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Ronnie hatte es während seiner Schulzeit nicht leicht als rothaariger, schlaksiger Freak. Schon gar nicht, als er seinem damaligen Schwarm Samuel seine Zuneigung gesteht.
Nun, nach über fünfzehn Jahren, stehen sich die beiden erneut gegenüber. Nur dieses Mal hat Ronnie die Trümpfe in der Hand.
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Mein Leben war großartig und dann kam der erste Schultag.
Sie nannten mich Pumuckl und ich heulte Rotz und Wasser. Meine Eltern spielten die Angelegenheit täglich herunter, sagten, ich müsse eben härter im Nehmen werden und in paar Wochen würden meine roten Haare niemanden mehr interessieren. Aber ich blieb Pumuckl, bis ich ans Gymnasium wechselte. Ich war mir sicher, dass ich es dieses Mal schaffen würde Ronnie zu sein. Ein netter, freundlicher Junge. Nicht der rothaarige, schlaksige, stille Waschlappen.
Sie nannten mich Rotkäppchen. Mit etwa dreizehn merkte ich, dass ich mich von Jungs angezogen fühlte. Hätte mich vielleicht schockiert, wäre ich nicht schon längst die Nullnummer mit den roten Haaren gewesen. Der Freak.
Ich ging mit dem Thema nicht hausieren, bei wem auch? Aber ich hielt es auch nicht für nötig, es zu verheimlichen. Mal ehrlich, wie viel schlimmer hätte es kommen können?
Rückblickend war ich viel zu naiv und dumm.
Meinem heimlichen Schwarm habe ich meine Empfindungen mitgeteilt und bezog das erste Mal Prügel. Ich nahm es genau so hin, wie den Spott, die weiteren Schläge und Anfeindungen. All die Wut, die Traurigkeit und Enttäuschung sperrte ich tief in mir ein. Vertraute mich niemanden an, nicht mal mir selbst. Ich verbot mir mich damit auseinander zu setzen, bis ich schließlich meine Pflichtschuljahre abschloss, vom Gymnasium abging, eine Lehre begann und mir einen Therapeuten suchte.
Es war hart alles noch einmal zu erleben, aber vor allem zu fühlen. Ich weinte viel, verzweifelte an manchen Tagen und war voller Zuversicht an anderen. Letzteres setzte sich durch. Meine berufliche Mentorin baute mich auf, wie es meine Mutter hätte tun müssen, lehrte mich, mit Menschen umzugehen und Dinge zu finden, die mir Spaß machten und ich begann zu tanzen. Standard, Latein und ziemlich schnell fand ich Anschluss. Traf Tänzer, die meinen Horizont erweiterten, mich annahmen und leiteten. Schlussendlich blieb ich beim Streetdance hängen und tanzte mir während meiner Lehrjahre die Seele aus dem Leib. Zumindest den geschundenen, verletzten Teil.
Ronnie
„Guten Morgen die Damen“, grüße ich, als ich beladen mit Kaffee in mein Büro schneie. Meine beiden Mitarbeiterinnen wünschen mir auch einen guten Morgen und vertiefen sich dann wieder gackernd in eine Akte. Frauen! Ich stelle einen Kaffeebecher auf meinem Schreibtisch, bringe die anderen beiden Sara und Elsa und linse dann selbst in die Mappe. Ein attraktiver junger Kerl schaut mir entgegen, ein angedeutetes Lächeln im Gesicht. Er kommt mir bekannt vor, aber ich kenne jede Menge Polizisten.
„Was sagst du?“, fragt mich Sara.
„Wer ist das?“ Irgendwie verursacht das Foto einen Tumult in meinen Eingeweiden und diesbezüglich lässt mich meine Intuition nie im Stich.
„Dieser Hingucker ist die neue Lehrkraft.“ Ich hebe das Foto an, damit ich die Unterlagen darunter durchsehen kann. Ich bin mir sicher, dass ich ihn kenne.
Samuel Kurz.
Für eine Sekunde setzt mein Herz aus und wummert dann gemächlich weiter. „Nicht so mein Typ“, murmle ich und gehe zu meinem Schreibtisch.
„Du hast keinen Typ“, erinnert mich Elsa unnötigerweise.
„Der ist es jedenfalls nicht“, zeige ich in Richtung der Akte und grinse süffisant. „An die Arbeit Hühner, es gibt noch jede Menge zu tun, bevor die uns morgen überrennen.“
Das neue Ausbildungsjahr für die angehenden Polizisten beginnt und erfahrungsgemäß wird es wieder sehr chaotisch. Man möchte meinen, dass Erwachsene es schaffen zu lesen, um sich zurecht zu finden, oder ihre sieben Sachen dabei haben, aber Fehlanzeige. Etwa einem Drittel der Schüler gelingt weder das eine, noch das andere. Ich frage mich jedes Jahr wieder, wie sie die schwere Aufnahmeprüfung überhaupt schaffen konnten. Aber die Spreu trennt sich recht schnell vom Weizen und der ein oder andere gibt frühzeitig auf.
„Guten Morgen Ladies, Bärchen“, kommt Herbert gut gelaunt ins Büro. Er unterrichtet im Bereich der angewandten Psychologie und ist mein absoluter Liebling unter den Lehrenden. „Schon aufgeregt wegen dem neuen Feschak, Mädels?“, führt er wie üblich zuerst ein Gespräch mit meinen Hühnern, die ihn mindestens ebenso vergöttern wie ich. Wir alle wissen, dass Herbert glücklich verheiratet ist und zwei halbwüchsige Kinder hat, also absolut tabu ist und trotzdem baden wir gerne in seiner Aufmerksamkeit. Er schafft es wie kein zweiter, einem das Gefühl zu geben, gerade in diesem Moment die wichtigste Person zu sein. Und dabei steht er nicht mal annähernd auf Männer. Straight, durch und durch, aber eine Hete der guten Sorte. Und ich bewundere ihn sehr dafür, der Kerl hat richtig Eier!
„Bärchen, wie stehts bei dir? Wär der was?“, richtet sich seine Aufmerksamkeit nun auf mich und lächelnd schüttle ich den Kopf, bevor ich aufstehe und mich an den Tresen stelle. Vergessen, das ungute Gefühl wegen dem Neuen. „Wie geht’s der Familie?“
„Sehr gut, auch wenn ich Clara manchmal erwürgen möchte. Die schleppt vielleicht Kerle an! Einer dümmer als der andere“, schnaubt Herbert. „Aber was war das für ein Ausdruck vorher auf deinem Gesicht?“
„Ich lächle, seit du hier bist. Wie immer.“
„Nein, als ich dich nach dem Feschak fragte.“ Grinsend ruckelt er mit den Augenbrauen und wartet auf eine Antwort. „Sag du es mir, Herbi, du hast ihn schließlich gesehen.“
„Auch wenn er noch so winzig war, das habe ich. Abscheu“, flüstert er leise genug, um meine Hühner auszuschließen.
„Verachtung höchstens“, senke ich meine Stimme ebenso.
„Nein, nein. Es war Abscheu, ich bin mir sicher. Außerdem hast du es schon wieder gemacht. Kennt ihr euch?“
„Nicht wissentlich. Aber du weißt ja, wie viele Schüler ich schon hier hatte.“ Skeptisch sieht Herbi mich an, lässt dann aber wieder von mir ab und wir kommen endlich zum Grund seines eigentlichen Besuches. Er holt den überarbeiteten Stundenplan ab. „Ich stell ihn euch vor, sobald ich mit ihm fertig bin“, verspricht uns Herbi lachend und die Hühner fallen mit ein. Nur mir bleibt es fast im Hals stecken. Klar werde ich mich mit Samuel Kurz unterhalten müssen, irgendwann. Eilig habe ich es bestimmt nicht und wahrscheinlich erinnert er sich an mich auch gar nicht. Ich hätte ihn umgekehrt ja auch beinahe nicht erkannt.
Der rege Betrieb zum Start des neuen Ausbildungsjahres hält mich ziemlich auf Trab. Rund fünfzig neue Schüler wollen begrüßt, herumgeführt und betüddelt werden. So viele wie schon lange nicht mehr. Die neugewählte Regierung hat beschlossen, dass die Polizeikräfte aufgestockt werden müssen. Gut für uns, aber selbst in schlechten Jahren, konnte ich nie über Arbeitsmangel klagen.
„Du siehst nicht aus wie ein Anwärter“, spricht mich ein Mädchen von der Seite an und rümpft kaum merklich die Nase. „Weißt du, das liegt daran, dass ich eine ruhige Kugel in meinem Büro schiebe, während sie dir den Arsch aufreißen“, lächle ich überfreundlich. Ich mag Arroganz nicht und vertreibe das Blondchen mit meinem Spruch. Jede Wette, dass sie die Ausbildung durchzieht. Sie hat den Ehrgeiz, leider auch die Ellbogentechnik, aber die wird ihr hier schon ausgetrieben. Polizist sein bedeutet auch, teamfähig zu sein. Nicht umsonst wird hier unterrichtet. Zum Glück für uns Zivilisten.
„Bärchen“, murmelt Herbi dann hinter mir und strahlend drehe ich mich um. „Darf ich dir unseren Neuen vorstellen? Samuel Kurz.“ Er hätte wenigstens warten können, bis ich nein sage und weglaufe, aber so ist Herbi nicht. Ihm gefallen Spannungen, er liebt es Menschen zu analysieren und immer wieder ihre Grenzen auszureizen. Gerade vergesse ich, warum ich ihn so gerne hab.
Trotzdem ergreife ich artig Samuels ausgestreckte Hand und schüttle sie, als Herbi mich vorstellt. „Ronnie leitet das Sekretariat und ist eine Institution in diesem Haus. Ohne ihn läuft gar nichts, oder Bärchen?“ Da hörst du es Samuel, ohne mich läuft nichts. Was denkst du, für wen man sich im Zweifelsfall entscheidet? „Freut mich“, antworte ich knapp und entziehe ihm meine Hand wieder. Sein nachdenklicher Blick entgeht mir nicht, aber Herbi lotst ihn dann auch schon weiter. Glück für mich und noch besser, dass ein Haufen Arbeit auf mich wartet.
„Er ist toll, oder?“
„Hast du diese Augen gesehen?“, gackern nachmittags meine Hühner und es fällt mir schwer, sie zu ignorieren. Selbst nach all der Zeit kann ich mich an die dunkelblauen Augen, mit den hellblauen Ringen um die Pupillen erinnern.
„Also mich hat ja eher sein Hintern interessiert.“ Die beiden hören einfach nicht auf. Wie soll ein Mann dabei arbeiten?
„Habt ihr nichts zu tun?“, blaffe ich und überrascht drehen sich ihre Köpfe zu mir. „Ich meins ernst, Hühner. An die Arbeit.“ Die beiden sehen sich schulterzuckend an und setzen sich wieder an ihre Schreibtische. Der Ton von gedrückten Tasten ist wesentlich nervenschonender, als das Getratsche. Leider wird er aber bald abgelöst von ihrem Flüstern und verhaltenem Kichern.
„Ladies, Bärchen.“ Herbi ist wie immer gut gelaunt und meine Rettung. Ich sehe lächelnd auf und kann mir nur schwer ein genervtes Stöhnen verkneifen. „Kannst du Sami ausrüsten?“
„Klar“, sage ich freudlos und Herbi grinst. „Wir sehen uns später, Bärchen. Und du bist bei ihm in den besten Händen. Ladies.“
„Er ist … großartig“, wendet sich Samuel an mich, aber ich kann nicht antworten. Bin wie versteinert, was angesichts meiner Wut auch besser ist. Herbi ist großartig, nur hat ihn nicht jeder in diesem Raum verdient. Statt mir, unterhalten die Mädels ihren neuen Lieblingslehrer und ich klemme mich hinter meinen PC. Stundenplan? Kann er haben. Einteilung der Klassen? Kein Problem. Egal was Samuel braucht, er bekommt es. Allerdings erlaube ich mir ein paar kleine Änderungen, zu meiner persönlichen Belustigung. Mal sehen, was er davon hält.
Ich warte drei geschlagene Tage, ehe Sami bei mir auftaucht. Kurz vor Feierabend. „Ronnie?“ Ich lasse ihn noch ein bisschen schmoren, klopfe sinnloses Zeug in die Tastatur und wende mich erst dann ihm zu. „Ja, bitte?“
„Irgendwas stimmt nicht mit dem Stundenplan.“
„Ach, tatsächlich?“, frage ich sarkastisch und Saras Kopf dreht sich interessiert zu uns. „Auf den ersten Blick fällt mir nichts auf.“
„Kleinigkeiten, kann ich einen Aktuellen kriegen?“
„Sicher“, lächle ich übertrieben freundlich und drucke ihm einen weiteren aus. Dieses Mal den richtigen, er hat ja noch andere falsche Unterlagen. „Danke“, sagt er und verschwindet.
„Du machst Fehler?“, hakt Sara grinsend nach.
„Nicht bei der Arbeit.“
„Wie gemein! Gib‘s zu, er gefällt dir und du willst ihn öfter hier haben.“
„So muss es sein“, gebe ich mich geheimnisvoll. Ich liebe meine Hühner, wirklich, aber sie müssen nicht alles wissen. Zumal eine Erklärung weit zurück in eine Zeit reicht, an die ich mich lieber nicht erinnere.
Drei Wochen lang genieße ich die Tortur meines Peinigers, der mit einer Engelsgeduld immer wieder neue und korrekte Arbeitsunterlagen einfordert. Es langweilt mich bereits und trotzdem kann ich nicht aufhören, will eine Reaktion erhalten, aber womit könnte ich ihm noch ein Bein stellen?
„Was halten Sie denn von dem Neuen?“, will mein Chef wissen, als ich ihm ein paar Unterlagen zum Unterschreiben bringe. Natürlich wäre es jetzt ziemlich einfach über Samuel herzuziehen, aber zu offensichtlich will ich es nicht tun.
„Wir haben nicht so viel miteinander zu tun, aber er scheint beliebt bei den Lehrenden und Schülern zu sein.“ Der Schulleiter brummt unbestimmt und blättert die Dokumente durch, ehe er seine Unterschriften platziert.
„Es gab einige Beschwerden“, fängt er dann an und sieht zu mir auf, während er den Stift zur Seite legt.
„Über uns?“
„Kurz“, schnaubt der Schulleiter ungeduldig und greift nach ein paar Zetteln. „Vergesslich, nicht richtig ausgestattet oder vorbereitet, um nur einige zu nennen.“
„Er ist neu und muss sich bestimmt noch einarbeiten.“
„Ihre Damen meinten, er wäre öfter bei Ihnen im Büro.“
„Öfter, als die älteren Kollegen, aber wie gesagt, er braucht wohl einfach ein bisschen Zeit, um sich einzuarbeiten.“
„Er wirkt zerstreut, finden Sie nicht?“
„Ich bin bestimmt nicht der Richtige, um ein Urteil abzugeben.“ Und schon habe ich meinen Chef im Sack. Hinterhältig und gemein, das weiß ich, aber in meinen Augen hat Kurz noch ganz andere Sachen verdient.
„Bedeutet Sie üben Nachsicht, aber kompetent erscheint er Ihnen nicht.“
„Nun ja, er ist manchmal ein bisschen unbeholfen. Aber er scheint den Schülern den Stoff gut zu vermitteln.“ Nachdenklich sieht mich mein Chef an, seufzt und reicht mir dann die Unterlagen zurück. Damit bin ich entlassen, aber ich weiß, dass ihm meine Zurückhaltung zu denken gegeben hat. Kurz wird seinen Job nicht verlieren, aber er wird sicher einen auf den Deckel kriegen. Vielleicht reizt mich das Spiel dann auch wieder mehr. Wenn ich schon keine Reaktion von ihm kriege, dann kann ich zumindest zusehen, wie auf ihn eingeprügelt wird. Die eigene Medizin ist verdammt bitter, Samuel Kurz.
Samuel
Eine Zurechtweisung! Dabei habe ich die gar nicht verdient. Es ist schließlich nicht meine Schuld, dass meine Unterlagen fehlerhaft sind. Gesagt habe ich aber auch nichts, denn in Ronnies Augen habe ich das wohl verdient. Von Anfang an war er mir bekannt vorgekommen, aber ich konnte ihn zuerst nicht zuordnen. Ich googelte ihn und stellte fest, dass ich es mit Rotkäppchen zu tun hatte. Wobei der Mann im Sekretariat nichts mehr mit dem hageren, schüchternen Jungen von früher gemein hat. Ganz im Gegenteil. Gerade beobachte ich Ronnie durch das Fenster im ersten Stock. Seit mehr als zehn Minuten stehe ich da und sehe dabei zu, wie er unten am Platz seine Runden dreht. Ich sollte wütend sein, über Ronnies kindisches Verhalten, stattdessen kann ich meinen Blick nicht abwenden. Seit ich weiß wer Ronnie ist, habe ich ihm seine Rache zugestanden, aber langsam muss es doch genug sein.
„Noch kein Feierabend?“, reißt mich Herbert aus den Gedanken und gesellt sich zu mir.
„Ich … ähm …“, hilflos zucke ich die Achseln und nicke kaum merklich zum Fenster hin. Herbert sieht hinunter auf den Sandplatz und lächelt verständnisvoll.
„Warum hat dich Ronnie so auf dem Kieker?“ Für einen Moment bin ich versucht den Ahnungslosen zu spielen, aber Herberts väterliche Art zwingt mich geradezu, ihm mein Herz auszuschütten. Und gerade kann ich einen Freund echt gut gebrauchen.
„Wir kennen uns aus der Schulzeit.“ Es erklärt nichts und doch alles. Zumindest nickt Herbert verstehend und sieht wieder aus dem Fenster.
„Ronnie hat davon erzählt. Zwar habe ich versucht ihn zur Vernunft zu bringen, aber der Stachel sitzt tief. Ihr habt ihm ganz schön zugesetzt.“ Ich nicke stumm. Mit Sicherheit war ich das größte Ekel von allen. Trotz all der Hänseleien hatte mir Ronnie irgendwann gesagt, dass er mich mochte. Schon damals hatte er mehr Eier, als wir alle zusammen. Trotzdem oder gerade deswegen habe ich die anderen angezettelt die Schwuchtel anzugehen, ihn fertig zu machen und ich war der Schlimmste. Habe ihn verprügelt, ihn klein gemacht, der kleinen Schwuchtel das gegeben, was er verdient hatte.
Ich schaudere bei der Erinnerung, die schon beinahe verblasst war. Ich war ein grausames Kind, ein furchtbarer Teenager. Erst sehr viel später wurde mein Weg steiniger und ich erahnte, was wir Ronnie angetan hatten.
„Du solltest mit ihm reden“, schlägt Herbert vor und ich nicke. Natürlich sollte ich das, aber was soll ich denn sagen? Mit einer Entschuldigung wäre das Thema bestimmt nicht erledigt und das sage ich auch Herbert.
„Aber es wäre ein Anfang. Er wird dich zappeln lassen, aber Ronnie ist eigentlich ein anständiger Kerl.“ Schnaubend lasse ich den Kopf hängen. Herberts Zuversicht hätte ich gerne. An Ronnies Stelle würde ich es mir auch verdammt schwer machen.
„Am besten, du bringst es gleich hinter dich.“
„Er hasst mich, vielleicht wäre es besser …“
Ronnie
Die wöchentliche Dosis Laufen bringt mich ins Gleichgewicht. Zuerst ein paar Runden auf dem Sandplatz und dann raus ins Gelände. Immer freitags nach Büroschluss führt mich mein Weg hierher. Die Anwärter sind fast alle weg und ich kann in Ruhe abschalten, den Kopf frei kriegen. Deshalb nehme ich die in sich zusammengesunkene Person zwar wahr, die sich mir mit unsicheren Schritten nähert, aber ich beachte sie gar nicht. Kein Interesse, jetzt schon zweimal nicht. Ich brauche Zeit um nachzudenken. Herbert hat mir ordentlich ins Gewissen geredet und auch wenn ich all seine Versuche mich zu beruhigen ins Leere habe laufen lassen, nagen seine Worte dennoch an mir.
Natürlich ist es kindisch mich Samuel gegenüber so zu verhalten, aber irgendwie kann ich nicht damit aufhören. Dabei bereitet es mir längst kein so großes Vergnügen mehr, wie zu Beginn. Im Gegenteil, ich empfinde es als mühsam, zeitraubend und absolut unbefriedigend. Und dennoch mache ich weiter. Ich will, dass er weiß, wie es ist, alle gegen einen zu haben. Wie es ist, wenn man am Boden liegt und nachgetreten wird. Er soll nicht büßen, er soll es spüren.
„Hey“, taucht er dann joggend neben mir auf. Abschätzig werfe ich ihm einen Blick zu und nicke kurz. Doch anstatt zu verschwinden, hält er mein Tempo und läuft mit mir.
„Ich war heute beim Schmidtke und kann ein bisschen Dampf ablassen gebrauchen.“ Ich murmle etwas Unverständliches und bete, dass er von selbst merkt, dass ich keine Gesellschaft will. Besonders seine nicht.
„Er hat mich ganz schön zusammengestaucht.“ Wieder antworte ich nicht und nur zu gerne würde ich Samuel mit einem zufriedenen Lächeln ansehen. Kann ich aber nicht. Ich weiß, dass es nicht richtig war, dem Chef falsche Tatsachen vorzuspiegeln.
Anstatt die nächste Runde anzugehen, biege ich Richtung Wald ab und hoffe damit auch Samuel hinter mir zu lassen, aber natürlich gibt der sture Bock nicht auf. Wäre ich nicht so außer Atem, würde ich ihn verscheuchen. Normalerweise laufe ich nicht so schnell, aber als normal würde ich diese Situation auch nicht bezeichnen. Begleitet von meiner Vergangenheit, meinem Peiniger, meinem Opfer. Zumindest hält er jetzt die Klappe.
Objektiv betrachtet könnten wir zwei Kumpels sein, die sich gemeinsam auspowern wollen. Die Natur, die Ruhe und die Gesellschaft des anderen genießen. Doch davon bin ich weit entfernt. Ich habe nichts über für die Schönheit der Landschaft, die mir sonst so viel Kraft spendet. Kann mich nicht an dem Reh auf dem Hügel erfreuen, dass uns vielleicht sogar beobachtet. Alles in mir schreit danach alleine zu sein. Zumindest ohne Samuel. Und keine Sekunde später geht er fluchend zu Boden. Ich laufe ein paar Schritte grinsend weiter, schnaube hörbar, lasse den Kopf hängen und trete den Rückweg an. Ich bin kein besonders gutes Arschloch. Ein anderer würde ihn auslachen und zurück lassen, aber was, wenn er tatsächlich verletzt ist?
„Alles okay?“, will ich wissen und gehe vor ihm in die Hocke. Er besieht sich sein aufgeschürftes Knie, entfernt ein paar Steinchen und sieht mich dann an. Diese verdammten blauen Augen verfehlen noch immer nicht ihre Wirkung, ob ich nun will oder nicht.
„Hey, … ähm … es tut mir leid.“ Er könnte den Unfall meinen, ich wünschte es wäre so, aber seine Stimme ist viel zu eindringlich, die Augen zu traurig.
„Kannst du aufstehen?“, übergehe ich seine Entschuldigung, die in mir sowohl Zufriedenheit als auch Wut auslöst. Er wird doch nicht glauben, dass es so leicht wäre?
Ächzend kommt er auf die Beine, versucht ein paar Schritte und nickt dann.
„Du findest den Weg zurück ja alleine.“