Null K - Don DeLillo - E-Book

Null K E-Book

Don DeLillo

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Beschreibung

»Wir werden geboren, ohne eine Wahl zu haben. Müssen wir deswegen auf gleiche Art sterben?« »Null Grad Kelvin« ist DeLillos klügster, humorvollster und bewegendster Roman seit Jahren, eine große Vater-Sohn-Geschichte, eine Meditation über den Tod und die Ewigkeit und eine Liebeserklärung an das Leben. Ross Lockhart ist ein Milliardär in den Sechzigern mit einer viel jüngeren Frau, Artis Martineau, die schwer krank ist. Er ist Großinvestor eines geheimen, im Verborgenen agierenden Unternehmens, das den Tod ausschalten will. Das Businessmodell: Menschliche Körper werden so lange konserviert, bis Medizin und Technik so weit sind, dass der Mensch ein Leben ohne Krankheiten und zeitliche Begrenzungen führen kann. Als Artis plant, ihren Körper aufzugeben, reist Ross' Sohn Jeffrey an, um Abschied von seiner Stiefmutter zu nehmen, auf unbestimmte Zeit. »Wir werden geboren, ohne eine Wahl zu haben. Müssen wir deswegen auf gleiche Art sterben? Macht es den Menschen nicht gerade aus, dass er sich weigern kann, sein Schicksal zu akzeptieren?« Diese Fragen treiben Ross um, der mit aller Macht in eine andere Dimension menschlichen Lebens vorstoßen möchte. Sein Sohn hingegen verteidigt leidenschaftlich die Ansicht, dass es des Menschen Bestimmung ist, im Hier und Jetzt zu leben. »Null Grad Kelvin« ist ein großer Wurf, ein brillanter Roman, der an den Kern unserer Existenz rührt.

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Seitenzahl: 318

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Don DeLillo

Null K

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Frank Heibert

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Don DeLillo

> Über dieses Buch

> Impressum

> Klimaneutraler Verlag

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

WidmungTeil Eins – In den Zeiten von Tscheljabinsk1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. KapitelArtis MartineauTeil Zwei – In den Zeiten von Konstantinowka1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel
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Für Barbara

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Teil EinsIn den Zeiten von Tscheljabinsk

1

Jeder will das Ende der Welt in der Hand haben.

Das sagte mein Vater, als er an den Sprossenfenstern seines New Yorker Büros stand – Vermögensverwaltung, Privatanleger und Familienstiftungen, Schwellenmärkte. Wir erlebten einen seltenen Augenblick gemeinsam, Kontemplation, abgerundet von seiner Klassiker-Sonnenbrille, die die Nacht hereinholte. Ich betrachtete die Gemälde im Raum, eines abstrakter als das andere, und begriff langsam, dass das einsetzende lange Schweigen weder ihm noch mir gehörte. Ich dachte an seine Frau, die zweite, die Archäologin, deren Geist und versagender Körper bald planmäßig davonschweben würden ins Nichts.

 

Einige Monate später fiel mir dieser Augenblick wieder ein, am anderen Ende der Welt. Ich saß angeschnallt auf dem Rücksitz eines gepanzerten Kombis mit abgedunkelten, blinden Seitenscheiben. Der hinter einer Trennscheibe sitzende Fahrer trug ein Fußballtrikot und eine Jogginghose mit einer Beule an der Hüfte, eine Handfeuerwaffe offenbar. Nach einstündiger Fahrt über Rumpelpisten hielt er an und sagte etwas in sein Ansteckmikro. Dann drehte er den Kopf sacht um fünfundvierzig Grad Richtung rechter Rücksitz. Ich deutete das als Anweisung, mich abzuschnallen und auszusteigen.

Die Fahrt war die letzte Etappe einer Marathonreise gewesen, ich entfernte mich von dem Auto und blieb eine Weile stehen, betäubt von der Hitze, Reisetasche in der Hand. Langsam kam mein Körper runter. Ich hörte den Motor starten und wandte mich um. Das Auto fuhr zu dem Privatflugplatz zurück, es war das Einzige, was sich da draußen bewegte, kurz davor, in der Landschaft aufzugehen oder dem nachlassenden Licht oder dem bloßen Horizont.

Ich drehte mich einmal um die eigene Achse, ein langer, langsamer Scan über Salzwüste und Geröll, über Leere, abgesehen von ein paar flachen, vielleicht verbundenen, kaum von der ausgebleichten Landschaft zu unterscheidenden Gebäuden. Sonst nichts, nirgendwo. Wie der Ort genau aussah, wo ich hinwollte, war mir nicht klar gewesen, nur wie abgelegen er war. Gut möglich, dass mein Vater damals an seinem Bürofenster jenen Satz aus diesem kargen Gelände und den darin verschwindenden geometrischen Klötzen heraufbeschworen hatte.

Er war jetzt hier, sie beide waren hier, Vater und Stiefmutter, und ich war hergekommen für einen extrem kurzen Besuch und einen ungewissen Abschied.

Mein Standpunkt war zu nah, um die Anzahl der Gebäude genau zu bestimmen. Zwei, vier, sieben, neun. Oder nur eines, eine Zentraleinheit mit strahlenförmigen Anbauten. Ich stellte sie mir als eine Stadt vor, irgendwann in der Zukunft würde man sie entdecken, eine autarke, gut erhaltene, namenlose Stadt, verlassen von einer unbekannten Nomadenkultur.

Ich meinte vor lauter Hitze schon zu verschrumpeln, aber ich wollte noch einen Moment hinschauen. Diese agoraphobisch abgeschotteten Gebäude versteckten sich, blind, stumm und düster, mit unsichtbaren Fenstern, die falten sich, dachte ich, von selbst zusammen, wenn der Film den Punkt des digitalen Zusammenbruchs erreicht.

Auf einem Steinweg näherte ich mich einem breiten Portal, wo zwei Männer Wache standen. Andere Fußballtrikots, gleiche Hüftbeule. Sie standen hinter einer Reihe Poller, die so gebaut waren, dass an dieser Stelle kein Fahrzeug durchkam.

Abseits, am äußersten Rand des Zugangsbereichs, standen seltsamerweise noch zwei Gestalten, Frauen im Tschador, reglos.

2

Mein Vater trug jetzt Bart. Das überraschte mich. Etwas grauer als sein Kopfhaar, hatte der Bart den Effekt, die Augen hervorzuheben und den Blick zu intensivieren. Ließ sich ein Mann, der in eine neue Dimension des Glaubens eintrat, so einen Bart wachsen?

»Wann geschieht es?«, sagte ich.

»Wir arbeiten an Tag, Stunde, Minute. Bald«, sagte er.

Er war Mitte bis Ende sechzig, Ross Lockhart, breitschultrig und beweglich. Seine dunkle Brille lag vor ihm auf dem Schreibtisch. Ich war es gewohnt, ihn in irgendwelchen Büros zu treffen. Das hier war behelfsmäßig, ein paar Bildschirme, Tastaturen und andere Geräte verteilten sich im Raum. Mir war bekannt, dass er größere Geldsummen in diese ganze Operation gesteckt hatte, dieses Unterfangen namens ›Die Konvergenz‹, und das Büro war eine Geste der Höflichkeit, damit er bequem mit seinem Netzwerk aus Firmen, Agenturen, Fonds, Vermögensverwaltungen, Stiftungen, Syndikaten, Kommunen und Klans in Verbindung bleiben konnte.

»Und Artis.«

»Sie ist absolut bereit. Nicht die Spur eines Zögerns oder Zweifelns.«

»Wir reden nicht vom ewigen spirituellen Leben. Es geht um den Körper.«

»Der Körper wird eingefroren. Kryonische Konservierung«, sagte er.

»Und dann, irgendwann in der Zukunft.«

»Ja. Diese Zukunft kommt, sobald es Maßnahmen gegen die Umstände gibt, die jetzt zum Ende führen. Geist und Körper werden wiederhergestellt, dem Leben zurückgegeben.«

»Das ist keine neue Idee. Stimmt’s?«

»Das ist keine neue Idee. Es ist eine Idee«, sagte er, »deren vollständige Umsetzung kurz bevorsteht.«

Ich war verwirrt. Dies war der Morgen meines ersten ganzen Tages hier, auf der anderen Seite des Schreibtisches saß mein Vater, und nichts davon fühlte sich vertraut an, weder die Situation noch die reale Umgebung noch der bärtige Mann. Ich würde mich schon auf dem Heimweg befinden, bevor ich irgendetwas davon erfassen konnte.

»Und du hast volles Vertrauen in dieses Projekt.«

»Absolut. Medizinisch, technologisch, philosophisch.«

»Manche Leute melden ihre Haustiere an«, sagte ich.

»Hier nicht. Hier gibt es nichts Spekulatives. Nichts Herbeigewünschtes oder Nebensächliches. Männer, Frauen. Tod, Leben.«

In seiner Stimme schwang etwas Herausforderndes mit, als Dauerton.

»Ob ich wohl den Bereich, wo es geschieht, mal sehen könnte?«

»Äußerst fraglich«, sagte er.

Artis, seine Frau, war durch mehrere Krankheiten gebrechlich geworden. Multiple Sklerose, das wusste ich, war die Hauptursache für ihren verschlechterten Zustand. Mein Vater wollte ihr hier zunächst bei ihrem Dahinscheiden zur Seite stehen und dann als informierter Beobach-ter die ersten Schritte sehen, mit denen ihr Körper konserviert wurde bis zu dem Jahr, dem Jahrzehnt, dem Tag, an dem ein sicheres Wiedererwachen vorstellbar war.

»Als ich ankam, wurde ich von zwei bewaffneten Begleitern abgeholt. Die brachten mich durch die Sicherheitskontrolle und aufs Zimmer und sagten praktisch nichts. Mehr weiß ich nicht. Außer dem Namen, der klingt religiös.«

»Technologie, die auf Glauben baut. Darum geht es. Ein anderer Gott. Gar nicht so anders, zeigt sich, als manche der früheren Götter. Nur dass er echt ist und wahr, er liefert.«

»Ein Leben nach dem Tod.«

»Irgendwann, ja.«

»›Die Konvergenz‹.«

»Ja.«

»Mathematik hat einen Sinn.«

»Biologie hat einen Sinn. Physiologie hat einen Sinn. Lass gut sein«, sagte er.

Als meine Mutter bei uns zu Hause starb, saß ich an ihrem Bett, und eine ihrer Freundinnen, eine Frau mit Stock, stand in der Tür. So habe ich diesen Moment vor Augen, jetzt und für immer beschränkt auf die Frau im Bett, die Frau in der Tür, das Bett selbst, den Metallstock.

Ross sagte: »Unten, in dem Bereich, der als Hospiz dient, stehe ich manchmal bei den Menschen, während sie auf die Prozedur vorbereitet werden. Erwartung und Ehrfurcht vermengen sich. Viel greifbarer als Befürchtungen oder Unsicherheit. Stattdessen Verehrung, Verwunderung. Diese Menschen gehören zusammen dazu. Zu etwas viel Größerem, als sie sich je vorgestellt hatten. Sie haben das Gefühl von einer gemeinsamen Mission, einem Ziel. Und ich merke, ich stelle mir solch einen Ort vor, aber wie vor Jahrhunderten. Eine Unterkunft, eine Herberge für Reisende. Für Pilger.«

»Ah, Pilger. Da sind wir wieder bei der Religion im alten Stil. Ob ich wohl das Hospiz besuchen könnte?«

»Wahrscheinlich nicht«, sagte er.

Er gab mir eine kleine, flache Scheibe an einem Armband. Das sei, sagte er, den Fußfesseln vergleichbar, die der Polizei mitteilten, wo ein auf Kaution freigelassener Verdächtiger sich gerade befand. Zu bestimmten Bereichen auf dieser Ebene und der eins höher hatte ich damit Zugang, sonst nirgendwo. Sollte ich das Armband abnehmen, würde ein Alarm ausgelöst.

»Zieh keine vorschnellen Schlüsse aus dem, was du siehst und hörst. Das hier haben seriöse Menschen entworfen. Respektiere die Idee. Respektiere den Ort. Artis sagt, wir sollten ihn als work in progress betrachten, als Erdarbeiten, eine Art Erdkunst, Land-Art. Aus dem Land aufgebaut und auch wieder hineinversenkt. Beschränkter Zugang. Geprägt von Stille, Stille der Menschen und der Umgebung. Ein bisschen wie ein Grab. Die Erde ist das Leitprinzip«, sagte er. »Kehre zur Erde zurück, erhebe dich aus der Erde.«

 

Ich wanderte lange durch die Gänge. Sie waren so gut wie leer, gelegentlich drei Menschen, denen ich jeweils zunickte, nur ein einzelner misslauniger Blick kam zurück. Die Wände waren in verschiedenen Grüntönen gehalten. Einen breiten Gang hinunter, abbiegen in einen anderen. Leere Wände, keine Fenster, weite Abstände zwischen den ausnahmslos geschlossenen Türen mit ihren verwandten gedämpften Farben. Ich fragte mich, ob ein Sinn in diesen Splittern des Spektrums lag. Das tat ich in jeder neuen Umgebung. Ich versuchte ihr einen Sinn zu geben, um dem Ort eine Schlüssigkeit oder zumindest mir einen Platz an diesem Ort zu verschaffen, eine Verankerung gegen mein Unbehagen, dort zu sein.

Am Ende des letzten Gangs schaute ein Bildschirm aus einer Deckennische. Er reichte quer über die ganze Wand und entrollte sich langsam bis fast zum Boden. Ich näherte mich zögernd. Zuerst sah man nur Wasser. Wasser, das durch Wälder rauscht und über Flussufer schwillt. Regen prasselt auf Terrassenfelder, lange Szenen mit nichts als Regen, dann überall fliehende Menschen und andere, die hilflos in kleinen Booten über Stromschnellen schlingern. Überschwemmte Tempel und hügelabwärts stürzende Häuser. Ich beobachtete, wie der Wasserpegel in den Straßen der Städte immer höher stieg, wie Autos und ihre Fahrer untergingen. Durch die Größe des Bildschirms ging die Wirkung weit über die Kategorie Fernsehnachrichten hinaus. Alles ragte drohend auf, die Szenen währten viel länger als im üblichen Sendetakt. Alles lag direkt vor mir, auf Augenhöhe, unmittelbar und real. Eine Frau in Lebensgröße hockt auf einem umgedrehten Stuhl in ihrem unter der Schlammlawine eingestürzten Haus. Ein Gesicht unter Wasser, ein Mann, starrt heraus, auf mich. Ich musste ein Stück zurücktreten und zugleich weiter hinschauen. Es war schwer, nicht hinzuschauen. Schließlich warf ich einen Blick hinter mich in den Gang, ob wohl jemand kam, noch ein Zeuge, ein Mensch, der neben mir stehen würde in der Bilder Flut und Griff.

Und alles ohne Ton.

3

Artis saß allein in der Suite, die Ross und sie bewohnten, sie saß in Bademantel und Pantoffeln in einem Sessel und schien zu schlafen.

Was sag ich nur? Wie fang ich an?

Du siehst wunderschön aus, dachte ich, und das stimmte auch, auf eine traurige, von der Krankheit gedämpfte Weise, schmales Gesicht und ungekämmtes aschblondes Haar, blasse im Schoß gefaltete Hände. Früher war sie für mich »die zweite Frau« gewesen, dann »die Stiefmutter«, dann schließlich »die Anthropologin«. Das letzte Etikett war nicht ganz so klischeehaft, vor allem, weil ich sie da endlich genauer kennenlernte. Ich sah in ihr gern die Wissenschaftlerin als Asketin, die phasenweise in Behelfslagern kampierte und sich auch strapaziösen Umständen anderer Art bereitwillig anpassen würde.

Warum hatte mein Vater mich hergebeten?

Ich sollte bei ihm sein, wenn Artis starb.

Ich saß auf einer gepolsterten Bank, wahrnehmend, wartend, bald glitten meine Gedanken fort von der stillen Gestalt im Sessel, und da war er, da waren wir, Ross und ich, im Kleinformat des Kopfkinos.

Geld hatte ihn geprägt. Schon früh hatte er sich mit wirtschaftlichen Schadensanalysen von Naturkatastrophen einen Namen gemacht. Er redete gern mit mir über Geld. Meine Mutter sagte, Und was ist mit Sex, darüber muss er doch Bescheid wissen. Die Sprache des Geldes war kompliziert. Er definierte Begriffe, zeichnete Schaubilder, lebte anscheinend im Ausnahmezustand, meist zehn oder zwölf Stunden pro Tag an sein Büro gefesselt oder schnell, schnell zum Flughafen oder die nächste Konferenz im Blick. Zu Hause stand er vor einem bodenlangen Spiegel, deklamierte auswendig Vorträge, an denen er gerade arbeitete, über Risikoakzeptanz und Offshore-Rechtsprechung, und verfeinerte seine Gestik und Mimik. Er hatte was mit einer Büroaushilfe. Er lief beim Boston-Marathon mit.

Was machte ich? Ich nuschelte, ich schlurfte, ich rasierte mir eine Schneise mitten über den Kopf, von vorn nach hinten – ich war sein persönlicher Antichrist.

Er ging, da war ich dreizehn. Ich machte gerade meine Trigonometrie-Hausaufgaben, als er es mir sagte. Er saß auf der anderen Seite des kleinen Schreibtischs, wo meine stets gespitzten Stifte aus einem alten Marmeladenglas ragten. Während er sprach, machte ich weiter meine Hausaufgaben. Ich studierte die Formeln auf dem Blatt und schrieb immer wieder in mein Notizbuch: Sinus Cosinus Tangens.

Warum verließ mein Vater meine Mutter?

Keiner verriet was.

Jahre später wohnte ich in einer Anderthalbzimmer-Mietwohnung in Upper Manhattan. Eines Abends war mein Vater im Fernsehen, obskurer Sender, schlechter Empfang, Ross in Genf, eine Art Doppelbild auf Französisch. Hatte ich gewusst, dass mein Vater Französisch sprach? War dieser Mann ganz sicher mein Vater? Er machte in den Untertiteln eine Anspielung auf die Ökologie der Arbeitslosigkeit. Ich sah im Stehen zu.

Und jetzt, an diesem kaum glaublichen Ort, dieser Fata Morgana in der Wüste, auf einmal Artis, kurz davor, als Eisleiche in einer massiven Grabkammer konserviert zu werden. Unterwegs in eine Zukunft, die sich der Vorstellungskraft entzog. Allein schon die Wörter. Zeit, Schicksal, Zufall, Unsterblichkeit. Und ich mit meiner Tolpatschvergangenheit, meiner Holpergeschichte, all den Situationen, die mir wieder einfallen, ob ich will oder nicht, einfach weil sie zu mir gehören, unmöglich, sie nicht zu sehen oder zu fühlen, wenn sie mir aus allen Wänden entgegenkrabbeln.

Einmal war ich am Aschermittwoch in die Kirche gegangen, hatte mich in die Schlange gestellt. Ich sah mich um, sah die Statuen, Säulen, Tafeln und Kirchenfenster, dann trat ich ans Altargitter und kniete nieder. Der Priester kam und zeichnete mich, ein Daumenabdruck aus heiliger Asche auf meiner Stirn. Denn Staub bist du. Ich war kein Katholik, meine Eltern waren keine Katholiken. Ich wusste nicht, was wir waren. Wir waren Essen-und-Schlafen. Wir waren Bring-Daddys-Anzug-in-die-Reinigung.

Als er ging, beschloss ich, mich damit abzufinden, dass ich verlassen worden war, oder halb verlassen. Meine Mutter und ich verstanden und vertrauten uns. Wir zogen nach Queens in eine Gartenwohnung ohne Garten. Das passte uns beiden. Ich ließ mir die Haare auf meinem ureinwohnerhaft rasierten Kopf nachwachsen. Wir gingen zusammen spazieren. Wer macht das schon in den Vereinigten Staaten von Amerika, Mutter und Teenager-Sohn? Wenn ich aus der feststellbaren Normalität ausscherte, hielt sie mir keine Vorträge, oder nur selten. Wir aßen Schonkost und schlugen einen Tennisball auf einem öffentlichen Platz hin und her.

Aber der Priester in seinem Gewand und das kleine Reiben seines Daumens, als er die Asche auftrug. Und zum Staub wirst du zurückkehren. Ich streifte durch die Straßen, auf der Suche nach Menschen, die mich vielleicht anschauten. Ich stand vor Schaufenstern und studierte mein Spiegelbild. Keine Ahnung, was das war, irgendeine verschrullte Geste der Ehrerbietung? Wollte ich die Heilige Mutter Kirche reinlegen? Oder war das nur ein Versuch, mich auf bedeutsame Weise sichtbar zu machen? Ich wünschte, der Fleck würde Tage und Wochen halten. Als ich nach Hause kam, trat meine Mutter einen Schritt zurück, als wollte sie mich neu betrachten. Eine ganz kurze Einschätzung. Ich passte auf, dass ich nicht grinste – ich hatte ein Hyänengrinsen. Sie sagte irgendwas, wie langweilig die Mittwoche überall auf der Welt seien. Ein bisschen Asche, minimale Kosten, und schon, sagte sie, wird hie und da ein Mittwoch denkwürdig.

Irgendwann rempelten mein Vater und ich uns durch die Spannungen, die uns auf Abstand gehalten hatten, und ich sagte Ja zu einigen seiner Vorkehrungen für meine Ausbildung, aber von den Firmen in seinem Besitz hielt ich mich fern.

Und Jahre später, gefühlt ein ganzes Leben später, lernte ich die Frau kennen, die jetzt vor mir saß und sich in den Lichtkegel einer Tischlampe beugte.

Und in einem anderen Leben, ihrem nämlich, schlug sie die Augen auf und sah mich dort sitzen.

»Jeffrey.«

»Bin gestern spät angekommen.«

»Hat mir Ross erzählt.«

»Und es stimmt sogar.«

Ich nahm ihre Hand und hielt sie. Es schien, als gäbe es sonst nichts zu sagen, aber wir redeten eine Stunde lang. Ihre Stimme war nur noch ein Wispern, und meine auch, passend zu den Umständen oder der ganzen Umgebung, den langen stillen Gängen, dem Gefühl von Eingeschlossensein und Isolation, einer neuen Generation Erdkunst mit menschlichen Körpern, deren Beseeltheit außer Kraft gesetzt war.

»Seit ich hier bin, fällt mir auf, dass ich mich auf kleine Dinge konzentriere, immer kleinere. Mein Kopf lässt los, läuft leer. Einzelheiten fallen mir ein, die jahrelang verschüttet waren. Ich sehe Situationen, die mir vorher entgangen waren oder zu banal zum Erinnern vorkamen. Das hat natürlich mit der Krankheit zu tun oder mit meinen Medikamenten, dieses Gefühl von Stilllegung, von Ende.«

»Vorübergehend.«

»Fällt es dir schwer, daran zu glauben? Mir nicht. Ich habe mich da kundig gemacht«, sagte sie.

»Das weiß ich.«

»Skepsis, natürlich. Die brauchen wir. Aber irgendwann wird uns doch klar, dass es etwas viel Größeres und Beständigeres gibt.«

»Ich habe eine ganz einfache Frage. Eine praktische, keine skeptische. Warum bist du nicht im Hospiz?«

»Ross will mich in seiner Nähe haben. Die behandelnden Ärzte kommen regelmäßig zur Visite.«

Sie stolperte über den Konsonantenstau in »behandelnden« und sprach von da an langsamer.

»Oder sie fahren mich im Rollstuhl durch Korridore und in dunkle Kabinen, die in einem Schacht nach oben oder unten fahren, vielleicht auch seitwärts oder rückwärts. Jedenfalls bringen sie mich in ein Untersuchungszimmer, wo sie zuschauen und zuhören, alle ganz still. Irgendwo in dieser Suite gibt es Pflegepersonal, eine oder mehrere Personen. Wir sprechen Mandarin, sie und ich oder er und ich.«

»Denkst du darüber nach, in welche Art von Welt du zurückkehren wirst?«

»Ich denke an Wassertropfen.«

Ich wartete ab.

Sie sagte: »Ich denke an Wassertropfen. Wie ich früher unter der Dusche stand und einem Wassertropfen dabei zusah, während er innen an dem senkrechten Vorhang herunterglitt. Wie ich mich auf den Tropfen konzentrierte, das Tröpfchen, das Kügelchen, und darauf wartete, dass es neue Formen annahm, wenn es Spalten und Falten überquerte, und die ganze Zeit prasselte mir Wasser seitlich auf den Kopf. Wann war das, vor zwanzig, dreißig Jahren? Noch länger? Weiß ich nicht. Was dachte ich damals? Weiß ich nicht. Vielleicht gab ich dem Wassertropfen eine Art Leben. Machte ihn zu einer Zeichentrickfigur. Weiß ich nicht. Wahrscheinlich war mein Kopf die meiste Zeit leer. Das Wasser, das mir auf den Schädel klatscht, ist verdammt kalt, aber ich bin zu träge, um den Strahl zu regulieren. Ich muss den Tropfen beobachten, wie er allmählich länger wird, quillt. Aber er ist zu klar und durchsichtig, um quellen zu können. Ich stehe da, es klatscht mir auf den Kopf, und ich sage mir, quellen passt nicht, das wäre Matsch oder Schleim, primitives Leben am Meeresboden, das vorrangig aus mikroskopischen Ozeanbewohnern besteht.«

Sie sprach eine Art Schattensprache, hielt inne, dachte nach, versuchte sich zu erinnern, und als sie zurückkehrte in den gegenwärtigen Augenblick, in dieses Zimmer, musste sie mich unterbringen, wieder einordnen, Jeffrey, den Sohn von, der ihr gegenübersaß. Alle außer Artis nannten mich Jeff. Diese zusätzliche Silbe, von ihrer sanften Stimme ausgesprochen, gab mir ein Ichgefühl oder das Gefühl eines zweiten, angenehmeren und verlässlicheren Ichs, eines Mannes mit geschwellter Brust. Pure Fiktion.

»Manchmal, in einem dunklen Raum«, sagte ich, »schließe ich die Augen. Ich gehe in den Raum und schließe die Augen. Oder ich warte damit, im Schlafzimmer, bis ich zu der Lampe komme, die auf der Kommode neben dem Bett steht. Ist das eine Kapitulation vor dem Dunkeln? Keine Ahnung, was das ist. Eine Übereinkunft? Und das Dunkel diktiert die Bedingungen? Was ist das? Klingt, als hätte sich ein komisches Kind das ausgedacht. Das Kind, das ich früher war. Aber ich tue es immer noch. Ich gehe in einen dunklen Raum, warte vielleicht kurz auf der Türschwelle, dann schließe ich die Augen. Ist das ein Selbsttest, diese verdoppelte Dunkelheit?«

Wir schwiegen.

»Was wir tun und dann vergessen«, sagte sie.

»Nur dass wir nicht vergessen. Menschen wie wir.«

Das sagte ich gern. Menschen wie wir.

»Das ist eines von vielen Fitzelchen Persönlichkeit. Sagt Ross. Er sagt, ich wäre ein fremdes Land. Kleine Dinge, immer kleinere. Das ist mittlerweile mein Daseinszustand.«

»Ich tappe durch das dunkle Schlafzimmer bis zur Kommode, versuche zu ahnen, wo die Tischlampe steht, fummele oder taste nach dem Lampenschirm und greife dann darunter nach dem Ein/Aus-Dings, dem Knopf, dem Schalter zum Lichtanmachen.«

»Und dann schlägst du die Augen auf.«

»Ja, wirklich? Das komische Kind könnte sie auch geschlossen lassen.«

»Aber nur montags, mittwochs und freitags«, sagte sie und schaffte es kaum durch die vertraute Reihe der Tage.

Jemand kam aus einem Hinterzimmer, eine Frau, grauer Jogginganzug, dunkles Haar, dunkles Gesicht, geschäftsmäßige Miene. Sie trug Latexhandschuhe und bezog, mich musternd, Position hinter Artis.

Zeit zu gehen.

»Das bin ja bloß ich«, sagte Artis schwach, »der Körper unter der Dusche, eine von Plastik umgebene Gestalt, die zusieht, wie ein Wassertropfen am nassen Vorhang heruntersurft. Der Augenblick ist dazu da, vergessen zu werden. Letzten Endes geht es wohl darum. Ein Augenblick, an den man nur zu denken braucht, während er sich entfaltet. Vielleicht kommt mir das deshalb auch nicht merkwürdig vor. Das bin bloß ich. Ich denke nicht drüber nach. Ich lebe darin, ganz einfach, und dann lasse ich es hinter mir. Aber nicht auf ewig. Ich lasse das hinter mir, bis auf die Augenblicke jetzt, an diesem besonderen Ort, wo alles, was ich je gesagt und getan und gedacht habe, zur Hand ist, direkt neben mir, fertig zum Zusammenschnüren, damit es nicht verschwindet, wenn ich meine Augen für das zweite Leben aufschlage.«

 

Es hieß Essenseinheit, und das war es auch, ein Fertigbauteil, ein Modul, vier zu kleine Tische, eine weitere Person, ein Mann, der so etwas wie eine Mönchskutte trug. Ich aß und spähte verstohlen. Er schnitt und kaute in sich gekehrt sein Essen. Als er zum Gehen aufstand, sah ich ausgewaschene Jeans und Turnschuhe unter der Kutte. Das Essen ließ sich essen, aber nicht immer benennen.

Ich betrat mein Zimmer, indem ich die Scheibe am Armband gegen eine Metallfläche im mittleren Feld der Tür hielt. Das Zimmer war klein und gesichtslos, ein Ding mit Wänden, so unspezifisch war es. Die Decke war niedrig, das Bett bettähnlich, der Stuhl ein Stuhl. Keine Fenster.

Nach Einschätzung der Klinik würde Artis binnen vierundzwanzig Stunden tot sein, mit anderen Worten, ich würde im Flieger nach Hause sitzen und Ross noch etwas länger bleiben, um höchstpersönlich sicherzugehen, dass die diversen kryonischen Verfahren alle planmäßig abliefen.

Aber ich fühlte mich bereits gefangen. Besucher durften das Gebäude nicht verlassen, und obwohl man da draußen zwischen diesen präkambrischen Felsblöcken nirgendwo hinkonnte, machte diese Einschränkung etwas mit mir. In meinem Zimmer gab es keinen digitalen Empfang, mein Smartphone war hier hirntot. Ich machte Dehnübungen, um meinen Kreislauf in Gang zu bekommen. Ich machte Sit-ups und Squat Jumps. Ich versuchte, mich an den Traum der letzten Nacht zu erinnern.

In dem Zimmer fühlte ich mich, als würde ich in den Wesenskern dieses Ortes gesogen. Ich saß mit geschlossenen Augen auf dem Stuhl. Ich sah mich dort sitzen. Ich sah den ganzen Komplex von oben in der Stratosphäre irgendwo, eine solide zusammengeschweißte Masse, verschieden steile Dächer, Mauern im Sonnenglast.

Ich sah die Wassertropfen, die Artis beobachtet hatte, wie sie innen am Duschvorhang herabrannen, einer nach dem anderen.

Ich sah Artis vor mir, undeutlich nackt, das Gesicht in der Duschgischt, sah das Bild von ihren geschlossenen Augen mit meinen tatsächlich geschlossenen Augen.

Am liebsten wäre ich aufgestanden, hätte das Zimmer verlassen, mich von ihr verabschiedet und die Rückreise angetreten. Ich schaffte es, mich zum Aufstehen zu überreden und die Tür zu öffnen. Doch dann lief ich nur durch die Gänge.

4

Ich lief durch die Gänge. Die Türen hier waren in Abstufungen gedeckten Blaus gestrichen, und ich versuchte, die einzelnen Farbtöne zu benennen. Meer, Himmel, Schmetterling, Indigo. Die waren alle falsch, und mit jedem weiteren Schritt und jeder weiteren eingehend gemusterten Tür kam ich mir alberner vor. Ich wollte sehen, dass eine Tür aufging und jemand herauskam. Ich wollte wissen, wo ich war und was um mich herum geschah. Eine Frau kam strammen Schrittes vorbei, und ich widerstand dem Impuls, sie nach einem Farbton zu benennen oder auf der Suche nach irgendwelchen Anzeichen zu mustern, Indizien für irgendwas.

Dann kam ich drauf. Ganz einfach. Hinter den Türen war nichts. Ich lief und dachte nach. Ich spekulierte. Auf bestimmten Etagen gab es Bürobereiche. Anderswo waren die Gänge reines Design und die Türen nur ein Element des umfassenden Konzepts, das Ross ganz allgemein beschrieben hatte. War das visionäre Kunst, zu der Farben, Formen und ortstypische Materialien gehörten, Kunst, die die fest verdrahtete Initiative, die zentrale Arbeit der Wissenschaftler, Berater, Techniker und medizinischen Mitarbeiter begleiten und umgeben sollte?

Eine schöne Idee. Sie passte zu den Umständen, sie entsprach den Standards der Unwahrscheinlichkeit oder des kühnen glücklichen Zufalls, von denen manchmal die faszinierendsten Kunstwerke geprägt sind. Ich musste nur an eine Tür klopfen. Farbe wählen, Tür wählen, klopfen. Aber ich schreckte davor zurück, das Vertrauen meines Vaters zu missbrauchen, schließlich hatte er mich hierhergebracht. Und dann die versteckten Kameras. Keine Frage, diese Gänge wurden überwacht, leere Gesichter in stillen Räumen beim stetigen Scan der Monitoren.

Drei Leute kamen auf mich zu, unter ihnen, in einem toilettenartigen motorisierten Rollstuhl, ein Junge. Er war neun oder zehn und behielt mich die ganze Zeit im Auge. Sein Oberkörper hing schief, aber sein Blick war hellwach, und ich hätte gern mit ihm geredet. Die Erwachsenen machten deutlich, dass das nicht ging. Sie flankierten den Rollstuhl, starrten unbewegt geradeaus, in amtliche Leere, und behinderten mich beim Innehalten, bei meinen guten Absichten.

Kurz darauf bog ich um die Ecke in einen Gang, dessen Wände in grobem Umbra gestrichen waren, mit einem zähflüssigen Pigment, das bestimmt nach Schlamm aussehen sollte. Die Türen, alle gleich, passten dazu. Außerdem gab es eine Wandnische mit einer Gestalt, Arme, Beine, Kopf, Torso, ein an Ort und Stelle fixiertes Objekt. Eine Schaufensterpuppe, erkannte ich, nackt, haarlos, ohne Gesichtszüge, in Rotbraun, Rostbraun vielleicht oder schlicht Rost. Und Brüste, sie hatte Brüste, ich blieb stehen und sah mir die Figur genauer an, diese in Plastik gegossene Version des menschlichen Körpers, das Gliedermodell einer Frau. Ich stellte mir vor, die Hand auf eine Brust zu legen. Das erschien zwingend, vor allem, wenn man ich war. Ihr Kopf bildete fast ein Oval, und ich versuchte die Haltung der Arme zu deuten – Selbstverteidigung, Rückzug, ein Ausfallschritt nach hinten. Die Figur war im Boden verankert und nicht von schützendem Glas umgeben. Hand auf eine Brust, Hand den Oberschenkel hoch. Früher hätte ich so was gemacht. Hier und jetzt: platzierte Kameras, Monitore, eine Alarmanlage auf dem Körper – da war ich mir sicher. Ich ging auf Abstand und schaute. Die Stille der Figur, das leere Gesicht, der leere Gang, die Figur in der Nacht, ein angstvoller Dummy auf dem Rückzug. Ich vergrößerte den Abstand, schaute weiter.

Schließlich beschloss ich herauszufinden, ob es irgendetwas hinter diesen Türen gab. Mögliche Konsequenzen wischte ich beiseite. Ich lief den Gang entlang, wählte eine Tür und klopfte. Ich wartete, ging zur nächsten Tür, klopfte. Wartete, ging zur nächsten Tür, klopfte. Sechs Mal machte ich das und sagte mir jedes Mal, noch eine Tür, und diesmal ging sie auf, da stand ein Mann in Anzug, Schlips und Turban. Ich sah ihn an und überlegte, was ich sagen sollte.

»Falsche Tür, fürchte ich«, sagte ich.

Er musterte mich scharf.

»Jede Tür wäre falsch«, sagte er.

Bis ich das Büro meines Vaters gefunden hatte, dauerte es eine Weile.

 

Einmal, da waren sie noch verheiratet, nannte mein Vater meine Mutter ein »Fischweib«. Wahrscheinlich im Scherz, aber ich schlug sofort im Wörterbuch nach. Eine derbe Frau, eine … shrew.Shrew musste ich nachschlagen. Ein Drache, ein zänkisches Weib, abgeleitet von dem altenglischen Wort … shrewmouse.Shrewmouse musste ich nachschlagen. Das Wörterbuch verwies mich zurück auf die dritte Bedeutung von shrew. Ein kleines Säugetier, Insektivore. Insektivore musste ich nachschlagen. Das Wörterbuch sagte, lebt von Insekten, aus lateinisch Insectus für Insekt plus lateinisch vorus als Suffix für Ernährung. Suffix musste ich nachschlagen.

Drei oder vier Jahre später versuchte ich, einen weitschweifigen, leidenschaftlichen europäischen Roman aus den Dreißigerjahren zu lesen, eine Übersetzung aus dem Deutschen, und stieß auf das Wort Fischweib. Das katapultierte mich zurück in ihre Ehe. Aber als ich mir ihr gemeinsames Leben vorstellen wollte, Mutter und Vater minus ich, fiel mir nichts ein, ich wusste nichts, Madeline und Ross allein, was sagten sie, wie waren sie, wer waren sie? Wo sonst mein Vater war, spürte ich eine Zone des Zertrümmerten. Und dann war da meine Mutter, eine dünne Frau in Hose und grauem Hemd, mir gegenüber. Als sie mich nach dem Buch fragte, machte ich eine hilflose Geste. Das Buch war eine Herausforderung, ein Taschenbuch vom Trödler, voll großer, wilder Gefühle, klein und dicht gedruckt auf welligem Papier. Sie sagte, Leg es weg, versuch es in drei Jahren wieder. Aber ich wollte es damals lesen, als ich es brauchte, auch wenn ich mich nie ganz durchbeißen würde. Ich las gern Bücher, die mich fast umbrachten, die mir halfen, mich zu verstehen, den Sohn, der seinem Vater trotzt, indem er solche Bücher liest. Ich setzte mich gern zum Lesen auf unseren winzigen Betonbalkon, von dort konnte ich den Ring aus Stahl und Glas, wo mein Vater arbeitete, zwischen den Brücken und Türmen im unteren Manhattan teilweise erspähen.

 

Wenn Ross nicht hinter einem Schreibtisch saß, stand er an einem Fenster. Nur dass es in diesem Büro keins gab.

»Und Artis«, sagte ich.

»Wird untersucht. Bald kriegt sie ihre Medikamente. Sie verbringt zwangsläufig viel Zeit unter dem Einfluss von Medikamenten. Das nennt sie behagliche Mattigkeit.«

»Das gefällt mir.«

Er wiederholte den Ausdruck. Ihm gefiel er auch. Ross war in Hemdsärmeln und trug seine Sonnenbrille, die nostalgisch unter KGB-Brille lief – gebogene, selbsttönende, polarisierte Gläser.

»Wir haben geredet, sie und ich.«

»Hat sie mir gesagt. Ihr werdet euch noch mal sehen, noch mal reden. Morgen«, sagte er.

»Und bis dahin. Dieser Ort.«

»Was ist damit?«

»Ich wusste nur das wenige, was du mir gesagt hattest. Ich bin ahnungslos gereist. Erst der Wagen mit Chauffeur, dann das Firmenflugzeug, Boston–New York.«

»Ein Superjet, mittlere Größe.«

»Zwei Männer kamen an Bord. Dann New York–London.«

»Kollegen.«

»Die nichts sagten. War mir auch egal.«

»Und die in Gatwick ausstiegen.«

»Ich dachte in Heathrow.«

»Es war Gatwick«, sagte er.

»Dann kam jemand an Bord, nahm meinen Pass und brachte ihn zurück, und dann waren wir wieder in der Luft. Ich war allein in der Kabine. Ich glaube, ich habe geschlafen. Was gegessen, geschlafen, dann landeten wir. Den Piloten habe ich nie zu Gesicht bekommen. Frankfurt, dachte ich. Jemand kam an Bord, nahm meinen Pass und brachte ihn zurück. Ich prüfte den Stempel.«

»Zürich«, sagte er.

»Dann kamen drei Leute an Bord, Mann, zwei Frauen. Die ältere Frau lächelte mich an. Ich versuchte zu verstehen, was sie sagten.«

»Sie sprachen portugiesisch.«

Das genoss er, sich mit Pokerface auf seinem Bürostuhl zu lümmeln und die Antworten an die Decke zu richten.

»Sie redeten, aßen aber nichts. Ich nahm einen Snack, oder vielleicht war das später, bei der nächsten Etappe. Wir landeten, sie stiegen aus, dann kam jemand an Bord und führte mich übers Rollfeld zu einem anderen Flugzeug. Ein Zwei-Meter-zehn-Glatzkopf im schwarzen Anzug, eine Kette mit großem Silbermedaillon um den Hals.«

»Da warst du in Minsk.«

»Minsk«, sagte ich.

»In Weißrussland.«

»Ich glaube, da hat keiner meinen Pass abgestempelt. Das Flugzeug war anders als das erste.«

»Rusjet-Charter.«

»Kleiner, weniger Luxus, keine anderen Passagiere. Weißrussland«, sagte ich.

»Von dort aus bist du Richtung Südosten geflogen.«

»Ich war schläfrig, betäubt, halb tot. Ob die nächste Etappe nonstop war oder nicht, keine Ahnung. Ich weiß nicht mal, wie viele Etappen die ganze Reise hatte. Ich schlief, träumte, halluzinierte.«

»Was hast du in Boston gemacht?«

»Meine Freundin wohnt da.«

»Anscheinend wohnst du nie mit deinen Freundinnen in einer Stadt. Warum eigentlich?«

»Es macht die Zeit wertvoller.«

»Ganz anders als hier«, sagte er.

»Ich weiß. Das habe ich schon gelernt. Hier gibt es keine Zeit.«

»Oder die Zeit ist so überwältigend, dass wir ihr Vergehen anders empfinden.«

»Ihr versteckt euch davor.«

»Wir geben ihr nach.«

Jetzt war ich dran mit dem Herumlümmeln. Ich wollte eine rauchen. Ich hatte mir das Rauchen schon zweimal abgewöhnt und wollte jetzt wieder anfangen und wieder aufhören. Ich sah das als lebenslangen Kreislauf vor mir.

»Kann ich eine Frage stellen, oder nehme ich alles nur hin? Ich will die Regeln kennen.«

»Wie lautet die Frage?«

»Wo sind wir?«, fragte ich.

»Die nächste Stadt, die man als solche bezeichnen kann, liegt jenseits der Grenze, Bischkek, die Hauptstadt von Kirgistan. Dann gibt es Almaty, größer und weiter weg, in Kasachstan. Aber Almaty ist nicht die Hauptstadt. Das war früher so. Die Hauptstadt ist jetzt Astana, mit goldenen Wolkenkratzern und überdachten Shoppingmalls, wo die Leute auf künstlichen Sandstränden abhängen, bevor sie ins nächste Wellenbad springen. Wenn du erst mal die Ortsnamen kennst und weißt, wie man sie schreibt, fühlst du dich weniger fern von allem.«

»So lange werde ich nicht hier sein.«

»Stimmt«, sagte er. »Aber es gibt eine neue Prognose für Artis. Sie rechnen jetzt einen Tag später damit.«

»Ich dachte, das Timing hier wäre überaus präzise.«

»Du musst nicht bleiben. Das wird sie verstehen.«

»Ich bleibe. Natürlich bleibe ich.«

»Der Körper neigt selbst unter detailliertester Steuerung dazu, bestimmte Entscheidungen zu beeinflussen.«

»Wird sie eines natürlichen Todes sterben, oder wird der letzte Atemzug herbeigeführt?«

»Es gibt etwas jenseits des letzten Atemzugs, verstehst du? Und das ist nur der Prolog zu etwas Größerem, das darauf folgt, verstehst du?«

»Das klingt sehr geschäftsmäßig.«

»Tatsächlich wird es sehr sanft verlaufen.«

»Sanft.«

»Schnell, sicher und schmerzlos.«

»Sicher.«

»Es soll unbedingt in präziser Feinabstimmung mit den sorgfältig ausgefeilten Methoden passieren. Wie es am besten zu ihrem Körper und zu ihrer Krankheit passt. Ja, sie könnte ein paar Wochen länger leben, aber wozu?«

Jetzt beugte er sich mit aufgestützten Ellbogen vor.

»Warum hier?«, fragte ich.

»In zwei anderen Ländern gibt es Labore und Techcenter. Hier ist die Basis, die Kommandozentrale.«

»Aber warum so abgelegen? Warum nicht die Schweiz? Oder ein Vorort von Houston?«

»Wir wollen die Dinge lieber getrennt halten. Wir haben alles, was es braucht. Dauerhafte Energiequellen und starke Maschinensysteme. Explosionsschutzwälle und verstärkte Fußböden. Strukturelle Redundanz. Brandschutz. Sicherheitspatrouillen zu Land und in der Luft. Hoch entwickelten Cyberschutz. Und so weiter.«

Strukturelle Redundanz. Das sagte er gern. Er zog eine Schreibtischschublade auf und hielt eine Flasche irischen Whiskey hoch. Er zeigte auf ein Tablett mit zwei Gläsern, und ich ging quer durchs Zimmer und holte es. Wieder am Schreibtisch, inspizierte ich die Gläser nach Spuren von Sand oder Splitt.

»Die Leute in den Büros hier. Im Verborgenen. Was tun die?«

»Sie arbeiten an der Zukunft. An einer neuen Idee von Zukunft. Gab es so noch nicht.«

»Und das muss hier sein.«

»Über dieses Land sind seit Jahrtausenden Nomaden gezogen. Schafhirten im offenen Gelände. Es ist nicht von der Geschichte zugerichtet und verdichtet worden. Die Geschichte liegt hier begraben. Vor dreißig Jahren war Artis an Ausgrabungen irgendwo nordöstlich von hier beteiligt, Richtung China. Geschichte in Grabhügeln. Wir befinden uns außerhalb von Begrenzungen. Wir vergessen alles, was wir bisher wussten.«

»Hier kannst du sogar deinen Namen vergessen.«

Er hob sein Glas und trank. Der Whiskey war ein Rare Blend, dreifach destilliert, streng limitierte Produktion. Er hatte mir vor Jahren in allen Einzelheiten davon erzählt.

»Was ist mit dem Geld?«

»Wessen?«

»Deins. Bist offenbar groß eingestiegen.«

»Ich hab mich immer für einen seriösen Menschen gehalten. Meine Arbeit, das Bemühen, das Engagement. Dann, später, die Zeit, die ich anderen Dingen wie Kunst widmen konnte, dem Verständnis für Denken, Traditionen und Innovationen. Bedeutet mir inzwischen viel«, sagte er. »Das Werk selbst, ein Bild an der Wand. Dann habe ich mit seltenen Büchern angefangen. Habe Stunden und Tage in Bibliotheken verbracht, in zugangsbeschränkten Bereichen, und nicht, weil ich unbedingt was kaufen wollte.«

»Du hattest Zugang, wo andere keinen hatten.«

»Aber ich war nicht zum Kaufen da; sondern um davorzustehen und zu schauen. Oder davorzuhocken. Um die Titel auf den Buchrücken der unbezahlbaren Bücher in ihren vergitterten Regalen zu lesen. Artis und ich. Du und ich, einmal, in New York.«

Der sanft brennende Whiskey ging mir die Kehle runter, und ich schloss kurz die Augen, während Ross Buchtitel aus Bibliotheken in mehreren Weltstädten aufzählte.

»Aber was ist seriöser als Geld?«, fragte ich. »Wie sagt ihr Finanzleute, Exposure? Was ist deine Exposure bei diesem Projekt?«

Ich sprach ohne Schärfe. Ich sagte all das ruhig, ohne Ironie.

»In dem Augenblick, als mir dank meiner Recherchen die Bedeutung der Idee und das Potenzial dahinter klar geworden waren, die vielfältigen Weiterungen«, sagte er, »traf ich eine Entscheidung, die ich so niemals vorausgesehen hätte.«

»Hast du jemals etwas vorausgesehen?«

»Meine erste Ehe«, sagte er.

Ich starrte in mein Glas.

»Und wer war sie?«

»Gute Frage. Tiefgründige Frage. Wir hatten einen Sohn, aber abgesehen davon.«

Ich wollte ihn nicht anschauen.

»Aber wer war sie?«

»Sie war im Wesentlichen eines. Sie war deine Mutter.«

»Nenn sie beim Namen.«

»Haben wir uns jemals beim Namen genannt, sie und ich?«

»Nenn sie beim Namen.«

»Nennen sich Menschen, die so miteinander verheiratet sind, wie wir es waren, auf unsere ungewöhnliche Weise, die so ungewöhnlich nicht ist, nennen die sich jemals gegenseitig beim Namen?«

»Nur ein Mal. Ich muss jetzt hören, wie du sie beim Namen nennst.«

»Wir hatten einen Sohn. Den haben wir beim Namen genannt.«

»Tu mir den Gefallen. Mach schon. Nenn sie beim Namen.«

»Weißt du noch, was du eben gesagt hast? Hier kannst du sogar deinen Namen vergessen. Es gibt viele Arten, seinen Namen zu verlieren.«

»Madeline«, sagte ich. »Meine Mutter Madeline.«

»Jetzt weiß ich es wieder, ja.«

Lächelnd lehnte er sich in einer Pose gespielten Erinnerns zurück, dann wechselte er mit einem gut getimten Manöver den Gesichtsausdruck und sprach mich an, scharf.

»Denk mal daran, was hier ist und wer hier ist. Denk dir, das kleine Elend, das du seit Jahren hortest, wäre mit einem Mal vorbei. Denk über das Persönliche hinaus. Lass es hinter dir. Was in dieser Gemeinschaft geschieht, hat nicht allein die Medizin hervorgebracht. Hier machen Sozialtheoretiker mit, Biologen, Futuristen, Genforscher, Klimatologen, Neurowissenschaftler, Psychologen und Ethiker, falls das Wort hier passt.«

»Wo sind sie?«