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"Verschwörung ist für uns Amerikaner neu - Neu in dem Sinne, daß wir gerade dabei sind, sie für uns zu entdecken." Don DeLillo Die Leiche eines Mannes in Frauenkleidern wird in einem verlassenen Teil Manhattans gefunden. Das Opfer hatte versucht, die einzige noch existierende Kopie eines Films zu verkaufen – eines Films pornographischer Natur, gedreht im Führerbunker während der letzten Tage des Dritten Reichs. Der Film ist verschwunden. An der plötzlich einsetzenden und intensiven Suche beteiligen sich die verschiedenen potentiellen Käufer: ein einflußreicher Senator, ein Kunsthändler, ein pensionierter CIA- Agent, eine Journalistin, die für das radikale Blatt Bluthunde arbeitet, die Mafia, ein junger Sammler von Schund, ein desillusionierter Doppelagent. Was zunächst wie ein herkömmlicher Thriller erscheint, wird von DeLillo in diesem frühen Roman in ein vielschichtiges Kunstwerk verwandelt. Running Dog, Don DeLillos frühes Kultbuch – jetzt endlich in deutscher Übersetzung.
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Seitenzahl: 346
Don DeLillo
Bluthunde
Roman
Aus dem amerikanischen Englisch von Matthias Müller
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Für Eydie und Phil
Normalen Menschen begegnest du hier nicht. Nicht nach Einbruch der Dunkelheit, auf diesen Straßen, unter den Vordächern der alten Lagerhäuser. Das weißt du natürlich. Darum geht’s ja gerade. Deshalb bist du ja hier. Vom Fluss bläst der Wind und wirbelt die staubige Luft der Abbruchgrundstücke auf. Bei den Piers machen sich Obdachlose Feuerchen in rostigen Öltonnen. Du siehst sie in kleinen Grüppchen zusammengedrängt, eingemummt in alle möglichen Mäntel und abgewetzte Pullover, je nachdem, welche Kombination sie sich ergattern konnten. Bei den Lagerhäusern stehen geparkte Lastwagen, in einigen sitzen Männer, die rauchend im trüben Licht darauf warten, dass die Homosexuellen aus den Bars hinter der Canal Street hier herunterkommen. Du machst größere Schritte, aber nicht, um der Kälte zu entfliehen. Du magst diesen auffrischenden Wind. Du gehst um eine Ecke und bewegst dich kurz in ihn hinein, spürst, wie sich deine Oberschenkel unter dem angenehm festen Stoff herausformen. In den Baulücken glänzt zerbrochenes Glas wie weißer Muskovit. Vom Fluss kommt heute Nacht ein Geruch von Moschus.
Jetzt, Richtung Osten gewandt, siehst du vier auf eine Mauer gesprühte Buchstaben. Ein gekrakelter Mischmasch. ANGW. Doch irgendwie vertraut, brennt ein Loch in die Zeit. Und es kehrt jetzt wieder, aus einer Distanz von über zwanzig Jahren. Der Besuch in Salzburg. Die Cousinen, die Spiele, das Museum. Vier Buchstaben, auf einer festtäglichen Hellebarde eingraviert. Die Deutung deines Vaters: Alles nach Gottes Willen.
Inzwischen sind die Waffen gottlos geworden. Die Waffen haben ihre Religion verloren. Und Kinder sind erwachsen geworden und stellen fest, dass sie sonderbare Strecken zurückgelegt haben. Du spürst, gleich passiert es, noch um eine Ecke, dann ist da jemand, ein stummer Handel, der nichts mit Ware oder auch nur mit Dienstleistung zu tun hat – nur mit dem, was ihr wirklich seid. Seelen auf nächtlicher Wanderschaft, die auf ihre gegenseitigen Bedingungen eingehen. Mit jedem Schritt, den du tust, wächst in dir ein dunkles Hochgefühl.
Alles nach Gottes Willen. Der Gott des Körpers. Der Gott des Lippenstifts und der Seide. Der Gott des Nylons, des Parfums und des Schattens.
Der junge Mann fuhr einen zivilen Einsatzwagen am Hudsonufer in nördlicher Richtung. Sein Gefährte döste neben ihm auf dem Beifahrersitz. Als er nach Westen abbog, zum Fluss hinunter, erwartete Del Bravo, dass sich ihm ein bestimmtes Bild bieten würde. Stapel von Kisten und Pappkartons. Ein Baugerüst vor einer alten Hausfassade. Lkws und Planierraupen. Obdachlose um ein Feuer. Die Erfahrung sagte ihm, dass er das sehen würde.
Eine Frau hatte er nicht erwartet. Sie kam mit schwungvollem Schritt auf sie zu. Sie hatte lange dunkelblonde Haare, und schon aus der Entfernung, zwanzig Meter und immer weniger, sah er, wie attraktiv sie war. Ihr schwarzer Mantel war offen, darunter leuchtete ein knallrotes Kleid.
Keine Berufsprostituierte, die recht bei Verstand war, würde in so einer verlassenen Gegend ihre Runden drehen. Sie war ein ganz schöner Blickfang. Wenn sie überhaupt im Gewerbe war, dann bestimmt nicht vom Straßenstrich. Eine Geheimnummer. Ein weißer Wohnblock in den East Fifties. Für Del Bravo, der jetzt vom Gas ging, passte sie nicht in die Landschaft. Sicher, ein willkommener Anblick, aber auch leicht beunruhigend – sie passte nicht ins Bild.
Als sie am Wagen vorbei war, beobachtete er im Rückspiegel, wie sie sich dem Abbruchgelände näherte, mit diesem schönen, forschen, erotischen Gang. Hundertprozentig professionell, dachte er. Der Funk krächzte. Er überlegte sich, er könnte eine Runde um den Block drehen und sie noch einmal am Ende derselben langen Straße abpassen. Wo er ohnehin gerade nichts Besseres zu tun hatte, wollte er noch einen zweiten Blick auf sie werfen.
»Wach auf, Gannett.«
»Was gibt’s?«
»Sperr die Augen auf, G.G. Ich will dir was zeigen.«
»Wo sind wir?«
»Wart’s ab, bis ich hier mit meinem Manöver fertig bin.«
»Ich glaube, ich habe geträumt.«
»Verdammt, wo steckt sie denn jetzt?«, sagte Del Bravo.
»Ich hab von Felsen geträumt. Ein Strand voll mit großen Felsen. Riesengroße Felsen. Ich war da, aber irgendwie war ich auch nicht da.«
Die Straße war leer. Del Bravo ließ den Wagen langsam vorwärtsrollen. Niemand zu sehen. Er hatte sehr wenig Zeit gebraucht, um den Block zu umfahren. Bei dem Tempo, das sie vorgelegt hatte, müsste sie ungefähr jetzt diesen Straßenabschnitt erreicht haben.
Die Feuerstelle war unbeaufsichtigt. Vorhin hatten noch ein paar Männer in der Baulücke gestanden, um das Feuer herum. Es loderte immer noch. Niemand da. Das betrachtete er als Fast-Widerspruch.
Im Scheinwerferlicht leuchtete Staub auf, eine ziemlich starke Akkumulation. Sie schien aus dem ersten Stock eines Baugerüsts zu kommen, auf halber Straßenhöhe. Eine mögliche Diskrepanz. Vor ein paar Minuten kein Staub. Jetzt Staub. Gebäude sollte leer stehen. Bautrupp hat schon längst Feierabend.
»Du warst da, aber irgendwie warst du nicht da.«
»So träume ich manchmal«, sagte Gannett.
»Ich will mal einen Blick in dieses Gebäude hier werfen.«
»Warum denn, Robby?«
»Gib mir die Taschenlampe.«
Del Bravo schlich durch eine enge Gasse zwischen dem ausgebrannten Gebäude und dem, das östlich danebenstand. Wie er feststellte, waren die hinteren Fenster ebenso mit Brettern vernagelt wie die auf der Straßenseite. Er ging wieder zur Vorderseite des Gebäudes und sah sich das Gerüst etwas genauer an. Er spürte den Staub in Augen und Mund. Gannett beobachtete ihn schniefend vom Vordersitz aus.
»Du hast doch nicht etwa vor, da hochzuklettern, oder? Ich fänd’s nämlich grässlich, wenn ich extra aussteigen müsste, um dir da hochzuhelfen.«
»Wir beide wissen doch, wem du normalerweise hochhilfst.«
»Sag mir doch mal, was du eigentlich suchst, Robby. Damit ich ein bisschen Interesse zeigen kann.«
»Wenn ich an diese Schiene da rankomme, bin ich oben.«
Del Bravo hangelte sich an diversen miteinander verbundenen Stangen und Balken hoch, bis er die Plattform des ersten Stocks erreichte, die sich etwa sechs Meter über dem Boden befand. Hier gab es ein unverrammeltes Fenster, das dazu benutzt worden war, das Gebäude leerzuräumen. Del Bravo richtete den Lichtstrahl seiner Taschenlampe ins Innere. Stapel zusammengebundener Dielenbretter. Große Brocken Putz. Keine Zwischenwände. Herausgerissene Leitungen und Rohre. Er hörte Gannetts Stimme von unten.
»Vorsicht, der Boden könnte nachgeben.«
Der Strahl der Taschenlampe fiel genau auf sie, durch Wolken von Putzstaub hindurch, als er gerade durchs Fenster kletterte. Er nahm eine kurzläufige 38er aus dem Schultergurt unter seiner Holzfällerjacke und leuchtete den Boden ab. Er bewegte sich langsam vorwärts, auf der Hut vor herausragenden Nägeln, und insgesamt beunruhigt von der Atmosphäre, den Erscheinungen, einem Feld namenloser Ahnungen.
Sie lag auf dem Rücken, hell im grauen Dunst, den Kopf zur Seite gedreht. Es kam immer noch Blut aus ihr heraus, Körpermitte, unterhalb des Brustkorbs. Der ganze Staub, die Art und Weise, wie ihr Kopf verdreht war, und der Zustand ihrer Kleidung deuteten darauf hin, dass es einen Kampf gegeben hatte. Offensichtlich einen kurzen.
Del Bravo suchte die Umgebung der Leiche nach einer Waffe ab. Putz- und Holzstaub stiegen ihm in die Nase. Er roch auch Parfum und Schweiß, und er bemerkte, dass ihre Wimperntusche verwischt und die dicke Schicht Gesichtspuder an einigen Stellen rissig war. Von einem Pulsschlag keine Spur. Das Blut trat aus. Er ging wieder zum Fenster zurück.
»Gib einen Funkspruch durch, G.G.«
»Was gibt’s?«
»Eine Leiche, weiblich.«
Er untersuchte die ganze Umgebung, stieg über Gegenstände, achtete darauf, nichts zu verändern. Er steckte den Revolver weg und hockte sich neben die Leiche der Frau. Er hörte Gannett das Gerüst heraufklettern. Der Mantel war der Frau von einer Schulter herabgerutscht, und ihr Kleid, aus diesem schimmernden roten Material, hatte sich auf der linken Körperseite nach oben geschoben. Auf der anderen Seite hatte sich ihr BH gelöst, und er sah, dass alles nur Polsterung war.
Auf allen vieren richtete er den Lichtstrahl unter den BH und entdeckte die dunklen Stoppeln kürzlich rasierter Haare. Ohne die Leiche zu berühren, ließ er den Lichtstrahl langsam über Hände, Gesicht, Haaransatz, Nacken und Beine gleiten.
Gannett stieg keuchend und fluchend durchs Fenster. Del Bravo, der ihm den Weg leuchtete, beobachtete, wie sich sein Kollege in gebückter Haltung näherte, obwohl die Decke fünf Meter hoch war. Gannett kauerte sich neben ihn.
»Was liegt an?«
»Was hier anliegt, ist entweder eine Dame mit einem Hormonproblem – geh nicht zu nah ran.«
»Was meinst du, Robby, Messer?«
»Ich meine, eindeutig Messer.«
»Sieht nicht nach mehreren aus. Ich sehe einen Einstich.«
»Oder ein Mann mit ausgefallenem Geschmack in Kleiderfragen«, sagte Del Bravo.
»Leuchte doch mal unter die Haare.«
»Nicht berühren.«
»Ich nenne das einen Einstich. Mich wundert das viele Blut.«
»Fortgeschrittene Technik.«
»Wie nennst du das, Robby?«
»Ich werde nicht dafür bezahlt, Stichwunden zu zählen.«
»Diese nassen find ich scheußlich.«
»Hast schon viele nasse gesehen, ja?«
»Bei mir ist es normalerweise die Frau, die zusticht. Ich weiß nicht, wie oft das schon passiert ist, dass ich reinkomme, und da sitzt irgendeine Frau auf dem Sofa, mit einem schläfrigen Blick, verstehst du, und auf dem Küchenboden liegt ihr Lebensgefährte mit rund achtundachtzig Stichwunden im Leib. Und die Frau ist kurz vorm Einnicken. Vielleicht macht sie das müde. Diese ganze Stecherei macht sie müde. Man möchte sie mit einer Decke zudecken und das Radio ausmachen.«
»Ich glaube, sie kommen. Ich hör da was«, sagte Del Bravo.
»Ich weiß nicht warum, aber bei mir ist die Leiche immer in der Küche. Immer in der Küche.«
»Arme Leute sind gern nah am Essen.«
»Mal im Ernst jetzt, was meinst du, ein Einstich?«
»Sie entfernen sich nicht gern vom Essen, nicht einmal bei einer Messerstecherei.«
»Wenn’s nur ein Einstich ist, haben sie irgendwas Lebenswichtiges getroffen.«
»Das klingt gut. Dem würde ich zustimmen.«
»Das viele Blut«, sagte Gannett.
»Und dazu noch königliches.«
»Königlich?«
»Nicht berühren, G.G.«
»Stimmt«, sagte Gannett. »Eine Queen.«
Etwa eine halbe Stunde später stand Del Bravo auf dem Bürgersteig und blies sich in die Hände. Er hatte den gelben Schutzhelm auf, der gewöhnlich auf dem Rücksitz lag. In der Nähe standen ein Krankenwagen, zivile Einsatzwagen und zwei Streifenwagen. Fingerabdruckspezialisten und Fotografen kamen und gingen. Ein Abschleppfahrzeug fuhr vor. Sekunden später entdeckte ein uniformierter Sergeant Del Bravo und kam zu ihm herüber.
»Weitergehen, Freundchen, Tatort.«
»Wie?«
»Dieses Gelände ist gesperrt.«
Mit einem müden Seufzer zog Del Bravo seine Marke hervor und heftete sie sich an die Jacke.
»Was ist heutzutage bloß los? Jeder läuft verkleidet herum.«
»Ich weiß, Sergeant.«
»Sagen Sie mir doch mal, wie zum Teufel man noch erkennen soll, wer von der Polizei ist. Diese ganze Maskerade. Die Polizei erkennt ihre eigenen Leute nicht mehr. Junkies, Autoknacker, Bärte, Hüte. Blinder mit Hund, der kann sich umdrehen und einen einfach abknallen. Früher konnte man nach der Kleidung gehen. Aber heutzutage kann man nicht mehr nach der Kleidung gehen.«
»Man geht nach den Geschlechtsorganen«, sagte Del Bravo.
Gannett gesellte sich zu ihnen, mit dampfendem Atem, die Arme vor der Brust verschränkt.
»Wir haben die Treppe übersehen«, sagte er.
»Was für eine Treppe?«
»War mal ’n Restaurant. An der Westseite des Gebäudes gibt’s außen ’ne Lieferantentreppe zur Küche hoch. Bist du nicht um die Westseite des Gebäudes herumgegangen?«
»Ich bin um die Ostseite des Gebäudes herumgegangen«, sagte Del Bravo.
»Jedenfalls, so haben sie ihr Opfer da hochgekriegt. Wir klettern das Gerüst hoch. Die bringen ihn die Treppe hinauf und durch die Tür. Die Treppe führt zu einer Tür, Robby. Sie war nicht abgeschlossen.«
»Ich hab die Rückseite überprüft. Ich hab die Ostseite überprüft, die Vorderseite und die Rückseite.«
»Drei von vier«, bemerkte der Sergeant.
Gannett, der die Arme immer noch verschränkt hielt, schob die Hände in die Achselhöhlen.
»Ach, wär ich jetzt gern in Florida.«
»Penn doch noch ’ne Runde. Vielleicht träumst du davon.«
»Genau. Vom Strand.«
»Er träumt von Felsen«, erzählte Del Bravo dem Sergeant.
»Von einem Strand voller Felsen.«
Der Sergeant wartete darauf, dass noch mehr kam.
»Ich bin da, aber irgendwie bin ich auch nicht da«, sagte Gannett.
Mit sechsundsechzig hatte Lightborne sich angewöhnt, bei seinen häufigen Spaziergängen über den Westlichen Broadway und durch das Galerienviertel von SoHo einen Spazierstock zu benutzen. Kurz nachdem er an genau jenem Frühlingsabend losgegangen war, begann die Sohle seines rechten Schuhs – er trug eine Art Mokassins – zu schlappen. Das untergrub etwas die Wirkung, die er mit seinem Spazierstock hatte erzielen wollen.
Er kehrte um, behutsam auf dem rechten Absatz. Er betrat ein gusseisernes Gebäude und fuhr mit einem Lastenaufzug, einer luftigen Vorrichtung, die er fürchtete und haßte, in den dritten Stock. Auf der riesigen Metalltür zu seinem Loft prangte in roter Farbe die Aufschrift:
Kosmische Erotika
Galerie Lightborne
Er durchquerte die Galerie, ging an einer Trennwand vorbei zu dem Teil des Lofts, den er als Wohnung benutzte. Das Mobiliar war dunkel und schwer, mit Schneckenmotiven verziert. Ein Wandtisch stand ein wenig schief. Unter zwei Beine eines Schreibtisches waren Streichholzheftchen geklemmt, damit er nicht wackelte. Aus einer Schublade dieses Schreibtisches nahm Lightborne eine kleine Flasche Elmer’s Alleskleber und versuchte, die Sohle seines rechten Schuhs wieder zu befestigen.
Um halb neun würden etwa zwanzig Leute erscheinen. Sie bildeten den harten Kern seiner Klientel, und er hatte ihnen ein paar neue Objekte zu zeigen. Nur ein neues Gesicht war zu erwarten. Und zwar Moll Robbins, eine Journalistin, die eine Artikelserie über das große Geschäft mit dem Sex machen wollte.
Die anderen waren Sammler, ein paar Leute, die Sammler vertraten, und die unvermeidlichen, schüchternen Amateure, die von dem Neuen an der Sache fasziniert waren. Lightborne hatte nichts gegen Letztere. Sie neigten dazu, in ihm einen exzentrischen Gelehrten zu sehen, einen Quell erotischen Wissens, und sie luden ihn immer irgendwohin ein und machten ihm Geschenke.
Als er mit dem Schuh fertig war, nahm er eine Bartschere und schnippelte an seinen Koteletten. Dann bürstete er sich die Haare zu einem Beinahe-Pferdeschwanz. Lightborne hatte silbergraue Haare, die gelblich verfärbt waren, und er trug sie gerne lang. Schließlich band er sich noch eine Bänderkrawatte um und zog sich eine Cordjacke mit Gürtel über. Nicht, dass er Veranlassung hatte, auf seine äußere Erscheinung besonders achtzugeben. Diese Zusammenkünfte in der Galerie waren immer ganz formlos. Den Sammlern war das lieber so. Er servierte ihnen Wink aus Pappbechern.
Moll Robbins traf zufällig vor den anderen ein. Sie trug Jeans und einen unförmigen Pullover. Sie war eine groß gewachsene schmale Frau, die sich mit einer Art trägem Schleichgang bewegte. An ihrer rechten Schulter hing eine große Ledertasche mit Riemen.
Lightborne zeigte ihr die Galerie, die nicht, wie gewöhnlich, ein klinisch nüchterner Raum mit rechten Winkeln und raffinierten kleinen Rampen war. Sie glich vielmehr einem im rasanten Niedergang befindlichen Antiquitätenladen. Kleine Tische, beladen mit Bronze- und Porzellanobjekten, mit Stapeln von Zeichnungen und Drucken, mit Büchern und Holzschnitzereien, Vasen und Tassen. Für die interessanteren Stücke gab es verschiedene Sockel, und an der Wand hingen eine Reihe von Ölgemälden sowie vergrößerte Fotografien von Hindutempelfassaden und den glücksbringenden Phalli von Pompeii. Entlang der Wände befanden sich weitere Kästen mit Zeichnungen, Drucken und Fotografien und mehrere Vitrinen voller Ringe, Armbänder und Halsketten.
Moll Robbins wanderte etwas unsicher zwischen all dem umher, betastete den Deckel einer Porzellanteekanne (dem Anschein nach chinesischer Kaiser mit Konkubine), betrachtete eine unter Glas liegende Münze (Griechen, männlich, schäkernd).
»Irgendwie harmlos, oder?«
»Es bewegt sich nichts«, sagte Lightborne.
»Bewegt sich nicht?«
»Bewegung, action, Bilder pro Sekunde. Das ist die Epoche, in der wir uns nun mal befinden, wohl oder übel. Das wirkt ein bisschen uneffektiv, was hier herumsteht, nicht? Es hockt einfach da. Nur Masse und Körpergewicht.«
»Reine Schwerkraft.«
»Genau, was nicht die Fähigkeit besitzt, sich zu bewegen, kann nicht vollkommen erotisch sein. Eine Frau, die die Beine übereinanderschlägt – das macht Männer ganz verrückt. Sie bewegt sich, verstehen Sie. Bewegung, Aktivität, Veränderung der Position. Das ist heute erforderlich, um eine allumfassende Erotik aufzubauen.«
»Da könnte was dran sein.«
Nachdem alle eingetroffen waren, schloss Lightborne die riesigen Türen und begann umherzugehen. Moll zog ihren Pullover aus und drapierte damit das erigierte Glied eines Stuckvikars. Ihr fiel auf, dass Lightborne sich hauptsächlich an der Seite eines gepflegten und sorgfältig gekleideten Mannes aufhielt, der Anfang dreißig sein mochte, ganz der Typ Geschäftsmann, junger Magnat, der sich darin gefällt, seinen Untergebenen knappe Anweisungen zu erteilen.
Sie sprach mit verschiedenen Leuten und merkte, dass sie ihr auswichen, nicht dass sie sich zierten, über ihr Interesse an Erotika zu sprechen, aber sie schienen unfähig zu sein, sich auf das Thema zu konzentrieren. Sie wirkten irgendwie gehetzt, durch irgendeine persönliche Vision abgelenkt, ernste Spieler, an den Säumen heimlich von Wahnsinn erfasst.
Lightborne stellte sie dem Mann vor, mit dem er geredet hatte. Glen Selvy. Dann wurde er von einigen anderen Leuten fortgeführt.
»Und wie ist Ihr Interesse entstanden, Mr. Selvy?«
»Wie entsteht schon Interesse an Sex?«
»Nicht jeder sammelt«, sagte sie.
»Nur so ein Zeitvertreib. Linie, Anmut, Symmetrie. Schönheit des menschlichen Körpers. Und so weiter.«
»Geben Sie für Ihre Sammelei viel Geld aus?«
»Es geht so.«
»Sie müssen ja eine ganze Menge von Kunst verstehen.«
»Ich habe mal einen Kurs besucht.«
»Sie haben mal einen Kurs besucht.«
»Ich habe jedenfalls so viel gelernt, dass ich weiß, dass Lightbornes bessere Sachen unter Verschluss sind.«
»Was können Sie mir über Lightborne erzählen, was er mir nicht selber erzählen würde?«
Selvy lächelte und ging weg. Später, als die meisten gegangen waren, unterhielt sich Lightborne mit Moll in seinem Wohntrakt. Er beantwortete all ihre Fragen, erklärte ihr, dass er 1946 in der Branche angefangen hatte, als er völlig ausgebrannt in Kairo gestrandet war und zufällig in den Besitz eines Ringes kam, der den ägyptischen Fruchtbarkeitsgott in hoch erregtem Zustand darstellte. Er verkaufte ihn für eine hübsche Summe an einen Exnazi und erfuhr später, dass er schließlich am Finger von König Faruk gelandet war. Danach führte ein Kontakt zum nächsten, und er bereiste Mittelamerika, Japan, den Nahen Osten und Europa, ein weltumspannendes Netz, kaufte, verkaufte und handelte.
»Und Ihr Freund Selvy? Der macht mich neugierig. Er ist irgendwie nicht der Typ. Wie sieht seine Sammlung denn aus?«
»Meine Lippen sind versiegelt.«
»Was meinen Sie damit?«, fragte sie.
»Einige Leute kommen zum Gucken her. Einige zum Kaufen. Einige, um für andere zu kaufen.«
»Strohmänner?«
»Klar.«
»Die etwas für eine Person oder Gruppe kaufen, die nicht möchte, dass seine oder ihre Identität der Allgemeinheit bekannt wird.«
»Das ist grammatikalisch sehr umständlich, aber ansonsten korrekt«, sagte Lightborne.
»Wissen Sie, für wen Selvy kauft?«
»Ehrlich gesagt, ich kann es nur vermuten.«
»Jemand, von dem ich vielleicht schon mal gehört habe?«
»Selvy hat den Job seit etwa drei Monaten. Macht seine Sache ziemlich gut. Hat ein solides Grundwissen.«
»Mehr wollen Sie nicht sagen.«
»Die Branche ist eine Gerüchteküche, Miss Robbins. Manchmal kommt einem etwas zu Ohren. Soundso hat eine Bronzestatuette aufgetan, in irgendeiner versiegelten Kirchenkrypta auf Kreta. Hermaphroditos, griechisch-römisch. Ich höre ständig von irgendwelchen Sachen. Mir wird manches zugetragen. Die Luft ist voller Schwingungen. Manchmal steckt ein Funken Wahrheit dahinter. Oft ist es bloß ein Windhauch in der Nacht.«
Glen Selvy steckte den Kopf um den Rand der Trennwand, um sich zu verabschieden. Lightborne lud ihn zu einem Kaffee ein, der in einer Ecke des Zimmers auf einer General Electric-Heizplatte stand. Selvy warf einen Blick auf seine Uhr und setzte sich auf einen riesigen staubigen Sessel.
»Mein Mann in Guatemala sagt mir, dass ich auf dieser Reise erstklassige Objekte zu erwarten habe.«
»Höchste Zeit«, sagte Selvy.
»Mit eigenen Händen aus Grabmälern ausgegraben.«
»Er hat also wieder Grabmäler gefunden?«
»Der Dschungel ist dicht«, sagte Lightborne geheimnisvoll.
»Mein Klient ist überzeugt, dass Ihre präkolumbianischen Stücke Fälschungen sind. Wollen Sie hören, was er über die handwerkliche Ausführung sagt?«
»Sagen Sie ihm, auf dieser Reise.«
»Auf dieser Reise ist es anders.«
»Anders«, sagte Lightborne.
Er goss drei Tassen Kaffee ein. Moll meinte in Selvys Stimme und Verhalten eine gewisse Distanz feststellen zu können. Seine Reaktionen wirkten ein ganz klein wenig mechanisch. Es war möglich, dass er von all dem zutiefst gelangweilt war.
»In der Zwischenzeit«, sagte Lightborne, »kann ich Ihnen eine Frau mit einem Kraken zeigen.«
»Ein andermal.«
»Es ist ein Tafelaufsatz aus Porzellan.«
»Jetzt mal ernsthaft, irgendwas hier hinten gebunkert? Wenn nicht, dann geh ich.«
»Sie sagten ernsthaft. Habe ich richtig gehört?«
»Sie haben richtig gehört.«
»Ich habe mit der jungen Dame gerade über Gerüchte gesprochen. Über die Rolle, die Gerüchte in einer solchen Branche spielen. Vor sechs Monaten zum Beispiel habe ich ein Gerücht gehört über ein Objekt, das sich für jede Menge Leute als interessant erweisen könnte, einschließlich vielleicht Ihres Arbeitgebers. Das Seltsame an diesem Gerücht ist, dass ich es zum ersten Mal vor dreißig Jahren gehört habe, ursprünglich in Kairo und Alexandria, wo die Liste meiner Bekanntschaften bunt und vielfältig war, und dann später im selben Jahr, wenn mein Gedächtnis mich nicht trügt, nachdem ich nach Paris gezogen war. Bei dem fraglichen Objekt handelt es sich um die Kopie eines Films. Genauer gesagt, um das Kameraoriginal.«
Lightborne bot wortlos Zucker an.
»Ich erzählte der jungen Dame, dass Bewegung, die schlichte Fähigkeit, die Position zu verändern, eine wichtige erotische Eigenschaft ist. Man könnte sagen, den entscheidenden Unterschied zwischen alten und neuen Stilen erotischer Kunst macht der Film aus. Das Bild, das sich bewegt. Vorausgesetzt, Sie betrachten Film als Kunst.«
»Oh, durchaus«, sagte Moll.
»Auf gleicher Stufe mit Malerei, Bildhauerei und so fort.«
»Unbedingt.«
»Also gut«, sagte Lightborne. »Einige Monate lang hörte ich ständig irgendwelche Gerüchte über diesen sehr sonderbaren Film. Leute in der Branche, Sammler, Händler, Agenten. Wie gesagt, die Branche ist die reinste Gerüchteküche. Was soll man machen? Aber dann ist der Laut verstummt. Das kleine Summen, es hat sich in nichts aufgelöst. Ich glaube, es ist überhaupt niemandem aufgefallen. Das Gerücht leuchtete von Anfang an nicht ein. Kaum jemand nahm es wirklich ernst. Also, dreißig Jahre lang Stille. Kein Wort über das Thema. Dann, vor sechs Monaten, wird das Gerücht wiederbelebt. Ich höre es von drei Leuten, von denen keiner mit den andern beiden in Kontakt steht. Genau das gleiche Gerücht. Es existiert ein Film. Ungeschnittenes Material. Ein Exemplar. Das Kameraoriginal. Gedreht in Berlin, im April, im Jahr 1945.«
Lightborne nickte, um anzudeuten, dass er noch in seine eigenen Erläuterungen vertieft war. Er ging zum Kühlschrank und holte eine Schachtel Graham-Kräcker heraus. Er bot sie an. Keine Abnehmer. Er setzte sich wieder.
»Im Bunker«, sagte er.
Er nahm einen Kräcker aus der Schachtel und tunkte ihn in seinen Kaffee.
»Soll heißen?«, sagte Moll.
»Im Bunker unter der Reichskanzlei.«
»Und wer ist auf diesem Material zu sehen?«
»Hier wird’s schwammig. Aber anscheinend geht’s um Sex. Ich nehme an, es ist die Dokumentation einer Orgie, die irgendwo in diesen unterirdischen Räumen stattgefunden hat.«
Selvy starrte zur Decke.
»Ich persönlich glaube nicht dran«, sagte Lightborne. »Ich bin der Hauptskeptiker. Es sind nur diese seltsamen Umstände. Das neue Gerücht ist Punkt für Punkt identisch mit dem ursprünglichen, trotz eines Abstands von dreißig Jahren zwischen dem einen und dem andern. Und die wenigen Leute, die dran glauben, zumindest als Möglichkeit, sind in der Lage, einige einleuchtende geschichtliche Argumente zu liefern. Ich habe mich mit dieser Zeit zufällig näher befasst.«
Moll und Selvy beobachteten, wie sich der aufgeweichte untere Teil des Kräckers in Lightbornes Hand löste und in die Tasse fiel. Mit einem Löffel sammelte Lightborne den braunen Brei zusammen und aß ihn.
»Jedenfalls dachte ich, es sei ganz natürlich, der Geschichte so weit wie möglich nachzugehen, vielleicht, mit etwas Glück, sogar bis zu ihrem Ursprung. Schließlich hat jemand aus der Branche, dem ich vertraue, einen Kontakt zwischen mir und einer bestimmten Person hergestellt, mit der ich dann ein Treffen vereinbart habe. Den Namen hat er mir nicht genannt, und ich habe ihn nicht danach gefragt. Ein Mann in den Dreißigern. Leichter Akzent. Nervös, sehr schreckhaft. Er wüsste, wo das Material sei. Hat gesagt, dass davon nie Kopien gezogen worden wären. Hat sich dafür verbürgt. Hat gesagt, der Film habe ungefähr Spielfilmlänge. Dann ist er melancholisch geworden. Ich sehe noch sein Gesicht vor mir. Eine Vorstellung, sagte er, die sicher zu den sonderbarsten und unheimlichsten zähle, die je gegeben wurden. Er sagte auch, ich würde bezüglich der Identität der Teilnehmer nicht enttäuscht sein. Und nach all dem wollte er mir immer noch keine eindeutige Antwort geben, als ich ihn fragte, ob er das Material selbst gesehen habe oder ob wir es hier mit Hörensagen zu tun hätten.«
Lightborne rührte in seinem Kaffee.
»Wir einigten uns darauf, dass ich als Agent beim Verkauf fungieren würde. Ich habe die Kontakte, ich kenne den Markt, mehr oder weniger. Wir waren uns auch darin einig, dass es bei der heutigen Vermarktung von Sex bestimmt kein Problem sein würde, mächtige und wohlhabende Gruppen zu finden, die die Gelegenheit begeistert wahrnehmen würden, entsprechende Angebote zu unterbreiten, um sich die Vertriebsrechte für etwas so Neues zu sichern. Stellen Sie sich das mal vor. Der Gipfel der Dekadenz dieses Jahrhunderts.«
»Und es bewegt sich«, sagte Moll.
Lightborne lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander.
»Also«, sagte er, »da bin ich nun, ein kleiner Händler für erotischen Krimskrams, einiges davon qualitativ gut, anderes weniger, und plötzlich die Gelegenheit, bei einem monumentalen Pornografiedeal den Vermittler zu spielen. Ich fang an, meine Fühler auszufahren, verschleierte Hinweise, in diesem Teil unseres Landes, in jenem Teil, zu diesem Burschen in Dallas, zu jenem Burschen in Stockholm. Gerade als die Dinge ins Rollen kommen, als der Markt sich aufheizt, verschwindet mein Mann plötzlich. Ich habe keine Ahnung, wie ich ihn erreichen kann. Er hat immer darauf bestanden, dass er mich kontaktiert. Also rufe ich verschiedene Leute an, ziehe Erkundigungen ein, halte mich bei unserm üblichen Treffpunkt auf. Schließlich erfahre ich von demselben Mann, der uns zusammengebracht hat, dass X tot ist. Nicht nur tot – ermordet. Nicht nur ermordet – er wurde unter seltsamen, sehr merkwürdigen Umständen umgebracht.«
»Wie merkwürdig?«, fragte Moll.
»Er hatte Frauenkleider an.«
Selvy sah Moll Robbins an und machte Lightborne gleichzeitig ein Zeichen, dass er seinen Bericht unterbrechen solle.
»Was haben Sie da in dieser Tasche?«
»Eine Nikon F2«, sagte sie.
»Die bleibt da drin, einverstanden?«
»Ich weiß nicht, Sie haben ein ganz hübsches Profil, Mr. Selvy. Könnte sich gut machen, irgendwo am Ende einer Story, nur um das Gedruckte ein bisschen aufzulockern.«
»Die bleibt da drin oder Sie gehen.«
»Und dann ist da noch ein Sony-Kassettenrecorder«, sagte sie.
»Nehmen Sie ihn bitte raus. Ich möchte ihn mir ansehen.«
»Mr. Lightborne, das ist Ihre Wohnung. Sie haben mich hierher eingeladen. Sie haben mir keine Beschränkungen auferlegt.«
Selvy hob die Ledertasche auf, öffnete sie, nahm den Kassettenrecorder heraus, drehte ihn um, machte das Batteriefach auf, nahm die vier kleinen Batterien heraus und legte sie auf den Tisch nebenan.
»Ganz schön routiniert«, bemerkte sie. »Sie können sich im Haus bestimmt nützlich machen.«
»Keine Worte, keine Bilder.«
»Das war wirklich nicht nötig. Ich habe nicht vor, Ihre geistlose Stimme aufzunehmen, wenn Sie’s nicht wollen.«
Lightbornes ganze Reaktion auf diesen Wortwechsel bestand darin, seine Tasse mit Untertasse zum Spülbecken zu tragen und sie dort auszuspülen. Als er wiederkam, schob er Moll die Schachtel mit Kräckern zu. Diesmal nahm sie einen und brach ihn sorgfältig in der Mitte durch, bevor sie hineinbiss.
»Nach dieser deprimierenden Entwicklung«, sagte Lightborne, »verlief die ganze Sache im Sande, und dann herrschte absolute Funkstille. Ich wollte Ihnen nur ein paar Hintergrundinformationen geben, Glen, weil erst gestern ein winziges Flüstern an mein Ohr gedrungen ist. Für den Fall, dass die Sache wieder interessant wird, sollte Ihr Arbeitgeber darüber unterrichtet werden.«
»Selbstverständlich.«
»Und Sie, Miss Robbins, müssen einem schwatzhaften alten Mann verzeihen.«
»Es war sehr interessant, wirklich.«
»Für wen arbeiten Sie?«, fragte Selvy.
»Bluthunde«, sagte sie.
Er hielt kurz inne.
»Einstmals ein Organ der Unzufriedenen.«
»Ja, wir waren ziemlich radikal.«
»Heute völlig etabliert.«
»Völlig würde ich nicht gerade sagen.«
»Teil der ständig expandierenden Mitte.«
»Wir sagen die ganze Zeit ›Scheiße‹.«
»Genau meine Rede.«
»War das genau Ihre Rede? Das war mir nicht klar, dass das genau Ihre Rede war. Ich hab gar nicht gewusst, dass Ihre Rede genau war.«
Selvy stand auf, verabschiedete sich von Lightborne und machte dann eine Verbeugung in Richtung Moll Robbins, wobei er die Hacken zusammenschlug. Sie folgte ihm bis zum Galerietrakt, um ihren Pullover von dem steifen Anhängsel zu nehmen, über das sie ihn vorher gehängt hatte, und ging wieder zurück, um Lightborne zu danken. Er sah zu, wie sie die Batterien wieder in den Kassettenrecorder einlegte.
»Sagen Sie mal«, setzte sie an.
»Ja?«
»Hat er’s immer so eilig? Als hätte er Angst, sein Flugzeug zu verpassen. Oder vielleicht einen Regionalzug.«
»Glen ist nicht der Typ, der sich lange wo aufhält und Small-Talk macht.«
»Wenn ich herausbekäme, für wen er kauft, und wenn das jemand Interessantes oder Wichtiges ist, und wenn ich diese Information in einer der Storys verwenden würde, an denen ich gerade arbeite, wäre das für Sie natürlich nicht besonders günstig, oder?«
»Wäre auch nicht besonders ungünstig«, sagte Lightborne. »Der Sammler, den Glen vertritt, hat bis jetzt kaum Interesse an dem Zeug gezeigt, das ich ihm präsentiert habe. Glen meint, er sei vielleicht kurz davor, mich ganz fallenzulassen.«
Sie gingen zusammen in den Galerieraum, und Lightborne ging herum und schaltete die Beleuchtung aus. Er betrachtete Moll aus einer Entfernung von etwa zwölf Metern.
»Sie sprachen von Flugzeugen und Zügen.«
»Hab nur laut gedacht«, sagte sie.
»Wenn Sie in Glens Richtung wollten, das ist jetzt reine Spekulation, dann würden Sie wahrscheinlich fliegen. Wenn Sie nicht gerne fliegen, könnten Sie aber auch mit dem Zug fahren.«
»Gegen kurze Flüge hab ich nichts. Aber wenn’s über eine Stunde ist, werd ich etwas unruhig.«
»Ich glaube, Sie würden zurechtkommen.«
»Zugfahren macht Spaß. Ich mag Züge.«
»Dreieinhalb Stunden mit dem Zug kann auch ein bisschen ermüdend sein.«
»Da haben Sie vielleicht recht.«
»Aber Penn Station. Wenn das alte Gebäude noch stehen würde. Das würde sich wirklich lohnen. Einfach darin herumlaufen. Eine großartige Architektur.«
»Und dann noch was«, sagte sie.
»Was denn?«
»Was würde ich denn so an Kleidung brauchen?«
»Es könnte etwas wärmer sein als hier.«
»Etwas wärmer, sagen Sie.«
Das letzte Licht ging aus, Moll stand im Schatten der offenen Tür und konnte Lightborne jetzt gar nicht mehr sehen.
»Reine Vermutung, klar?«
»Sie sind kein Meteorologe«, sagte sie.
»Ich weiß nur das, was Gott mich wissen lässt.«
Als sie fort war, schloss Lightborne die Tür ab und ging wieder in den Wohnbereich, wo er sich Jacke, Krawatte und Hemd auszog. Er ging zum Waschbecken, nahm seinen Rasierapparat aus dem Schränkchen und entfernte dann den Verschluss einer Sprühdose von Gillette Rasierschaum, wobei er am Innenrand etwas Rost bemerkte. Er hatte am nächsten Morgen in der Früh eine Verabredung und dachte, er spare Zeit, wenn er sich jetzt rasierte.
Moll Robbins nahm sich in der Houston Street ein Taxi, und fünfundzwanzig Minuten später war sie am Telefon in ihrem Apartment in den West Seventies und sprach mit Grace Delaney, ihrer Chefredakteurin.
»Haben wir noch ein Büro in Washington?«
»Es heißt Jerry Burke.«
»Die Nummer?«
Sie legte auf und wählte ein zweites Mal.
»Jerry Burke?«
»Wer ist da?«
»Wie ich höre, hast du einen großartigen Zugang zu den Korridoren der Macht.«
»Wie spät ist es?«
»Hier ist Moll Robbins aus New York, Jerry. Ich glaube, wir kennen uns nicht persönlich, aber vielleicht könntest du mir helfen.«
»Du machst Filmbesprechungen.«
»Ja, ab und zu, aber hier geht’s um was ganz anderes. Ich möchte, dass du mir hilfst, jemanden aufzuspüren.«
»Über den neuen King Kong hast du ja großen Blödsinn verzapft.«
»Zweifellos, Jerry, aber pass mal auf, ich suche einen Mann namens Glen Selvy, Weißer, Anfang dreißig, eins sechsundachtzig, möglicherweise irgendwo in der Behörde da unten beschäftigt. Es muss doch irgendein riesiges Verzeichnis von Beamtendrohnen geben, in dem der Name dieses Mannes steht. Wenn du dem mal nachgehen könntest oder dich umhören würdest oder sonst was, würde ich auf ewig in deiner Schuld stehen, im Rahmen des Zumutbaren.«
»Eins sechsundachtzig?«
»Ich dachte, das könnte vielleicht wichtig sein.«
»Wozu brauch ich seine Körpergröße?«
»Detektivarbeit«, sagte sie. »Alle Einzelheiten.«
Glen Selvy fuhr vom Flughafen zu einem dreistöckigen Apartmentblock in einer vornehmlich von Schwarzen bewohnten Gegend in der Nähe vom Navy Yard. Er wohnte schon seit mehreren Monaten dort, doch die Wohnung sah aus, als wäre er gerade erst eingezogen. Sie war extrem untermöbliert. Beim Bett standen mehrere unausgepackte Kartons. Es gab eine Stehlampe, deren Schnur noch in einem ordentlichen Päckchen am Fuß zusammengebunden war.
Die Atmosphäre des Auf-der-Durchreise-Seins gefiel Selvy. Das hatte den Vorteil, dass dadurch irgendwie die eigene Verantwortlichkeit vermindert wurde. Wenn man immer innerhalb von zehn Minuten abreisen konnte, konnte niemand von einem erwarten, dass man den gleichen mäßigenden Grundsätzen folgte wie andere Menschen.
Er zog sein Jackett aus, unter dem ein kleines Gürtelholster zum Vorschein kam, das einen leichtgewichtigen Colt Cobra Kaliber .38 enthielt. Den Smith & Wesson .41er Magnum mit dem 15-Zentimeter-Lauf und spezialgefertigtem Griff bewahrte er in einem Karton in der Nähe des Bettes auf.
Spät am nächsten Tag bekam Moll einen Anruf von Jerry Burke.
»Ich bin ein paar Verzeichnisse durchgegangen. Nichts. Dann fiel mir das Plum Book ein. Ministerielle Haupt- und Nebenstellen. Viele, viele Ministerialjobs, Beschreibungen, Namen von Amtsinhabern.«
»Großartig«, sagte sie.
»Dein Mann steht da nicht drin.«
»Mist.«
»Aber ich bin auf einen Anhang in einem Senatsbericht gestoßen, und da gibt’s was, was Congressional Quota Transferrals heißt, gerammelt voll mit Namen, und neben jedem Namen steht ein alphabetischer Code, der einen auf Seite soundso verweist. Jedenfalls hab ich in dieser kleinen Liste einen Howard Glen Selvy gefunden. Seinen Code-Buchstaben zufolge gehört er zum Stab von Senator Lloyd Percival.«
»Jerry, das ist super.«
»Er ist so eine Art untergeordneter Verwaltungsassistent.«
»Ist Percival zurzeit nicht in den Schlagzeilen?«
»Eigentlich läuft das schon seit einiger Zeit, aber in Ausschusssitzungen hinter verschlossenen Türen. Er untersucht etwas, das PAC/ORD heißt. Angeblich ein Koordinierungszweig des gesamten US-Geheimdienstapparates, eine völlig legale Verwaltungs- und Budgetbehörde. Über das, wonach Percival gräbt, ist bis jetzt nichts durchgesickert.«
»Geheime Anhörungen.«
»Jeden Tag«, sagte er.
»Was bedeuten die Buchstaben?«
»Welche Buchstaben?«
»PAC/ORD«, sagte sie.
»Es dürfte nicht viele Leute in Washington geben, die diese Frage beantworten können.«
»Nicht viele Leute auf der ganzen Welt, möchte ich wetten.«
»Personnel Advisory Committee, Office of Records and Disbursements – Beratungsausschuss für Personalfragen/Amt für Personalakten und Auszahlungen.«
»Muss was Böses sein, bei so einem Namen.«
»Warum würde Percival auch sonst was damit zu tun haben?«
»Er ist wohl ein ganz Aufrechter, wie?«
»Ansichtssache«, sagte Burke. »Ich wüsste nur gerne, warum du dich so für diesen Typen Selvy interessierst.«
»Ich finde ihn einfach süß«, sagte sie.
Glen Selvy, jetzt in einem dreiteiligen Anzug, spazierte langsam die 240-Meter-Aschenbahn entlang. Überall waren Vögel, die über ihm kreisten oder mechanisch auf dem Rasen herumhüpften.
Fünfzig Meter weiter vorn bog eine schwarze Limousine in die ruhige Straße neben dem Sportplatz ein. Selvy machte sich auf den Weg dorthin, beobachtete, wie die Hintertür aufschwang, und dabei wanderten seine Gedanken unvermittelt zu einem unscheinbaren Zimmer, ein Bett, eine nackte Frau, die rittlings auf einem Kissen saß, niemand, den er kannte, und dann Sex, sein Körper und ihrer, erbarmungsloser roher vernichtender Sex, bums bums bums bums.
Lomax hatte eine Schwäche für gemietete Limousinen. Das war Selvy recht, er besaß nur einen engen Toyota. Er konnte mit Sicherheit davon ausgehen, dass der Chauffeur nicht zu dem Wagen gehörte. Er musste jemand sein, den Lomax kannte. Vielleicht verbarg sich dahinter die Überlegung, dass Unauffälligkeit nicht mehr viel bedeutete. Oder dass in einer Stadt wie Washington eine Limousine nicht weiter auffiel. Vielleicht war es Lomax selber. Sein persönlicher Stil. Seine Abwendung von etablierten Formen.
Lomax war pummelig, sein Haar kurzgeschnitten, an den Schläfen schon leicht ergraut. Er tätschelte, glättete und strich sich gerne über das Haar, obwohl es nie in Unordnung war. Er hatte heute Golfkleidung an, stellte Selvy fest. Ein paar Schläger lehnten gegen die andere Tür.
»Ich habe gestern etwas erfahren«, sagte Selvy. »Lightborne hat Christoph Ludecke gekannt. Bevor er umgebracht wurde, hat er sich mehrere Male mit Lightborne getroffen.«
»In welchem Zusammenhang?«
»Ludecke hat behauptet, er hätte Zugang zu einem Film, für den angeblich alle Machthaber der Schmutzindustrie liebend gerne die Rechte erwerben würden. Und so war Lightborne ganz versessen darauf, für den Verkauf als Agent zu fungieren.«
»Hilfe von unerwarteter Seite«, sagte Lomax.
»Klar, Lightborne. Wer hätte gedacht, dass Lightborne mal was damit zu tun haben würde? Das erklärt alles.«
»Tatsächlich?«
»Die Verbindung zwischen dem Senator und Christoph Ludecke. Jetzt wissen wir’s. Irgendwie hat er gewusst, dass Ludecke das Material hatte. Auf irgendeine Weise ist seine Telefonnummer, oder eine seiner Telefonnummern, seine fast unmöglich zu erfahrende Telefonnummer, die wir trotzdem in Erfahrung bringen konnten, in Ludeckes Büchlein gelandet. Das ist genau der zentrale Punkt, der Grund dafür, dass er überhaupt aktiv geworden ist. Percival wollte den Film für seine Sammlung.«
»Sammelt er Filme?«
»Das hier wäre sein erster.«
»Was ist so besonders daran?«, fragte Lomax.
»Es ist eine authentische Nazi-Sexparty.«
»Wunderbar.«
»Angeblich in dem Bunker gedreht, wo Hitler seine letzten Tage verbracht hat.«
»Großartig«, sagte Lomax. »Einfach großartig.«
Neben der Straße schlängelte sich ein Bach ostwärts in die Ferne. In einem Park übte eine Gruppe junger Asiaten die stilisierten Bewegungen des Tai Chi, eine Reihe von Übungen, die in gewisser Weise martialisch wirkten. Das Tempo war gleichmäßig und fließend, und obwohl sie zu acht waren, war es schwer, in ihrer Übung individuelle Disharmonien festzustellen. Fast wie in Zeitlupe schob jeder einen Arm vor, während er den anderen, im Ellbogen gewinkelt, zurückbewegte, beide Hände ausgestreckt, Finger geschlossen, als wären die Arme mit Scharnieren versehene Waffen und die Hände keine Anhängsel, sondern eher die Spitzen dieser Waffen. Bewegungen und Gegenbewegungen. Vorderes Bein krümmt sich, hinteres Bein streckt sich. Aktiv, passiv. Stoß und Zug. Eine Brise kam auf, die leichteren Äste der Bäume hoben sich leicht, als ihre Blätter in der bewegten Luft tanzten. Acht Körper, die sich in der langsamen Drehung eines Lotustritts bewegten. Der Bach wurde am Ende einer Ulmenreihe wieder sichtbar, er floss hier schneller und blitzte in der Sonne.
»Wir haben jetzt mehr als genug Druckmittel gegen den Senator.«
»Ich mache keine Politik«, sagte Lomax.
»Wir haben die Schmutzsammlung, die wir gegen ihn verwenden können. Sein Interesse an diesem Film stößt nur noch tiefer in die Wunde.«
»Ich bin nur die Exekutive, ich mache keine Politik. Ich sammle Fakten.«
»Wir wissen, dass er Stücke hat, die mal Göring gehört haben.«
»Leute stellen mir Fragen. Ich formuliere die Antworten.«
»Oder anderen Prominenten«, sagte Selvy.
»Wenn es so weit ist, ist es so weit. Wenn er diese Untersuchungen weiterbetreibt, werden wir ihm sagen, was wir wissen und was wir damit vorhaben. Sein Wahlkreis wird durchdrehen. Stellen Sie sich die Medien vor. Eine Kunstsammlung mit eindeutig sexuellem Einschlag im Wert von über einer Million Dollar.«
»Er hat keine Möglichkeit, gegen uns vorzugehen.«
»Aber ich mache keine Politik«, sagte Lomax. »Ich sammle bloß Informationen.«
»Wer macht die Politik? Sagen Sie’s den Machern. Wir haben jetzt alles über Percival, was wir brauchen. Mittlerweile schiebe ich in seinem Büro Papier herum.«
»Doppeltarnung«, sagte Lomax.
Im gegenwärtigen Sprachgebrauch war Selvy ein Nahbeobachter. Er beobachtete Senator Percival. Gleichzeitig hatten er und Percival ein geheimes Bündnis. Niemand sonst im Büro des Senators wusste, dass Selvy nicht angestellt worden war, um bei der Bewältigung der Papierflut zu helfen, sondern um Percivals Kunstkäufe zu tätigen.
»Aber Sie sollten das nicht als Schmutz bezeichnen«, sagte Lomax.
»Hab ich es als Schmutz bezeichnet?«
»Seine Schmutzsammlung, haben Sie vorhin gesagt.«
»Ich nehme an, Sie haben die Fotos gesehen.«
»Interessante Fotos«, sagte Lomax. »Sie werden immer besser.«
»Weniger Hektik diesmal.«
»Der menschliche Körper hat nichts Schmutziges an sich, wissen Sie. Einige angenehme Überraschungen in der Sammlung. Ein paar sehr schöne Stücke. Ich würde sagen, der Mann hat Geschmack. Bezeichnen Sie das nicht als Schmutz. Sie haben Schmutz gesagt.«
Auf einer Wiese bei der Reservoir Road tollten drei irische Setter umher, purzelten übereinander, als einer von ihnen plötzlich die Richtung wechselte. Eine Gruppe Schulmädchen in auffälligen Uniformen spielte Hockey, ihr Gelächter und Gekreische schien durch einen besonders klaren Bereich an die Limousine zu dringen, durch einen Raum frei von verzerrender Materie, sodass der Zuhörer eine wahrere menschliche Stimme empfing, das lebhafte Timbre angeregten Spiels.
»Wir haben die Frau gefunden«, sagte Lomax.
»Wo ist sie?«
»Auf Reisen.«
»Wo genau?«
»Drüben.«
Es war Kirschblütenzeit.
Moll fand, Washington drücke aufs Gemüt. Regierungsgebäude lösten immer diese Stimmung in ihr aus. Die Schwere der Geschichte oder irgend so was. Führungen. Schulbücher. Der letzte Sonntag der Sommerferien. Mir geht’s nicht gut, Mom.
Sie trug Ledersandalen, ein weites Baumwollkleid und ein Hüfttuch – eine Aufmachung, die sie immer dann einsetzte, wenn sie fand, dass eine irreführende Erscheinung angebracht war. Zum Beispiel für ein Treffen mit einem Mann, den sie wahrscheinlich unsympathisch finden würde. Sie hielt sich selbst für attraktiv, doch nicht auf diese Art. Kleidung, so eingesetzt, erschien ihr als eine Methode, das wahre Selbst zu schützen, bis sich die Dinge geklärt hatten.
Ihr braunes Haar, das ohnehin schon lockig und gekräuselt war, sah heute noch mehr so aus, als sei es elektrisch geladen. Frittierte Haare. Die wahrscheinlich durch die hohe Luftfeuchtigkeit verursachte Form war immerhin so extrem, dass man sie für eine Frisur halten konnte.
Irgendwie wachsam ging sie einen Korridor im Senatstrakt entlang, einem Pulk von Reportern hinterher, die sich bemühten, mit Lloyd Percival Schritt zu halten. Der Senator, von einem vorausgegangenen Fernsehauftritt noch mit orangenem Make-up im Gesicht,