Falling Man - Don DeLillo - E-Book

Falling Man E-Book

Don DeLillo

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Beschreibung

Ein kühnes Meisterwerk – Don DeLillos großer Roman über den 11. September New York am 11. September. Eine Stadt in Asche und Rauch. In eindringlichen Bildern zeichnet Don DeLillo den Ablauf der Ereignisse nach: von den Tätern zu den Opfern, von Hamburg nach New York. Erzählt wird das Leben einer Familie, die berührende Geschichte einer Liebe, der Alltag nach der Katastrophe. Keith Neudecker, der im World Trade Center gearbeitet hat, kann sich am 11. 9. aus einem der brennenden Türme retten. Er sieht, was geschieht, ohne es zu begreifen, und schlägt sich wie in Trance zu seiner Ex-Frau Lianne und seinem kleinen Sohn Justin durch. In ihrer Verzweiflung klammern sich Keith und Lianne aneinander, sie wollen aus der Einsamkeit der Angst in ein gemeinsames Leben zurückfinden. Gespräche, vor allem in Liannes Familie, kreisen um den Schock, um den Terrorismus als ständige Bedrohung. Justin und seine Freunde versuchen im Spiel ihre Angst vor den Terroristen zu überwinden. Keith durchlebt immer wieder das Trauma der Flucht aus den Türmen, und Lianne irrt ziellos durch die Stadt. Und dann sieht sie voller Entsetzen Falling Man, einen Performance-Künstler. Nur mit einem Seil gesichert, stürzt er sich als Chronist des Zeitalters des Terrors hoch oben von den Wolkenkratzern in die Tiefe. Der Terror bestimmt die Realität. »Falling Man« ist ein weiterer Höhepunkt in DeLillos Werk. Von Neuem beweist der Autor, wie scharfsinnig und zugleich sensibel er einschneidende Ereignisse wahrnimmt. Mit großer sprachlicher Kunst und Prägnanz gelingt es Don DeLillo, das scheinbar Unsagbare überzeugend in Worte zu fassen. Die Originalausgabe des Romans erschien am 15. 5. 2007 in den USA.

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Seitenzahl: 335

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Don DeLillo

Falling Man

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Frank Heibert

Kurzübersicht

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Inhaltsverzeichnis

Dank

Teil Eins Bill Lawton

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

In der Marienstraße

Teil Zwei Ernst Hechinger

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

In Nokomis

Teil Drei David Janiak

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

Im Hudson-Korridor

Inhaltsverzeichnis

Der Übersetzer möchte sich bedanken: beim Deutschen Übersetzerfonds für die Förderung der Übersetzung durch ein Arbeitsstipendium und bei der Lektorin Bärbel Flad für die fruchtbare und schöne Zusammenarbeit.

Inhaltsverzeichnis

Teil EinsBill Lawton

1

ES WAR KEINE STRASSE MEHR, sondern eine Welt, Zeit und Raum aus fallender Asche und nahezu Nacht. Er ging nordwärts durch Trümmer und Schlamm, und Menschen rannten an ihm vorbei, hielten sich Handtücher ans Gesicht oder Jacken über den Kopf. Sie hatten Taschentücher auf den Mund gepresst. Sie hatten Schuhe in den Händen, eine Frau mit einem Schuh in jeder Hand, rannten an ihm vorbei. Sie rannten und fielen, einige von ihnen, verwirrt und unbeholfen, überall kamen Trümmerbrocken herunter, und Menschen suchten unter Autos Schutz.

Das Röhren hing immer noch in der Luft, das Bersten und Rumpeln des Einsturzes. Das war jetzt die Welt. Qualm und Asche kamen die Straße entlanggewalzt und um die Ecken, stoben um die Ecken, seismische Qualmfluten und vorbeizischendes Schreibpapier, Normblätter mit scharfen Kanten, vorbeistreichend, peitschend, anderweltliche Dinge im Sarg dieses Morgens.

Er trug einen Anzug, hatte eine Aktentasche in der Hand. Glas in seinen Haaren und im Gesicht, marmorierte Beulen aus Blut und Licht. Er ging an einem Breakfast-Special-Schild vorbei, und sie kamen rennend auf ihn zu, rennende Cops und Wachmänner, die Hände fest auf die Pistolengriffe gepresst, damit die Waffen steckenblieben.

Die Dinge waren fern und still dort drin, wo er hätte sein sollen. Es geschah überall, ein Auto halb unter Schutt und Asche begraben, zerborstene Fenster, aus denen Geräusche drangen, Funkstimmen, die an den Trümmern kratzten. Er sah Menschen, von denen beim Rennen das Wasser stob, Kleider und Körper durchnässt von den Sprinkleranlagen. Weggeworfene Schuhe auf der Straße, Handtaschen und Laptops, ein Mann saß auf dem Bürgersteig und spuckte Blut. Pappbecher kamen seltsam vorbeigehüpft.

Auch das war die Welt, an Fenstern in dreihundert Meter Höhe Gestalten, die in den leeren Raum fielen, und der Gestank von brennendem Kerosin und das stetige Gellen von Sirenen in der Luft. Der Lärm lag überall, wo sie hinrannten, Geräuschschichten stapelten sich, und er ging davon weg und zugleich hinein.

Dann war da noch etwas Anderes, außerhalb all dessen, was nicht dazugehörte, hoch oben. Er sah zu, wie es herunterkam. Ein Hemd kam herunter aus dem hohen Qualm, ein Hemd, emporgeweht und im spärlichen Licht treibend und dann wieder abwärtsstürzend, auf den Fluss zu.

Sie rannten, und dann blieben sie stehen, einige von ihnen, standen schwankend da und versuchten, Atem zu holen aus der brennenden Luft, und die anfallartigen, ungläubigen Schreie, Flüche und verlorenen Rufe und das Papier, das sich in der Luft ansammelte, vorbeifliegende Verträge, Lebensläufe, intakte Fetzen Geschäftsleben, rasch im Wind.

Er ging immer weiter. Da waren Jogger stehengeblieben, andere bogen in Seitenstraßen ab. Einige liefen rückwärts, den Blick auf den Mittelpunkt gerichtet, all die sich windenden Leben dort hinten, und unablässig fielen Dinge herunter, brennende Gegenstände mit Feuerschweif.

Er sah zwei Frauen rückwärts taumeln, die schluchzend an ihm vorbeistarrten, beide in Laufshorts, und ihre Gesichter brachen zusammen.

Er sah Mitglieder der Tai-Chi-Gruppe aus dem Park in der Nähe, mit ausgestreckten Händen ungefähr in Brusthöhe standen sie da, die Ellbogen gebeugt, als könnte man all dies, auch sie, vorübergehend außer Kraft setzen.

Jemand kam aus einem Diner und wollte ihm eine Flasche Wasser geben. Es war eine Frau mit Mundschutz und Basecap, und sie zog die Flasche wieder zurück und drehte den Verschluss ab und stieß sie ihm dann wieder entgegen. Er setzte die Aktentasche ab, um die Flasche zu nehmen, halb bewusst, dass er den linken Arm nicht benutzte, dass er die Tasche absetzen musste, bevor er die Flasche nehmen konnte. Drei Polizeitransporter schlingerten um die Ecke und rasten mit heulenden Sirenen downtown. Er schloss die Augen und trank, spürte, wie das Wasser in seinen Körper drang und Staub und Ruß hinabspülte. Die Frau sah ihn an. Sie sagte etwas, das er nicht hörte, und er reichte ihr die Flasche zurück und nahm die Aktentasche. In dem langen Schluck Wasser lag ein Nachgeschmack von Blut.

Er setzte sich wieder in Bewegung. Ein Einkaufswagen stand hochkant und leer da. Dahinter eine Frau, ihm zugewandt, Absperrband um den Kopf, um das Gesicht gewickelt, gelbes Signalband, mit dem die Polizei einen Tatort markiert. Ihre Augen waren dünne weiße Kräusel in der grellen Maske, und sie umklammerte den Griff des Einkaufswagens und stand da und sah in den Qualm.

Nach einer Weile hörte er den zweiten Einsturz. Er überquerte die Canal Street und sah die Dinge allmählich anders, irgendwie. Sie wirkten nicht aufgeladen wie sonst, die gepflasterte Straße, die Cast-Iron-Gebäude. Irgendetwas Entscheidendes fehlte den Dingen überall. Sie waren unfertig, was immer das heißt. Sie waren ungesehen, was immer das heißt, Schaufenster, Laderampen, graffitibesprühte Wände. Vielleicht ist das der Anblick der Dinge, wenn keiner da ist, sie zu sehen.

Er hörte den zweiten Einsturz oder spürte in der zitternden Luft, wie der Nordturm niederging, ein leises, ehrfürchtiges Aufstöhnen von Stimmen in der Ferne. Das war er, der da niederging, mit dem Nordturm.

Der Himmel war heller hier, er konnte leichter atmen. Da waren andere hinter ihm, Tausende, die die mittlere Entfernung ausfüllten, eine nahezu geordnete Masse, Menschen, die aus dem Qualm herausliefen. Er ging immer weiter, bis er stehenbleiben musste. Es traf ihn schnell, das Bewusstsein, dass er nicht mehr weitergehen konnte.

Er versuchte sich zu sagen, dass er am Leben war, aber der Gedanke war zu vage, um sich festzusetzen. Keine Taxis unterwegs, überhaupt wenig Verkehr, und dann tauchte ein alter Lieferwagen auf, Electrical Contractor, Long Island City, und fuhr rechts ran, und der Fahrer beugte sich zum Beifahrerfenster und musterte, was er sah, einen Mann voll Ascheflocken, voll pulverisierter Materie, und fragte ihn, wo er hinwolle. Erst als er in den Wagen stieg und die Tür schloss, begriff er, wohin er die ganze Zeit gegangen war.

2

ES WAREN NICHT NUR DIESE TAGE und Nächte im Bett. Zuerst war überall Sex, in Worten, Sätzen, halben Gesten, der einfachsten Andeutung veränderten Raums. Wenn sie ein Buch oder eine Zeitschrift hinlegte und sich eine kleine Pause um sie beide einstellte. Das war Sex. Wenn sie gemeinsam eine Straße entlanggingen und sich in einem schmutzigen Fenster sahen. Ein Treppenhaus war Sex, die Art, wie sie nah an der Wand entlangging und er gleich hinterher, Berührung oder nicht, leichtes Streifen oder festes Schmiegen, wenn sie spürte, wie er sie von unten bedrängte, mit der Hand um ihren Schenkel strich und sie festhielt, wie er hoch- und herumfuhr, wie sie sein Handgelenk packte. Wie sie ihre Sonnenbrille kippte, wenn sie sich umdrehte und ihn ansah, oder der Film im Fernsehen, wenn die Frau in das leere Zimmer kommt, und es ist egal, ob sie ans Telefon geht oder ihren Rock auszieht, Hauptsache, sie ist allein und wird von ihnen gesehen. Das gemietete Strandhaus nachts zu betreten war Sex, nach der langen, steifen Fahrt, sie fühlte sich wie zusammengeschweißt an den Gelenken, und dann hörte sie das weiche Wogen der Brandung jenseits der Dünen, Aufprall und Ablauf, und das war die Trennungslinie, das Rauschen da draußen im Dunkeln, das den Puls der Erde im Blut schlagen ließ.

Sie saß da und dachte daran. Die frühen Zeiten vor acht Jahren, im Geist trieb sie hinein und wieder hinaus, frühe Zeiten der irgendwann eintretenden endlosen Düsternis namens Ehe. Die Post des Tages lag auf ihrem Schoß. Sie hatte Dinge zu erledigen, und es gab Vorfälle, die diese Dinge verdrängten, aber sie starrte an der Lampe vorbei auf die Wand, an die sie projiziert zu sein schienen, der Mann und die Frau, Körper unvollständig, aber hell und real.

Die Ansichtskarte oben auf dem Bündel Rechnungen und anderer Post war es, durch die sie ruckartig wieder zurückgeholt wurde. Sie warf einen Blick auf das Geschriebene, den hingekritzelten Routinegruß einer Freundin, die gerade in Rom war, dann betrachtete sie wieder die Vorderseite der Karte. Es war eine Reproduktion des Buchumschlags von Shelleys Versepos in zwölf Cantos, Erstausgabe, mit dem Titel The Revolt of Islam. Selbst im Postkartenformat wirkte der Buchumschlag eindeutig wunderschön gestaltet, das große illustrierte R, verziert mit Tieren, einem Widderkopf und etwas, das ein fantastischer Fisch mit Rüssel und Stoßzahn sein mochte. The Revolt of Islam. Die Karte stammte aus dem Keats-Shelley-Haus an der Piazza di Spagna, und in den ersten, angespannten Sekunden begriff sie, dass die Karte ein oder zwei Wochen davor abgeschickt worden war. Es war ein schlichter Zufall, oder auch nicht so schlicht, dass eine Karte zu diesem besonderen Zeitpunkt eintraf und den Titel dieses bestimmten Buches trug.

Das war alles, ein verlorener Augenblick am Freitag jener Woche, die ein Leben dauerte, drei Tage nach den Flugzeugen.

 

Sie sagte zu ihrer Mutter: »Es konnte nicht sein, auferstanden von den Toten, und da stand er in der Tür. Ein Glück, dass Justin hier bei dir war. Denn es wäre schrecklich für ihn gewesen, seinen Vater so zu sehen. Von Kopf bis Fuß wie grauer Ruß, was weiß ich, wie Rauch, und da stand er, mit Blut auf dem Gesicht und den Kleidern.«

»Wir haben ein Puzzle gemacht, ein Tierpuzzle, Pferde auf einer Wiese.«

Die Wohnung ihrer Mutter lag nicht weit von der Fifth Avenue, mit Kunst an den Wänden, in sorgfältigen Abständen, und kleinen Bronzeskulpturen auf Tischen und Regalen. Heute war das Wohnzimmer in einem Zustand glücklicher Unordnung. Justins Spielzeug und Spiele lagen überall auf dem Boden verstreut und unterwanderten die Zeitlosigkeit des Raums, und das war schön, fand Lianne, denn ansonsten fiel es schwer, in so einer Umgebung nicht zu flüstern.

»Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich meine, wo das Telefon nicht ging. Am Ende sind wir ins Krankenhaus gelaufen. Zu Fuß, Schritt für Schritt, als ob man ein Kind begleitet.«

»Warum war er denn überhaupt da, in deiner Wohnung?«

»Ich weiß nicht.«

»Warum ist er nicht direkt ins Krankenhaus? Da unten, downtown. Warum ist er nicht zu Freunden?«

Freunden hieß Freundin, ein unvermeidlicher Seitenhieb, das musste einfach sein, sie konnte nicht anders.

»Ich weiß nicht.«

»Ihr habt es nicht besprochen. Wo ist er jetzt?«

»Es geht ihm gut. Das war’s erst mal mit Ärzten.«

»Was habt ihr besprochen?«

»Keine größeren Probleme, körperlich.«

»Was habt ihr besprochen?«, fragte sie.

Nina Bartos, ihre Mutter, hatte an Universitäten in Kalifornien und New York gelehrt und war vor zwei Jahren in Rente gegangen, die Soundso-Professorin von Dings, wie Keith einmal gesagt hatte. Sie war blass und dünn, ihre Mutter, seitdem sie ein neues Knie bekommen hatte. Sie war endlich und entschlossen alt. Das wollte sie anscheinend, alt und müde sein, das Alter annehmen, aufnehmen, sich damit umgeben. Die Stöcke, die Medikamente, die Mittagsschläfchen, die Diätvorschriften, die Arzttermine.

»Im Moment ist nichts zu besprechen. Er muss die Dinge auf Abstand halten, inklusive Besprechungen.«

»Wortkarg.«

»Du kennst Keith.«

»Das habe ich immer an ihm bewundert. Er erweckt den Eindruck, als gäbe es etwas Tiefgründigeres als Wandern und Skilaufen oder Karten spielen. Aber was?«

»Klettern. Nicht zu vergessen.«

»Und du bist mitgefahren. Das hatte ich vergessen.«

Ihre Mutter bewegte sich auf dem Stuhl, Füße auf den passenden Hocker gelegt, Spätvormittag, immer noch im Morgenmantel und gierig nach einer Zigarette.

»Ich mag seine Wortkargheit oder was immer es ist«, sagte sie. »Aber pass auf.«

»Er ist wortkarg bei dir, oder war es, die paar Male, als es tatsächlich zu einer Kommunikation kam.«

»Pass auf. Er war in großer Gefahr, ich weiß. Er hatte Freunde da drin. Das weiß ich auch«, sagte ihre Mutter. »Aber wenn du dein Urteilsvermögen von deinem Mitgefühl und deinem guten Willen beeinflussen lässt.«

Die Gespräche mit Freunden und früheren Kollegen über neue Knie, neue Hüften, über die Grausamkeiten von Kurzzeitgedächtnis und Langzeitkrankenversicherung. All das war Liannes Vorstellung von ihrer Mutter so fremd, dass sie manchmal ein theatralisches Element dabei vermutete. Nina versuchte, sich mit dem unaufhaltsamen Fortschreiten des Alters zu arrangieren, indem sie ein Drama daraus machte, und das verlieh ihr ein gewisses Maß an ironischer Distanz.

»Und Justin. Dass er jetzt wieder einen Vater im Haus hat.«

»Dem Kind geht’s gut. Wer weiß schon, wie es dem Kind geht? Es geht ihm gut, er ist zurück in der Schule«, sagte sie. »Die haben sie wieder aufgemacht.«

»Aber du machst dir Sorgen. Das weiß ich. Du steigerst dich in deine Ängste hinein.«

»Was kommt als Nächstes? Fragst du dich das nicht? Nicht nur nächsten Monat. Auf Jahre hinaus.«

»Nichts kommt als Nächstes. Es gibt kein Nächstes. Das hier war das Nächste. Vor acht Jahren haben sie in einem der Türme eine Bombe gelegt. Da hat keiner gesagt, was kommt als Nächstes. Das hier war das Nächste. Der Zeitpunkt für Angst ist dann, wenn es keinen Grund zur Angst gibt. Jetzt ist es zu spät.«

Lianne stand am Fenster.

»Aber als die Türme fielen.«

»Genau.«

»Als das geschah.«

»Genau.«

»Da hab ich gedacht, er ist tot.«

»Ich auch«, sagte Nina. »So viele haben zugesehen.«

»Und gedacht, er ist tot, sie ist tot.«

»Genau.«

»Zugesehen, wie diese Gebäude fielen.«

»Erst der eine, dann der andere. Genau«, sagte ihre Mutter.

Sie hatte mehrere Gehstöcke zur Auswahl, und manchmal, in den leeren Stunden, an den Regentagen, ging sie die Straße hoch zum Metropolitan Museum und sah sich Bilder an. Sie sah sich drei oder vier Bilder in anderthalb Stunden Sehen an. Sie schaute sich das an, was standhielt. Sie mochte die großen Säle, die alten Meister, das, was standhielt, was Auge und Geist ergriff, Erinnerung und Identität. Dann ging sie nach Hause und las. Sie las und schlief.

»Natürlich ist das Kind ein Segen, aber abgesehen davon, das weißt du besser als ich, war es ein großer Fehler, diesen Mann zu heiraten, und du hast es gewollt, du hast förmlich danach gesucht. Du wolltest ein ganz bestimmtes Leben leben, ohne Rücksicht auf die Folgen. Du wolltest etwas ganz Bestimmtes, und du dachtest, Keith.«

»Was wollte ich?«

»Du dachtest, Keith würde dich da hinbringen.«

»Was wollte ich?«

»Ein gefährliches Gefühl von Lebendigsein. Das war eine Eigenschaft, die du mit deinem Vater verknüpft hast. Aber zu Unrecht. Dein Vater war im Grunde ein vorsichtiger Mann. Und dein Sohn ist ein wunderbares, sensibles Kind«, sagte sie. »Aber abgesehen davon.«

Eigentlich liebte sie dieses Zimmer, ja, das tat Lianne, in seiner durchkomponierten Form, ohne herumliegendes Spielzeug und Spiele. Ihre Mutter wohnte erst seit ein paar Jahren hier, und Lianne sah es, wie ein Besucher vielleicht, als einen heiter selbstbezogenen Raum, was soll’s also, wenn er etwas einschüchternd war. Am meisten aber liebte sie zwei Stillleben an der nördlichen Wand, von Giorgio Morandi, einem Maler, über den ihre Mutter geforscht und geschrieben hatte. Das waren Gruppen von Flaschen, Krügen, Keksdosen, sonst nichts, aber es lag etwas in den Pinselstrichen, ein Geheimnis, das sie nicht benennen konnte, oder in den unregelmäßigen Kanten der Vasen und Krüge, irgendeine Erkundung nach innen, menschlich und obskur, weg von dem ganzen Licht und der Farbe der Gemälde. Natura morta. Der italienische Ausdruck für Stillleben klang stärker, als er sein musste, etwas unheilvoll sogar, aber das waren Fragen, die sie mit ihrer Mutter nicht besprochen hatte. Sollen sich die unterschwelligen Bedeutungen doch drehen und wenden im Wind, frei von amtlichen Kommentaren.

»Als Kind hast du gern Fragen gestellt. Beharrlich nachgebohrt. Aber du warst neugierig auf die falschen Dinge.«

»Es waren meine Dinge, nicht deine.«

»Keith wollte eine Frau, die bedauern würde, was sie mit ihm tat. Das ist sein Stil, eine Frau zu etwas zu bringen, was ihr leidtun wird. Und was du getan hast, das war nicht bloß eine Nacht oder ein Wochenende. Er war der Typ fürs Wochenende. Was du getan hast.«

»Das ist jetzt nicht der Moment.«

»Du hast den Mann tatsächlich geheiratet.«

»Und dann habe ich ihn rausgeworfen. Ich hatte starke Einwände, die sich mit der Zeit aufbauten. Deine Einwände betreffen etwas ganz Anderes. Er ist kein Gelehrter, kein Künstler. Malt nicht, schreibt keine Gedichte. Wenn er das täte, würdest du alles Andere übersehen. Er wäre der wütende Künstler. Er dürfte sich unsäglich benehmen. Sag mir eins.«

»Diesmal hast du mehr zu verlieren. Selbstachtung. Denk drüber nach.«

»Sag mir Folgendes. Welcher Maler darf sich unsäglicher benehmen, ein gegenständlicher oder ein abstrakter?«

Es klingelte, und sie ging zur Sprechanlage, um zu hören, was der Portier sagte. Sie wusste es vorher. Das war bestimmt Martin, auf dem Weg nach oben, der Liebhaber ihrer Mutter.

3

ER UNTERSCHRIEB EIN FORMULAR, dann noch eins. Leute auf Rolltragen und andere, nur wenige, in Rollstühlen, und es fiel ihm schwer, seinen Namen zu schreiben, und noch schwerer, den Krankenhauskittel auf seinem Rücken zuzubinden. Lianne war da und half ihm. Dann war sie nicht mehr da, und ein Pfleger setzte ihn in einen Rollstuhl und schob ihn einen Korridor entlang und in eine Reihe Untersuchungszimmer, während dringende Fälle vorbeirollten.

Ärzte in OP-Kleidung, mit Papiermundschutz, untersuchten seine Luftröhre und maßen seinen Blutdruck. Sie überprüften ihn wegen potenziell tödlicher Reaktionen auf Verletzung, Blutung, Austrocknung. Sie suchten nach Gewebe mit verringerter Durchblutung. Sie untersuchten die Prellungen an seinem Körper und spähten ihm in Augen und Ohren. Jemand machte ein EKG. Durch die offene Tür sah er IV-Ständer vorbeigleiten. Sie testeten seinen Händedruck und machten Röntgenaufnahmen. Sie sagten ihm Dinge, die er nicht aufnehmen konnte, über Bänder oder Knorpel, Riss oder Zerrung.

Jemand entfernte das Glas aus seinem Gesicht. Der Mann redete die ganze Zeit und benutzte ein Instrument, das er Splitterpinzette nannte, um kleine Glasfragmente herauszuziehen, die nicht so tief im Fleisch saßen. Er sagte, die meisten schlimmen Fälle lägen in den Krankenhäusern downtown oder in der Notfallklinik auf einem Pier. Er sagte, es erschiene nicht die erwartete Anzahl Überlebende. Er war aufgedreht wegen der Ereignisse und konnte nicht aufhören zu reden. Ärzte und Freiwillige warteten im Leerlauf, sagte er, weil die meisten Menschen, auf die sie warteten, da unten in den Ruinen seien. Er sagte, für die tiefer sitzenden Fragmente werde er einen Liberator benutzen.

»Bei Selbstmordattentaten. Vielleicht wollen Sie das gar nicht hören.«

»Ich weiß nicht.«

»Dort, wo es passiert, entwickeln die Überlebenden, die Menschen in der Nähe, die verletzt wurden, manchmal Monate später solche Knubbel, mir fehlt ein besserer Begriff, und es stellt sich heraus, dass diese von kleinen, von winzigen Fragmenten des Attentäterkörpers verursacht werden. Der Attentäter wird in Fetzen gerissen, buchstäblich Fetzen und Stücke, Fragmente von Fleisch und Knochen werden mit unglaublicher Kraft und Geschwindigkeit durch die Luft geschleudert, sie keilen, sie bohren sich in den Körper jedes Menschen, der in Treffweite ist. Kaum zu glauben, wie? Eine Studentin sitzt in einem Café. Sie überlebt den Anschlag. Und dann, Monate später, werden solche, wie kleine Fleischkügelchen gefunden, menschliches Fleisch, das unter ihre Haut getrieben wurde. So was heißt organisches Schrapnell.«

Er zupfte einen weiteren Glassplitter aus Keiths Gesicht.

»So etwas haben Sie, glaube ich, nicht«, sagte er.

 

Justins beste Freunde waren ein Junge und ein Mädchen, Geschwister, die in einem Hochhaus zehn Blocks entfernt wohnten. Lianne konnte sich anfangs nie an ihre Namen erinnern und nannte sie nur »die Geschwister«, und bald schon blieb der Name hängen. Justin sagte, so hießen sie sowieso, und sie dachte, was für ein witziger Junge, wenn er will.

Sie traf Isabel auf der Straße, die Mutter der Geschwister, und sie unterhielten sich an der Ecke.

»So sind Kinder, keine Frage, aber ich muss gestehen, langsam mache ich mir Gedanken.«

»Sie verschwören sich sozusagen.«

»Ja, und reden in einer Art Geheimsprache und stehen stundenlang am Fenster, in Katies Zimmer, bei verschlossener Tür.«

»Aber Sie wissen, dass sie am Fenster stehen.«

»Weil ich sie reden höre, wenn ich vorbeikomme, und ich weiß, wo sie stehen. Sie stehen am Fenster und reden in ihrer Geheimsprache. Vielleicht erzählt Ihnen Justin ja was.«

»Ich glaube kaum.«

»Weil es langsam etwas merkwürdig wird, ehrlich gesagt, stundenlang, erst irgendwie aneinandergedrängt und dann, ich weiß nicht, dieses endlose Geflüster in ihrem Halbkauderwelsch, so sind Kinder, keine Frage, aber trotzdem.«

Lianne wusste nicht recht, worum es hier eigentlich ging. Es ging um drei Kinder, die zusammen Kinder waren.

»Justin interessiert sich fürs Wetter. Ich glaube, die nehmen in der Schule gerade Wolken durch«, sagte sie und merkte gleich, wie hohl das klang.

»Sie flüstern nicht über Wolken.«

»Aha.«

»Es hat was mit diesem Mann zu tun.«

»Was für ein Mann?«

»Dieser Name. Den haben Sie doch gehört.«

»Dieser Name«, sagte Lianne.

»Ist das nicht der Name, den sie irgendwie vorwärts und rückwärts murmeln? Meine Kinder wollen absolut nicht über die Sache reden. Katie drückt die Sache durch. Sie macht ihrem Bruder einfach Angst. Ich dachte, vielleicht wissen Sie irgendwas.«

»Ich glaube kaum.«

»Also, Justin erzählt gar nichts von alldem?«

»Nein. Was für ein Mann?«

»Was für ein Mann? Eben«, sagte Isabel.

 

Er war groß, mit kurzen Haaren, und sie dachte, er sieht nach Army aus, nach Berufsmilitär, immer noch in Form, aber allmählich etwas verwittert, nicht vom Kämpfen, sondern von den fahlen Zwängen dieses Lebens, von der Trennung vielleicht, dem Alleinleben vielleicht oder dem Vatersein auf Distanz.

Er lag jetzt im Bett und beobachtete, wie sie einen Meter entfernt ihr Hemd zuknöpfte. Sie schliefen im selben Bett, weil sie es nicht über sich brachte, ihn aufs Sofa zu verbannen, und weil sie ihn gern neben sich hatte. Er schien nicht zu schlafen. Er lag auf dem Rücken und redete, meistens aber hörte er zu, und das war in Ordnung. Die Gefühle eines Mannes über alles Mögliche zu erfahren, das brauchte sie nicht, nicht mehr und nicht bei diesem Mann. Sie hatte die Freiräume gern, die er ließ. Sie zog sich gern vor ihm an. Sie wusste, die Zeit würde kommen, da er sie an die Wand drückte, bevor sie fertig angezogen war. Er würde aufstehen und sie anschauen, und sie würde unterbrechen, was sie gerade tat, und darauf warten, dass er kam und sie an die Wand drückte.

 

Er lag auf einem langen, schmalen Tisch in der verschlossenen Röhre. Ein Kissen unter den Knien und eine Lichtschiene über sich. Er versuchte, die Musik zu hören. In dem mächtigen Getöse des Kernspintomographen konzentrierte er sich auf die Instrumente, trennte eine Gruppe von der anderen, Streicher, Holzbläser, Blech. Das Getöse bestand aus heftigem Stakkatoklopfen, einem metallischen Scheppern, bei dem er sich fühlte wie im innersten Zentrum einer Science-Fiction-Stadt, kurz bevor sie untergeht.

Er trug einen Apparat am Handgelenk, der ein detailliertes Bild produzieren sollte, und das Gefühl, hilflos eingesperrt zu sein, brachte ihm etwas wieder in den Sinn, das die Radiologin gesagt hatte, eine Russin, deren russischen Akzent er beruhigend gefunden hatte, denn das sind ernsthafte Leute, die jedem einzelnen Wort Gewicht geben, und vielleicht hatte er sich deshalb auch für klassische Musik entschieden, als sie ihn aufgefordert hatte, sich etwas auszusuchen. Jetzt hörte er sie in seinem Kopfhörer sagen, dass die nächste Sequenz drei Minuten dauern würde, und als die Musik wieder einsetzte, dachte er an Nancy Dinnerstein, die eine Schlafklinik in Boston leitete. Leute bezahlten sie dafür, dass sie ihnen Schlaf brachte. Oder die andere Nancy, wie hieß sie gleich, kurz, zwischen beiläufigen Geschlechtsakten, in Portland damals, Oregon, ohne Nachnamen. Die Stadt hatte einen Nachnamen, die Frau nicht.

Das Getöse war unerträglich und wechselte zwischen dem knallenden Scheppern und einem elektronischen Puls in unterschiedlicher Tonhöhe. Er lauschte der Musik und dachte daran, was die Radiologin gesagt hatte, dass man, wenn es erst einmal vorbei ist, in ihrem russischen Akzent, die ganze Erfahrung sofort vergisst, so schlimm kann’s also gar nicht sein, sagte sie, und er fand, das hörte sich an wie eine Beschreibung des Sterbens. Aber das war ein anderes Thema, nicht wahr, mit einem anderen Getöse, und da windet sich der eingesperrte Mann auch nicht aus seiner Röhre. Er lauschte der Musik. Er strengte sich an, um die Flöten zu hören und von den Klarinetten zu unterscheiden, falls überhaupt Klarinetten dabei waren, aber es gelang ihm nicht, und die einzige Gegenkraft war Nancy Dinnerstein, betrunken in Boston, die ihm einen dumpfen, hilflosen Ständer verschaffte, als er an sie dachte in seinem zugigen Hotelzimmer mit eingeschränktem Blick auf den Fluss.

Er hörte die Stimme in seinem Kopfhörer sagen, dass die nächste Sequenz sieben Minuten dauern würde.

 

Sie sah das Gesicht in der Zeitung, den Mann von Flug 11. Zu diesem Zeitpunkt schien erst einer der neunzehn ein Gesicht zu haben, das aus dem Foto herausstarrte, angespannt, mit harten Augen, die zu wissend aussahen, um zum Gesicht auf einem Führerschein zu gehören.

 

Sie bekam einen Anruf von Carol Shoup, der Programmleiterin eines großen Verlages. Ab und zu hatte Carol Aufträge für Lianne, die als freie Lektorin meistens zu Hause oder in der Bibliothek arbeitete.

Von Carol stammte die Ansichtskarte aus Rom, aus dem Keats-Shelley-Haus, und sie gehörte zu den Leuten, die nach ihrer Rückkehr garantiert fröhlich jubilieren würden: »Hast du meine Karte bekommen?«

Immer in einem Ton, der zwischen verzweifelter Unsicherheit und beginnendem Groll schwankte.

Stattdessen fragte sie leise: »Störe ich gerade?«

Seit er zur Tür hereingekommen war und die Leute in den nächsten Tagen davon gehört hatten, riefen sie an und fragten: »Störe ich gerade?«

Natürlich meinten sie, Bist du beschäftigt, du musst doch beschäftigt sein, da muss ja gerade so viel ablaufen, soll ich später nochmal anrufen, kann ich etwas tun, wie geht es ihm, wird er eine Zeitlang bleiben, und schließlich, können wir uns zum Abendessen treffen, wir vier, an irgendeinem ruhigen Ort?

Es war seltsam, wie knapp sie dann wurde und wie nichtssagend, allmählich hasste sie diese Floskel, die nur von der eigenen replizierenden DNS geprägt war, und misstraute den Stimmen, die so getragen totengräberisch daherkamen.

»Denn dann«, sagte Carol, »können wir auch ein andermal reden.«

Lianne fühlte sich unwohl bei dem Gedanken, ihr Abschirmen des Überlebenden wäre womöglich selbstsüchtig, vom Anspruch auf Exklusivrechte geprägt. Nein, Keith war hier, weil er hier sein wollte, fern der Stimmen- und Gesichterflut, fern von Gott und Vaterland, er saß allein in stillen Räumen, und nur diejenigen waren bei ihm, auf die es ankam.

»Wobei, übrigens«, sagte Carol, »hast du meine Karte bekommen?«

Sie hörte Musik von irgendwoher im Haus, einem tieferen Stockwerk, und machte zwei Schritte zur Tür, hielt den Telefonhörer vom Ohr weg, und dann öffnete sie die Tür und stand lauschend da.

 

Jetzt stand sie am Fußende des Bettes und sah ihn daliegen, spät eines Abends, nachdem sie mit der Arbeit fertig war, und fragte ihn endlich, leise.

»Warum bist du hergekommen?«

»Das ist die Frage, nicht wahr?«

»Für Justin?«

Diese Antwort wünschte sie sich, weil sie ihr am sinnvollsten erschien.

»Damit er sehen konnte, dass du lebst«, sagte sie.

Aber es war auch nur die halbe Antwort, und sie merkte, sie musste noch etwas Anderes hören, das darüber hinausging, ein weitreichenderes Motiv für seine Handlung oder Intuition oder was immer es war.

Er überlegte lange.

»Es ist schwer zu rekonstruieren. Ich weiß nicht, was in meinem Kopf vor sich ging. Ein Mann fuhr in seinem Lieferwagen vorbei, ein Klempner, glaube ich, und er brachte mich her. Sein Autoradio war ihm geklaut worden, und er wusste wegen der vielen Sirenen, dass irgendwas los war, aber er wusste nicht, was. Irgendwann hatte er einen freien Blick Richtung downtown, aber er konnte nur einen Turm sehen. Er dachte, ein Turm würde ihm die Sicht auf den anderen verstellen, oder der Qualm vielleicht. Er sah den Qualm. Er fuhr ein Stück ostwärts und guckte nochmal hin, und da war nur ein Turm. Ein Turm, das ergab keinen Sinn. Dann wandte er sich Richtung uptown, weil er dort hinmusste, und schließlich sah er mich und nahm mich mit. Inzwischen war auch der zweite Turm weg. Acht Radios in drei Jahren, sagte er. Alle geklaut. Ein Elektriker, glaube ich. Er hatte eine Wasserflasche, die er mir die ganze Zeit ins Gesicht drückte.«

»Deine Wohnung, du wusstest, dass du da nicht hinkonntest.«

»Ich wusste, das Gebäude stand zu nah bei den Türmen, und vielleicht war mir klar, dass ich da nicht hinkonnte, vielleicht dachte ich auch nicht mal daran. Egal, das war nicht der Grund, warum ich hergekommen bin. Es war mehr als das.«

Jetzt fühlte sie sich besser.

»Er wollte mich ins Krankenhaus bringen, der Mann in dem Lieferwagen, aber ich hab ihm gesagt, er soll mich hierher fahren.«

Er sah sie an.

»Ich hab ihm diese Adresse gegeben«, sagte er, um es zu betonen, und sie fühlte sich noch besser.

 

Es war eine einfache Angelegenheit, ein ambulanter Eingriff, Bänder oder Knorpel, und Lianne wartete in der Aufnahme, um ihn nachher wieder in die Wohnung zu bringen. Auf dem Tisch dachte er an seinen Kumpel Rumsey, nicht lange, kurz bevor oder nachdem er das Schmerzempfinden verlor. Der Arzt, der Anästhesist, gab ihm eine Spritze mit einem schweren Betäubungsmittel oder irgendetwas anderem, einem Medikament, das die Erinnerung unterdrückte, vielleicht waren es auch zwei Spritzen, aber da saß Rumsey auf seinem Stuhl am Fenster, und das bedeutete, die Erinnerung war nicht unterdrückt oder das Mittel wirkte noch nicht, ein Traum, ein Wachbild, was immer es war, Rumsey im Qualm, Dinge, die herunterfielen.

Sie trat auf die Straße und dachte an Alltägliches, Abendessen, Reinigung, Geldautomat, das war’s, ab nach Hause.

An dem Buch, das sie gerade lektorierte, war eine Menge zu tun, für einen Universitätsverlag, über alte Schriftzeichen, das Abgabedatum nahte. Also schon mal das.

Sie fragte sich, wie der Junge wohl das Mango-Chutney finden würde, das sie gekauft hatte, oder vielleicht hatte er es schon gegessen, gegessen und gehasst, bei den Geschwistern, weil Katie mal davon gesprochen hatte oder sonst wer.

Der Autor war ein Bulgare, der auf Englisch schrieb.

Und da war noch etwas, die Taxis in breiten Reihen, drei oder vier Wagen nebeneinander rasten von der Ampel einen Block weiter unten auf sie zu, als sie auf halbem Überweg stehen blieb, um ihr Schicksal zu überdenken.

In Santa Fe war ihr ein Schild in einem Schaufenster aufgefallen, für »ethnisches Shampoo«. Damals reiste sie mit einem Mann durch New Mexico, mit dem sie in der Trennungszeit ausging, ein Fernsehboss, angeberisch belesen, mit kalkweiß gelaserten Zähnen, ein Mann, der ihr längliches Gesicht und ihren irgendwie träge-wendigen Körper liebte, wie er sagte, bis hin zu den knubbligen Extremitäten, und wie er sie untersuchte, mit dem Finger allen Wenden und Graten folgte, die er nach Zeitaltern der Erdgeschichte benannte, brachte sie anderthalb Tage lang immer wieder zum Lachen, oder vielleicht lag es auch an der Höhe überm Meeresspiegel, in der sie vögelten, im Himmel der Hochwüste.

Als sie jetzt zum Bürgersteig auf der anderen Seite rannte, mit einem Gefühl, als wäre sie ein Rock und eine Bluse ohne Körper, da war sie froh, sich hinter den langen, schimmernden Plastikhüllen aus der Reinigung zu verstecken, die sie am ausgestreckten Arm zwischen sich und die Taxis hielt, zur Selbstverteidigung. Sie stellte sich die konzentrierten, geschlitzten Augen der Fahrer vor, die den Kopf Richtung Steuerrad drückten, und da war immer noch die Frage, wie nötig sie es hatte, der Situation gewachsen zu sein, wie Martin es ausgedrückt hatte, der Liebhaber ihrer Mutter.

Also das, und Keith heute Morgen unter der Dusche, dumpf in den Wasserströmen, ein schwacher Schemen hinter Plexiglas.

Aber wieso war ihr das eingefallen, das ethnische Shampoo, mitten auf der Third Avenue, und die Antwort befand sich vermutlich nicht in einem Buch über alte Schriftzeichen, kleinteiliges Dechiffrieren, Inschriften auf gebranntem Ton, Rinde, Stein, Gebein und Papyrus. Der Witz, auf ihre Kosten, bestand darin, dass das Werk auf einer alten mechanischen Schreibmaschine getippt war und der Autor sämtliche Textverbesserungen in einer zutiefst leidenschaftlichen und unlesbaren Schrift vorgenommen hatte.

 

Der erste Cop sagte, er solle zum Checkpoint einen Block weiter östlich gehen, und er tat es, und da fuhren Militärpolizisten und Truppen in Humvees und ein Konvoi aus Kipplastern und Straßenkehrmaschinen durch die kurz beiseitegeschobenen Barrieren nach Süden. Er zeigte einen Ausweis mit Bild und Adressennachweis vor, und der Cop schickte ihn zum nächsten Checkpoint, weiter östlich, und er ging dorthin und sah, dass sich mitten über den Broadway eine Maschendrahtbarriere zog, bewacht von Truppen mit Gasmasken. Er sagte dem Cop am Checkpoint, dass er seine Katze füttern müsse, und wenn sie stürbe, wäre sein Kind kreuzunglücklich, und der Cop zeigte Mitgefühl, schickte ihn aber zum nächsten Checkpoint. Rettungswagen der Feuerwehr und Krankenwagen und Streifenwagen der State Police und Sattelschlepper und Fahrzeuge mit Bockkränen, alle durch die Barrikaden und in den Schleier aus Sand und Asche hinein.

Er zeigte dem nächsten Cop seinen Ausweis mit Bild und Adressennachweis und erzählte ihm, er habe Katzen zu füttern, drei an der Zahl, und wenn sie stürben, wären seine Kinder kreuzunglücklich, und er zeigte die Schiene an seinem linken Arm. Er musste aus dem Weg gehen, als eine Herde riesiger Bulldozer und Tiefbagger durch die beiseitegeschobenen Barrikaden fuhr, endlos aufjaulende Höllenmaschinen. Er fing mit dem Cop von vorne an und zeigte seine Handgelenkschiene und sagte, er brauche nur eine Viertelstunde in der Wohnung, um die Katzen zu füttern, dann werde er gleich wieder ins Hotel uptown zurückkehren, Tiere verboten, und die Kinder beruhigen. Der Cop sagte, okay, aber wenn Sie da unten angehalten werden, sagen Sie denen auf jeden Fall, Sie sind am Broadway-Checkpoint reingekommen, nicht hier.

Er arbeitete sich durch die erstarrte Zone südlich und westlich voran, passierte kleinere Checkpoints und umging andere. Ein Trupp Nationalgardisten in Kampfjacken und mit geschulterten Waffen. Ab und zu sah er eine Gestalt mit Mundschutz, Mann oder Frau, obskur und flüchtig, die einzigen anderen Zivilisten. Straßen und Autos waren von Asche bedeckt, und da lagen hohe Stapel Müllsäcke auf dem Bürgersteig und an Gebäudemauern. Er ging langsam, hielt nach etwas Ausschau, das er nicht benennen konnte. Alles war grau, war schlaff und dahin, Ladenfronten hinter Wellblechrollläden, eine Stadt irgendwo anders, unter permanenter Belagerung, und ein Gestank in der Luft, der in die Haut einzog.

Er stand an dem Rent-A-Fence-Maschendrahtzaun und starrte durch den Dunst auf die verbogenen filigranen Metallstränge, die letzten aufrechten Elemente, den skelettartigen Überrest des Turms, in dem er zehn Jahre gearbeitet hatte. Die Toten waren überall, in der Luft, in den Trümmern, auf den Dächern in der Nähe, im Wind, der vom Fluss herüberwehte. Sie hatten sich als Asche niedergeschlagen und nieselten auf die Fenster an allen Straßen, in seine Haare und auf seine Kleider.

Er merkte, dass sich jemand am Zaun neben ihn gestellt hatte, ein Mann mit Mundschutz und einem kalkulierten Schweigen, das gebrochen werden sollte.

»Gucken Sie sich das an«, sagte der Mann schließlich. »Ich sage mir, ich stehe hier. Schwer zu glauben, dass ich hier bin und es sehe.«

Seine Worte waren von dem Mundschutz gedämpft.

»Ich war zu Fuß unterwegs nach Brooklyn, als es geschah«, sagte er. »Ich wohne nicht dort. Ich wohne weit oben an der West Side, aber ich arbeite hier unten, und als es geschah, liefen alle über die Brücke nach Brooklyn, und ich mit. Ich lief über die Brücke, weil sie über die Brücke liefen.«

Es klang nach einer Sprachbehinderung, die Wörter waren erstickt und verwischt. Er holte sein Handy heraus und gab eine Nummer ein.

»Ich stehe hier«, sagte er, aber er musste es wiederholen, weil die Person, mit der er sprach, ihn nicht deutlich verstehen konnte.

»Ich stehe hier«, sagte er.

Keith strebte auf sein Apartmenthaus zu. Er sah drei Männer mit Helmen und NYPD-Windjacken, mit Suchhunden an kurzer Leine. Sie kamen auf ihn zu, und einer der Männer hielt den Kopf fragend schief. Keith erklärte ihm, wo er hinwollte, erwähnte die Katzen und die Kinder. Der Mann blieb stehen, um ihm zu sagen, dass der Turm an One Liberty Plaza, über fünfzig Stockwerke, verflucht nochmal jeden Moment auch einstürzen könne. Die anderen Männer standen ungeduldig daneben, und der erste Mann sagte ihm, das Gebäude bewege sich tatsächlich, messbar. Keith nickte und wartete, bis sie weg waren, und ging wieder nach Süden und dann wieder westwärts durch meist leere Straßen. Zwei chassidische Männer standen vor einem Laden mit zerbrochenem Fenster. Sie sahen tausend Jahre alt aus. Arbeiter mit Atemgeräten und Schutzanzügen scheuerten den Bürgersteig mit einer massiven Absaugpumpe sauber, als er sein Haus erreichte.

Die Eingangstüren waren eingedrückt oder eingetreten. Das waren keine Plünderer, dachte er. Er dachte, dass hier Menschen verzweifelt Schutz gesucht hatten, in Deckung gegangen waren, wo sie nur konnten, als die Türme zusammenbrachen. Die Eingangshalle stank nach dem nicht abgeholten Müll im Kellergeschoss. Er wusste, dass der Strom wieder funktionierte, und es gab keinen Grund, den Fahrstuhl nicht zu nehmen, aber er ging die acht Etagen zu seiner Wohnung zu Fuß hoch, mit Pausen im zweiten und sechsten Stock, wo er am näher gelegenen Ende der langen Korridore stand. Er stand da und lauschte. Das Gebäude schien leer zu sein, es fühlte und hörte sich leer an. Als er seine Wohnung betrat, verharrte er eine Weile und sah sich nur um. Die Fenster waren bedeckt von Sand- und Aschekrusten, und einzelne Papierfetzen, ja, ein ganzes Blatt waren in die Dreckschicht eingebacken. Alles Andere war genau so, wie er es hinterlassen hatte, als er an jenem Dienstagmorgen zur Arbeit gegangen war. Nicht dass er darauf geachtet hätte. Er hatte anderthalb Jahre hier gelebt, seit der Trennung, sich einen Ort gesucht, der nicht weit vom Büro entfernt lag, sein Leben konzentriert, zufrieden mit dem engstmöglichen Wirkungskreis, der durch Nichtbeachten entstand.

Aber jetzt schaute er hin. Etwas Licht drang zwischen den Schorfplacken am Fenster herein. Er sah den Ort jetzt anders. Im Grunde stand er hier und sah in diesen zweieinhalb düsteren, stillen Zimmern nichts, woran ihm lag, im schwachen Dunst der Unbewohntheit. Der Kartentisch, sonst nichts, mit seiner grün bezogenen Oberfläche, Fries oder Filz, Schauplatz des wöchentlichen Pokerspiels. Einer der Spieler sagte Fries, eigentlich eine Filzimitation, sagte er, und Keith ließ das mehr oder weniger gelten. Es war das eine unkomplizierte Intermezzo seiner Woche, seines Monats, das Pokerspiel – die eine Vorfreude, die nicht von den Spuren der Blutschuld gelöster Verbindungen befleckt war. Mit oder raus. Filz oder Fries.

Dies war das letzte Mal, dass er hier stehen würde. Es gab keine Katzen, es gab nur Kleider. Er legte ein paar Sachen in einen Koffer, ein paar Hemden und Hosen und seine Wanderstiefel aus der Schweiz, zum Teufel mit dem Rest. Dies und das und die Schweizer Stiefel, weil die Stiefel wichtig waren und der Pokertisch wichtig war, aber er würde den Tisch nicht brauchen, zwei Spieler tot, einer schwer verletzt. Ein einziger Koffer, sonst nichts, und sein Pass, die Scheckbücher, Geburtsurkunde und ein paar andere Dokumente, die staatlichen Identitätspapiere. Er stand da und schaute und fühlte etwas so Einsames, dass er es hätte berühren können. Am Fenster flatterte das unversehrte Blatt Papier im Wind, und er ging hinüber, um nachzuschauen, ob er etwas entziffern konnte. Stattdessen betrachtete er den sichtbaren Streifen von One Liberty Plaza und zählte die Stockwerke, auf halbem Wege nach oben verlor er das Interesse und dachte an etwas Anderes.

Er sah in den Kühlschrank. Vielleicht dachte er an den Mann, der früher hier gewohnt hatte, und er ging die Flaschen und Tüten nach einem Hinweis durch. Das Papier am Fenster raschelte, und er nahm den Koffer und ging zur Tür hinaus, die er hinter sich abschloss. Er ging ungefähr fünfzehn Schritt weit in den Korridor, weg vom Treppenhaus, und sprach mit einer Stimme nur knapp überm Flüstern.

Er sagte: »Ich stehe hier«, und dann, lauter: »Ich stehe hier.«

In der Filmfassung wäre irgendjemand im Gebäude, eine emotional gestörte Frau oder ein alter Obdachloser, und es gäbe Dialoge und Close-Ups.

In Wahrheit misstraute er dem Fahrstuhl. Er wollte das nicht wahrhaben, wusste es aber, unausweichlich. Er ging zu Fuß in die Eingangshalle hinunter, roch, dass mit jedem Schritt der Müll näher kam. Die Männer mit der Absaugpumpe waren fort. Er hörte das Dröhnen und Knirschen schwerer Maschinen am Schauplatz, Erdräumgerät, Bagger, die Beton zu Staub zerklopften, und dann ertönte eine Hupe, die Gefahr ankündigte, den möglichen Zusammenbruch eines Gebäudes in der Nähe. Er wartete, sie alle warteten, und dann ging das Knirschen wieder los.