Geheilte Flügel - Gerhard Roos - E-Book

Geheilte Flügel E-Book

Gerhard Roos

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Beschreibung

Ein Unwetter führt einen fahrradreisenden Kleinzeltcamper und die allein reisende Besitzerin eines alten Reisemobils in eine unverbindliche WG auf Rädern. Der alte Wagen bietet Schutz und den Ort für die gegenseitige hilfreiche Berichterstattung über das jeweils schwer belastete Vorleben. Im Laufe der kurzen gemeinsamen Reise und auch in der Folge zeigt sich, dass dieses Kultfahrzeug sogar noch für einige andere unerwartete Lebensumstände seine heilende Wirkung entfaltet. Eingebettet in die Erzählung über die Bewältigung menschlicher Traumata wird diese Beschreibung des alten Mobils nebenher zu einer kenntnisreichen Liebeserklärung des Autors an das historische Fahrzeug.

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Inhalt

Die Aufenthaltsentscheidung

Neue Nachbarschaft

Der Wettersturz

WG auf Rädern

Kinder- und Jugendtage auf dem Land

Arztkinder

Black and White

Nächste Etappe

Trübsal außen wie innen

Kurz und Knapp

Das Verbrechen

Die Demaskierung

Schwungfedern wachsen nach

Im Sauerland

Im Westerwald

Kaum zu glauben

Anfänge

Die Firma

Die Familie

Alle Handlungen und Personen sind frei ersonnen. Ähnlichkeiten mit Lebenden oder Verstorbenen sind zufällig und ungewollt.

Die Aufenthaltsentscheidung

Eigentlich hatte Markus noch einige Kilometer weiter fahren wollen. Unter Mithilfe eines ganz neuen Campingplatz-Führers hatte er sich vor Antritt seiner Fahrradtour einen großen Campingplatz direkt vor dem Nordseedeich herausgepickt, der ihm als Zielort dieser recht langen Etappe sinnvoll erschienen war. Doch einige Umstände hatten ihn nun zu diesem kleinen, geradezu unscheinbaren Campinggelände geführt.

Erstens hatte sich über der Bucht eine dicke Wolkenwand entwickelt, die bedrohlich nach Gewitter aussah. Zweitens war dieser Tag durch die in jener Nordseenähe ungewohnte Schwüle außerordentlich anstrengend und ermüdend verlaufen. Drittens hatte er vom Radweg der nahe vorbei führenden Straße aus gesehen, dass dieses Plätzchen eine hübsche Wiese für Zeltcamper bereit hielt, auf der noch nicht sehr viel los war. Und offensichtlich wurde auf diese sogar hier und dort das eine oder andere kleinere Wohnmobil gewiesen. Eine originelle Mischung.

Inzwischen wusste er, das waren Durchreisende, die gerne für einige Tage bleiben wollten. Angesichts der nahen Möglichkeit, auf einem ordentlichen Weg über den Deich und an den Strand zu gelangen, ein durchaus verständlicher Gedanke. Auch er dachte darüber nach, doch vielleicht mehrere Nächte hier zuzubringen. Also hatte er sein kleines stangenfreies Leichtzelt ordnungsgemäß fixiert, die zum Leben notwendigen Gegenstände aus den festen Satteltaschen seines Fahrrades hinein geschafft und dann seinen treuen Drahtesel im platzeigenen Unterstand, einer alten Wagenremise, in einen der freien Fahrradständer geschoben und mit seinem soliden Bügelschloss an diesem gesichert.

Wie erwartet wurde es eine recht unruhige Nacht. Schon vor Mitternacht begann es kräftig zu regnen, begleitet von zuckenden Blitzen und in einigem Zeitabstand dröhnenden Donnerschlägen. Soweit Markus das hören konnte, war das Zentrum des Gewitters draußen über der Bucht geblieben, aber die Wassermassen, die vom Himmel kamen, waren schon recht gewaltig. Obwohl sein Zelt innen trocken blieb, war dessen Schaukeln im Wind und die merkliche Abkühlung durch den Regen irgendwie unbehaglich. Schließlich ließ aber der Regen nach und hörte dann gänzlich auf. Bald darauf war Markus eingeschlafen, müde genug dazu war er ja.

Am nächsten Morgen weckten ihn die schrillen Schreie verschiedener Vögel, die über dem salzigen Deichvorland ihre Flugkünste übten. Die Wolken waren alle weg. Noch hing ein Dunstschleier über den Wiesen und Bäumen im Umfeld des kleinen Campingareals, aber trotz der Frühe hatte die Sonne bereits eine bemerkenswerte Kraft. Es war sicher, das würde erneut ein ziemlich heißer, wegen der Bodenfeuchte auch wieder schwüler Tag.

Er kroch aus seinem Zeltchen, stapfte barfuß durch das noch nasse Gras zum Waschhaus, sorgte für eine ordentliche Morgentoilette und kam mit dem gefüllten Wasserkesselchen zurück. Auf seinem kleinen Gaskocher war die kleine Wassermenge hurtig heiß. Er brühte wie täglich seinen Morgenkaffe, machte sich sein schlichtes Frühstück und räumte dann seine bescheidene Ausrüstung ordentlich ins trockene Zeltinnere.

Sein Entschluss stand nun fest, hier würde er ein paar Tage bleiben, bei Flut das Meer genießen und mit Sorgfalt und seinem Fahrrad das Hinterland erkunden. Vielleicht gab ihm das Gelegenheit, nunmehr endlich die bei ihm aktuell anstehende Grundsatzentscheidung über seine Zukunft so gründlich zu durchdenken, dass er schließlich zu einer sinnvollen Problemlösung kommen könnte. Ganz einfach war die Sache nicht, ganz im Gegenteil.

Der Gezeitenkalender neben der Tür des Waschhauses hatte ihm verraten, dass kurz vor Acht der Höchststand der Flut erreicht worden war, also machte er sich in Badehose und Shirt auf den Weg über den Deich und zum Wasser. Für seine Wertsachen hatten seine Fahrradtaschen auf beiden Innenseiten zum Hinterrad hin raffinierte Geheimfächer. Im Zeltchen hatte er die nur dann bei sich, wenn er das Fahrrad nicht ordentlich sichern konnte.

Als er nach ausgiebigem Genuss des Meerwassers geduscht und sich die leichte Radfahrkleidung angezogen hatte, holte er sein Fahrrad und machte sich auf den Weg ins Hinterland. Bereits im vierten Dörfchen fand sich ein Imbiss mit recht erstaunlich vielseitigem Angebot und hübschen Sitzgruppen unter gelben Sonnenschirmen. Also gab es nun erst einmal eine gute Mittagsmahlzeit.

Auf dem Tisch lagen Faltprospekte, die über Sehenswürdigkeiten der Dörfer dieser Gemeinde informierten. Im Abarbeiten dieser Informationsfülle verging der gesamte Nachmittag, so kehrte er danach zufrieden zum Campingplatz zurück. Er setzte sich dann zu seiner mitgebrachten Abendmahlzeit auf die Bank am Holztisch unter dem großen Baum neben der Zeltwiese und schrieb anschließend, ganz konservativ und analog wie bisher täglich, einen Kurzbericht über diesen Tag in sein kleines Tagebuch.

Neue Nachbarschaft

Plötzlich tuckerte fast mit Standgas ein recht betagtes Reisemobil den Weg zur Zeltwiese entlang. Dieser leicht röhrende Motorklang war ihm vertraut! Fiat Saugdiesel, 75 PS. Der Mensch am Steuer war routiniert, denn gekonnt landete das recht kurze Mobil haargenau neben dem Fußweg zum Waschhaus und mit der Eingangstür gut zwei Meter direkt neben seinem Zelt.

Als sich die Tür öffnete und die Eintrittsstufe herausgezogen wurde, zeigte sich, die sichtlich allein reisende Person war unverkennbar weiblich. Obwohl gar nicht unansehnlich, interessierte sie ihn erheblich weniger als das alte Hymermobil. Er hatte das Modell direkt erkannt, es war ein „534“. Und er sah sofort, dass es spätestens im Jahr nach seiner Geburt, also 1987, gefertigt worden war, denn es hatte noch das Design der schmalen umlaufenden braunen Streifen. Außerdem fast druckfrische H-Kennzeichen.

Der Wagen war nicht nur verblüffend gepflegt, er war zudem auch mit einigen sichtbaren Modernisierungen sinnreich weiter entwickelt worden. So zeigte eine typische Revisionsklappe auf der Fahrerseite, dass eine Thetford-Kassettentoilette nachgerüstet worden war. Ein kleines schwarzes zweiäugiges Kästchen oben an der Rückwand bewies, hier gab es eine Doppel-Rückfahrkamera, deren Bildschirmchen bei Vorwärtsfahrt als Rückspiegel arbeitete. Auf dem Dach war sogar ein Solarpaneel zu erkennen.

Auch eine Markise fehlte nicht. Auf dem Fahrradträger über der typischen Heckstaukastenklappe war ein quietschgelbes Fahrrad verankert, mit großem Drahtkorb am Lenker. Irgendwann einmal hatten da zwei Räder gesessen, eine zweite V-Schiene und die Befestigungsbügel waren noch da. Hier waren wissende Wohnmobilisten am Werk gewesen.

Dass Markus das alles beurteilen konnte, hatte einen schlichten Grund. Wenige Tage nach seinem ersten Geburtstag hatten seine Eltern eben dieses Modell fabrikneu erworben und einige Jahre im Gebrauch, bis für ihn und seine beiden älteren Brüder sowohl das Hubbett als auch die Sitzgruppe zum Schlafen doch etwas zu eng geworden waren. Danach gab es dann ein etwas größeres Hymermobil „640 B“ mit ausreichendem Schlafplatz für die ganze Familie.

Inzwischen hatten seine Eltern seit einigen Jahren wieder ein kleines Hymercar; eines, das für zwei Nutzer ausgelegt und mit modernstem Komfort ausgestattet war. Er selbst hatte in den vergangenen Jahren vorgezogen, Urlaub im Hotel zu erleben, möglichst komfortabel und ohne eigene Initiative. In diesem Sommer war das nun alles ganz anders. Seine Denkpause hatte ihn wieder ins Campingwesen gebracht und ihn sogar bewogen, auf jeglichen Luxus zu verzichten.

Inzwischen war nun sein heftiges Interesse für das betagte Reisemobil befriedigt. So beobachtete er von seinem Schattenplatz aus, wie seine neue Nachbarin durchaus routiniert den Stromanschluss hergestellt, die Markise ausgefahren, einen kleinen Campingtisch und zwei Stühle aufgeklappt und dann mit einigen notwendigen Dingen eine Abendmahlzeit gerichtet hatte. Sie mochte knapp unter dreißig Jahre alt sein, war nicht übermäßig groß gewachsen, hatte eine Hautfarbe, die auf viel Zeit an der frischen Luft schließen ließ, relativ kurze pechschwarze Haare, nussbraune Augen und insgesamt eine durchaus angenehme Ausstrahlung, zumindest über die momentane Entfernung hin.

Markus hatte seinen Tagebucheintrag fertig und ging nun zu seinem Zelt. Freundlich grüßte er die neue Nachbarin und wollte nun erst einmal in sein Zelt schlüpfen, um es so zu richten, dass er zur Abendhochflut noch einmal schwimmen gehen könnte. Aber die junge Frau grüßte nicht nur zurück sondern lud ihn auch ein, sich eben kurz zu ihr an ihren Tisch zu setzen, sie habe einige Fragen. „Erste Frage: Wie wäre es mit einem Früchtetee?“ „Oh ja, gerne.“ Verwundert stellte er fest, da stand schon eine zweite Teetasse, und Tee genug gab es aus einer großen Thermoskanne von Tupper. „Zweite Frage: Ist es recht, wenn wir als Campingnachbarn uns duzen. Mein Name jedenfalls ist Lena.“ „Ja, auch gerne. Ich heiße Markus.“ „Dritte Frage: Kann man hier im Meer baden, und wenn ja, wann?“ „Hast du am Eingang das Schild ,ZUM STRANDBAD‘ nicht gesehen? Bei Flut ist da draußen Einiges los. Und es macht richtig Spaß. Das Abendhochwasser ist heute um viertel nach Acht. Ich gehe da sowieso noch einmal schwimmen. Wenn du noch möchtest, geh einfach mit.“

Lena nickte zustimmend. „Und schließlich bin ich neugierig genug, um zu fragen, ob du zu Fuß oder mit dem Fahrrad unterwegs bist. Dein Zelt ist ja wohl federleicht.“ Markus schmunzelte. „Zum Wandern bin ich dann doch ein bisschen zu faul. Aber mit dem Rad kann ich sowohl von Standort zu Standort reisen als auch mit Tagesausflügen die jeweilige Region erkunden. Deshalb bleibe ich jeweils gern einige Tage. Zeit habe ich augenblicklich zum Glück genügend.“ „Witzig, ich mache das mit meinem Fahrrad ganz genau so. Wenn du möchtest, können wir morgen ja zusammen die Gegend erkunden.“ „Ja, warum nicht, ein bisschen Gesellschaft kann ja niemandem schaden.“ Lachend hatten sie also ihre beiden Verabredungen getroffen. Nach belanglosem Geplauder über dies und das wurde es dann Zeit, sich zum Baden zu richten.

Der Wettersturz