als er noch in der Firma in Gotha war, die für den großen VEB Carl Zeiss Jena Werkzeugmaschinen gefertigt hat, war ihm das Fernglas zum zehnjährigen Betriebsangehörigkeits-Jubiläum geschenkt worden. Das wollte ich mir holen, wenn ich mal alleine in der Wohnung war, was schon immer mal vorgekommen ist.

Samstag früh waren dann Birgit, Thorsten und die Mädchen in der Innenstadt zum Einkaufen. Das dauerte gewöhnlich drei bis vier Stunden. Also konnte ich mir das Fernglas in Ruhe nehmen und damit in den Wald gehen. Es war ja sonnig und warm. Wir haben eine Stubenleiter aus Alu, mit der Birgit beim Fensterputzen auch ganz oben ran kommen kann. Die habe ich vor den Schrank gestellt, bin hochgeklettert und habe erfreut festgestellt, dass der Holzkasten an seinem Platz stand. Ich war nur erstaunt, dass er gar nicht verstaubt war. Ich habe ihn heruntergenommen und auf dem Küchentisch geöffnet. Und da hat mich das kalte Entsetzen gepackt.

Das Fernglas war weg. Stattdessen war der Kasten voll mit sorgfältig gestapelten Farbfotos. Der erste Stapel bestand aus einer Menge Nacktfotos von Julia und Kathrin, oft von einer allein, manchmal auch von beiden zusammen. Der zweite Stapel enthielt nur Bilder, auf denen Thorsten - jetzt erkannte ich ihn mit Sicherheit als Fotografen an seiner Armbanduhr und dem Tatoo - seine Hand fotografiert hatte, wie er jeweils einem der Mädchen zwischen den Oberschenkeln herumfummelte, ihnen sogar mit seinen Fingern in den Körper hineingriff. Der dritte Stapel war der schlimmste. Ich kann keine Worte finden für das, was ich darauf sehen musste. Thorsten hat an seinem nackten Körper herunter fotografiert, was er mit den Mädchen gemacht hat oder sie hat machen lassen. Die alte Drecksau!

Nachdem der erste Schock vergangen war, habe ich alles wieder sorgsam verpackt, die Kiste genau da hin gestellt, wo ich sie weggenommen hatte, und auch die Leiter schließlich an Ort und Stelle gebracht. Nur ein Bild von jeder Sorte, ein Nacktfoto mit Beiden und je eins der anderen Sorten mit einmal Julia und einmal Kathrin als Opfer, habe ich mir genommen und in Dir versteckt. Dann habe ich mich wie geplant in den Wald gesetzt. Da haben mich aber meine Tiere in keiner Weise interessiert, denn ich habe zuerst einmal Mühe gehabt, die Entdeckung zu verdauen. Ich war also dem widerlichen Thorsten auf die Spur gekommen und konnte nachweisen, dass er meine beiden Pflegeschwestern, diese lieben kleinen Mädchen, sexuell missbraucht hatte. Und das nicht nur einmal, sonder sichtlich immer wieder. Nun verstand ich auch plötzlich, warum die Beiden in den letzten Monaten auf der einen Seite immer so geheimnisvoll taten, auf der anderen Seite aber auch oft so bedrückt wirkten.

Dann begann ich mir zu überlegen, wie ich mit diesem Wissen umgehen sollte. Bis ich dafür eine Lösung gefunden hätte, müsste ich zuerst einmal so tun, als ob ich nichts wüsste, das war mir klar. Dann legte ich mir eine Reihenfolge zurecht, in der ich vorzugehen gedachte, um vor Allem den Mädels zu helfen, um aber auch den widerwärtigen Thorsten einer gerechten Strafe zuzuführen. Zuerst will ich mit den Mädels reden, dann mit Birgit und schließlich der Sozialarbeiterin, die vom Jugendamt für mich und mein Pflegeverhältnis zu Birgit zuständig ist. Ich meine, die müsste mir helfen können.

Sonntag, 17. September 1995

Alles kam aber ganz anders, weil wenige Tage nach meiner Entdeckung Birgit einen halben Tag Urlaub nehmen musste, um mit mir zusammen nach meiner Schule zum Besuch der Sozialarbeiterin Frau Neerstedt zu Hause sein zu können. Frau Neerstdt fragte das Übliche, dazu gehört auch die Nachfrage, ob ich mit meinem Leben in der Pflegefamilie zufrieden bin. Da musste es raus. Ich habe gesagt: „Seit wenigen Tagen gar nicht mehr. Ich zeige Ihnen auch, warum.“ Dann habe ich die Leiter geholt, die Kiste vom Schrank genommen und den beiden Frauen auf den Tisch gestellt. Als ich den Deckel abgenommen hatte, waren beide zuerst völlig ohne Worte. Birgit fing schließlich an zu weinen.

Frau Neerstedt fragte Birgit, ob sie eben telefonieren dürfe, rief bei der Kripo an und erklärte der Beamtin, die sie wohl sehr gut kannte, dass und warum Thorsten ohne Vorwarnung an seinem Arbeitsplatz verhaftet werden müsse. Da ging dann wohl bei der Polizei die Post ab. Frau Neerstedt blieb bei uns, bis die Kripo kam. Das waren ihre Bekannte und ein älterer sehr väterlicher Mann. Inzwischen hatte Frau Neerstedt die Bilder wieder in der Kiste verschlossen. Das war auch gut so, denn jetzt kamen die Mädchen aus dem Kindergarten nach Hause. Frau Neerstedt und die Polizistin hatten Birgit gesagt, sie solle nicht fragen, warum habt ihr nie was gesagt. Sie solle vielmehr einfach erzählen, dass sie jetzt die Fotos kenne, und dass es nun nicht mehr nötig sei, das Geheimnis für sich zu behalten.

Das war richtig gut, dass sie das auch so gemacht hat. Die noch fünfjährige Julia ließ sich von ihr in den Arm nehmen und Kathrin, die in wenigen Tagen vier werden soll, zu meiner Überraschung von mir. Nachdem beide erst nur geweint hatten, fing Julia an zu reden. Wohl weil sie sich bei ihrer Mutter sicher fühlte, konnte sie ganz viel erzählen. Kathrin war auf meinen Schoß gekrabbelt und nickte zu jeder Einzelheit, die ihre Schwester uns allen berichtete. Langsam hörte auch sie auf zu weinen. Und plötzlich war sie eingeschlafen, so mitgenommen war sie von der ganzen Sache, vielleicht auch irgendwie jetzt erleichtert. Und Julia wurde immer ruhiger, je mehr aus ihr heraussprudelte. Das Reden hat ihr bestimmt gut getan.

Der ältere Kripobeamte hatte inzwischen die Bilderkiste in einen mitgebrachten Karton gepackt, auf dem Schrank auch noch Thorstens Kamera gefunden und sich dann ruhig zu uns gesetzt. Plötzlich kam eine Stimme aus seinem Funkgerät: „Zielperson verhaftet. Vorführung beim Haftrichter erledigt. U-Haft verfügt.“ „So, das hat erst mal geklappt, jetzt kann ihr Mann nicht mehr herkommen. Packen sie am besten in den nächsten Tagen alles von ihm zusammen. Sollte er irgendwie während des Ermittlungsverfahrens frei kommen, müssen sie ihn nicht in die Wohnung lassen. Wir werden uns dann kümmern.“ Der Polizist nickte befriedigt. Jetzt waren wir alle vier erst einmal geschützt.

Birgit konnte einige Tage lang gar nicht arbeiten, so fertig hatte sie die ganze Sache gemacht. Ich glaube, es ist sehr schlimm, wenn du als Frau erfährst, was für ein Schwein der Mann in Wirklichkeit ist, den du liebst. Und wenn dann noch deine Kinder die Opfer sind, ist das wohl unerträglich. So war es auch nicht sehr überraschend, dass Birgit eine Woche später zusammengebrochen ist und in eine Nervenklinik gebracht werden musste. Ich hatte sie gefunden, als ich von der Schule nach Hause kam, und sofort die 112 angerufen.

Als sie abgeholt worden war, rief ich auch noch Frau Neerstedt an. Jemand musste sich doch um die beiden Mädchen kümmern. An mich habe ich dabei komischer Weise gar nicht gedacht. Frau Neerstedt kam dann gleich mit einer jungen Kollegin angefahren. Sie packten mit uns gemeinsam für beide Mädchen alles Wichtige und Klamotten zusammen. Die wurden dann von Frau Neerstedts Kollegin in eine Bereitschaftspflegefamilie gebracht.

Samstag, 23. September 1995

Anders als ich hatten sich Frau Neerstedt und ihre Kollegin bereits Gedanken gemacht, wie es mit mir weitergehen könne. Als ich nun mit der für mich zuständigen Sozialarbeiterin alleine war, fragte sie mich, ob ich vielleicht Verwandte hätte, bei denen ich vorübergehend unterkommen könne. Da fielen mir natürlich sofort meine Großeltern in der Heide ein. Wir haben daraufhin gleich dort angerufen. Oma war am Apparat. Ich erzählte ihr kurz, was passiert war, und übergab dann den Hörer Frau Neerstedt. „Wir haben hier natürlich ein Problem. Jonas kann vielleicht ein oder zwei Nächte alleine in der Wohnung der Familie Berg bleiben, aber dann müsste er erst einmal bei erwachsenen Verwandten unterkommen, die ihn nicht nur versorgen sondern auch andere Verantwortung übernehmen können.“

Oma hat ihr dann wohl erklärt, meine Großeltern hätten schon darüber nachgedacht, eine andere Lösung für mich zu veranlassen als das Leben in der Pflegefamilie Berg. Aber wie? Als Verwandte dürften sie selbst ja wohl keine Möglichkeit haben, mich als offizielles Pflegekind aufzunehmen, was sie eigentlich für das Beste hielten. Frau Neerstedt erklärte ihr nun, dass gerade die „Großelternpflege“ eine von den Jugendämtern gerne geförderte Lösung sei. „Wenn ihre Lebensumstände, liebe Frau Schneider, das möglich machen, ist das die Ideallösung für Ihren Enkel.“

Sie fragte mich aber schnell zwischendurch, ob mir das recht sei, Pflegesohn meiner Großeltern zu werden. Die Antwort war nicht schwer, das war das Allerschönste, was ich mir denken konnte. Oma war eine herzensgute Frau, und Opa trotz einiger Strenge immer sehr verständnisvoll gewesen. Und bis auf Opas kaputtes Bein sind beide gesund und fit, sie sind ja noch nicht einmal sechzig. Dass mich Thorsten nicht mehr dorthin zu Besuchen hatte fahren lassen wollen, hatte mich recht belastet.

„Ich werde mich also sofort an die Kollegen des Pflegekinderdienstes im Heidekreis wenden und eine entsprechende Regelung anstoßen. Spätestens übermorgen, also am Freitag, bringe ich Ihnen dann den Jungen auf jeden Fall.“ Nach diesem Gespräch rief sie sofort von unserem Anschluss aus im Jugendamt in Bad Fallingbostel an. Der für das Wohndorf meiner Großeltern im Pflegekinderdienst zuständige Sozialarbeiter war nicht nur zufällig in seinem Büro sondern auch noch ein ganz guter Bekannter von Frau Neerstedt. Recht schnell hatte er das Problem verstanden und versprochen, sofort mit meinen Großeltern Verbindung aufzunehmen. Schließlich schrieb sie sich noch den Namen meiner Klassenlehrerin im Gymnasium auf und versprach, sich mit ihr und der Leitung des Gymnasiums in Soltau über einen reibungslosen Übergang zu unterhalten.

Das alles hat mich sehr erleichtert, wenn ich auch einige Trauer darüber empfinde, nicht mehr mit Birgit und den Mädels zusammen leben zu können. Vor allem mit der kleinen Kathrin verbindet mich viel, nicht zufällig hat sie sich zu mir geflüchtet, als die ganzen Sauereien des Herrn Berg besprochen wurden. Aber wird Birgit überhaupt wieder fähig werden, wenigstens ihre eigenen Töchter zu erziehen und zu betreuen? Wird sie den Kampf mit dem Drecksack Thorsten durchstehen? Ihr und den Kindern wünsche ich das von Herzen. Jetzt erst einmal bin ich bei Oma und Opa. Die haben sogar gestern schon die offizielle Pflegeerlaubnis für mich gebracht bekommen. Als Frau Neerstedt mich abgeliefert hat, lag dieses Schreiben auf dem Esstisch. Und ab übermorgen bin ich dann Schüler in Soltau. Wie schnell das alles gegangen ist! Ich habe Frau Neerstedt sehr viel zu verdanken!

Das geräumige frühere Gästezimmer im Häuschen, das unter dem Dach ist und nebenan ein Miniduschbad mit Waschbecken und Toilette hat, ist jetzt mein Reich. Außer Vati und mir hat da sowieso keiner jemals übernachtet. Und Opa soll sogar mein Vormund werden.

Dienstag, 03. Oktober 1995

Eine einzige Woche lang war ich nun in meiner neuen Schule. Seit gestern sind Oktoberferien und heute ist zudem Feiertag, der Tag der deutschen Einheit. Oma hat heute früh am Frühstückstisch nachdenklich gesagt: „Stellt euch vor, ohne die deutsche Einheit wären wir jetzt in Thüringen. Wer weiß, ob sich dort deine Eltern getrennt hätten. Wer weiß, ob deine Mutti und deine Schwester nicht noch am Leben wären. Wer weiß, ob dein Vati gestorben wäre, oder sich nicht alles ganz anders entwickelt hätte.“ Opa ist da weniger der Träumer: „Hätte, hätte, Fahrradkette! Hör auf zu fantasieren, Frau Schneider. Es ist wie es ist. Für Jonas ist es jetzt ganz gut ausgegangen und für uns auch. Ich bin so froh, Junge, dass du jetzt bei uns bleiben kannst.“ Oma nahm mich in den Arm. „Opa hat recht. Das ist jetzt das Beste, was uns drei überlebenden Schneiderlein passieren konnte.“

Hier fühle ich mich auch richtig wohl. Opa hat am Wochenende wieder für einige Stunden den Schäfer vertreten, da war ich mit ihm und den Hunden draußen in der Heide. Obwohl es kühl war und nur ab und an die Sonne einige Zeit geschienen hat, war es wunderschön dort. Ich habe wie im Wald bei Wilhelmshaven ganz viele Kleintiere und Vögel gesehen und sie Opa gezeigt. Der war erstaunt, wie viele davon ich kenne und benennen kann.

Der nette Polizist Jan Kessler hat übrigens im Verhör aus Thorsten heraus gekriegt, dass der Vatis wertvolles Fernglas verkauft hat. Er geht der Sache nach, hat er Opa am Telefon versprochen. Und, was mich total erstaunt, er hat nicht nur Birgits Aussagen aufgenommen, sondern kümmert sich auch jetzt, wo Birgit vorerst im Sanatorium bleiben muss, und die Mädchen in der Bereitschaftspflegefamilie sind, regelmäßig um Birgits Wohnung. Opa hat gelacht: „Sie hat schon wieder einen Kerl um den Finger gewickelt.“