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Kilian sucht auf dem Land, was ihm die Stadt nicht bieten kann: Ruhe und die Muse zu schreiben!
Doch bald muss er feststellen, dass dort sogar noch mehr Trubel herrscht. Neben seiner aufdringlichen Nachbarin bringt auch das Geschwisterpaar Lilli und Jules Kilians Leben ordentlich durcheinander. Und dann meldet sich nach zehn Jahren Funkstille seine Schwester wieder.
Von wegen ruhiges Landleben!
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Ein weißes Blatt Papier will befüllt werden.
Der Cursor blinkt beständig, ja fast erwartungsvoll.
Aber es tut sich nichts!
Kein Wort das geschrieben werden will, keine Protagonisten, die anklopfen und mir ihre Geschichte überlassen. Einfach nur nichts.
Frustriert klappe ich den Bildschirm meines Notebooks zu und stehe schwungvoll auf, nur um untätig an meinem Schreibtisch zu stehen und mich zu fragen, was ich tun sonst tun soll.
Meine Freunde arbeiten oder wohnen – dank meines Umzuges aufs „Land“ – zu weit weg, um sie einfach mal zu besuchen. Im Internet surfen ist mir inzwischen langweilig geworden, genau wie durch das etwa 5000 Einwohner Städtchen zu wandern und auf Entdeckungsreise zu gehen. Ich hatte wohl völlig falsche Erwartungen an diesen Ort. Ich dachte, es wäre spannender, als in einem Kuhkaff und weniger aufregend als in der Großstadt. Mit letzterem liege ich gar nicht so falsch. Es ist ruhig in Dimmlingen und nach etwas mehr als einem Monat kenne ich jeden Supermarkt, jede Bar und jedes Gasthaus. Ja, man trifft sogar Tag für Tag dieselben Leute. Anfangs wurde ich misstrauisch beäugt, inzwischen werde ich verhalten gegrüßt.
Aber es stört mich nicht, so wenig beachtet zu werden. Ganz im Gegenteil, die Ruhe war der Grund warum ich aus der Großstadt floh. Hier kennt mich kein Mensch, niemand weiß, was ich beruflich mache und niemand belästigt mich mit Kritik, Verbesserungsvorschlägen oder Diskussionen über meine Bücher.
Früher dachte ich immer, dass man als Autor nicht im Rampenlicht steht. Jedenfalls nicht derart. Wer erkennt schon seinen Lieblingsautor auf der Straße? Sehen Sie? Aber es ist eben doch anders, oder ich verkehrte in den falschen Kreisen. Keine Ahnung woran es lag, aber es nahm mir die Luft zum Atmen. Ich musste weg und bin in Dimmlingen gelandet. Die Ruhe tat gut, ich entspannte, aber die Schreibblockade löste sich deshalb nicht auf. Ich schaffe es einfach nicht, etwas Vernünftiges aufs Papier zu bringen. Nicht mal etwas Beschissenens, oder irgendetwas dazwischen. Ich will schreiben und doch nicht. Kurz um, kompliziert.
Die Türklingel reißt mich aus meiner Starre und ich bin froh etwas tun zu können. Mit ein bisschen Verspätung trifft mein täglicher Gast ein.
„Hallo Herr Block. Ich dachte mir, dass sie zu Hause sind.“ Meine Nachbarin Frau Geier ist eine echte Nervensäge, aber von der liebenswürdigen Art. Gleich nachdem ich eingezogen bin, hat sie mich mit einer kräftigen Fleischsuppe in der Nachbarschaft willkommen geheißen. Sie meinte, dass sie normalerwiese Kuchen bringen würde, aber da ich so blass aussehe …. Außerdem könnte sie mir jederzeit ein Alibi liefern, weil sie genau weiß, wann ich komme und gehe und mit wem. Und sie bringt mir jeden Morgen Brötchen, weil unser Bäcker im Moment geschlossen hat.
„Ihr Frühstück, Herr Block“, hält sie mir eine Papiertüte hin und drängt sich in mein Haus. Lächelnd schließe ich die Tür und folge der alten Dame in meine Küche. Seit nicht ganz drei Wochen trinken wir in meiner Küche Kaffee, essen unsere Brötchen mit Butter und Marmelade und lesen Zeitung. Danach unterhalten wir uns ein bisschen und gegen halb elf flattert Frau Geier wie ein aufgescheuchtes Huhn in ihr eigenes Heim.
„Haben Sie es schon gehört?“, will sie wissen, als wir beide am Frühstückstisch sitzen und ich gerade nach der Zeitung greife. Ich schüttle nur den Kopf und sehe hoffentlich interessiert genug aus.
„Nächste Woche können wir uns wieder beim Bäcker einquartieren.“
„Das klingt hervorragend“, freue ich mich. Zwar ist es ganz nett ein paar Stunden in der Woche mit Frau Geier zu verbringen, aber manchmal wäre es mir lieber, ich könnte mich mit einem Vorwand davonstehlen. In den eigenen vier Wänden schwieriger, als es sich anhört. Denn die Ausrede arbeiten zu müssen, lässt die Gute nicht gelten.
„Ja, nicht? Sie müssen nicht mehr spülen und ich muss nicht das ganze Zeug hierherschleppen.“
„Zwei Fliegen mit einer Klappe“, lächle ich freundlich und greife wieder nach der Zeitung.
„Der Neffe des Alten übernimmt das Geschäft.“
„Ich dachte der sei Konditor“, sage ich mit vollem Mund und drehe mich in Frau Geiers Richtung. Aus Erfahrung kann ich sagen, dass ich heute nicht so bald zum Zeitung lesen kommen werde. Jetzt gilt es jede Menge Input zu verkraften.
„Das stimmt. Nun, zum Teil, denn wie ich erfahren habe, ist er auch Bäcker. Übrigens wird auch seine Schwester dort arbeiten.“
„Die vom Alten?“, necke ich Frau Geier mit Absicht. Seit sie mich zwei Stunden lang kennt, versucht sie mir jede hübsche und ledige Frau schmackhaft zu machen. Leider weiß sie nicht, dass ich an Frauen nicht das geringste Interesse habe.
„Die Schwester des Neffen“, schimpft sie und schüttelt den Kopf.
„Ein echter Familienbetrieb.“
„Außerdem bauen die schon seit geraumer Zeit um. Die Auslagen sind verhängt und auf dem Aushang wird die Wiedereröffnung angekündigt.“
„Die nächste Woche stattfindet.“
„Richtig! Am Montag schon.“
„Dann haben wir ein Date, Frau Geier“, grinse ich und meine Nachbarin kichert mädchenhaft.
„Aber sie sollten sich lieber mit Frauen in ihrem Alter verabreden“, werde ich auch schon wieder getadelt. „Ein Mann in der Blüte seines Lebens und gibt sich nur mit alten Mähren ab. Vielleicht finden wir bei der Eröffnung ein nettes Mädchen für Sie.“
„So blass und mager wie ich bin, glaube ich nicht daran“, kann ich mir die Spitze nicht verkneifen.
„Papperlapapp! Ihre Hautfarbe sieht schon viel gesünder aus und aus dem Klappergestell machen wir schon noch was. Essen Sie denn regelmäßig?“
„Wie Sie es mir aufgetragen haben“, lüge ich, aber ich bin sicher, es wird mir von wem auch immer verziehen.
„An Ihnen ist auch schon mehr dran, als zu Anfang.“
„Alles ihr Verdienst.“
„Das will ich meinen! Ich schleppe ja nicht umsonst ihre Brötchen jeden Tag hier an! Genug geplappert. Jetzt wird gegessen.“
Lächelnd beiße ich in mein Vollkornbrot, kaue genüsslich und greife nach der Zeitung. Es ist mir ein Rätsel, aber Frau Geiers Gesellschaft ist irgendwie angenehm. Man darf sich nur nicht alles zu Herzen nehmen, was sie sagt.
Nachdem Frau Geier mich verlassen hat, spüle ich. Dann ist das Staubsaugen dran und danach das Abstauben. Ich mache so ziemlich alles, um nur nicht schreiben zu müssen. Wie das schon klingt! Dabei liebe ich es zu schreiben, mir Geschichten und Orte auszudenken, Personen zu erschaffen und völlig überrascht von ihrer Entwicklung zu werden. Außerdem war das Schreiben jahrelang meine Zuflucht, wenn es galt dem echten Leben zu entkommen. Und jetzt?
Jetzt fürchte ich mich vor der leeren Seite!
Aber ich kann nicht ewig davon laufen. Ich lebe davon zu schreiben und ich brauche es, wie die Luft zum Atmen. Man merkt es mir sofort an, wenn ich länger als ein paar Stunden nichts zu Papier gebracht habe. Ich werde nervös und reizbar, wenn mir das Schreiben fehlt. Das sanfte Klappern der Tastatur, fast im Einklang mit der klassischen Musik, die im Hintergrund läuft. Das Rascheln der Seiten meines Notizbuches und der blaue Dunst, der von der Zigarette im Aschenbecher aufsteigt. All die Gedanken und Ideen, die endlich einen Platz finden und mich nicht mehr belästigen.
Aber davon ist im Moment nichts zu merken. Keine Gedanken, keine Ideen, die aus mir raus müssen. Sondern ein dicker, schwarzer Vorhang, der alles verhüllt und jeden meiner Schreibversuche mit einem düsteren Lachen quittiert.
„Nicht heute“, sage ich mir, lasse alles stehen und liegen und laufe beinahe in mein kleines Büro. Ich drehe die Anlage auf, öffne den Laptop, setze mich, hole die Zigaretten aus dem Schreibtisch und zünde mir eine an. Der erste Zug ist normalerweise auch mein Letzter, denn neben dem Schreiben verglüht die Zigarette auch ohne mein zutun. Doch auch diese rauche ich zu Ende und genervt töte ich sie im Aschenbecher aus.
„Dann also von vorne“, murmle ich und schreibe statt einer Geschichte, meine wirren Gedanken auf und noch während ich schreibe, weiß ich, dass ich später alles wieder löschen werde. Aber ich muss in Übung bleiben, muss irgendetwas tippen, um mich dem Schreiben wieder anzunähern. Das jedenfalls wird jemandem in meinem Zustand geraten. Ich kann nur hoffen, dass es funktioniert.
„Ihr Gras ist schon ziemlich hoch“, begrüßt mich Frau Geier am nächsten Morgen.
„Tatsächlich?“, frage ich blöde und sehe an ihr vorbei in meinem Vorgarten.
„Hinten ist es noch schlimmer“, sagt sie und drängt sich an mir vorbei. Sie hat recht, denn bisher habe ich mich nicht wirklich um den Garten gekümmert. Schon als ich das Haus kaufte, war der hintere Garten ziemlich verwildert.
„Ich muss mir erst einen Rasenmäher zulegen“, erkläre ich mich und schenke uns Kaffee ein.
„Sie können sich auch meinen leihen. Er ist alt, funktioniert aber einwandfrei“, zwinkert sie.
„So wie Sie, Frau Geier.“
„Ganz genau, Junge! Sie können den Mäher aber erst morgen haben, ich will heute selbst mähen.“
„Ich könnte das für Sie übernehmen, als Miete sozusagen.“ Ich bin mir nicht sicher, ob sie darauf einsteigen wird, aber auf den Versuch lasse ich es ankommen. Mit krauser Stirn sieht sie mich eine Weile an und nickt dann. „So machen wir es, dann könnte ich währenddessen in den Baumarkt fahren und ein paar Blumen für die Fensterbänke kaufen.“
Ich grinse in meine Kaffeetasse, diese Frau ist noch viel raffinierter, als ich angenommen habe.
„Und wie wollen Sie die nach Hause schaffen?“
„Na in einer Tüte“, sagt sie, als wäre ich der dümmste Mensch auf Erden.
„Selbst ich weiß, dass die Pflanzen das unmöglich gut finden werden.“
„Sie haben einen Garten und kennen sich nicht damit aus?“, ist sie empört.
„Nein, aber ich bin sicher Sie könnten mir da weiterhelfen. Ihr Garten sieht ansprechend und wunderbar gepflegt aus.“
„Danke, aber schleimen müssen Sie nicht, wenn Sie meine Hilfe wollen. Wir können auch zusammen in den Baumarkt fahren und sehen was ihnen gefallen könnte.“
„Perfekt. Zuerst mähe ich, dann geht es zum Shopping.“
„Und ich sehe mir gleich nach dem Frühstück ihren Garten mal genauer an. Vielleicht schlummert unter der ganzen Wildnis ein Juwel“, lächelt Frau Geier und ist zweifellos froh, dass ihr Plan aufgegangen ist, ohne um Hilfe zu bitten. Sie ist wirklich entzückend und mir wird ein bisschen körperliche Arbeit bestimmt nicht schaden. Vielleicht sogar ein Ausgleich zu meiner sitzenden Beschäftigung. Wir werden sehen.
Der Rasen in Frau Geiers Garten war nicht besonders hoch und auch das Mähen fiel nicht schwer, anders, als auf meinem Grundstück. Viel zu lange habe ich das Gras wachsen lassen und muss den Auffangbehälter viel öfter wechseln. Glücklicherweise brennt die Sonne noch nicht so warm vom Himmel, sonst hätte ich wohl längst aufgegeben.
Im hinteren Garten werkelt Frau Geier gutgelaunt herum, reißt Pflanzen aus und stopft sie in einen von ihr mitgebrachten Kübel. Der ist schon bedenklich voll und mein Garten liegt noch immer im Dornröschenschlaf.
„Ob das noch was wird, Frau Geier?“
„Oh natürlich!“ strahlt sie. „Ich habe schon jede Menge Ideen. Sehen sie hin und erkennen die Möglichkeiten.“
Ich sehe hin, aber alles was ich sehe, ist ein Haufen Arbeit für die ich gar keine Zeit habe. Vielleicht suche ich mir einen Gärtner und lasse das machen. In lauen Sommernächten auf der Terrasse mit einem Glas Wein zu schreiben, ist bestimmt toll, Besonders wenn man hin und wieder in einen märchenhaften Garten schauen kann.
„Außerdem muss die Terrasse gerichtet werden. Ich hoffe Sie haben einen Abzug verlangt, als sie das Haus gekauft haben.“
„Es war sehr günstig, weil der Zustand nicht ideal war“, gebe ich bereitwillig Auskunft.
„Na wenigstens etwas. So haben Sie noch ein bisschen Geld über, um die anfallenden Arbeiten zu finanzieren. Sind Sie fertig?“
„Hier noch nicht.“
„Das verschieben wir. Erst sehen wir, was wir alles machen wollen. In einer halben Stunde vor Ihrer Garage?“
„Sehr wohl, Madame.“
„Sie wissen wie man Frauenherzen höherschlagen lässt“, zwinkert Frau Geier und zieht von dannen. Ich schiebe den Rasenmäher unter das Vordach und gehe erst einmal duschen. Ich bin furchtbar verschwitzt, aber auch zufrieden. Für das erste Mal lief es ganz gut und wenn ich dran bleibe, ist es auch nicht so viel Arbeit.
„Was machen Sie eigentlich beruflich?“, will Frau Geier auf den Weg zum Baumarkt wissen.
„Sagen Sie nicht, dass Sie das noch nicht wissen.“
„Keiner weiß es“, flüstert sie verschwörerisch.
„Dann belassen wir es dabei, damit die Leute etwas zu reden haben“, necke ich sie.
„So interessant sind Sie nicht mehr, seit der Bäcker mit seiner Schwester für großes Trara sorgt.“
„Autsch.“
„Das ist die harte Realität einer Kleinstadt und für dieses Geheimnis vertrauen sie mir Ihres an, ja?“
„Äääähhhh, nein. Zuerst verraten Sie mir, welche Gerüchte darüber in Umlauf sind.“
„Die meisten vermuten, dass Sie ein reicher Erbe sind, der nicht mehr arbeiten muss.“ Fragend sieht sie mich an und ich schüttle den Kopf.
„Ich tippe auf Callboy, weil Sie spät nachts noch das Haus verlassen und manchmal so frivolen Damenbesuch haben.“
„Sie meinen Candy? Sie ist bloß eine Freundin, die mich besucht hat.“
„Die meine ich wohl, wenn es sich um die Frau handelt, die kein Geld für eine passende Hose oder ein entsprechendes Oberteil hat.“
„Wir sprechen bestimmt von Candy“, grinse ich bei dem Gedanken an meine Freundin. Sie ist ein bisschen eigen, was ihre Kleidung betrifft und böse Zungen behaupten, sie ist zu dick, um sich so anziehen zu können. Aber ihr Spitzname kommt nicht von ungefähr und solche Gehässigkeiten prallen einfach an ihr ab. Außerdem ist sie einer der liebsten und gutmütigsten Menschen, die ich je kennen gelernt habe.
„Manche glauben, Sie seien ein Geheimagent oder Detektiv.“
„Mitnichten.“
„Ich verspreche, dass ich es nicht herumplaudere“, sagt sie und sieht mich neugierig an. Skeptisch werfe ich ihr einen Blick zu und konzentriere mich auf die Straße.
„Ich bin Autor.“
„Autor? Nicht gerade spektakulär“, trägt Frau Geier ihr Herz wieder einmal auf der Zunge. „Kennt man etwas von Ihnen?“
„Wahrscheinlich nicht.“
„Aber Sie können davon leben?“
„Ganz gut, ja.“
„Was schreiben Sie?“
„Krimis, Liebesromane, Fantasy, alles Mögliche“, bleibe ich absichtlich vage. All diese Sachen habe ich tatsächlich veröffentlicht, aber eben noch mehr.
„Unter ihrem Namen? Wissen Sie, ich lese gerne Krimis. Mankell zum Beispiel.“
„Ich fürchte so gut bin ich nicht.“
„Das werde ich Ihnen sagen, wenn ich Ihr Buch gelesen habe. Unter welchem Namen schreiben Sie?“
„Unter meinem“, kann ich gelassen sagen, denn meine anderen Bücher wird sie so nicht finden. Vorerst.
„Sie müssen es mir signieren, bitte“, packt sie die Freude doch.
„Machen ich, aber zuerst der Einkauf“, weise ich auf das Schild des Baumarkts und setze den Blinker.
Zuerst beladen wir Frau Geiers Einkaufswagen, mit den Pflanzen ihrer Wahl, ehe sie mich feierlich ansieht und mir einen Zettel hinhält. Fragend sehe ich sie an, greife danach und staune nicht schlecht, als ich darauf Blicke. Frau Geier hat meinen Garten skizziert, nur mit weniger Gestrüpp und Unkraut, dafür mit einem Blumenmeer.
„Es ist nur ein Entwurf, damit Sie sich vorstellen können, wie alles aussehen könnte. Hätte ich gewusst, dass Sie eine derart große Vorstellungskraft besitzen hätte ich es mir erspart.“
„Das ist großartig, Frau Geier“, staune ich noch immer.
„Bloß schnell gekritzelt“, winkt Frau Geier ab. „Sehen Sie hier, da steigt das Gelände etwas an. Ein winziger Hügel, wenn sie so wollen, da würde ich ein paar Bodendecker pflanzen, um Ihnen den Aufwand des Mähens zu ersparen. Hier würden ein paar hohe Hecken passen, der alte Steinmeier ist sowieso ein ungemütlicher Zeitgenosse. Die Bäume würde ich lassen und darunter …“
Ich komme nicht mehr ganz mit, bei ihrer groben Skizze. Frau Geier hat bereits alles durchgeplant und verblüfft mich immer mehr. Ihr Auge für Farben und Größen ist sagenhaft, so als hätte sie es irgendwo gelernt.
„Haben Sie das beruflich gemacht?“, frage ich, als wir auf dem Weg zu den Stauden sind.
„Was?“
„Gärten angelegt.“
„Ach das, nein, nein. Das ist nur eine Leidenschaft. Ich habe eine Lehre zur Schneiderin gemacht und meinen Norbert geheiratet, da war es dann auch vorbei mit der Arbeit.“
„Hat es denn Spaß gemacht?“
„Spaß! Bei euch Jungen muss es immer um Spaß gehen, aber damals tat man einfach, was einem gesagt wurde. Ich kann froh sein, überhaupt einen Beruf erlernt zu haben. Und Norbert war ein guter Ehemann, ich hatte Glück mit ihm.“
„Das wiederum sucht man heute fast vergeblich.“
„Weil die meisten zu schnell aufgeben. Ihr denkt doch alle, dass eine Beziehung von alleine läuft, aber das ist harte Arbeit. Es bedeutet auch Verzicht und Demut. Natürlich darf ich nicht alle über einen Kamm scheren“, fügt sie freundlicherweise noch an.
„Sie dürfen mich gerne belehren“, lächle ich.
„Sie müssen zuerst eine Frau finden und das wird sich sehr schwierig gestalten, wenn Sie die meiste Zeit zu Hause sitzen.“
„Bei aller Zuneigung, Frau Geier. Ich will jetzt keine Frau finden, ich lebe für meinen Beruf, das wäre nicht fair.“
„Papperlapapp! Wenn Sie erst die Richtige treffen, wird Ihnen Ihr Beruf nicht mehr so wichtig sein und wenn sie die Richtige ist, dann wird sie Verständnis dafür haben.“
„So einfach ist das? Meine Erfahrung diesbezüglich ist eine andere.“
„Es war eben nicht die Richtige“, zwinkert sie und stoppt mich, um mir eine passende Staude zu zeigen. Vielmehr war es nicht der Richtige, aber wahrscheinlich werde ich das Frau Geier nie sagen müssen. Die Chancen hier einen Mann zu finden stehen tatsächlich schlecht und das liegt nicht alleine an mir. Wie wahrscheinlich ist es, hier den Einen zu finden? Einen Mann mit tollem Charakter, einem netten Körper und das ganze bitte in schwul. Ich bin sehr zuversichtlich, dass niemand hier erfährt, dass ich auf Männer stehe.
„Erzählen Sie mir von Ihrer Familie“, bittet Frau Geier, als wir in ihrem Garten sitzen und ihre Blumen in die Kästen pflanzen. Obwohl nur Frau Geier bequem sitzt, ich selbst knie im Gras und pflanze die Blütenpracht unter strenger Aufsicht.
„Beide Eltern leben noch, ich habe eine Schwester und einen Neffen und eine Nichte.“
„Oh welch entzückende Familiengeschichte“, sagt Frau Geier sarkastisch. „Beide Eltern tot, ein Ehemann, auch tot und drei Kinder, die völlig aus der Art schlagen.“
„Jetzt wissen wir doch das Wichtigste.“
„Ich weiß, dass Sie ihre Familie nicht besonders mögen.“
„Oder sie mich nicht“, drehe ich den Spieß um.
„Weshalb sollten sie? Sie sind ein ganz entzückender, junger Mann. Ich wünschte meine Söhne wären ein bisschen wie Sie, aber der eine lebt für seine Arbeit und der andere verbringt seine Tage lieber im Gasthaus und bei Huren.“
„Erfolg ist nichts Schlechtes und es gibt in jeder Familie ein schwarzes Schaf.“
„So wie Sie? Außerdem sollten Sie meine Söhne nicht verteidigen, wenn Sie sie nicht kennen. Ich liebe sie, aber gut gelungen sind sie mir nicht.“
„Vielleicht lerne ich sie mal kennen und wir reden dann weiter“, lächle ich und hoffe Frau Geiers Verhör hat damit ein Ende.
„Sie haben meine Frage nicht beantwortet.“
„Ja, ich bin das schwarze Schaf in meiner Familie“, gebe ich zu. Ist ja nichts dabei und kein großes Geheimnis.
„Was haben Sie getan?“
„Es hat wohl mehr damit zu tun, wie ich bin.“
„Das müssen Sie mir näher erklären, weil ich keinen offensichtlichen Makel erkennen kann, der sie zu einem schwarzen Schaf macht.“
„Sie mögen mich einfach nicht, was weiß ich warum“, bin ich ein bisschen pampig. Es schmerzt immer noch, wenn ich an das Zerwürfnis vor ein paar Jahren denke. Vorher hatte ich ein gutes Verhältnis zu meinen Eltern und meiner Schwester, bis ich mein Coming-out hatte.
„Es ist in Ordnung, wenn Sie es mir nicht erzählen wollen“, ist Frau Geier ungewohnt sanft und dankbar lächle ich.
„Wir geben schon ein gutes Gespann ab“, lacht sie dann und ich stimme mit ein. Gerade wünschte ich wirklich, ich könnte Frau Geier die Wahrheit sagen, aber ich fürchte, das wird wohl nie der Fall sein.
Das Wochenende muss ich ohne Frau Geier überstehen. Sie und ihre Damen haben ein Pokerturnier und die Herren der Schöpfung werden kurzerhand ausgeschlossen.
„Wir brauchen auch einmal Zeit für uns und ein Wochenende im Jahr, wird das wohl erlaubt sein“, tat sie entrüstet, als ich sie darauf ansprach. Natürlich bin ich sofort zurückgerudert und böse habe ich es bestimmt nicht gemeint.
Aber Frau Geiers Abwesenheit stellt mich vor ein ganz anderes Problem. Was fange ich mit meiner Zeit an? Ich könnte schreiben, aber ich habe nicht die geringste Lust dazu. Ruhelos streife ich durch mein Haus, räume ein bisschen auf und setze mich schließlich mit einem Kaffee auf die Terrasse. Mein Garten sieht schon viel besser aus, dank Frau Geiers Hilfe. Es juckt mich in den Fingern noch ein bisschen Hand anzulegen, aber ohne meine Nachbarin macht es bestimmt nur halb so viel Spaß.
Ich kippe meinen Kaffee hinunter, stelle die Tasse in die Spüle und stecke meine Geldbörse ein. Ein kleiner Spaziergang durch die Stadt ist jetzt vielleicht genau das Richtige und dabei kann ich noch ein paar Köstlichkeiten einkaufen.
Automatisch nehme ich die Straße, in der auch die alte/neue Bäckerei liegt. So kann ich mir auch gleich den Aushang ansehen und vielleicht habe ich Glück und man sieht schon eine Veränderung.
Aber Frau Geier hatte recht. Die Schaufenster sind verhängt, genau wie das Firmenschild, das über der Türe hängt. Der Aushang ist ein herkömmliches Stück Druckerpapier und mit schnörkeliger Handschrift wird die Neueröffnung angepriesen. Die Schrift lässt auf eine Frau als Verfasserin schließen und genau eine solche hat sich an mich herangepirscht.
„Hallo“, sage ich freundlich. Ich habe sie hier noch nie gesehen, aber möglicherweise gehört sie in die Familie eines Nachbarn.
„Hi“, lächelt sie. „Neugierig?“
„Berufskrankheit“, zucke ich mit den Schultern.
„Einem Journalisten könnte ich vielleicht die Türe öffnen. Für ein bisschen Werbung?“
„Ich muss Sie enttäuschen. Ich bin weder das Eine, noch kann ich etwas in diese Richtung für Sie tun.“
„Wir sind ungefähr gleich alt“, verdreht sie die Augen. „Ich bin Lilli, die Eigentümerin.“
„Kilian“, ergreife ich ihre Hand und bin von ihrem starken Händedrück überrascht. Hätte ich dem kleinen Persönchen gar nicht zugetraut.
„Und was treibt dich in diese Einöde, Kilian?“
„Die Ruhe“, seufze ich und wissend nickt sie.
„Ich habe‘ es in der Stadt auch nicht ausgehalten und als uns unser Onkel das Angebot gemacht hat, haben wir nicht lange überlegen müssen.“
„Dann ist an den Gerüchten doch was dran?“, bohre ich neugierig nach.
„Keine Ahnung, ich kenne sie nicht. Du könntest mir aber davon erzählen und als Gegenleistung darfst du mich nach drinnen begleiten.“
„Zu verlockend, um zu widerstehen“, grinse ich. Feierlich steckt Lilli den Schlüssel ins Schloss, sperrt auf und zwängt sich dann durch einen schmalen Spalt hinein. Mir hält sie die Tür nur ein winziges Stück weiter auf und es fühlt sich herrlich verboten an, einen Blick auf die Umbauten werfen zu dürfen.
Dafür verschlägt es mir die Sprache, als ich mich umsehe. Alles verändert und doch nicht. Die Holztäfelung ist verschwunden, stattdessen ziert die untere Hälfte der Wände jetzt ein warmes, zartes Gelb. Die alten Stühle und Tische sind neuen Polstermöbeln gewichen. Die Vitrinen sehen noch traurig leer aus, aber sie bieten viel Platz für Köstlichkeiten. Außerdem gibt es jetzt einen Kühlschrank, vermutlich für ein paar kühle Getränke.
„Was sagst du?“, fragt Lilli ungeduldig nach und sieht mich dabei erwartungsvoll an.
„Es ist großartig. Viel freundlicher und einladender, als vorher.“
„Warst du oft hier?“
„So gut wie jeden Tag“, grinse ich.
„Und das muss unbedingt wieder so werden. Setz dich, ich hol uns was zu trinken und dann erfüllst du deinen Teil der Abmachung.“ Schon verschwindet sie hinter einer modernen Vintage - Schwingtür. Die Sitzgruppen sind ähnlich wie früher angeordnet und ganz automatisch suche ich mir meinen Stammplatz aus. Gerade als ich mich setze, kommt Lilli mit zwei Flaschen Limonaden zurück.
„So, Kilian, leg los. Was wird sich über uns erzählt?“