Der Engel Esmeralda - Don DeLillo - E-Book

Der Engel Esmeralda E-Book

Don DeLillo

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Beschreibung

Meisterhafte Literatur im Kurzformat – Don DeLillos erster Erzählband Mit seinen 15 Romanen hat sich Don DeLillo Weltruhm erschrieben. Er gilt international als einer der bedeutendsten Autoren und aussichtsreicher Nobelpreiskandidat. Zum ersten Mal legt DeLillo nun einen Erzählband vor. Die neun zwischen 1979 und 2011 entstandenen und hier erstmals gesammelten Erzählungen bieten eine virtuose Tour de Force durch den literarischen Kosmos dieses Ausnahmeschriftstellers.Die Karibik, Griechenland, Manhattan, ein Gefängnis für Wirtschaftsdelikte und das Weltall sind die Schauplätze dieser neun Erzählungen, die gleichsam als Kondensat des einzigartigen Oeuvres DeLillos gelesen werden können. Oft geht es in den Geschichten um Individuen, die sich in rätselhaften oder beängstigenden Umständen wiederfinden: ein Paar, durch einen tropischen Sturm festgehalten auf einer karibischen Insel, konfrontiert mit unzuverlässigen Flugauskünften – und einer alleinreisenden Frau. Zwei Männer in einer Raumkapsel, die auf einen von Stürmen und Kriegen zerrissenen Erdball herabschauen und Radiostimmen aus einer vergangenen Zeit hören. Zwei Nonnen, die als Streetworker in der South Bronx arbeiten und ein Wunder beglaubigen: die nächtliche Erscheinung eines ermordeten Kindes auf einer Werbetafel – der Engel Esmeralda.

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Seitenzahl: 276

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Don DeLillo

Der Engel Esmeralda

Neun Erzählungen

Aus dem amerikanischen Englisch von Frank Heibert

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Don DeLillo

> Über dieses Buch

> Impressum

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

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Inhaltsverzeichnis

Teil EinsSchöpfungKleine Menschlichkeiten im Dritten WeltkriegTeil ZweiDer LäuferDie Akrobatin aus ElfenbeinDer Engel EsmeraldaTeil DreiBaader-MeinhofMitternacht in DostojewskijHammer und SichelDie HungerleiderinFördernachweis
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Teil Eins

Schöpfung (1979) Kleine Menschlichkeiten im Dritten Weltkrieg (1983)

Schöpfung

Wir fuhren seit einer Stunde, über weite Strecken bergauf durch dampfenden Regen. Ich hatte mein Fenster eine Handbreit geöffnet, in der Hoffnung, etwas zu wittern, das Aroma von Duftsträuchern. Dort, wo die Straße am übelsten war, bremste unser Fahrer ab, ebenso in den engsten Kurven und wenn uns in den Dunstschleiern ein anderes Auto entgegenkam. Ab und zu war die Vegetation am Straßenrand weniger dicht, und der Blick öffnete sich auf reinen Urwald, undurchdringliche Senken zwischen den Hügeln.

Jill las in ihrem Buch über die Rockefellers. Wenn sie einmal dabei war, wurde sie unerreichbar, wie unter starker Betäubung, und auf dem ganzen Hinweg sah ich nur einmal, dass sie von ihrem Buch aufschaute und ein paar spielende Kinder auf einem Feld betrachtete.

In beiden Richtungen herrschte wenig Verkehr. Die Autos, die uns entgegenkamen, tauchten jäh auf, klein, bunt, verbeult, dahindotzend wie in einem Comic, und unser Fahrer Rupert musste in dem heftigen Regen flink reagieren, um Zusammenstößen zu entgehen und den tiefen Furchen in der Straße und dem echten Dschungel, der uns entgegenwucherte, auszuweichen. Wenn einer Platz machen musste, das schien keine Frage zu sein, dann unser Fahrzeug, das Taxi.

Die Straße verlief nun ebener. Hin und wieder stand jemand zwischen den Bäumen und beäugte uns. Dampfende Schwaden waberten von den Höhen ins Tal. Ein kurzer Anstieg, dann erreichte der Wagen den Flughafen, eine Reihe kleiner Gebäude und ein Rollfeld. Der Regen hörte auf. Ich bezahlte Rupert, und wir trugen das Gepäck in den Terminal. Danach gesellte er sich draußen zu den anderen Männern in Sporthemden, und sie hielten in dem plötzlichen Sonnenglast einen Schwatz.

Der Raum war voller Menschen, Gepäck und Kisten. Jill setzte sich lesend auf ihren Koffer, umgeben von unseren Tragetaschen und dem restlichen Handgepäck. Ich drängelte mich zum Schalter durch und erfuhr, dass wir auf der Warteliste standen, Nummer fünf und sechs. Mein Gesichtsausdruck wurde nachdenklich. Ich sagte dem Mann, wir hätten den Flug von St. Vincent aus bestätigt. Er teilte mir mit, man hätte zweiundsiebzig Stunden vor dem Abflug noch einmal rückbestätigen müssen. Ich sagte, wir seien Segeln gewesen; vor zweiundsiebzig Stunden hätten wir uns zwischen den Tobago Cays befunden –; keine Menschen, keine Gebäude, keine Telefone. Er erwiderte, die Rückbestätigung sei obligatorisch. Er zeigte mir elf Namen auf einem Blatt Papier. Materieller Beweis. Wir waren Nummer fünf und sechs.

Ich ging zu Jill, um es ihr zu sagen. Sie ließ sich zwischen das Gepäck sinken, ein stilisierter Kollaps. Sie kostete ihn aus. Dann führten wir einen Pro-forma-Dialog. Sie brachte sämtliche Argumente, die ich gerade dem Mann am Schal-ter gegenüber geäußert hatte. Von St. Vincent aus bestätigt. Yacht gechartert. Unbewohnte Inseln. Und ich wiederholte alles, was er mir zur Antwort gegeben hatte. Mit anderen Worten, sie spielte meine Rolle, ich seine, aber ich tat es in einem möglichst vernünftigen Tonfall und fügte plausible Informationen hinzu, um ihre Verärgerung abzumildern. Ich rief ihr außerdem in Erinnerung, dass es drei Stunden später den nächsten Flug gab. Damit kämen wir immer noch rechtzeitig nach Barbados für einen Sprung in den Pool vor dem Abendessen. Und nachher würde es kühl und sternenklar sein. Oder warm und sternenklar. Und wir würden die Brandung in der Ferne rauschen hören. Die Ostküste war ja für ihre rauschende Brandung bekannt. Und morgen Nachmittag würden wir wie geplant unser Flugzeug nach New York besteigen und hätten nichts verloren außer ein paar Stunden auf diesem authentischen kleinen Inselflughafen.

»Wie neoromantisch und wie angemessen für heute. Wie viele Leute passen in diese Flieger, vierzig?«

»Ach was, mehr«, sagte ich.

»Wie viel mehr?«

»Mehr halt.«

»Und wo stehen wir auf der Liste?«

»Fünf und sechs.«

»Nach den mehr als vierzig.«

»Ganz viele kommen gar nicht«, sagte ich. »Der Dschungel verschluckt sie.«

»Blödsinn. Guck dir doch die Leute an. Da kommen immer mehr.«

»Einige bringen nur jemanden zum Flughafen.«

»Lieber Gott, wenn er das glaubt, will ich ihn nicht auf meiner Seite haben. Die sollten alle überhaupt nicht hier sein, so sieht’s aus. Wir haben Nebensaison.«

»Einige leben hier.«

»Und wir wissen auch genau, wer, nicht wahr?«

Das Flugzeug aus Trinidad landete, und der Lärm und der Anblick sorgten dafür, dass die Leute in der Nähe des Schalters nach vorn drängten. Ich ging außen herum auf die Seite und näherte mich von der Rückseite des Nebenschalters, wo noch ein paar Leute standen. Die rückbestätigten Passagiere bildeten eine Schlange vor der Passkontrolle.

Stimmen. Eine britische Frau sagte, der Flug am Spätnachmittag sei annulliert worden. Wir schoben uns allesamt näher heran. Zwei karibische Männer ganz vorn wedelten dem Angestellten mit ihren Tickets vor der Nase herum. Weitere Stimmen. Ich sprang mehrmals hoch, um über die Köpfe der versammelten Passagiere auf die unbefestigte Straße draußen zu schauen. Rupert war immer noch da.

Schnell nahmen die Dinge Gestalt an. Fracht und Gepäck durch eine Tür nach draußen, Passagiere durch die andere. Mir wurde klar, dass jetzt nur noch die Kandidaten von der Warteliste übrig waren. Die Leute, die den Schalter verließen, wirkten wie angetrieben von einer tiefen, rettenden Kraft. Als wäre eine primitive Taufe im Gange. Wir Restlichen drängten uns um den Angestellten. Er machte Häkchen hinter einige Namen und strich andere durch.

»Die Maschine ist voll«, sagte er. »Die Maschine ist voll.«

Acht oder zehn Gesichter waren übrig, mit dem matten Ausdruck des leidenden Reisenden. Diverse Arten Englisch wurden gesprochen. Jemand schlug vor, wir sollten uns zusammentun und ein Flugzeug chartern. Das sei hier ziemlich üblich. Jemand anders erwähnte einen Neunsitzer. Der Erste schrieb Namen auf und ging mit ein paar anderen auf die Suche nach dem Charterbüro. Ich fragte den Angestellten nach dem Spätnachmittagsflug. Er wusste nicht, warum der annulliert worden war. Ich bat ihn, Jill und mich auf den ersten Flug des nächsten Tages zu buchen. Er komme nicht an die Passagierliste heran, sagte er. Er könne uns nur auf die Warteliste setzen. Morgen früh wüssten wir alle mehr.

Jill und ich schoben unser Gepäck mit den Füßen zur Tür. Einer der Charterkandidaten kam noch mal, um uns zu sagen, dass später am Tage vielleicht ein Flugzeug zu organisieren sei –; allerdings nur ein Sechssitzer. Das schien uns auszuschließen. Ich gab Rupert ein Zeichen, und wir trugen die Sachen zum Auto. Rupert hatte ein längliches Gesicht und eine Lücke zwischen den Schneidezähnen, über seiner Brusttasche trug er eine Silbermedaille –; einen aufwendig gestalteten ovalen Orden an einem mehrfarbigen Stoffstreifen.

Jill setzte sich auf die Rückbank und las. Rupert, neben dem Kofferraum stehend, sagte, er kenne ein Hotel nicht weit vom Hafen. Sein Blick irrte ständig nach rechts. Eine Frau stand ein paar Schritte entfernt und wartete sehr ruhig ab, bis wir ausgeredet hatten. Ich meinte, sie am Rand der Menge im Terminal gesehen zu haben. Sie trug ein graues Kleid und hatte eine Handtasche dabei. Zu ihren Füßen stand ein kleiner Koffer.

»Bitte, mein Taxi ist schon zurückgefahren«, sagte sie zu mir.

Sie war blass, hatte ein weiches, unansehnliches Gesicht mit vollen Lippen und kurz geschnittene braune Haare. Sie hielt die Rechte vor die Stirn, um die Augen vor dem Sonnenlicht zu schützen. Wir verabredeten, uns die Taxikosten zum Hotel zu teilen und morgen früh auch wieder zusammen herzufahren. Sie sagte, sie sei Nummer sieben gewesen.

Auf dem ganzen Rückweg war es heiß und grell. Die Frau saß vorn neben Rupert. In Abständen drehte sie sich zu Jill und mir um und sagte: »Furchtbar, einfach furchtbar, was für ein System die hier haben«, oder »Ich begreife nicht, wie die ökonomisch überleben können«, oder »Die konnten mir nicht mal garantieren, dass ich morgen hier wegkomme«.

Als wir anhielten, um ein paar Ziegen über die Straße zu lassen, kam eine Frau zwischen den Bäumen hervor und wollte uns Muskatnüsse in kleinen Plastiktüten verkaufen.

»Wo stehen wir auf der Liste?«, fragte Jill.

»Zwei und drei diesmal.«

»Um wie viel Uhr geht der Flug?«

»Viertel vor sieben. Wir müssen um sechs dort sein. Rupert, wir müssen um sechs dort sein.«

»Ich fahre Sie.« ​​

»Wo fahren wir jetzt hin?«, fragte Jill.

»Hotel.«

»Klar, Hotel. Was für ein Hotel?«

»Hast du mich da hinten springen sehen?«

»Das hab ich verpasst.«

»Ich bin hochgesprungen.«

»Barbados klappt nicht, oder?«, sagte sie.

»Lies dein Buch«, sagte ich zu ihr.

Die Ketsch ankerte immer noch im Hafen. Ich zeigte sie der Frau vorn und erklärte ihr, dass wir die letzten anderthalb Wochen an Bord verbracht hätten. Sie drehte sich um und lächelte schwach, als sei sie zu müde, um meinen Bemerkungen zu folgen. Wir waren in den Hügeln, unterwegs Richtung Süden. Mir wurde klar, was diese Hafenstadt weniger blass und beliebig wirken ließ als die anderen kleinen Häfen, die wir angelaufen hatten. Steinhäuser. Es sah fast mediterran aus.

Im Hotel bekamen wir problemlos ein Zimmer. Rupert sagte, er würde uns am nächsten Morgen um fünf erwarten. Zwei Zimmermädchen gingen über den Strand voraus, ein Träger folgte. Wir teilten uns in zwei Gruppen auf, und Jill und ich wurden zu einer sogenannten »Pool-Suite« geführt. Hinter einer drei Meter hohen Mauer befand sich ein privater Garten mit Hibiskus, diversen Sträuchern und einem Kapokbaum. Der kleine Pool gehörte auch uns. Auf der Terrasse begrüßte uns eine Schale voller Bananen, Mangos und Ananas.

»Gar nicht so übel«, sagte Jill.

Sie schlief eine Weile. Ich ließ mich im Pool treiben und spürte, wie die unbehagliche Anspannung von mir abfiel, der Ärger, wenn man irgendwo als Gruppe hinkommen wollte –; organisiertes Reisen. Dieser Ort hier war so nah an der Vollkommenheit, dass wir uns nicht einmal klarmachen wollten, was für ein Glück wir hatten, hergebracht worden zu sein. Die besten neuen Orte mussten vor unseren eigenen Freudenschreien geschützt werden. Wir würden wochen- oder monatelang die Worte zurückhalten, bis zu dem milden Abend, an dem uns eine beiläufige Bemerkung ins Erinnern brachte. Wahrscheinlich glaubten wir gemeinsam daran, dass eine falsche Stimme eine Landschaft entwerten konnte. Diese Empfindung selbst blieb unausgesprochen und war eine der Quellen unserer Nähe.

Ich schlug die Augen auf und sah windgetriebene Wolken –; jagende Wolken –; und einen einzelnen Fregattvogel, der mit langen, ausgebreiteten, ruhigen Schwingen auf einem Luftstrom segelte. Die Welt und alle Dinge darin. Ich war nicht so einfältig zu glauben, ich befände mich im Schoß irgendeines Uraugenblicks. Dieses Hotel war ein modernes Produkt, so entworfen, dass die Menschen das Gefühl bekamen, die Zivilisation hinter sich gelassen zu haben. Aber ebenso wenig, wie ich naiv war, hatte ich Lust, mir diesen Ort durch Skepsis zu verderben. Wir hatten einen halben Tag schierer Frustration hinter uns, lange Fahrten hin und zurück, und das kühlende Süßwasser auf meiner Haut, der über dem Ozean aufsteigende Vogel und die Geschwindigkeit dieser tief fliegenden Wolken, ihre massiven, sich überschlagenden Gipfel und mein schwereloses Dahintreiben, meine langsamen Drehungen im Pool –; wie ein ferngesteuerter Rausch –; gaben mir das Gefühl, ich wüsste, was es bedeutete, auf der Welt zu sein. Es war besonders, ja. Der Traum von der Schöpfung, der bei der Suche des ernsthaften Reisenden am Rande aufschimmert. Fehlte nur noch Jill, die durch die transparenten Vorhänge schritt und sich lautlos in den Pool gleiten ließ.

Wir aßen im Pavillon zu Abend, mit Blick über das ruhige Meer. Die Tische waren nur zu einem Viertel besetzt. Die europäische Frau, unsere Taxigefährtin, saß in der hintersten Ecke. Ich nickte ihr zu. Entweder sah sie es nicht oder wollte nicht reagieren.

»Sollten wir sie nicht an unseren Tisch bitten?«

»Sie will nicht«, sagte ich.

»Schließlich sind wir Amerikaner. Wir sind berühmt dafür, andere Menschen zu uns zu bitten.«

»Sie hat sich den abgelegensten Tisch ausgesucht. Sie fühlt sich wohl dort.«

»Sie könnte eine Wirtschaftsexpertin aus dem Sowjetblock sein. Was meinst du? Oder eine, die eine Gesundheitsstudie für die UNO macht.«

»Ganz daneben.«

»Eine recht junge Witwe, Schweizerin, die das Vergessen sucht.«

»Keine Schweizerin.«

»Deutsche«, sagte sie.

»Genau.«

»Die ziellos über die Inseln streunt. An den abgelegensten Tischen sitzt.«

»Die waren nicht überrascht, als ich sagte, wir hätten das Frühstück gern um halb fünf.«

»Die ganze Insel muss sich nach dieser stinkenden Drecks-Airline richten. Das ist grässlich, einfach grässlich.«

Jill trug eine lange Tunika über einer Hose aus Chiffon. Wir ließen unsere Schuhe unter dem Tisch stehen und schlenderten über den Strand, einmal sogar ins Wasser, bis zu den Knien. Ein Security-Mann stand unter den Palmen und behielt uns im Blick. Als wir an den Tisch zurückkehrten, brachte ein Kellner Kaffee.

»Es besteht immer noch die Möglichkeit, dass sie zwei von der Warteliste mitnehmen können, aber nicht drei«, sagte Jill. »Ich muss auf jeden Fall am Mittwoch zurück sein, aber ich finde trotzdem, wir sollten zusammen reisen.«

»Wir sind ein Team. Wir sind die ganze Zeit ein Team gewesen.«

»Wie viele Flüge gibt es morgen nach Barbados?«

»Nur zwei. Was ist am Mittwoch?«

»Bernie Gladman kommt aus Buffalo runter.«

»Und meilenweit verbrannte Erde.«

»Es hat ja nur sechs Wochen gedauert, den Termin zustande zu kriegen.«

»Wir kommen weg. Wenn nicht um sechs-fünfundvierzig, dann am Spätnachmittag. Wenn das passiert, verpassen wir natürlich unseren Anschlussflug in Barbados.«

»Das will ich gar nicht hören«, sagte sie.

»Es sei denn, wir fliegen stattdessen nach Martinique.«

»Du bist der einzige Mann, der je begriffen hat, dass Langeweile und Angst für mich ein und dasselbe sind.«

»Ich versuche, dieses Wissen nicht auszunutzen.«

»Du bist wahnsinnig gern langweilig. Du suchst nach besonders langweiligen Situationen.«

»Flughäfen.«

»Stundenlange Taxifahrten«, sagte sie.

Zuerst beugten sich die Palmwipfel. Dann schlug der Regen zu und klatschte in schweren Spritzern auf den Steinpfad. Als er nachließ, gingen wir über den Rasen zu unserer Suite.

Jill beim Ausziehen zuschauen. Rum im Zahnputzglas. Klang und Kraft des Windes. Das Spannen der Haut um die Augen nach zehn Tagen Sonne und windigem Wetter.

Ich konnte schlecht einschlafen. Nachdem sich der Wind endlich gelegt hatte, war das Erste, was ich hörte, das Krähen der Hähne, es schienen Hunderte zu sein, hinten in den Hügeln. Minuten später fingen die Hunde an zu bellen.

Wir fuhren im ersten Tageslicht los. Neun Männer mit Macheten tappten im Gänsemarsch an der Straße entlang.

Wir stellten fest, dass die andere Frau Christa hieß. Sie und Jill plauderten auf den ersten Kilometern ein wenig. Dann senkte Jill den Kopf und wandte sich ihrem aufgeschlagenen Buch zu.

Kurz regnete es.

Ich hatte um diese Zeit vielleicht mit einem halben Dutzend Leute im Flughafen gerechnet. Er war proppenvoll. Alle drängten sich um den Schalter. Vor lauter Gepäckstücken und Kisten und Vogelkäfigen und kleinen Kindern kam man kaum an ihn heran.

»Wahnsinn«, sagte Jill. »Wo sind wir? Ich glaube es nicht.«

»Wenn das Flugzeug hier ankommt, wird es leer sein oder beinahe leer. Darauf zähle ich. Und viele dieser Leute stehen auf der Warteliste. Wir sind Nummer zwei und drei, nicht vergessen.«

»Gott, wenn es dich gibt, hol mich hier raus.«

Sie war kurz vorm Weinen. Ich ließ sie an der Tür stehen und versuchte, zum Schalter durchzukommen. Ich hörte, wie das Flugzeug herankam und landete.

In Minutenschnelle waren die regulären Passagiere fast alle abgefertigt und bildeten eine Schlange quer durch den Raum. Die Hitze war jetzt schon schweißtreibend. Unter uns, die wir im Pulk stehen blieben, gab es kleine Verzweiflungsausbrüche –; ein Ungestüm von Bewegung, Gestik und Mimik.

Ich hörte, wie der Angestellte unsere Namen aufrief. Ich ging zum Schalter und beugte mich weit hinüber. Sein Kopf und meiner berührten sich fast. Einer von uns würde fliegen, sagte ich zu ihm, und einer nicht. Ich gab ihm Jills Flugschein. Dann hetzte ich zurück, um ihr Gepäck zu holen und es zu der kleinen Plattform neben dem Schalter zu tragen. Ihr Mund klaffte auf, und ihre Arme schnellten zur Seite, eine Stummfilmpose der Überraschung. Sie kam mit einem meiner Gepäckstücke hinter mir her.

»Du fliegst allein«, sagte ich. »Du musst an dem Schalter ein Formular ausfüllen. Wo ist dein Pass?«

Als ich das Gepäck los war, begleitete ich sie zur Passkontrolle und hielt eine ihrer Tragetaschen, während sie das gelbe Formular ausfüllte. Zwischen den einzelnen Feldern warf sie mir immer wieder besorgte Blicke zu. Überall Verwirrung. Der Raum ringsum Glas, Licht.

»Hier ist Geld für die Flughafensteuer. Sie konnten nur einen von uns unterbringen. Es wäre dumm, wenn du nicht fliegen würdest.«

»Aber wir waren uns doch einig.«

»Es wäre dumm, nicht zu fliegen.«

»Das gefällt mir nicht.«

»Das schaffst du schon.«

»Und du?«

»Ich heirate eine Eingeborene und lerne malen.«

»Wir können ein Flugzeug chartern. Komm, das versuchen wir, auch wenn wir nur zu zweit sind.«

»Das ist hoffnungslos. Nichts funktioniert hier.«

»Ich mag aber so nicht abreisen. Das ist so furchtbar. Ich will nicht weg.«

»Jill, Schatz«, sagte ich.

Ich sah ihr nach, wie sie am Heck auf die Gangway zuging. Bald drehten sich die Propeller. Ich ging hinein und sah Christa an der Tür stehen. Ich holte mein Gepäck und ging nach draußen. Rupert saß auf einer Bank vor dem Souvenirladen. Ich musste ungefähr zehn Meter die Straße entlanggehen, bevor es mir gelang, seine Aufmerksamkeit zu erregen. Ich drehte mich nach Christa um. Sie hob ihren Koffer hoch. Dann setzten wir uns alle drei von unseren verschiedenen Positionen in Bewegung, auf das Auto zu.

Langsam wusste ich schon, wann eine bestimmte Häusergruppe auftauchen würde, wo die schlimmsten Kurven lagen, wann und auf welcher Seite das Gelände abfiel und zu einem Stück dichten Urwalds wurde. Sie saß neben mir und rieb geistesabwesend über einen Insektenstich am linken Unterarm.

Wir gingen in dasselbe Hotel, und ich fragte nach einer Pool Suite. Wir folgten einem Zimmermädchen den Strand entlang und dann den Pfad hoch zu einem der Gartentore. So wie Christa auf den Garten und den Pool reagierte, wurde mir klar, dass sie die vorige Nacht in einem der ganz normalen Strandbungalows verbracht hatte.

Als wir allein waren, folgte ich ihr ins Bad. Sie nahm eine Lotion aus ihrer Schminktasche und tränkte einen Wattebausch damit. Dann strich sie langsam mit der Watte über ihr Gesicht.

»Du warst Nummer sieben«, sagte ich.

»Sie haben nur vier mitgenommen.«

»Wärst du allein hierher zurückgefahren? Oder auf dem Flughafen geblieben?«

»Ich habe sehr wenig Geld. Ich habe nicht damit gerechnet.«

»Die haben keinen Computer.«

»Ich bin rausgefahren. Ich hatte von meinem Hotel aus angerufen. Sie führen verschiedene Listen. Zweimal konnten sie meinen Namen nirgendwo finden. Und man erfährt einfach nicht, wenn ein Flug annulliert wird.«

»Das Flugzeug kommt nicht.«

»Das stimmt«, sagte sie. »Das Flugzeug kommt nicht, und man weiß, dass man für nichts und wieder nichts rausgefahren ist.«

Ich hielt ihr Gesicht in den Händen.

»Ist das nichts?«

»Ich weiß nicht.«

»Du fühlst doch.«

»Ja, ich fühle.«

Sie ging hinein und setzte sich aufs Bett. Dann schaute sie zur Tür und nahm mich wahr –; eine verspätete Musterung. Nach einer Weile, in der Totenstille zu herrschen schien, wurde mir das sanfte Geräusch der heranrollenden Wellen bewusst und dass ich es die ganze Zeit gehört hatte, den Ozean, das Brechen und Auslaufen des bewegten Wassers. Christa betrachtete mich weiter, während sie nach ihrer Handtasche griff, die hinter ihr mitten auf dem Bett stand, und auch, während sie drinnen nach Zigaretten tastete.

»Wie viel Geld hast du?«, fragte ich.

»Hundert Dollar, in europäischer Währung.«

»Weniger als zwei Taxifahrten hin und zurück.«

»Ja, lustig. Das ist jetzt die Berechnungseinheit für unser Geld.«

»Hast du letzte Nacht geschlafen?«

»Nein«, sagte sie.

»Der Wind war unglaublich. Hat die ganze Zeit geblasen. Heftig, bis zum Morgengrauen. Ich liebe es, wie diese Art Wind klingt und sich anfühlt. Er war warm, fast heiß. Er hat diese Bäume da draußen gebeugt. Man konnte das Rauschen in den Bäumen hören. Dieses schwere, rauschende Prasselgeräusch.«

»Bei der Lautstärke, bei der Windstärke konnte man sich gar nicht vorstellen, dass er warm war.«

Wenn alles neu ist, liegt der Spaß auf der Haut. Ich fand es rätselhaft befriedigend, ihren Namen laut auszusprechen und die Farben ihres Körpers aufzusagen. Haare und Augen und Hände. Der Neuschnee ihrer Brüste. Absolut gar nichts wirkte banal. Ich wollte am liebsten Listen und Klassifizierungen aufstellen. Schlicht, grundlegend, wahr. Ihre Stimme war weich und wissend. Ihre Augen waren traurig. Manchmal zitterte ihre linke Hand. Sie war eine Frau, die schwere Zeiten hinter sich hatte, eine quälend schlechte Ehe vielleicht oder den Tod eines nahen Freundes. Ihr Mund war sinnlich. Beim Zuhören ließ sie den Kopf in den Nacken sinken. Das Braun ihrer Haare war nichts Besonderes, etwas Grau war darin, feine Strähnen oder Reflexe, die je nach Lichteinfall zu kommen und zu gehen schienen.

All das sagte ich ihr und mehr, beschrieb ihr ziemlich detailliert, wie ich sie sah, und Christa schien sich über diese Aufmerksamkeit zu freuen.

Wir nutzten den Morgen im Bett. Nach dem Mittagessen ließ ich mich im Pool treiben. Christa lag nackt im Schatten, zog sich immer weiter dorthin zurück, sobald die Sonnenlinie ihren Ellbogen oder den Rand ihrer rosa Ferse erreichte.

»Wir müssen allmählich nachdenken«, sagte sie. »Es gibt ein Flugzeug um fünf.«

»Wir stehen nicht mal mehr auf der Warteliste. Wir sind los, ohne ihnen zu sagen, dass sie unsere Namen aufrücken lassen sollen. Es ist sinnlos.«

»Ich muss weg.«

»Ich rufe nachher an. Ich nenne ihnen unsere Namen. Dann sehen wir, an welcher Stelle wir stehen. Wir können morgen fliegen. Morgen gibt es drei Flüge.«

Sie schlang ein großes Handtuch um sich und setzte sich auf die Treppe zur Terrasse. Ganz eindeutig wollte sie etwas sagen. Ich stand im brusthohen Wasser.

Dies sei schon der vierte Tag, an dem sie versuche, von der Insel wegzukommen. In den letzten vierundzwanzig Stunden sei sie allmählich immer ängstlicher geworden. Durch die Strapazen am Flughafen, sagte sie, fühle sie sich hilflos und lächerlich und verloren. Die hätten so eine komische Art zu sprechen hier. Ihre dahinschwindenden Geldbestände. Die Taxifahrten durch die Hügel. Der Regen, die Hitze. Und die Schärfe, die dunkle Schärfe, die eingewirkte Stimmung oder Tonlage, die ominöse Logik dieses Ortes. Es sei alles wie im Traum, einem Albtraum von Isolation und Zwang. Sie müsse unbedingt von der Insel weg. Wir würden diese Stunden zusammen haben. Diese Episode, wie sie es nannte. Aber dann müsse ich ihr helfen, wegzukommen.

Sie sah feierlich aus in ihrem weißen Handtuch. Ich hüpfte ein paarmal im Wasser auf und ab. Dann stieg ich aus dem Pool und ging nach drinnen, um die Airline anzurufen. Ein Mann sagte, er hätte unsere Namen nirgendwo. Ich sagte ihm, dass wir gültige Tickets hätten, und erklärte einige unserer Schwierigkeiten. Er sagte, wir sollten um sechs Uhr früh erscheinen. Dann wüssten wir alle mehr.

Wir aßen in der Suite zu Abend. Mit einem Bleistift skizzierte ich ihr Gesicht auf der Rückseite einer Leinenserviette. Den Nachtisch nahmen wir mit nach draußen in den Garten. Ich zeichnete sie noch einmal, diesmal die ganze Gestalt, auf einem Blatt Hotelbriefpapier. Den Ozean. Den Schwung der Küste.

»Du malst also?«

»Ich schreibe.«

»Aha, ein Schriftsteller?«

»Was riecht hier so fantastisch? Ist das Jasmin? Wenn ich bloß wüsste, wie das heißt.«

»Sehr angenehm, so ein Garten.«

»Abgesehen vom Wegkommen, einfach von der Insel wegzukommen, musst du irgendwann irgendwo sein?«

»Ich muss Barbados-London fliegen. Es gibt Leute, die mich da treffen wollen.«

»Leute, die warten.«

»Ja.«

»In einem englischen Garten.«

»In zwei Räumen mit schreienden Babys.«

»Du lächelst. Sie lächelt.«

»Das ist ein Riesending.«

»Ein heimliches Lächeln hat sie da. Tief und privat. Aber doch einnehmend.«

»Das hat seit Jahren niemand gesehen. Es tut mir im Gesicht weh.«

»Christa Landauer.«

Ein Mann kam mit Brandy. Christa saß in einem alten Morgenmantel da. Die Nacht war klar.

»Du hast den Wunsch, nicht aufzufallen«, sagte ich.

»Woran merkst du das?«

»Du willst undefiniert sein. Das merke ich an verschiedenen Dingen. Kleidung, Gang, Haltung. Am meisten an deinem Gesicht. Vor nicht allzu langer Zeit hattest du ein anderes Gesicht. Da bin ich mir sicher.«

»Was wissen wir noch voneinander?«

»Was wir sehen können.«

»Berühren. Was wir berühren können.«

»Sprich deutsch«, sagte ich.

»Wieso?«

»Ich höre es gern.«

»Kannst du die Sprache?«

»Ich möchte den Klang hören. Ich mag den Klang. Voller Heavy Metal. Ich kann Hallo und Auf Wiedersehen sagen.«

»Sonst nichts?«

»Sprich natürlich. Sag irgendwas. Red einfach.«

»Wir werden im Bett deutsch sein.«

Sie saß in einem Sessel, ohne Morgenmantel, ein Bein über der Lehne, und hielt ihr Brandyglas und die Zigarette in einer Hand.

»Hörst du?«

»Wen oder was?«

»Hör genau hin.«

»Die Wellen«, sagte sie.

Eine Weile später gingen wir hinein. Ich beobachtete, wie sie zum Bett schritt. Sie schob ein Kissen weg und legte sich auf den Rücken, den Blick zur Decke, einen Arm ließ sie seitlich herunterhängen. Mit dem Zeigefinger aschte sie auf den Boden. Rauch wanderte ihren Arm empor. Frauen in ungezwungenen Stellungen, Frauen, die sich räkeln, haben schon immer massives Entzücken bei mir erregt, Frauen in lässiger, ruhender Pose, und ich wusste, dass dieses Bild von Christa mit der Zeit zu einer wiederkehrenden Erinnerung werden würde, ihre geöffneten, unnahbaren Augen, die Tiefen der Stille in ihrem Gesicht, der abgetragene Morgenmantel, das zerwühlte Bett, ihre nachdenkliche, grüblerische Ausstrahlung voll Einsamkeit und finsterer Ferne, der Rauch, der an ihrem Arm hochstieg, sich daran festzuklammern schien.

Ich rief die Rezeption an. Der Mann sagte, er würde jemanden um halb fünf mit dem Frühstück vorbeischicken, und Rupert wäre dann um fünf mit seinem Taxi vor der Tür.

Plötzlich kam eine Windbö und rüttelte an den Fensterläden und blies durchs ganze Zimmer, Papiere segelten umher, die Vorhänge bauschten sich. Christa drückte ihre Zigarette aus und löschte das Licht.

Als ich viel später die Augen aufschlug, war die Schreibtischlampe an, und sie saß in ihrem Morgenmantel auf einem Sessel und las in irgendwelchen Papieren. Ich wollte nach meiner Armbanduhr greifen. Tür und Fensterläden waren geschlossen, aber ich konnte den Regen hören.

»Wie spät ist es?«

»Schlaf weiter.«

»Haben wir den Weckruf verpasst?«

»Es ist noch Zeit. Sie werden am Tor klingeln. Noch eine Stunde.«

»Ich will dich bei mir.«

»Ich muss noch fertig machen«, sagte sie. »Schlaf weiter.«

Ich schaffte es, mich auf einen Ellbogen zu stützen.

»Was liest du gerade?«

»Arbeit. Sehr öde. Willst du nicht wissen. Wir fragen nicht, du und ich. Du schläfst halb, sonst würdest du gar nicht fragen.«

»Kommst du bald ins Bett?«

»Ja, bald.«

»Wenn ich schlafe, weckst du mich?«

»Ja.«

»Schiebst du die Tür ein bisschen auf, damit wir die Luft spüren?«

»Ja«, sagte sie. »Natürlich. Alles, was du willst.«

Ich streckte mich aus und schloss die Augen. Ich dachte an die Sandinseln da draußen, zwei Tage Segeln, und die Brandung, die über die Riffe sprühte, und dass die Unterseiten der Möwen vom hellen Wasser aus grün wirkten.

 

Und wieder die breitblättrigen Bäume und das Dickicht der Senken, der kurvenreiche Anstieg durch Dunst und Regen. Irgendetwas am Licht dieses Morgens verlieh der Landschaft eine subtile Färbung. Die Abstände wirkten nicht so plastisch und lebendig. Es gab nur das eine Tiefgrün mit trügerischen Schattierungen. Wir waren jetzt auf dem letzten Stück, ungefähr eine Dreiviertelstunde unterwegs, und ich dachte, es könnte sich immer noch ändern, ein jäher Wetterumschwung könnte das Land immer noch verwandeln, Textur und Dimension hervorbringen, Aufbäumen grünen Lichtes, derlei Wabern und Strahlen und die Fastbewusstheit, die man stets auf überwuchertem Gelände feststellt. Christa rieb sich schläfrig den Nacken. Ich spähte die ganze Zeit nach draußen und nach oben. Im Vordergrund liefen Frauen in verwaschenen Röcken zu zweit und dritt am Straßenrand entlang, Frauen mit markanten Gesichtszügen, die von Zeit zu Zeit im feuchten Schimmer auftauchten, einige mit Körben auf dem Kopf, sie lugten ins Auto, die Schultern nach hinten gezogen, die nackten Arme glänzend.

»Diesmal kommen wir weg«, sagte Christa.

»Du meinst, du hast Glück.«

»Wir müssen nicht mal warten. Erster Flug.«

»Was, wenn es nicht so kommt?«

»Das darfst du nicht mal flüstern.«

»Kommst du mit mir zurück?«

»Ich höre gar nicht zu.«

»Es wäre verrückt, dazubleiben«, sagte ich. »Sieben oder acht Stunden warten. Wir erfahren unseren Status. Ich kläre alles mit dem Mann. Rupert wird auf uns warten. Und uns ins Hotel zurückbringen. Dann haben wir noch etwas Zeit miteinander. Und dann fahren wir wieder hin. Wir kriegen den Zweiuhrflug oder den Fünfer, je nach unserem Status. Wichtig ist jetzt nur, unseren Status zu klären.«

Rupert hörte Radio, seine Schultern lehnten sich in die knappe Kurve.

»Macht dir das so einen Spaß«, fragte sie, »hin und her?«

»Ich lass mich gern treiben.«

»Das ist keine Antwort.«

»Doch, ich lass mich wirklich gern treiben. Das versuche ich bei jeder Gelegenheit.«

»Du solltest zurückfahren. Dich sechs Wochen lang treiben lassen.«

»Nicht allein«, sagte ich.

Sie hatte dasselbe graue Kleid an wie vor zwei Tagen auf der Straße vor dem Terminal, als ich mich umdrehte und sie höflich an der Seite stehen sah, das Gesicht verzerrt im gleißenden Licht.

»Wie lange noch? Das hier kommt mir bekannt vor.«

»Minuten«, sagte ich.

»Hier sind wir mal fast von der Straße abgekommen, auf der ersten Fahrt, da hat der Kühler vorn gequalmt. Da hätte ich schon wissen müssen, dass es bis zum Ende eine Katastrophe sein würde.«

»Rupert würde es nie so weit kommen lassen, oder, Rupert?«

»Zugucken, wie das ganze Auto in Rauch aufgeht«, sagte sie.

Ich warf ihr einen Blick zu, und wir lächelten beide. Rupert klopfte im Takt der Musik aufs Lenkrad. Wir kamen an ein paar Häusern vorbei und erklommen die letzte Steigung.

Ich nahm Christas Ticket und bat sie, im Taxi zu warten. Auch das Gepäck sollte drinbleiben, bis wir sicher waren, an Bord gehen zu können. Draußen vorm Terminal hatten sich verschiedene Leute versammelt. Ein stämmiger Mann, Inder oder Pakistani, wartete an der Tür. Ich hatte ihn schon am Vortag am Schalter gesehen, er hatte in einem gestreiften Blazer eingekeilt dagestanden und geschwitzt. Jetzt hatte er etwas an sich, etwas In-sich-Gekehrtes, eine fast gespenstische Ruhe, die mich auf die Idee brachte, bei ihm stehen zu bleiben.

»Es kursiert das Gerücht, sie wäre abgestürzt«, sagte er.

Wir sahen uns nicht an.

»Wie viele an Bord?«

»Acht Passagiere, drei Crewmitglieder.«

Ich ging hinein. Es befanden sich nur zwei Menschen im Terminal, und der Schalter war leer. Ich trat hinter den Schalter und öffnete die Tür zum Büro. Zwei Männer in weißen Hemden saßen einander gegenüber, zwischen ihnen Schreibtische, die Rücken an Rücken gestellt waren.

»Stimmt das?«, fragte ich. »Sie ist abgestürzt?«

Sie sahen mich an.

»Die Maschine aus Trinidad. Die Sechs-fünfundvierzig. Nach Barbados. Die ist nicht abgestürzt?«

»Der Flug ist annulliert«, sagte einer von ihnen.

»Draußen sagen die Leute, sie wäre in den verdammten Ozean gestürzt.«

»Nein, nein –; annulliert.«

»Was ist passiert?«

»Start war unmöglich.«

»Böen«, sagte der zweite.

»Sie hatten eine ganze Reihe Probleme.«

»Ist also nur annulliert worden«, sagte ich, »und es gibt nichts Ernstes.«

»Sie haben nicht angerufen. Sie müssen anrufen, bevor Sie rausgefahren kommen. Immer anrufen.«

»Andere Leute rufen an«, sagte der Zweite. »Deshalb sind Sie ganz allein hier.«

Ich zeigte ihnen die Tickets, und einer von ihnen schrieb sich unsere Namen auf und sagte, er erwarte das Flugzeug hier rechtzeitig für den Abflug um zwei Uhr.

»Was für einen Status haben wir?«

Er sagte, ich solle anrufen, bevor ich rausführe. Ich ging durch den mittlerweile menschenleeren Terminal. Der stämmige Mann stand immer noch vor der Tür.

»Sie ist nicht runtergekommen«, teilte ich ihm mit.

Er sah mich an und dachte nach.

»Sie ist also in der Luft?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Böen«, sagte ich.

Kinder rannten vorbei. Ruperts Taxi parkte in einem kleinen offenen Bereich etwa dreißig Meter entfernt. Keiner am Steuer. Als ich näher kam, sah ich, wie sich Christa auf dem Rücksitz nach vorn lehnte. Sie entdeckte mich und stieg aus und wartete an der geöffneten Tür.

Ich hielt es für das Beste, mit dem Gerücht vom Absturz anzufangen. Sie würde aufatmen, wenn sie hörte, dass das nicht stimmte. Und so auch die Annullierung leichter hinnehmen.

Aber als ich anfing, wurde mir klar, dass jegliche Taktik zwecklos war. Ihr Gesicht erstarb langsam. Sämtliche Ichs brachen nach innen ein. Sie wurde unzugänglich und totenstill. Ich redete immer weiter, sonst fiel mir nichts ein, und merkte, dass ich noch deutlicher sprach, als man es ohnehin schon Ausländern gegenüber tut. Es nieselte. Ich versuchte ihr zu erklären, dass wir höchstwahrscheinlich später am Tage wegkommen würden. Ich sprach langsam und deutlich. Die Kinder kamen angelaufen.

Christa bewegte die Lippen, sagte aber nichts. Sie schob sich an mir vorbei und hastete die Straße entlang. Sie war im Busch hinter einem Schuppen aus Teerpappe, als ich sie einholte. Zitternd fiel sie mir in die Arme.

»Alles ist gut«, sagte ich. »Du bist nicht allein, es wird nichts passieren, es ist doch nur ein Tag. Alles ist gut, alles ist gut. Wir werden einfach zusammen sein, sonst nichts. Nur noch ein Tag, sonst nichts.«

Ich hielt sie von hinten, sprach sehr leise, mein Mund an der Muschel ihres rechten Ohrs.