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Vor fast dreißig Jahren erschien Franz Hohlers erste Sammlung mit Gedichten, der Band »Vierzig vorbei«, damals von Lesern und Kritikern gleichermaßen geliebt. Jetzt legt der Autor einen weiteren Gedichtband vor – mit Gedanken über das Älterwerden. Darin geht Hohler der Frage nach, wie das Alter uns verändert und die Zeit zu einem kostbaren Gut macht. Mit »Alt?« widmet er sich einer Lebensphase, in der der Tod zwar „die Sonnenbrille abnimmt und dich anschaut“, die aber zugleich auch Aufbruch und ein Bekenntnis zum "Carpe Diem" sein sollte. Eine Sammlung sprachlicher Kabinettstücke – voller Tiefe, Nachdenklichkeit und zugleich Freude am Leben.
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Seitenzahl: 74
Zum Buch
Die Zeit hinterlässt ihre Spuren manchmal unmerklich. Der Name eines Films fällt einem nicht mehr ein. Die Gespräche über »früher« werden mehr. Im Blick des jungen Handyverkäufers liegt eine Spur Mitleid. Franz Hohler geht in seinem neuen Gedichtband der Frage nach, wie das Alter uns verändert und die Zeit zu einem kostbaren Gut macht. Dabei spürt er persönlichen Gedanken nach und greift Motive auf, die viele Bereiche des Alltags umspannen. Wie es ist, als Paar miteinander alt zu werden, wie ein Schmetterling zum Boten des Lebens wird, warum so viele Sätze mit einem Mal mit »hätte« beginnen.
Eine bunte Sammlung aus Naturgedichten, Sprachspielen, »Verlesern« und vor allem lebensklug leichten Gedanken. Über eine Lebensphase, in der der Tod zwar »die Sonnenbrille abnimmt und dich anschaut«, die aber zugleich auch Aufbruch und Bekenntnis zum »carpe diem« sein sollte.
Zum Autor
FRANZ HOHLER wurde 1943 in Biel, Schweiz, geboren. Er lebt heute in Zürich und gilt als einer der bedeutendsten Erzähler seines Landes. Hohler ist mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden, u. a. mit dem Solothurner Literaturpreis, dem Alice-Salomon-Preis und dem Johann-Peter-Hebel-Preis. Sein Werk erscheint seit über vierzig Jahren im Luchterhand Verlag. Zuletzt sind dort erschienen »Ein Feuer im Garten«, »Der Autostopper« und »Gleis 4«.
FRANZ HOHLER
Alt?
Gedichte
Luchterhand
Alt?
Täuschst du dich
oder zittert manchmal
die Hand ein bisschen
wenn du den Suppenlöffel hältst?
Bist du das wirklich
von dem das Strassenverkehrsamt
ein ärztliches Zeugnis verlangt
du seiest noch fähig
ein Auto zu lenken?
Kann das sein
dass die
Kirchgemeinde dich einlädt
zur Seniorenweihnacht
mit schöner Klaviermusik
und gemütlichem Zvieri?
Und der Tanzanlass
für ältere Paare
dienstags von 15 bis 16.30 Uhr
ist der für dich?
Ist nicht
ein Ausdruck von Mitleid
im Blick des jungen Verkäufers
der dir erklärt
dein Mobiltelefon
sei nicht mehr zu reparieren?
Müsstest du sparsamer werden
mit dem Gebrauch eines Wortes wie
»früher«?
Warum fällt es dir
immer noch schwer
deine Handy-Nummer zu lernen
(Die Nummer des Elternhauses
weisst du noch jetzt)?
Wie war schon wieder
der Titel des Films
in dem ein Planet
die Erde bedroht?
Und die Schauspielerin
die den Jungen beschützte
wie hiess sie doch gleich?
Hast du genügend Sätze
für ein Gespräch
mit jemandem
dessen Namen
dir nicht in den Sinn kommen will?
Merkst du das Lauernde
beim Zusammensein mit alten Bekannten
sobald die Rede
auf die Gesundheit kommt
auf Knie, Hüften, Gelenke
und ihre Ersetzbarkeit?
Was haben die Medikamente
auf deinem Frühstückstisch
verloren?
Warum feiern so wenig Freunde
den vierzigsten
und immer mehr
ihren sechzigsten, siebzigsten, achzigsten?
Und wieso
will der dunkle Anzug
im Kleiderschrank
nicht mehr nach hinten rücken?
Morgens vor sechs
schon wach zu sein
dafür einzunicken
bei Büchner, Brecht
oder Shakespeare
ist das normal?
Wird die Sparlampe
die du im WC einschraubst
Brenndauer 10 000 Stunden
länger halten als du?
Und all die Petitionen
und Initiativen
Für eine sichere
Keine, Nein zu, Stop dem, Schluss mit
und Ausstieg aus –
was gehen dich Zeiten an
die du kaum mehr erleben wirst?
Warum aber
trifft dich der Blick deiner
frisch geborenen Enkelin
mitten ins Herz
und lädt dich auf
mit Zuversicht
Zukunft
und Lebenssucht?
Abendzug
Vor dem Fenster fährt mit
das gespiegelte Fenster
der anderen Seite des Zuges
ein Spiegel zuviel
für die
in der oberrheinischen Ebene
untergehende Sonne
und so rasen
zwei tiefrote Kugeln
nebeneinander
eng verschränkt
durch Wälder
Weinberge
Wiesen
durchfahren
Hochspannungsleitungen
Kirchtürme
Pappelalleen
durchtanzen
als Doppelsonne
den blassgrauen Abend
ohne Respekt
vor Zementwerken
Futtersilos
und Zugsignalen
verspotten die Wirklichkeit
als hüpfe die Sonne
ausser sich vor Freude
zusammen mit ihrer
eben entdeckten Schwester
zu einem Ball der Gestirne
und muss dann doch
dem Gesetz gehorchen
das keine Ausnahme kennt
und der Sonne befiehlt
die Irrlichter auszublasen
und allein
wie immer
hinter dem dunklen Rand der Welt
zu versinken.
Besuch
Wie kommst du
Schmetterling
auf meinen Schreibtisch
Mitte Oktober
bleibst
an einem der Bücher kleben
öffnest langsam
die grossen Augen
auf deinen Flügeln
und schliesst
und öffnest
und schliesst
und öffnest
und schliesst
sie wieder?
Du müsstest doch wissen
in meinen Büchern
findest du keine Nahrung.
Sachte
mach ich das Fenster auf
und schon fliegst du
taumelnd davon
in den Tag
und den Tod
ein Bote des Lebens.
Blätterfall
Da wirbeln sie
braun und vertrocknet
über die Dächer
drehen sich tanzend
um sich selbst
bevor sie zu Boden sinken
um sich nochmals
vom Wind getragen
raschelnd und kichernd
zu überschlagen
und aneinander zu kuscheln
vor Thujahecken
und moosigen Gartenmauern.
Dass Sterben
so lustig sein kann.
Zürich by night
Die Riesin
schläft
in ihrem Tausendlichterhemd
und ihrem roten Perlenarmband
mit dem blinkenden Rubin hoch oben
der sie vor Himmelsgeistern schützen soll.
Die Riesin
schläft
bedeckt von
einem schwarzen Krokodil
und einem Affenkopf.
Die Riesin
atmet schwer
sie schüttelt ihre Bäume
pfeift durch Schächte und Kamine
und bläst die Autostraßen leer.
Die Riesin
träumt
von Meeresfluten
fernen Bränden
und Ambulanzen
die ihr Ziel nicht finden
bis die Krähen nach dem Morgen rufen.
Schrebergärten
Blüht, ihr Tulpen
rote, gelbe, weiße
feiert euer Fest der Farben
blüht, so schnell ihr könnt!
Die Bauprofile sind schon ausgesteckt
die euren Boden
endlich nutzen werden
für Büros, für Praxen, für Kanzleien
und für Mehrfamilienhäuser
mit Thymian, Basilikum und Schnittlauch
in den Balkonkisten.
Gerücht
Höheren Orts
wird nun
wie man munkelt
darüber nachgedacht
die Wolken zu privatisieren
größere Sonderausschüttungen
sind zu erwarten
auch der Wind
soll bald
an der Börse gehandelt werden
denkbar ist ferner
die Fusion
von Hochdruck- und Tiefdruckgebieten
die Synergieeffekte wären beträchtlich
und schon beginnt
die Spekulation
mit Niederschlagsderivaten
Kontingenten von Hitzewellen
und Optionen
auf Sommergewitter.
Mutter Erde
(z. Zt. Fukushima)
Es hat mich gejuckt
ihr Menschen
tief unter der Haut
da musste ich mich
kratzen
während ihr glaubtet
ich halte mich still.
Ja
habt ihr denn
nicht gewusst
dass ich lebe?
Ciao, maestro!
»Non ti danno più da mangiare?«
fragte mich Cosimo Gaetani
der ständig rauchende Schuhmachermeister
als ich ihm
schlanker geworden
all meine Ledergürtel brachte
damit er zwei Löcher mehr hineinstanze.
Seine Baracke
hinter dem Sternen Oerlikon
sieht seltsam unbelebt aus
als ich näher komme.
An der Tür
ein Zettel
infolge Todesfall
bleibe die Schuhmacherei
für immer geschlossen
Todesfall unterstrichen
Wir bitten um Ihr Verständnis.
Minutenlang stehe ich da
mit den ungesohlten Schuhen
in meiner Plastiktasche
verständnislos
als sei mir soeben zum ersten Mal
mitgeteilt worden
dass nach dem Leben
irgendeinmal
der Tod kommt.
Achtung!
Wenn du
das Alter betrittst
setz den Helm auf
es herrscht
Steinschlaggefahr.
Heinrich Heine
Die Zeit
Wie langsam kriechet sie dahin,
Die Zeit, die schauderhafte Schnecke!
Ich aber, ganz bewegungslos
Blieb ich hier auf demselben Flecke.
In meine dunkle Zelle dringt
Kein Sonnenstrahl, kein Hoffnungsschimmer,
Ich weiß, nur mit der Kirchhofsgruft
Vertausch ich dies fatale Zimmer.
Vielleicht bin ich gestorben längst;
Es sind vielleicht nur Spukgestalten
Die Phantasien, die des Nachts
Im Hirn den bunten Umzug halten.
Es mögen wohl Gespenster sein,
Altheidnisch göttlichen Gelichters;
Sie wählen gern zum Tummelplatz
Den Schädel eines toten Dichters. –
d Zit
Wie langsam chrüüchsch du vor di här
Zit, du gruusige, chläbrige Schnägg!
Und i cha gar ke Wank me tue
und hocken uf em glyche Fläck.
I myni dunkli Zälle chunnt
ke Sunnestrahl, ke Hoffnigsschimmer.
Chum i no wäg, denn nur is Grab
us mym fatale Zimmer.
Bin i ächt tot und merkes nit?
Si’s nur paar Gspänstergstalte
wo dur mis Hirni dure znacht
e letschten Umzug halte?
Si riten uf em Schnägg derhär
und trinke Bluet us Hümpe
si singe faltsch und lache lutt
und schwänke schwarzi Lümpe.
Die schaurig süßen Orgia,
Das nächtlich tolle Geistertreiben,
Sucht des Poeten Leichenhand
Manchmal am Morgen aufzuschreiben.
Am Morge bin i glych no do
i merkes a mym schwäre Schnuuf
und myni chalti Dichterhand
schribts wenigstens no uf.
William Shakespeare
Sonett Nr. 66
Tired with all these for restful death I cry,
As to behold desert a beggar born,
And needy nothing trimmed in jollity,
And purest faith unhappily forsworn,
And gilded honour shamefully misplaced,
And maiden virtue rudely strumpeted,
And right perfection wrongfully disgraced,
And strength by limping sway disabled,
And art made tongue-tied by authority,
And folly, doctor-like, controlling skill,
And simple truth miscalled simplicity,
And captive good attending captain ill.
Tired with all these, from these would I be gone,
Save that to die, I leave my love alone.
Müed
I bi so müed, i wär am liebste tot.
Do hesch Verdienst und bisch zum Bättler worde
Und wär sim Gwüsse treu blibt, het ke Brot
Und isch me schäbig gnue, denn git’s en Orde
Und duurend muesch go bitti-bätti mache
Und überall si Pfyffen a der Macht
Und Starchi ghöre plötzlech zu de Schwache
Und gloge wird derzue, dass ’s tätscht und kracht
Und was du guet findsch, isch uf einisch schlächt
Und alles zunderobsi uf der Wält
Und hesch e lätze Name, hesch ke Rächt
Und das, wo würklech zellt, isch nume s Gält.
Das macht mi müed, i giengt am liebste hei
Nur, wär i tot, denn wär mi Schatz elei.