Americana - Don DeLillo - E-Book

Americana E-Book

Don DeLillo

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Der erste, bahnbrechende Roman von Don DeLillo Mit achtundzwanzig Jahren hat der gut aussehende David Bell bereits Karriere in einer New Yorker Fernsehproduktionsfirma gemacht. Alle Skandale und Intrigen hat er zu seinen Gunsten zu nutzen verstanden. Bell wechselt sowohl Prinzipien als auch die eigene Identität, wie es die jeweilige Situation erfordert, und schützt sich selbst mit seinem ausgeprägten Zynismus. Doch eines Tages wird ihm klar, dass ihm die Wirklichkeit immer weiter entrückt. Der Versuch, sie wieder »einzufangen« – mit einer Kamera in der Hand auf der Reise durch Amerikas Mittleren Westen, auf der Suche nach dem Herzen des Landes –, gerät zu einem Fiasko, das ihn gnadenlos an seine Grenzen führt.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 636

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Don DeLillo

Americana

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Matthias Müller

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Über Don DeLillo

Über dieses Buch

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

zur Kurzübersicht

Über Don DeLillo

Don DeLillo, 1936 geboren in New York, ist der Autor von 15 Romanen und drei Theaterstücken. Sein umfangreiches Werk wurde mit dem National Book Award, dem PEN/Faulkner Award for Fiction, dem Jerusalem Prize und der William Dean Howells Medal from the American Academy of Arts and Letters ausgezeichnet. 2015 erhielt Don DeLillo den National-Book-Award-Ehrenpreis für sein Lebenswerk.

Der Übersetzer

Matthias Müller, geb. 1950 in Bremen, studierte Japanologie in Wien und Berlin und lebt heute in den Niederlanden. Er übersetzt wissenschaftliche Texte, Literatur und Sachbücher sowie spezialisierte Texte im Bereich Musik. Zu den von ihm übersetzten Autoren gehören Breyten Breytenbach, John Barth, John Cheever, Don DeLillo und Garth Risk Hallberg.

zur Kurzübersicht

Über dieses Buch

Mit achtundzwanzig Jahren hat der gut aussehende David Bell bereits Karriere in einer New Yorker Fernsehproduktionsfirma gemacht. Alle Skandale und Intrigen hat er zu seinen Gunsten zu nutzen verstanden. Bell wechselt sowohl Prinzipien als auch die eigene Identität, wie es die jeweilige Situation erfordert, und schützt sich selbst mit seinem ausgeprägten Zynismus. Doch eines Tages wird ihm klar, dass ihm die Wirklichkeit immer weiter entrückt. Der Versuch, sie wieder »einzufangen« – mit einer Kamera in der Hand auf der Reise durch Amerikas Mittleren Westen, auf der Suche nach dem Herzen des Landes –, gerät zu einem Fiasko, das ihn gnadenlos an seine Grenzen führt.

Inhaltsverzeichnis

Widmung

Teil 1

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Teil 2

Kapitel 6

Teil 3

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Teil 4

Kapitel 12

Für Barbara Bennett

Teil 1

Kapitel 1

Dann ging wieder ein langweiliges und düsteres Jahr dem Ende zu. Jede Ladenfront war mit Lichterketten behängt. Kastanienverkäufer schoben ihre rauchenden Karren umher. Abends waren die Menschenmengen riesig, und der Verkehr schwoll zur brüllenden Springflut an. Die Weihnachtsmänner auf der Fifth Avenue schwenkten ihre kleinen Glöckchen mit einer seltsam traurigen, spitzfingrigen Vornehmheit, als streuten sie Salz auf ein übel verdorbenes Stück Fleisch. Aus allen Geschäften ertönte Musik, als Glockengeläut, Gesang und Hosiannas, und von den Kapellen der Heilsarmee ertönte die martialische Trompetenklage uralter christlicher Heerscharen. Es war seltsam, zu dieser Zeit und an diesem Ort solche Klänge zu hören, das klang nach Becken und Kesselpauken, ließ einen an Kinder denken, die für eine bodenlose Sünde gescholten wurden, und die Leute schienen sich auch daran zu stören. Aber die Mädchen waren wunderschön und ungerührt, wie sie da in jedem verrückten Laden einkauften, wie Majoretten durch diese magnetischen Zwielichter schritten, groß und rosa, bunte Päckchen an ihre zarten Brüste gedrückt. Und der Schäferhund des Blinden verschlief die ganze Show.

Schließlich kamen wir bei Quincy an. Seine Frau machte uns auf. Ich stellte ihr meine Freundin B.G. Haines vor und fing dann sofort an, die Leute im Raum zu zählen. Beim Zählen war ich mir verschwommen bewusst, dass ich mich mit Quincys Frau über Indien unterhielt. Es war eine Angewohnheit von mir, die Versammelten zu zählen. Die Frage, wie viele Personen an einem gegebenen Ort anwesend waren, erschien mir wichtig, vielleicht weil in den ständig wiederkehrenden Meldungen über Flugzeugabstürze und Militäraktionen immer die Zahl der Toten und Vermissten betont wird. Derartige Exaktheit ist ein Stromkitzel für das abgestumpfte Gehirn. Das Zweitwichtigste, was es herauszufinden galt, war der Grad der Feindseligkeit. Das war relativ einfach. Man brauchte dafür nur die Leute anzusehen, die einen ansahen, wenn man hereinkam. Ein langer Blick reichte gewöhnlich aus für eine einigermaßen brauchbare Einschätzung. Im Wohnzimmer befanden sich einunddreißig Personen. Etwa drei von vieren waren feindselig.

Quincys Frau und meine Freundin lächelten gegenseitig über ihre Peace-Ohrringe. Dann führte ich B.G. ins Zimmer. Wir warteten darauf, dass jemand auf uns zuginge und eine Unterhaltung begänne. Es war eine Party, und wir wollten nicht miteinander reden. Es ging vielmehr darum, sich für den Abend zu trennen und aufregende Leute zu finden, mit denen man reden konnte, und sich ganz am Schluss wieder zu treffen und sich einander zu erzählen, wie grässlich es gewesen sei und wie heilfroh man sei, wieder zusammen zu sein. Das ist der Inbegriff westlicher Zivilisation. Aber es war eigentlich egal, denn eine Stunde später langweilten wir uns alle. Es war eine von diesen Partys, die so langweilig sind, dass die Langeweile bald zum Hauptgesprächsthema wird. Man zieht von einer Gruppe zur andern und hört ein dutzendmal denselben Satz. »Das ist wie ein Film von Antonioni.« Aber die Gesichter waren nicht ganz so interessant.

Ich beschloss, ins Bad zu gehen und mich im Spiegel zu betrachten. An der Badezimmerwand hingen sechs gerahmte Graffiti. Die Wörter waren in großer fettgedruckter Schrift gesetzt, 6o Punkt, auf Hochglanzpapier. Damit sie authentischer wirkten, waren sie in einer handschriftlichen Type gesetzt. Drei der Graffiti waren blasphemisch und drei obszön. Die Rahmen sahen teuer aus. Ich bemerkte einige Schuppen auf meinen Schultern. Ich wollte sie gerade abbürsten, als ein Mädchen namens Pru Morrison hereinkam. Sie stammte irgendwo aus Bucks County und war gerade dabei, in den Wirbel der Großstadtmonotonie zu geraten. Sie stand mir gegenüber, den Körper gegen die geschlossene Tür gepresst. Sie war gerade mal achtzehn, und ich war sowohl zu alt als auch zu jung, um mich für sie zu interessieren. Trotzdem wollte ich nicht, dass sie das mit den Schuppen mitkriegte.

»Ich wollt mir mal die Hände waschen.«

»Wer ist die Bimbo-Tussi?«

»Pru, ich hab gehört, dass Peck und Peck diese Woche eine Sonderaktion Reitgerten haben. Lauf doch mal rüber und guck sie dir an.«

»Hab gar nicht gewusst, dass du mit Bimbo-Tussis ausgehst, David.«

Ich begann mir die Hände zu waschen. Pru setzte sich auf den Rand der Badewanne und drehte den Wasserhahn nur so weit auf, dass er tröpfelte. Ich fragte mich, ob das irgendwas Sexuelles suggerieren sollte. Manchmal war es schwierig, solche Dinge richtig einzuschätzen.

»Ich hab einen Brief von meinem Bruder gekriegt«, sagte sie. »Er bedient einen M-79-Mörser. Er ist in einer der schlimmsten Kampfzonen. Er schreibt, jeder Quadratzentimeter Boden wird hart umkämpft. Du solltest mal seine Briefe lesen, David. Die sind wirklich stark.«

Der Krieg lief jeden Abend im Fernsehen, aber wir gingen alle ins Kino. Bald sahen sich die Filme immer ähnlicher, und dann gingen wir in schummrige Zimmer und törnten uns an oder ab oder sahen zu, wie andere sich an- oder abtörnten, oder zündeten Räucherstäbchen an und hörten uns Tonbänder von Beinah-Stille an. Ich brachte meine 16-Millimeter-Kamera mit. Es war ein witziges Spielzeug, und alle waren begeistert.

»Er schreibt, man kann die Freundlichen nicht von den Feindseligen unterscheiden.«

»Wer?«, fragte ich.

»Ich kann dich nicht ausstehen, du Wichser«, sagte Pru.

»Wie ich von Quincy höre, hast du einen neuen Freund, Pru. Texas A. und M. Irgend so ein Jungkadett. Wie ich von Quincy höre, hast du ihn über eine computerisierte Partnervermittlung gefunden.«

»So ein dreckiger Lügner.«

»Dein eigener Cousin, Pru.«

»Du hast Schuppen«, sagte sie. »Ich kann sie auf deiner Jacke sehen. Schuppen!«

Quincy war in selten guter Form, erzählte eine Reihe von Witzen über polnische Hausmeister, schwarze Pastoren, Juden in Konzentrationslagern und italienische Frauen mit haarigen Beinen. Er traktierte sein Publikum mit Schocks und Beleidigungen und forderte die Leute zum Protest heraus. Natürlich lachten wir uns geradezu halb tot, bemüht, einander darin zu überbieten, wie fortschrittlich wir waren. Es sollte entkrampfend wirken. Wer von derartigen Witzen allgemein peinlich berührt war oder bei bestimmten, die die eigene Rasse oder Herkunft verunglimpften, empfindlich reagierte, war noch nicht reif, um in den Mainstream aufgenommen zu werden. B.G. Haines, ein professionelles Mannequin und eine der schönsten Frauen, die mir jemals begegnet war, schien Quincys Nummer Spaß zu machen. Sie war eine von insgesamt vier Schwarzen im Raum – und unter diesen die einzige Amerikanerin – und sie hielt es offenbar für ihre diplomatische Pflicht, am allerlautesten über Quincys gemeinste Farbigenwitze zu lachen. Sie lag vor lauter Lachen beinahe auf dem Boden, und ich war mir sicher, dass ich da auf dem Kamm eines jeden Lachens ein krampfhaftes, gebrochenes Schluchzen bemerkte. Ich nehme an, es fehlte ihr einfach noch etwas an Übung. Tatsächlich hatte sie schon den ganzen Abend lang jeden angelächelt, der sich ihr näherte, und mit ernstem Nicken auf alle gesellschaftlichen Erkenntnisse geantwortet, die von den im Raum anwesenden Gelehrten an sie gerichtet wurden. Es war verwirrend. Schließlich erinnerte ich sie daran, dass es an uns sei, sie höflich zu behandeln, und nicht umgekehrt. Dann schloss ich noch einen Kurzvortrag über ihre Verantwortung gegenüber den Angehörigen ihrer Hautfarbe an. Sie angelte sich ein vorbeischwebendes Horsd’œuvre und wurde wieder elegant.

Es war fast vorbei. Einige waren schon gegangen. Es war nur eine Cocktailparty, und kleine Gruppen formierten sich fürs Abendessen. In einer Ecke des Zimmers vollführte Quincys Frau eine modifizierte Cocktailversion ihres Karate-Striptease, wie wir es nannten, ein Tanz, den sie, wie sie sagte, auf ihrer Reise in den Orient gelernt hatte.

Demnächst würde ich B.G. fragen, wo sie essen wollte. Sie würde vorschlagen, dass ich das entscheide. Wir würden zu einem kleinen französischen Restaurant ganz drüben auf der West Side gehen, am Rand vom Niemandsland, wo der Wind kalt vom Fluss herüberweht und die niedrigen trostlosen Wohnblocks Verfall ausdünsten und wo zu dieser Jahreszeit eine Atmosphäre völliger Leere herrscht, als sei die Gegend auf der Flucht vor den Stiefeln des Krieges verlassen worden. Niemand außer zerrissenen Katzen und Kindern mit durchsichtigen Bäuchen könnten dort leben, und diese fernen Lichter, die da über dem Times Square knistern, gehören zu einer andern Stadt in einem anderen Zeitalter. B.G. würde Froschschenkel bestellen. Ich würde versuchen, sie damit zu beeindrucken, dass ich mit dem Kellner französisch spräche, mit der Wärme und Vertrautheit eines Helden der Résistance, der einen alten Kampfgefährten begrüßt. Der Kellner würde mich verachten, und B.G. würde meinen Bluff durchschauen. Mir würde nichts anderes übrig bleiben, als den Abend mit einer dieser Kettenraucher-Unterhaltungen über Tod, Jugend und Angst zu beenden. Da fiel mir ein, dass ich nicht mehr rauchte.

»Wo würdest du gerne essen gehen?«, sagte ich.

Aber sie hörte mich nicht. Sie redete mit einem Mann namens Carter Hemmings. Obwohl Carter dreißig Jahre alt war, oder zwei Jahre älter als ich, war er beim Sender einer meiner Untergebenen. Das Alter der Männer, mit denen ich arbeitete, war mir immer sehr bewusst. Wovor mir im Sender am meisten grauste, waren jüngere Männer, die auf Positionen rücken könnten, die höher als meine eigene wären. Es genügte nicht, der Beste zu sein; man musste auch der Jüngste sein. Meiner Sekretärin war es mittels sauberer Spionagearbeit gelungen, das Alter all jener Männer zu ermitteln, deren Kompetenzen mit meinen eigenen vergleichbar waren. Als sie mir erzählte, dass ich mit einem ganzen Jahr und drei Monaten Abstand der Jüngste war, führte ich sie ins Lutèce zum Essen aus und verschaffte ihr 15 Dollar Gehaltserhöhung. Carter Hemmings hatte Angst vor mir. Aus diesem Grund, und auch weil es die Jahreszeit für Feiertagsmilde, Straferlass und Waffenstillstand war, nahm ich davon Abstand, seine Unterhaltung mit B.G. zu unterbrechen. Stattdessen holte ich mir noch einen Drink. Es waren nur noch etwa ein Dutzend Leute übrig. Sullivan stand in ihrem Zigeuner-Trenchcoat gegen eine Wand gelehnt. Es war dumm von mir gewesen, sie einzuladen. Sie sah angespannt aus. Ihr gegenüber stand ein Pakistani, der bei der UNO arbeitete. In der einen Hand hielt er einen Drink und in der anderen einen Aschenbecher. Sullivan schien ihre Asche lieber auf den Boden zu schnipsen. Ich stand direkt hinter ihm und versuchte sie zum Lachen zu bringen, indem ich schweinische Fratzen schnitt. Sie schlüpfte mit dem rechten Fuß aus ihrem Schuh und stellte ihn dann mit exquisiter Nonchalance hinter sich gegen die Wand, sodass ihr Bein wie das eines Storchs unter dem Schleier ihres Trenchcoats verschwand. So blieb sie auf einem Bein, während unter ihr ein rätselhafter Schuh wie vertäut dalag. Ob absichtlich oder nicht, vermittelte Sullivan mir immer das Gefühl, ich sei nicht gut genug. Ich fühlte mich schrecklich zu ihr hingezogen.

»Weil ich Moslem bin«, sagte der Pakistani, »trinke ich keinen Alkohol. Und doch habe ich das Gefühl, dass ich in meiner Hand ein Glas halten muss, sonst werden mich die anderen zwangsläufig für ein allzu ernstes und unfehlbares Individuum halten. Wir Moslems haben sehr strenge Ansichten, was Alkohol, Kleidung und fleischliche Beziehungen betrifft. Vielleicht haben Sie diese Leute über und möchten in Ihre Wohnung zurückkehren. Darf ich Ihnen anbieten, Sie zu begleiten? Mein Plymouth Fury steht direkt gegenüber. Wo wohnen Sie?«

»In den Herzen der Männer«, sagte Sullivan.

Ich rückte gegen sie vor. Die Standuhr begann zu schlagen. Ich sah den Pakistani an und bewegte meine Lippen, ohne zu sprechen, um den Eindruck zu erwecken, dass meine Worte von der Uhr übertönt würden. Nach acht langen Schlägen war sie wieder still, und ich zupfte mir aus meinen Gedanken mitten im Satz irgendeinen sinnentleerten Reisebericht über die Schweiz heraus und setzte ihn laut fort. Er betrachtete sein Glas und dann den Aschenbecher, unschlüssig, welcher von beiden Gegenständen sich sicherer auf den anderen stellen ließe. Er befand sich auf unbekanntem Terrain, und er wollte mindestens eine Hand frei haben. Dann kam Quincy herüber und fing an, von einer neuen Mega-Droge zu erzählen, die er die Woche zuvor genommen hatte. Und die ganze Szene löste sich auf, bevor irgendeiner von uns dahinterkam, worum es eigentlich ging.

Ich ging auf die Terrasse. Autos fuhren durch den Central Park, tickende rote Bremslichter, die einander nach Norden und Westen, Richtung Dunkelheit und Fluss folgten, sich nähernde Scheinwerfer, dunkelgelb, die pfeifenden Türsteher. Das Licht der Parklaternen ein stumpfes, kaltes, beständiges Silber. Ich vertat mein Leben.

Alle nannten sie bei ihrem Nachnamen. Sie war Bildhauerin, siebenunddreißig Jahre alt, unverheiratet, eine große Frau, die durch ihre Art oder ihr Auftreten oder ihre bloße Anwesenheit einen Raum leicht zu verändern, ihn unsicher zu machen schien. Sullivans Gesicht und Körper hatten die Eigenschaft, einen zu endlosen Analogien zu inspirieren, und ich will versuchen, sie auf ein Minimum zu beschränken. So, wie sie auf Partys in einem schlichten weiten Kleid erschien, mit flachen Schuhen, ungeschminkt, die Haare lang, stumpf und ungekämmt, war sie der Typus Frau, der unweigerlich von einer kleinen Gruppe Wohlmeinender als seltsam, anders, eigenartig und bemerkenswert beschrieben wurde. Wenn Sullivan auf solchen Partys herumstand und sich von irgendeinem trostlosen Mann die rituellen Schrecken seines Lebens beschreiben ließ oder allein in einer Ecke saß und die geschwungene Taille einer Gitarre streichelte, hörte ich die Leute über ihre Herkunft spekulieren. Viele schienen sie für eine Indianerin zu halten. Andere tippten auf Katalonien, Polynesien oder das Tote Meer. Einmal hörte ich, wie eine Bewundererin Sullivans Gesicht als präkolumbianisch beschrieb. Für mich war sie einfach unscheinbar. (Die Rache musste da natürlich auch ihr Saure-Trauben-Süppchen kochen.) Ihre Hände waren lang, mit grimmigen Knöcheln. Ihre dunklen Augen schienen darauf trainiert, alles, was sich vor ihnen abspielte, mit unfrohem Blick zu betrachten. Die Nüstern ihrer schmalen Nase, einer Fechter-Nase irgendwie, hatten die Neigung, sich plötzlich zu blähen, als rieche sie aus einer alltäglichen Bemerkung Unheil heraus. Insgesamt war sie eine hagere, harte, knochige Frau. Männer sagten ihr immer, wie brennend gerne sie mit ihr schlafen würden.

Ich ging wieder rein. Quincys Frau saß jetzt auf dem Sofa und rührte ihren Drink mit einer Zahnbürste um. Pru Morrison war offenbar gegangen. Quincy fläzte sich mit zwei Frauen auf dem Boden vor dem Fernseher. Die beiden Frauen arbeiteten im Sender, ebenso wie Quincy. Eine der Frauen notierte sich, was er sagte, während er sich die Sendung ansah. Ich sah mich nach meiner Freundin um. Sullivan, immer noch auf einem Bein stehend wie ein Vogel, unterhielt sich mit einem Mann, der wie eine Nissenhütte aussah. Ich schwang meine Arme auf Schimpansenart und vollführte kleine, schwerfällige Hüpfer. Gleichzeitig schob ich die Zunge über die obere Zahnreihe und das Zahnfleisch, um die Stelle zwischen Nase und Oberlippe vorzustülpen. Ich beugte mich vor, bis meine Hände unterhalb der Knie baumelten. Sullivan blickte mich kurz an. Dann nahm der Mann ihr Glas und ging in die Küche. Ich richtete mich wieder auf und ging zu ihr hinüber.

»Was ist mit deinem Aschenbecher passiert?«

»Er musste ins Büro«, sagte sie. »Plötzliche Krise auf dem Subkontinent.«

»Ich sollte auch im Büro sein. Alle reißen sich um meinen Job. Da läuft ein richtiger Wettbewerb, wer jeweils am längsten im Büro bleibt. Ein Typ namens Reeves Chubb schläft dreimal die Woche in seinem Büro. Sein Schreibtisch ist voll mit schmutzigen Hemden. Zu Besprechungen gehen wir da erst rein, wenn seine Sekretärin Luftreiniger versprüht hat. Aber ich halte mich gut. Ich mach vielleicht sogar demnächst mal Urlaub.«

»Ski laufen? Mit lauter Nymphen in Titten-raus-Pullovern?«

»Ich weiß nicht«, sagte ich. »Ich möchte eher was Religiöseres machen. In der schreienden Nacht Amerika erforschen. So in der Art. Ying und Yang in Kansas. Diese Scene.«

»Vielleicht komm ich mit«, sagte Sullivan.

»Im Ernst?«

»So was würde ich gerne machen, David. Wirklich.«

»Ich muss in ein paar Monaten sowieso in den Westen, um einen Bericht über die Navajos zu drehen. Ich hab mir gedacht, ich nehm mir ein paar Wochen vorher Urlaub und fahr in der Zeit da raus.«

»Wir könnten Pike mitnehmen.«

»Klar«, sagte ich. »Er findet schon jemand, der seinen Laden solange übernimmt.«

»Wir lassen ihn die Route planen. Wir geben ihm einen Kampfauftrag. Das wird ihm gefallen.«

Ich fühlte mich gut. Es war eine gute Idee. Der Mann kam mit ihren Drinks wieder. Wir wurden einander vorgestellt, und dann ging ich B.G. Haines suchen. Das Bad war leer. Ich ging ins Schlafzimmer und überprüfte die Mäntel auf dem Bett. Ihr Mantel war nicht darunter. Ich sah im Schrank nach, und da hing er auch nicht. Dann ging ich in die Küche. Die war auch leer. Ich blieb eine Weile da stehen. Dann öffnete ich die Kühlschranktür und holte einen Eiswürfelbehälter aus dem Eisfach. Es waren noch vier Eiswürfel übrig. Ich räusperte mir Schleim aus dem Hals und spuckte einzeln auf jeden Eiswürfel. Dann schob ich den Behälter wieder ins Eisfach zurück und machte die Kühlschranktür zu.

Ich ging ins Wohnzimmer zurück. Sullivan unterhielt sich immer noch mit dem rundlichen grauen Mann. Ich musste immerzu auf diesen leeren Schuh starren.

Kapitel 2

Ich war ein äußerst gut aussehender junger Mann. Die Objektivität, die allmählich von der Zeit geformt, und die Selbstbeherrschung, die allmählich von ihr zersetzt wird, erlaubten mir, diese Feststellung zu treffen, ohne die üblichen bescheidenen Rückzieher, dass dies und jenes – wie in einem Zuchtbuch – doch der Verdienst der Eltern und Großeltern sei. Es wird wohl stimmen, dass ich von meiner Mutter die feine helle Haut und von meinem Vater die athletische Gestalt geerbt hatte, doch gibt das Familienalbum keinen Aufschluss über die Herkunft meines klassisch-griechischen Profils. Als ich achtundzwanzig war, war mir meine körperliche Identität sehr wichtig. Ich hatte fast das gleiche Verhältnis zu meinem Spiegel wie viele meiner Zeitgenossen zu ihren Psychotherapeuten. Wenn ich mich zu fragen anfing, wer ich sei, brauchte ich bloß mein Gesicht einzuseifen und mich zu rasieren. Es wurde alles so klar, so wunderbar. Ich war der blauäugige David Bell. Offensichtlich hing mein Leben von dieser Tatsache ab.

Ich war genau einen Meter achtundachtzig groß. Mein Gewicht schwankte zwischen 83,9 und 85,7. Trotz meiner hellen Haut wurde ich gewöhnlich schnell braun. Meine Haare waren blonder als jetzt, dichter und üppiger. Mein Taillenumfang war zweiunddreißig, mein Puls war normal. Ich hatte ein Wackelknie, doch meine Nase war noch nie gebrochen, meine Füße waren nicht hässlich, und ich hatte ein überdurchschnittlich gutes Gebiss. Mein Teint war hervorragend.

Meine Sekretärin erzählte mir einmal, sie habe zufällig gehört, wie Strobe Botway, einer meiner Vorgesetzten im Sender, mich als »konventionell« gut aussehend bezeichnet hätte. Wir haben herzlich darüber gelacht. Strobe war ein kleines, kaum menschenähnliches Wesen und hatte die Angewohnheit, beim Rauchen seine Zigarette langsam zwischen Daumen, Zeige- und Mittelfinger zu drehen, wie Bogart in einem seiner frühen Filme. Strobe hasste mich, weil ich größer und jünger als er war und etwas weniger extraterrestrisch. Oft sprach er vom Bogart-Nimbus, wobei er eine germanisch angehauchte philosophische Terminologie verwendete, die keiner verstand, und er versaute viele Partys, indem er lange Passagen aus obskuren Bogart-Filmen zitierte. Er hatte auch Lieblings-Charakterdarsteller, Männer, deren Namen niemand mit einem Gesicht verbinden konnte, Männer, die sieben Filme hintereinander Gefängniswärter spielten, die immerzu japanische MG-Nester mit einer Granate in jeder Hand angriffen, die Säufer waren, psychotische Mörder, korrupte Anwälte oder Testpiloten, die die Nerven verloren hatten. Strobe schien die körperlichen Mängel von Menschen zu bewundern, ihr Lispeln, ihre Narben, ihre angeschlagenen Zähne. Seiner Auffassung nach ergaben sie zusammengenommen das, was er unter Persönlichkeit verstand, eine gewisse zweifelhafte Anziehungskraft. Seine Welt war nicht die meine. Ich bewunderte Humphrey Bogart, aber er machte mich nervös. Seine Stirn störte mich. Es war die Stirn eines Mannes, der Schulden hat. Meine eigenen Instinkte führten mich zu Kirk Douglas und Burt Lancaster. Das waren die amerikanischen Pyramiden, und sie brauchten keinen Untergrund, um ihren Ruhm zu verbreiten. Sie waren monumental. Ihre Gesichter fetzten über die Leinwand. Wenn sie lachten oder weinten, dann hemmungslos. Ihr Chromlächeln war nie mehrdeutig. Und sie hatten selten Zeit, sich hinzusetzen und geistreich-zynische Bemerkungen mit irgendwelchen rassigen Gesellschaftsweibern oder einem beschränkten Bullen auszutauschen. Sie waren Männer der Tat, die mit ganzer Hingabe rannten, sprangen und liebten. Als Teenager sah ich Burt in Verdammt in alle Ewigkeit. Er stand über Deborah Kerr an diesem Strand in Hawaii, und zum ersten Mal in meinem Leben spürte ich die wahre Macht des Bildes. Burt war wie eine Stadt, in der wir alle leben. So groß war er. Im Zusammenfließen von Schatten und Zeit gab es Platz genug für uns alle, und ich wusste, ich musste mich ausdehnen, bis sich die Moleküle teilten und ich mich mit dem Bild verband. Burt im Mondlicht war ein Crescendo männlicher Vollkommenheit, aber deswegen nicht weniger menschlich. Burt lebt! Ich trage dieses Bild bis zum heutigen Tag in mir, und ich bin überzeugt, Millionen andere, Männer und Frauen, tun es ebenso, jeder aus seinem eigenen Grund. Burt im Mondlicht. Das war ein Konzept, das war die Ikone einer neuen Religion. In dieser Nacht, als ich nach dem Kino im Auto meines Vaters über die Landstraßen fuhr, fragte ich mich, wie wirklich die Landschaft und wie sehr ein Traum ein Traum sei.

Strobe starb mitten in einer Besprechung. Er erlitt einen Herzschlag an seinem Schreibtisch. Er ist konventionell tot. Aber es hätte ihn gefreut zu wissen, dass seine Reaktion auf meine körperlichen Eigenschaften von anderen im Sender geteilt wurde. Verborgene Energien erfüllten die Luft, geheime, kleine Strömungen, wie in jedem Unternehmen, das in der Hitze des Bildes gedeiht. Es gab einen Kult des Unansehnlichen und Schlauen. Es gab Punkte für Rücksichtslosigkeit. Es gab Vendettas gegen die Gutaussehenden. Man versuchte, Kategorien zu meiden und so ihre Formulierer zu verwirren. Denn weder gut aussehend noch unattraktiv zu sein, weder rücksichtslos noch schlau, bedeutete, von den Faden als Held empfunden zu werden, von den Brillanten und Hübschen als netter Kerl, von den Schlauen als Nichts, von den militant Unattraktiven als Homosexueller, von den Rücksichtslosen als begabter junger Mann, von den gefährlichen Neurotikern als Bedrohung, von den Entfremdeten und dem Untergang Geweihten als enger und treuer Freund. Ich hielt mich, so gut es ging, bedeckt. Ich schlich mich unauffällig an den Wänden entlang und die Treppenhäuser hinauf und hinunter. Ein kleiner Zwischenfall bestätigte den Wert dieser Taktik. Es geschah eines Tages, nach dem Mittagessen, als ich zufällig die Madison Avenue Schritt für Schritt gemeinsam mit Tom Maples überquerte, einem jungen Mann, der etwa zur gleichen Zeit wie ich beim Sender angefangen hatte. Wir tauschten die üblichen vorsichtigen Scherze aus. Als wir den Bürgersteig erreichten, bat mich eine wunderschöne Teenagerin mit rosa Wimpern um mein Autogramm. »Ich weiß nicht, wer Sie sind«, sagte sie, »aber Sie müssen bestimmt jemand sein.« Ihr Lächeln war ziemlich gewinnend, und ich signierte munter ihren Faltplan des Subway-Netzes, in der Meinung, Maples würde das komisch finden. Er ging mir die nächsten sechs Monate aus dem Weg. Danach bemühte ich mich, über die Maßen demütig und zurückhaltend zu sein. Ich fand, das sei wesentlich für das Wohl anderer.

Es ist jetzt wieder an der Zeit, den Film abzuspielen. Ich meine das ganz wörtlich, denn ich besitze einen Film, der in jenen Jahren gemacht wurde, und auch viele Bänder. Auf einer so abgelegenen Insel wie dieser gibt es nicht viel zu tun, und ich kann eine ganze Menge Zeit totschlagen (oder eher umverteilen), indem ich mir die Tonspur anhöre und noch mal einen Blick auf Teile des Bildmaterials werfe.

 

Ich ging den Gang entlang zu meinem Büro. Meine Sekretärin saß an ihrem Schreibtisch, damit beschäftigt, einen Jelly-Donut zu essen und einen Brief zu schreiben. Sie hieß Binky Lister. Sie war ein fröhliches Mädchen, ein paar Pfund Übergewicht, aber in netter Form. Sie hatte gerade ein Verhältnis mit meinem unmittelbaren Vorgesetzten, Weede Denney, blieb aber weiterhin eine vertrauenswürdige Sekretärin, das hieß, dass sie für mich log und mich vorbehaltlos gegen alle Anschuldigungen verteidigte, die von den Sekretärinnen der Männer, die mich fürchteten und hassten, gegen mich erhoben wurden. Sie folgte mir ins Büro.

»Du sollst um zehn zu einer Besprechung mit Mr. Denney.«

»Worum geht’s?«

»Er erzählt mir auch nicht alles, Himmelarsch.«

»Ruhig Blut, Binky. Das war nur so ’ne Frage.«

Sie stand da und legte linkisch den einen Fuß über den anderen, eine Art nicht-mimisches Schmollen. Ich setzte mich an meinen riesigen Schreibtisch und stellte mir vor, ich sei nackt. Dann schob ich den Sessel etwas zurück und begann mich in einem gebieterischen 180-Grad-Bogen hin und her zu drehen und mein Reich zu betrachten. Die Wände waren mit Vergrößerungen von Standfotos aus Filmprojekten bedeckt, die ich geschrieben und koordiniert hatte. Mein Bücherschrank war voll mit gebundenen Drehbüchern. In zwei Ecken des Zimmers standen Pflanzen und auf dem Beistelltisch lagen zwölf ordentlich arrangierte Medienzeitschriften. Die Aschenbecher waren alle von Jensen. Ich hatte ein schwarzes Ledersofa und eine gelbe Tür. Weede Denneys Sofa war hellrot, und er hatte eine schwarze Tür.

»Was noch?«, sagte ich.

»Eine Frau hat angerufen. Sie hat ihren Namen nicht genannt, aber ich soll dir ausrichten, die Froschschenkel hätten nicht so gut geschmeckt wie sonst.«

»Mein Leben«, sagte ich, »besteht aus einer Reihe von Telefonbotschaften, die keiner versteht außer mir. Jede Frau, die ich kennenlerne, meint, sie wäre so was wie das Delphische Orakel. Mein Telefon klingelt um drei Uhr morgens, und es ist jemand, der auf irgendeinem Flughafen festsitzt und mich anruft, um zu sagen, dass die Tier-Cracker aus dem Zoo ausgebrochen sind. Neulich hab ich von einem Mädchen von der West Coast ein Telegramm – ein Schizogramm – gekriegt, auf dem nur stand: MEINE MANDELN WAREN AUF EINER BEERDIGUNG. Schickst du manchmal auch solche Mitteilungen, Bink? Mein Leben ist ein Telex von Interpol.«

»Wenn das alles so nervig ist, warum hast du dann gelächelt, als ich dir das mit den Froschschenkeln gesagt hab?«

»Es war eine gute Nachricht«, sagte ich.

Ich ging zu Weedes Büro. Er saß in seinem umgestylten Friseurstuhl. Als Schreibtisch benutzte er einen niedrigen, runden Couchtisch aus Teak. Auf der anderen Seite des Raums war seine Drei-Bildschirm-Farbfernseh-Konsole. Der Friseurstuhl, eine Exzentrizität, die jemandem in Weedes Position gestattet wurde, hatte mich nicht sonderlich gestört, aber der Couchtisch war etwas beängstigend, er schien zu implizieren, dass mein monströser Schreibtisch eigentlich überflüssig war. Weede war ein Meister der Bürokunst, spezialisiert auf die Taktik der Reaktion. Einige Zeit nachdem ich beim Sender angefangen hatte, beschloss ein Untergebener von Weede namens Rob Claven, sein Büro mit genau vierzehn von seiner Frau gemalten Gemälden zu dekorieren. Es war ein ziemlich grauenhafter Anblick. Weede sagte kein Wort. Aber eine Woche später gingen einige von uns, einschließlich Rob Claven, zu einer Besprechung in Weedes Büro. Der Anblick erschreckte uns. Alle Gemälde und die alten Stiche mit Segelschiffen waren verschwunden, und an ihrer Stelle war eine einzige Zwanzig-mal-dreißig-Zentimeter-Reproduktion eines Details aus der Sixtinischen Kapelle aufgehängt worden. Die fast kahlen Wände waren Rob Clavens Todesurteil. Der Michelangelo war das Fallbeil.

Mit einem Nicken befreite Weede mich endlich aus der Tür und wies mir den blauen Stuhl zu. Er tat dies mit einer Hand- oder Blickbewegung, die so nah am Rande des gerade noch Wahrnehmbaren war, dass ich noch im Hinsetzen mir nicht erklären konnte, woher ich eigentlich wusste, dass ich mich in den blauen Sessel setzen sollte. Reeves Chubb war schon da und rauchte eine seiner Menthol-Zigarren. Weede erzählte uns eine Anekdote, bei der es um Golf und Ehebruch ging. Im Laufe von einigen Minuten kamen noch fünf weitere Personen herein, einschließlich einer Frau, Isabel Mayer, und die Besprechung begann.

Ich sah aus dem Fenster. An einem Gebäude, das auf der anderen Straßenseite hochgezogen wurde, arbeiteten Männer mit gelben Helmen. Sie schlängelten sich zwischen seinen hohlen Knochen hindurch, spritzten Acetylen und turnten über wacklige Bretter. Seltsamerweise schienen sie sich nicht mit besonderer Vorsicht zu bewegen. Vielleicht hatten sie sich mit der Angst, abzustürzen, abgefunden. Wahrscheinlich hatten sie schon andere herunterfallen sehen und diese Tode verachtet, wegen der Erleichterung, die auf den Schock folgte, einer Erleichterung, die mit dem Wind gestiegen sein muss, von Stockwerk zu Stockwerk, die rohen, dürren Schäfte des Gebäudes hinauf. Was konnte man denn anderes tun, als schnell in eine dunkle Bar gehen und drei brennende Whisky trinken? Auf einer Ebene hockten zwei Männer und nieteten, und ein anderer, eine Ebene drüber, sprang von Brett zu Brett, die Arme leicht ausgestreckt, die Hände in Hüfthöhe. Mitten im Sprung, in einem bestimmten Winkel zur offenen Seite des Gebäudes, hatte er den Himmel hinter sich, ein sattes, frühes Blau, und einen scheinbar unmöglichen Moment lang waren sie von Stahlträgern gerahmt, Mann und Himmel. Ich konnte die Nieten und den Springer sehen, aber sie konnten einander nicht sehen. Ich sah lange zu und versuchte gleichzeitig, die Bürostimmen zu ordnen, damit sie irgendeinen Sinn ergaben. Dann kam noch ein Mann hinter einem Stahlträger hervor, ein großer Mann, dessen Hose nicht ganz bis zum Rand seiner Arbeitsstiefel reichte. Er blieb einen Augenblick lang bewegungslos stehen, die Hand gegen die Sonne an den Helmrand haltend. Er schien zu uns herüberzusehen. Dann hob er die Hand über den Kopf und fing an zu winken. Er sah mich direkt an und winkte mir zu. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Die kühlen Stimmen klickten, wägten ab, einigten sich, zerstörten, bedrängten. Ich fand, man müsse ihm Beachtung schenken. Warum, weiß ich nicht, aber ich fand, es müsse sein. Es war absolut unerlässlich; es musste ein Zeichen gegeben werden.

»Seht mal«, sagte ich. »Seht mal den Mann da drüben. Er winkt uns zu.«

»Seht mal«, sagte Isabel. »Er winkt. Der Bauarbeiter da. Siehst du ihn, Weede?«

Dann sprangen wir alle auf, alle acht, drängelten uns vor dem Fenster herum und winkten ihm zurück. Es war berauschend. Alle winkten wir und lachten. Weede rief: »Wir sehen dich! Wir sehen dich!« Wir schubsten uns gegenseitig weg, um mehr Platz zu bekommen. Isabel versuchte auf die breite Heizungskonsole unterm Fenster zu klettern. Ich half ihr hoch, und sie kniete da und winkte jetzt mit beiden Händen. Der Himmel war wolkenlos. Wir lachten jetzt völlig unkontrolliert.

Wir beendeten die Besprechung in bester Laune. Weede schlug vor, wir sollten alle gemeinsam mittagessen gehen. Reeves Chubb entschuldigte sich mit der Begründung, dass er noch so viel Arbeit zu erledigen habe, und ich wusste, früher oder später würde Weede ihn diese kleine Schönfärberei büßen lassen. Wir gingen in den Gut Bucket, eine postmoderne Spelunke mit Spucknäpfen und Sägemehl, wo man für einen Hamburger $4.50 bezahlte. Sie war voller Leute vom Sender, Schauspieler und Mannequins. An der Wand hingen Hunderte von Fotos von George Raft. Wir setzten uns an einen runden Eichentisch. Volle drei Minuten lang sagte keiner ein einziges Wort. Dann kam der Kellner und nahm unsere Bestellungen auf.

In der anderen Ecke saß ein sehr gut aussehendes Paar beim Trinken. Ihre Beine berührten sich unterm Tisch. Ich schaute das Mädchen an, im Versuch, ihren Blick zu erhaschen. Ich wollte von ihr nur ein kurzes Lächeln, nicht mehr. Ich hätte mich sehr darüber gefreut. Ich hatte gerade eine Energie in mir, die auf diese bescheidene Weise freigesetzt werden wollte. Vom Nachmittag dieses Mannes ein kleines Lächeln stibitzen. Ich hortete derartige Ego-Augenblicke, erinnerte mich an jeden einzelnen. Das Nicken. Das hübsche Lächeln. Der tiefe Blick über die Spitze der Zigarette hinweg. Mehr wäre schon zu viel gewesen. Ich wollte niemandem wehtun.

»Gute Besprechung«, sagte Weede. »Sind wir uns da einig?«

Bevor wir mit unserem zweiten Drink fertig waren, brachte der Kellner das Essen. In dem Laden wimmelte es von tollen Frauen. Weede erzählte uns von seiner Fotosafari in Kenya. Er und seine Frau Kitty hatten im Herbst einen Monat dort verbracht. Er sagte, wir müssten irgendwann mal alle zu ihm kommen und uns die Dias angucken. Im Sender sprachen die Leute ständig vage Einladungen aus. Irgendjemand, den du seit Monaten nicht gesehen hast, stand dann plötzlich in deiner Tür, eine seraphische Erscheinung über deinem Morgenkaffee. »Treffen wir uns mal zum Mittagessen«, sagte er, und weg war er. Oder einer deiner Vorgesetzten, dem du zufällig in der Herrentoilette begegnet bist, hob sein eingeseiftes Gesicht aus dem Waschbecken, blickte mit zusammengekniffenen Augen in deine Richtung und murmelte: »Wann kommen Sie denn mal zum Abendessen vorbei? Ginny (Billie, Ellie, Sandy) und ich würden uns freuen.« Wirkliche Einladungen wurden gewöhnlich heimlich übermittelt, entweder in vertraulichen Mitteilungen oder hinter verschlossenen Türen.

Bevor der Nachtisch kam, entschuldigte sich Weede und verließ uns in einer Atmosphäre unbeugsamen Schweigens. Wir wussten alle, wo er hinging – zum Penn-Mar Hotel in der Ninth Avenue, wo Binky schon auf ihn wartete. Sie trafen sich jeden Donnerstag für eine Stunde oder so. Als er weg war, bestellte Isabel noch einen Brandy, und wir schlossen uns an. Sie war eine kleine, breiige Frau um die fünfundvierzig. Vier Monate zuvor, auf einer Party an Bord eines Schleppers, der ständig die Freiheitsstatue umkreiste, hatte sie überall herumerzählt, dass sie eins ihrer Schamhaare in Mastoff Panofskys Whisky-Soda versenkt habe. Alle hatten Angst vor ihr. Dafür gab es keinen logischen Grund. Bei ihrem Job ging es, vage definiert, um Mode-Koordinierung, und es gab niemanden im gesamten Sender, mit dem sie konkurrierte. Doch wir alle unternahmen die beschämendsten Anstrengungen, ihr unsere Freundschaft und Loyalität unter Beweis zu stellen. Möglicherweise lag das daran, dass wir bei ihr eine gefährliche katzenhafte Perversität witterten. Konkurrentin oder nicht, schien sie eine Frau zu sein, die jederzeit angreifen konnte, ohne jegliche Rücksicht auf unseren Bürokampfkodex. Jetzt fing sie an, uns von den Graffiti in den Damentoiletten verschiedener Restaurants in der Stadt zu erzählen. Nach jedem Zitat haute sie auf den Tisch. Die Brandys kamen, und wir sprachen über das Winterprogramm, alle darin einig, dass es erstklassig war. Ein sehr großes Mädchen in Röhrenhosen ging durch den Raum. Die Beine schienen direkt mit den Schultern verbunden. Dann kam Reeves Chubb herein. Er sah uns und winkte. Er ließ sich auf den leer gewordenen Stuhl fallen, mit einem Stoßseufzer der Erleichterung, der eines historischen Augenblicks würdig gewesen wäre, als hätte er sich monatelang durch den Regenwald geschlagen, um uns, das verschollene Bataillon, endlich wiederzufinden.

»Habe ich Weede verpasst?«, sagte er. »Verdammt, ich hab ihn wohl verpasst. Dachte, ich komm noch schnell zu einem Quickie vorbei, bevor ich mir diese China-Geschichte vorknöpfe. Was trinkt ihr denn alle ? Hab gerade gehört, dass Phelps gefeuert werden soll. Er weiß noch nichts davon, also nichts sagen. Wahrscheinlich warten sie damit bis Neujahr. Paul Joyner glaubt, er ist als Nächster dran. Seine Tür war den ganzen Morgen über zu. Hallie hat gesagt, er hat jeden angerufen, den er seit der Highschool kennt. Aber er erzählt schon seit acht Jahren, dass er als Nächster dran ist. Wahrscheinlich denkt er, es passiert nicht, wenn er’s ständig sagt. Umgekehrt den Teufel an die Wand malen. Seit den letzten paar Wochen ist hier echt die Hölle los. Diesen Monat war ich jedes Wochenende im Büro. Wenn das nicht bald aufhört, will meine Kindsbraut wieder heim zu Mama, sagt sie. Habt ihr gehört, dass MBO für die Strategiekoordination matrix-segmentiert? Auf dem Weg nach unten bin ich Jones Perkins über den Weg gelaufen. Er hat gesagt, Warburton hat irgend so ’ne seltene, tödliche Blutgeschichte. Ich würd ja liebend gerne in Aspen Urlaub machen, aber ich weiß wirklich nicht, wie ich das deichseln kann. Aber meine Sekretärin fährt hin. Halbe geht im Frühjahr wieder nach Europa. Habt ihr gehört, was sich Merrill geleistet hat, dieser Esel? Da fällt mir ein, Blaisdell hat mir erzählt, er hat letztes Wochenende Chandler Bates’ Frau in San Juan gesehen. Hängt mit irgend so ’nem schleimigen Tauchertypen im El Convento rum. Isabel, das sind ja atemberaubende Handschuhe. Wenn ich nicht bald Urlaub mache, seht ihr nur noch ’n Häufchen Asche, wenn ihr in mein Büro kommt. Was trinkt ihr denn da alle?«

Wir gingen ins Büro zurück. Am frühen Nachmittag ging es immer ruhig zu, alles rekelte sich in einer tropischen Siesta, als würde das gesamte Gebäude in einer wundersamen Hängematte schaukeln, doch dann ließ die dämpfende Wirkung von Essen und Trinken nach, und uns fiel wieder ein, warum wir da waren – um zu summen und zu klingeln, und jeder beugte sich wieder über seine Maschine. Doch diese Zeit, diese eine Stunde oder so, bevor es uns wieder einfiel, hatte etwas Wunderbares. Das war die Zeit, wo man auf seinem Sofa saß statt an seinem Schreibtisch und seine Sekretärin ins Büro rief und sich leise über nichts Besonderes unterhielt – Filme, Bücher, Wassersport, Reisen, gar nichts. In diesen Augenblicken herrschte eine Art Liebe zwischen uns wie die Liebe einer Familie, die so viele vertraute Momente miteinander erlebt hat, dass es unmenschlich wäre, nicht zu lieben. Und selbst das Büro wirkte dann wie ein ganz besonderer Ort, sogar in seinem blassen, gelben, verzweifelten Licht, das so sehr an die Farbe alter Zeitungen erinnerte; da war dieser Glaube, dass wir hier in Sicherheit waren, emotional gesehen, dass wir uns auf vertrautem Terrain bewegten. Wer eine Seele hatte, die wiederum das Bedürfnis nach Wurzeln und Jahreszeiten verspürte, das Bedürfnis, in vertrauten Dingen Trost zu finden, konnte nicht zweitausend Vormittage lang zwischen diesen Schreibtischen herumlaufen und die Schreibmaschinensalven hören, ohne zu der Überzeugung zu gelangen, dass er sich hier in Sicherheit befand. Wir wussten, wo die Rechtsabteilung war und wie man ein Päckchen ohne Verzögerung durch den Packraum kriegte und zu wem wir wegen unserer Steuerabzüge gehen mussten und was zu tun war, wenn der Trinkwasserbehälter leckte. Wir wussten all die Dinge, die wir nicht gewusst hätten, wenn wir plötzlich in irgendein anderes Büro in irgendeinem anderen Gebäude irgendwo auf der Welt gesteckt worden wären. Und was, verglichen damit, wussten wir zum Beispiel über unsere Frauen, und wie sicher waren wir uns, was sie betraf? Und während dieser Zeit, bevor uns einfiel, warum wir da waren, strahlte das Büro ein Gefühl von Zugehörigkeit aus, und so saßen wir am frühen Nachmittag leicht schwankend da, in dem sicheren Wissen, dass wir gerade wieder aufs Mutterschiff zurückgekehrt waren.

Im Flur klingelte ein Telefon. Niemand machte sich die Mühe, ranzugehen. Dann fing ein anderes an zu klingeln. Ich ging langsam in meinem Büro herum und streckte mich dabei. Ich versuchte mich zu erinnern, ob Burt oder Kirk in einem Bürofilm mitgespielt hatten, in einer dieser langweiligen Moralgeschichten über Machtspiele und verschämte Ehebrüche. Ich bemerkte ein Memo auf meinem Schreibtisch. An der Kürze der Mitteilung merkte ich sofort, dass es ein weiteres jener seltsamen Memos war, die seit über einem Jahr immer wieder in unregelmäßigen Abständen auftauchten. Ich nahm es und las es.

An: Tech Einh B

Von: Hl. Augustinus

 

Und nie kann ein Mensch schrecklicher im Tod sein, als wenn der Tod selbst todlos ist.

Niemand wusste, wer diese Memos schickte. Es waren Nachforschungen angestellt worden, Leute befragt worden, aber ohne Erfolg. Derjenige, der sie schickte, musste zwei Schwierigkeiten überwinden. Er musste, ohne entdeckt zu werden, in den Kopierraum reinkommen und genügend Kopien für unsere gesamte Unterabteilung machen. Und er musste die Memos Stück für Stück auf jeden Schreibtisch und in jedes Büro in unserem Bereich verteilen. Die Bediensteten in der Kopierabteilung wurden von jeglichem Verdacht entlastet, ebenfalls sämtliche Boten. Niemand hatte je gesehen, wie diese Memos abgegeben wurden. Sie waren einfach plötzlich da, entweder am Vormittag oder am frühen Nachmittag. Dieses war das erste des heiligen Augustinus. Auf früheren Memos hatten Mitteilungen von Zwingli, Lévi-Strauss, Rilke, Tschechow, Tillich, William Blake, Charles Olson und einem Kiowa-Häuptling namens Satanta gestanden. Natürlich wurde der Verantwortliche für diese Mitteilungen in der Firma »der verrückte Memoschreiber« genannt. Ich nannte ihn nie so, weil der Name viel zu naheliegend war. Ich nannte ihn Trotzki. Es gab keinen besonderen Grund, ihn gerade Trotzki zu nennen. Es schien einfach irgendwie zu passen. Ich fragte mich, ob es jemand war, den ich kannte. Nach allgemeiner Ansicht war er wohl ein kleiner, grotesker Mann, der in seinem Leben viele Enttäuschungen erlebt hatte, der die unüberblickbare, unpersönliche Struktur des Senders verabscheute und der in unserer Speditionsabteilung beschäftigt war, der traditionellen Fundgrube von Sexsündern, Mutanten und Vegetariern. Es hieß, er sei höchstwahrscheinlich ein Ausländer, der in einem Mietshaus in Red Hook wohnte, seine Nächte damit verbrachte, eine achtbändige kleingedruckte Abhandlung über die Psychologie des Abnormen zu lesen, und der seinem Krämer erzählte, er sei drüben Talmud-Gelehrter gewesen. Dies war die allgemeine Meinung, und vielleicht war sogar was dran. Ich aber fand es befriedigender, zu glauben, dass Trotzki einer unserer obersten Chefs war. Er verdiente achtzigtausend Dollar im Jahr und klaute Büroklammern aus dem Büro.

Ich setzte mich an meinen Schreibtisch und zog mit einem Kugelschreiber die Umrisse meiner linken Hand auf einem leeren Notizblatt nach. Dann rief ich bei Sullivan an, sie meldete sich aber nicht. Ich ging wieder ein bisschen im Büro herum und warf einen Blick hinaus in den Flur. Viele der Mädchen waren wieder bei der Arbeit, deckten ihre Schreibmaschinen ab und verstauten schmutzige Tempos in den untersten Schubladen ihrer Schreibtische, wo sie neben alten Liebesbriefen, Flickenpuppen und pornografischen Büchern lagern würden, die ihre Chefs ihnen geschenkt hatten, im Geiste des neuen Liberalismus und um zu sehen, ob irgendwas passieren würde. Ich machte die Tür wieder zu. Dann machte ich meinen Hosenstall auf und holte meinen Schwanz raus. Ich ging so eine Weile im Büro herum. Es war ein gutes Gefühl. Ich verstaute ihn wieder und legte dann Trotzkis Memo in der Aktenmappe ab, die auch alle seine übrigen Werke enthielt neben einigen Gedichten, die ich hin und wieder im Büro geschrieben hatte, und einigen Schizogrammen von Frauen, die ich kannte. (GRÜSSE VON DER SCHÖNEN KÜSTE NEBRASKAS.) Ich machte die Tür auf. Binky saß an ihrem Schreibtisch. Sie nahm ein Sandwich und einen Papierbehälter aus einer weißen Tüte. Das Sandwich sah, als sie es auspackte, feucht und knatschig aus. Dieser Augenblick hatte etwas sehr Anrührendes.

»Willkommen zurück im großen Kandiszuckerberg.«

»Hallo«, sagte sie. »Zwei geschlagene Stunden hab ich in diesem verdammten Saks zugebracht, ohne auch nur eine einzige Sache zu kaufen. Und jetzt esse ich gleich ein Coca-Cola-Sandwich. Fröhliche Weihnachten.«

»Trotzki hat wieder zugeschlagen.«

»Ich hab’s gesehen«, sagte sie. »Ich glaub ja immer noch, dass du’s bist.«

Sie wusste, dass mir das schmeichelte. Sie sagte oft Dinge, die mir guttun sollten. Ich wusste nie, warum. Binky war in vielerlei Hinsicht wie eine gute Freundin zu mir, und ich hatte mich immer gefragt, was passieren würde, wenn ich versuchte, unsere Beziehung zu verkomplizieren, wie es damals hieß. Als wir einmal im Büro Spätschicht arbeiten mussten, zog sie sich während des Diktats die Schuhe aus. Der Anblick einer Frau, die sich die Schuhe auszieht, hat mich schon immer erregt, und ich küsste sie. Das war alles, ein Kuss zwischen zwei Absätzen, aber vielleicht war es nicht bloß Zärtlichkeit, die mich dazu verleitet hatte, noch der Wunsch, die Verbindlichkeit unseres Verhältnisses infrage zu stellen. Vielleicht war es einfach nur wieder einer meiner Ego-Momente. Erst wenige Tage zuvor hatte ich von der Sache mit Binky und Weede erfahren.

»Komm mit rein«, sagte ich.

Sie brachte ihr Mittagessen mit, und wir setzten uns auf das Sofa.

»Phelps Lawrence ist gerade rausgeschmissen worden«, sagte sie.

»Ich weiß schon.«

»Es geht das Gerücht, dass Joyner als Nächster dran ist.«

»Das hat Joyner selber in die Welt gesetzt«, sagte ich. »Das gehört zu seiner Überlebensstrategie. Wenn er nicht aufpasst, geht der Schuss irgendwann mal nach hinten los.«

»Jody meint, das ist der Anfang einer Säuberung. Es hat eine Flut von vertraulichen Memos gegeben. Sie meint, Stennis wird vielleicht zurücktreten müssen. Aber behalt’s für dich. Ich musste ihr versprechen, kein Sterbenswörtchen zu erzählen.«

»Ich hab schon die ganzen geschlossenen Türen bemerkt. Manchmal habe ich den Eindruck, sie machen ihre Türen nur deswegen zu, um uns Angst einzujagen. Jeder weiß, dass verschlossene Türen Geheimberatungen bedeuten, und Geheimberatungen bedeuten Ärger. Aber vielleicht gucken die sich da drinnen ja alle nur Gitarrenfernunterricht auf Kanal 31 an.«

»Grover Palmer lässt sich scheiden«, sagte Binky.

Plötzlich merkte ich, dass ich mir seit dem Mittagessen die Zähne noch nicht geputzt hatte. Ich hatte in meinem Büro etwas Zahnpasta und eine Zahnbürste und putzte mir immer die Zähne, wenn ich beim Mittagessen ein paar Drinks getrunken hatte. Nach dem Mittagessen war der Waschraum der Herrentoilette immer voller Männer, die sich die Zähne putzten und mit Mundwasser gurgelten. Zu gewissen Zeiten hatte ich das Gefühl, wir existierten alle nur auf Video beim Sender. Auf beunruhigende Weise schienen unsere Worte und Handlungen etwas bereits Vergangenes an sich zu haben. All diese Dinge hatten wir schon vorher gesagt und getan, und sie waren eine Zeit lang eingefroren worden, zusammengerollt auf kleinen Labortabletts, um dereinst gesendet und in Wiederholung gesendet zu werden, wenn die entsprechenden Sendezeiten frei wurden. Hinzu kam das Gefühl, jemand könnte mit seinem tödlichen kleinen Finger den falschen Knopf berühren, und wir alle würden ein für alle Mal gelöscht. Diese Augenblicke im Waschraum, wenn ein Dutzend Männer an ihren Zähnen herumsäbelten, waren vielleicht die allerschlimmsten. Wir schienen nicht mehr als elektronische Signale zu sein und uns mit dem Gestotter und dem vagen Wahnsinn einer Fernsehwerbung durch Zeit und Raum zu bewegen.

»Was tut sich bei deinem Navajo-Projekt?«, sagte Binky.

»Quincy blockiert ständig den Betrieb. Ich werde mit Weede sprechen und sehen, ob ich alleine dran arbeiten kann. Aber niemandem erzählen.«

»David«, sagte sie.

»Was?«

»Kann sein, dass sie ›Selbstgespräch‹ absetzen.«

»Bist du sicher?«

»Derjenige, der’s mir gesagt hat, hat mir erzählt, dass der blöde Sponsor nicht an einer Verlängerung interessiert ist.«

»Wieso nicht?«

»Das hat derjenige nicht gesagt.«

»Gibt’s ja immer noch die Navajos«, meinte ich.

»David, meiner Meinung nach ist das die dritt- oder viertbeste Show im Fernsehen.«

»Selbstgespräch« war eine Serie, die ich ganz alleine ausgearbeitet hatte. Es war die erste große Sache, die ich gemacht hatte, seit meinem Eintritt in Weedes Team – eine kleine, experimentelle Eliteeinheit, die zu dem Zweck gebildet wurde, neue Konzepte und Techniken zu entwickeln. Beim übrigen Sender verabscheute man uns wegen unserer relativen Handlungsfreiheit und wegen der Industriepreise, die wir für unsere Kriegsberichterstattung gewonnen hatten, die unabhängig von der Nachrichtenabteilung gemacht wurde. »Selbstgespräch« hatte nichts gewonnen. Jede Sendung bestand ganz einfach darin, dass sich eine Person für eine Stunde vor die Kamera stellte und ihre Lebensgeschichte erzählte. Ich wollte Binky fragen, was Weede sonst noch über die Serie gesagt hatte. Aber das wäre nicht fair gewesen. Sie hatte schon genug riskiert mit dem, was sie mir gesagt hatte. Gerade in diesem Moment kam Weede an meinem Büro vorbei, mit schnellen Bewegungen, gesenktem Kopf und den Körper vorgebeugt, als ginge er auf Skiern. Donnerstags nachmittags kam er immer mindestens eine halbe Stunde nach Binky ins Büro zurück. Dieses Manöver war natürlich ein Versuch, Verdacht zu vermeiden. Mir gefiel die Vorstellung, dass er in dieser halben Stunde fünfmal um den Block ging oder im Foyer in einer Telefonzelle stand und tat, als würde er mit jemandem sprechen, wobei er über der Muschel die Lippen bewegte, vielleicht sogar wirklich sprach und ein ganz normales geschäftsmäßiges Gespräch mit dem Freizeichen führte. Er ging dann immer sehr schnell an meinem Büro vorbei und versuchte für den Rest des Tages, mir aus dem Weg zu gehen. Er muss außergewöhnlich komplexe Schuldgefühle gehabt haben. Ich glaube, an diesen Donnerstagen hatte er Angst vor mir. Doch am Freitagmorgen ging er auf die Suche nach mir, Rauch und Rache speiend, als wäre ich verantwortlich für seine Schuldgefühle.

Binky ging zu ihrem Schreibtisch zurück. Ich lockerte meine Krawatte und krempelte mir die Ärmel hoch. Ich hatte es geschafft, mir vorzumachen, ich könnte anderen vormachen, dass einer, der derart unordentlich war, in einer so konsequent properen Atmosphäre doch sicher das Letzte aus sich herausholte. Das Telefon klingelte. Es war Wendy Judd, eine Frau, die während der College-Zeit meine Freundin gewesen war. Sie lebte jetzt in New York, nachdem sie ein Jahr lang auf Reisen gewesen war, gleich nach der Scheidung von ihrem Mann, einem der Top-Produktionsleute bei Paramount oder Metro.

»Ich sterbe, David.«

»Du darfst das nicht verallgemeinern, Wendy.«

»New York ist brutal. Hör mal, bevor ich’s vergesse, kannst du morgen Abend zu einer Dinnerparty kommen? Komm allein. Du bist der Einzige, der mich retten kann.«

»Du weißt doch, dass ich freitags abends immer mit den Kumpels kegeln gehe, Wendy.«

»David, bitte. Mir ist nicht nach Späßen zumute.«

»Unser Team heißt ›Die Dampfwalzen‹. Wir spielen morgen gegen die ›Silber-Jets‹ um den Ligatitel. Der Sieger kriegt einen Pokal. Auf der Seite ist ein Relief mit einem nackten griechischen Kegel-As.«

»Komm früh«, sagte sie. »Du kannst mir beim Salatwenden helfen. Dabei können wir über die alten Zeiten reden.«

»Es gibt keine alten Zeiten, Wendy. Die Bänder wurden aus Versehen vernichtet.«

»Gegen acht«, sagte sie und legte auf.

Draußen hämmerten die Mädchen auf ihre kleinen ovalen Tasten ein.

Ich machte einen Spaziergang. Alle waren beschäftigt. Alle Telefone schienen gleichzeitig zu klingeln. Manche Mädchen führten beim Tippen Selbstgespräche und murmelten Scheiße, wenn sie einen Fehler machten. Ich ging zur Materialabteilung. Die Schränke hatten die gleiche Farbe wie Truppen im Feld. Halbe Lewin war dort, über eine der unteren Schubladen gebeugt. Es gibt keinen sexuell erregenderen Ort auf der Welt als ein großes Bürohaus. Es ist wie die Wunschvorstellung von einem raffinierten Frauenlabyrinth: Hinter jeder Ecke, jedem Büroabteil, ob man das Treppenhaus hoch- oder runtergeht, überall stößt man auf geradezu lüsterne Tableaus. Da stehen, sitzen, knien, hocken überall Frauen in Stellungen, die dazu bestimmt scheinen, einem die Sprache zu verschlagen. Es ist wie der Traum von einem lustvollen Garten, wo jeder Baum eine milchweiße Nymphe birgt. Hallie sah mich und lächelte.

»Ich hab gehört, sie haben Reeves Chubb abgesägt«, sagte ich.

»Tatsächlich? Hatte keine Ahnung, dass er Ärger hat.«

»Behalt’s für dich.«

»Natürlich.«

»Hallie, du hast den süßesten Hintern, den ich je gesehen habe.«

»Oh, vielen Dank.«

»Kein Wort über Reeves, klar?«

»Versprochen«, sagte sie.

Ich ging in Richtung von Weede Denneys Büro. Unterwegs sah ich Dickie Slater, den fünfundsechzig Jahre alten Boten, hinter Jody Moores Schreibtisch stehen und sich zwischen den Beinen reiben. Als er mich sah, grinste er, von Mann zu Mann, und rieb weiter. Jody telefonierte gerade und sprach aus irgendeinem Grund portugiesisch. Ich ging um eine Ecke und sah James T. Rice mit Höchstgeschwindigkeit einen Gang entlangrennen. Ich hatte keine Ahnung, was ich Weede sagen wollte. Ich war verärgert, dass meine Serie gekippt werden sollte, und deshalb giftig gestimmt. In ähnlichen Situationen reagierte ich gewöhnlich so wie ein Kind nach einer Enttäuschung oder einem Tadel, mit dem Talent des Kindes für kleinliche Vergeltungsaktionen. Ich erzählte bizarre und sinnlose Lügen. Ich machte meine Schreibmaschine kaputt. Ich stahl Sachen aus dem Büro. Ich verfasste giftschlangenböse Memos an meine Untergebenen. Als einmal eine meiner Ideen von einem hochgestellten Vize-Direktor namens Livingstone kritisiert worden war, ging ich in mein Büro zurück, schnäuzte mir mehrmals die Nase und schlich mich am gleichen Abend zu Livingstones Büro hoch, wo ich das dreckige Taschentuch in die oberste Schublade seines Schreibtisches legte.

Weede stand tief in Gedanken versunken in seinem Büro und strich sich mit einer Hand abwesend über die Glatze. Er sah mich prüfend an.

»Kann jetzt nicht mit dir sprechen, Dave. Hier laufen die Drähte heiß. Wir sehen uns gleich morgen früh.«

Auf dem Weg zurück zu meinem Büro blieb ich bei Binkys Schreibtisch stehen, um mit ihr noch ein bisschen zu plaudern, aber sie sah beschäftigt aus. Ich ging rein und wählte noch mal Sullivans Nummer. Sie war da.

»Utah«, sagte ich.

»Hallo, David.«

»Montana, Wyoming, Nevada, Arizona.«

»Ich hab dich gestern nicht gehen sehen. Du hast mich diesem Haufen klagender Nekrophiler überlassen.«

»Steamboat Springs, die Sawtooth Mountains, Big Timber, Aztec, Durango, Spanish Fork, Monument Valley.«

»Ich höre Amerika singen«, sagte sie, aber nicht so, als sei es ihr ernst.

»Ich kenne einen Typ mit einem Wohnmobil. Er lebt irgendwo in Maine. Wir könnten ihn abholen und dann alle zusammen in seinem Wohnmobil gen Westen losziehen.«

»Sag mir einfach eine Stunde vorher Bescheid.«

»In der violetten Morgendämmerung durch New Mexico brettern.«

»Ich hab eine Verabredung. Bin schon spät dran«, sagte Sullivan.

Ich versuchte, etwas Arbeit zu erledigen. Es war jetzt dunkel, und ich ging ans Fenster. Auf der Höhe, in der wir uns befanden, nach Süden blickend, sah ich die gestapelten Lichter sich fast über die gesamte Länge von Manhattan erstrecken und dieses zarte Gitterrostgewebe in den Straßen. Ich öffnete das Fenster ein kleines Stückchen. Die ganze Stadt brüllte. Im Winter, wenn die Dunkelheit immer früher kommt, als man erwartet, und alle diese Lichter allmählich durch den schalen Dunst stechen, verwandelt sich New York in eine gigantische Hochzeitstorte. Man betritt den summenden Aufzug und fällt in nur zehn Sekunden eine Achtelmeile in die Tiefe. Vom Druckabfall sirren einem die Ohren. Es ist ein beinahe erschreckend unpersönlicher Vorgang, und doch scheint etwas in dieser Art nötig, um einen von dem Bild zu dem überzuführen, was tatsächlich auf dieser zierlichen Gabel aufgespießt ist.

Ich schlenderte zu Carter Hemmings Büro rüber. Er saß an seinem Schreibtisch und roch gerade an seinen Nikotinfingern. Als er mich sah, versuchte er, die aufwallende Panik zu neutralisieren, indem er absurderweise aufstand und die Arme weit ausbreitete, ein argentinischer Rinderbaron, der einen Generalissimo in seiner Villa begrüßte.

»Hey, Dave«, sagte er. »Was tut sich so, Kumpel?«

»Soviel ich weiß, ist Mars Tyler gefeuert worden«, sagte ich.

»Echt wahr? Echt wahr? Mannomann.«

»Da ist eine große Säuberung im Gange. Die Karren poltern schon durch die Straßen.«

»Setz dich«, sagte er. »Ich sag Penny, sie soll uns Kaffee bestellen.«

»Kann leider keine Zeit erübrigen, Carter. Alle Kanäle voll. Wie kommt das Laserstrahl-Projekt voran? Die machen allmählich Druck.«

»Ich versuche, es so weit in Form zu bringen, dass man damit arbeiten kann, Dave.«

»Hast du dich mit B.G. gut amüsiert, gestern Abend?«

»Hab nicht gewusst, dass du sie kennst, Dave.«

»Oberflächlich«, sagte ich.

»Wunderschönes Mädchen. Aber wir sind eigentlich nicht so richtig warm geworden. Abendessen. Dann hab ich sie nach Hause gebracht.«

»Weede hat heute Mittag über dich geredet. Ein sonderbarer Mensch, dieser Weede. Neigt manchmal dazu, vorschnell zu urteilen. Kann dir nur raten, dich schleunigst hinter diese Laserstrahlsache zu klemmen. Ich komme morgen früh gleich mal vorbei, um mir die Sache anzusehen. Weede fängt morgen auch früh an. Wir fangen morgen alle schon sehr früh an. Schönen Abend noch, Carter. Und schönen Gruß an deine Frau.«

»Dave, ich bin nicht verheiratet.«

Ich ging in mein Büro zurück. Binky war gerade drin und versuchte, meine Akten zu ordnen. Es war fast Zeit zu gehen. Ich zog meine Krawatte fest und knöpfte mir die Manschetten zu. Im Flur läuteten alle Telefone. Ich fragte mich, wer Trotzki war.

Kapitel 3

Die Leute lehnten sich in den Verkehr hinein, auf der Jagd nach Taxis. Tausende von Männern eilten zum Grand Central, bewegten sich in gebrochenen Schritten, wichen aus, marschierten lange Gänge entlang, die sich in Kammern entleerten, die warmen Züge erwarteten sie, lange Dunkelheit, Druckerschwärze an jedem Finger, der Kampf gegen den Schlaf. Ich ging vom Büro gern zu Fuß nach Hause, weil ich mir dann tugendhaft vorkam.

Die Menschenmengen verringerten sich erst, als ich südlich der Forty-Second Street war, und der Verkehr war auf der ganzen Strecke schlimm. Unterhalb der Forty-Second Street konnten die Leute ihr eigenes Tempo wählen, und doch wirkten die Gesichter hier grau und vom Schicksal gezeichnet, die Körper verstohlen im Gekrakel ihrer Mäntel, und da kam mir der Gedanke, dass in dieser Stadt das Individuum vielleicht die Menge brauchte; ohne sie hatte es nichts, woran es seine Wut reiben konnte, kein Echo für seinen Kummer und nicht den geringsten Beweis, dass es andere gab, die noch einsamer waren. Es war nur so ein Gedanke. Ich kam nach Hause, schaltete den Fernseher an, zog mich aus und ging unter die Dusche.

Ich wohnte damals in einem Apartment am Gramercy Park. Meine Exfrau wohnte im selben Gebäude. Das Arrangement war gar nicht so sonderbar, wie es vielleicht klingt – es war nicht einmal ein Arrangement. Während wir verheiratet waren, hatten wir in einer größeren Wohnung auf der anderen Seite des Parks gewohnt. Ich erfuhr von einem Freund, dass gegenüber etwas frei war, und es schien mir vernünftig, dorthin zu ziehen, da meine Frau mich gerade verlassen hatte und ich keine so große Wohnung mehr brauchte und es keinen Sinn mehr hatte, die höhere Miete zu zahlen. Meine Exfrau wohnte eine Zeit lang im Village, nahm Ballettunterricht, besuchte Kurse in der New School, Unterweisung in makrobiotischer Ernährung. Sie trat auch einem Filmklub bei und begann eine Psychotherapie. Eines Abends lud sie mich zum Essen ein und erzählte mir schließlich beim Kaffee, dass ihr neues Leben nicht so gut laufe. Die Aktivitäten seien nicht sonderlich fesselnd, und ihre Herrenfreundschaften schienen über nichts Wichtigeres reden zu können als über ihre Saisonkarten für Hockey-Spiele, Football-Spiele und die Philharmonie. Sie vermisse den Gramercy Park, sagte sie; er sei eine der letzten zivilisierten Stellen in einer sich stetig verdunkelnden Stadt. Einige Zeit später wurde in meinem Gebäude ein Apartment frei. Ich erzählte ihr davon, und sie nahm es unbesehen.

Sie war ein sehr hübsches Mädchen, blond, mit kleinen Brüsten und dem Schwung einer Cheerleaderin. Sie hieß Meredith Walker. Wir hatten uns bei einem Tanzabend im Country Club von Old Holly kennengelernt, dem Ort in Westchester, wo ich aufwuchs. Ich war damals neunzehn und vom College zurückgekommen, um dort meine Sommerferien zu verbringen. Merry wohnte erst seit wenigen Monaten in der Stadt. Ihr Vater war ein Major in der Air Force, der zur Leitung einer Abteilung des Reserve Officers’ Training Camp an einem kleinen College in der Nähe berufen worden war. Sie sagte, ihr ganzes Leben lang sei ihre Familie von einem Ort zum anderen gezogen. Sie war achtzehn und wusste nicht, wie das war, ein Zuhause zu haben. Ich erinnere mich gut an diese Nacht, eine prächtige Augustnacht, ein warmer Wind strich durch die Wipfel der großen Eichen, die Rasensprüher zischten, und die silberglänzenden Paare standen bei den Bäumen, die Männer in weißen Smokingjacken und ihre Mädchen in Chiffon und Seide, jedes Paar im gedämpften Licht herausmodelliert, beinahe unbewegt, und die Entfernungen zwischen ihnen genau richtig, sodass die ganze Szene einer abstrakten Berechnung von Perspektive und Farbtönung zu folgen schien, wie für die Laune einer Kamera arrangiert. Ein Mädchen ging über den Rasen, wirbelte dann mit einem Kreischen herum, als die Gischt von einem Rasensprüher ihren Arm benetzte. Das Lachen ihrer Freunde in der warmen Nacht war wie das Klingen eines zarten Glases, und es schien lange zu brauchen, bis es uns erreichte. Merry und ich standen auf der Veranda. Es gab Glühwürmchen und Musik, einen trägen Samba, einen Foxtrott. Merry sah wunderschön aus. Wir unterhielten uns leise und hielten Händchen. Einmal mehr, wie so oft in meinem Leben, ließ ich mich von der Macht des Bildes erregen.

Wir nahmen mein Auto zum Vergnügungspark in Rye. Dort fuhren wir, in Smoking und Abendkleid, viermal Achterbahn und kehrten danach zum Country Club zurück. Wir tanzten eine Zeit lang. Ich verspürte, uns beide betreffend, ein angenehmes Gefühl von Selbstwahrnehmung. Wir wurden von den älteren Paaren, der Generation unserer Eltern, unter die Lupe genommen, und ihren Blicken und dem Ton ihrer geflüsterten Bemerkungen war zu entnehmen, dass man uns als etwas Besonderes empfand. Später lernten wir die Eltern voneinander kennen, und dann lernten ihre Eltern meine Eltern kennen, in einem dieser Slapstick-Ballette aus unglücklich getimtem Vorpreschen, verzögertem Händeschütteln und tiefem, Blicke vermeidendem Schweigen.