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Erscheint weltweit gleichzeitig: der neue Roman von Don DeLillo, dem »aufregendsten Schriftsteller seiner Generation« Die Zeit Ein junger Filmemacher sucht einen ehemaligen geheimen Kriegsberater der amerikanischen Regierung in dessen Haus irgendwo in der kalifornischen Wüste auf. Er hofft, ihn für eine Dokumentation gewinnen zu können. Als die Tochter des älteren Mannes auftaucht, nimmt die Geschichte einen verhängnisvollen Lauf.Im MoMa in New York betrachtet ein Mann eine Installation: Hitchcocks »Psycho«, verlangsamt auf eine Spielzeit von 24 Stunden. Und er betrachtet zwei Männer, einen älteren, einen jüngeren, die sich die Installation anschauen. Schnitt.Mitten in der Wüste, »südlich von Nirgendwo«, lebt der dreiundsiebzigjährige Richard Elster in einem einsam gelegenen Haus. Hierher hat er sich zurückgezogen, um über Raum und Zeit nachzudenken. Elster, ein Gelehrter, der sich jahrelang mit dem Thema Auslöschung in all seinen Varianten beschäftigt hat, diente der amerikanischen Regierung während des Irakkriegs zwei Jahre lang als geheimer Berater, er sollte ihre Kriegshandlungen mit einem intellektuellen Referenzrahmen versehen. Als seine Dienste nicht mehr gebraucht werden, zieht er sich in die Wüste zurück.Dort besucht ihn Jim Finley, ein junger Filmemacher, der Elster von seinem Filmprojekt überzeugen möchte: eine Dokumentation ganz ohne Schnitt, nur eine einzige Einstellung: ein Mann – Elster – vor einer Wand. Keine Fragen aus dem Off, keine Regieanweisung. Zwölf Tage schon diskutieren die beiden Männer, als Elsters Tochter Jessie auftaucht, eine junge Frau aus New York, die die Dynamik der ganzen Geschichte grundlegend verändert. Etwas Unfassbares geschieht, und alles Gesagte wird in Frage gestellt.Der Omega-Punkt ist ein tief verstörendes, brillantes Werk über Verlust und Verschwinden von einem der größten Schriftsteller der Gegenwart.Die deutsche Übersetzung erscheint zeitgleich mit der amerikanischen Originalausgabe.
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Seitenzahl: 135
Don DeLillo
Der Omega-Punkt
Roman
Aus dem amerikanischen Englisch von Frank Heibert
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3. September
Da stand ein Mann an der Nordwand, kaum sichtbar. Leute kamen zu zweit und zu dritt herein, blieben im Dunkeln stehen und schauten auf die Leinwand, dann gingen sie wieder. Manchmal überschritten sie kaum die Schwelle, größere Gruppen, die heranspazierten, benommene Touristen, und sie schauten hin und verlagerten das Gewicht auf den anderen Fuß, dann gingen sie wieder.
Es gab keine Sitzplätze in dem Kabinett. Die Leinwand stand frei mitten im Raum, etwa drei Meter mal vierdreißig, nicht erhöht. Das Material war durchscheinend, und einige Leute, nicht viele, blieben lang genug, um auf die andere Seite zu schlendern. Sie blieben einen Moment länger, dann gingen sie wieder.
Das Kabinett war kalt, beleuchtet nur durch das schwache graue Schimmern auf der Leinwand. Hinten an der Nordwand war es fast völlig dunkel, und der Mann, der dort alleine stand, führte die Hand zum Gesicht, ganz langsam eine Bewegung auf der Leinwand wiederholend. Wenn die Tür zu dem Kabinett aufglitt und Leute eintraten, blitzte aus dem Bereich dahinter ein Licht herein, wo sich in einiger Entfernung andere Menschen angesammelt hatten und Kunstbücher und Postkarten durchsahen.
Der Film lief ohne Dialog oder Musik, kein Soundtrack. Der Aufseher stand drinnen gleich an der Tür, und manchmal musterte ihn wer beim Rausgehen, suchte Blickkontakt, irgendeine Art von Einverständnis zwischen ihnen, um seine Verblüffung zu beglaubigen. Es gab weitere Ausstellungssäle, ganze Stockwerke davon, warum sich länger in einem abgeschlossenen Raum aufhalten, wo, was immer auch passierte, Ewigkeiten dazu brauchte.
Der Mann an der Wand schaute zur Leinwand, dann ging er an der angrenzenden Wand entlang auf die andere Seite, um dieselbe Bewegung seitenverkehrt zu betrachten. Er sah Anthony Perkins, der die Hand nach einer Autotür ausstreckte, und zwar die rechte. Er wusste, dass Anthony Perkins auf dieser Seite der Leinwand die rechte, auf der anderen aber die linke Hand benutzen würde. Er wusste es, aber er musste es sehen, und er ging im Dunkeln an der Seitenwand entlang und schob sich noch einen Meter zurück, um Anthony Perkins auf dieser Seite der Leinwand anzuschauen, der Rückseite, Anthony Perkins, der die linke Hand benutzte, die falsche, um nach einer Autotür zu greifen und sie zu öffnen.
Aber konnte er die linke die falsche Hand nennen? Denn was machte diese Seite der Leinwand weniger wahrhaftig als die andere?
Zu dem Aufseher gesellte sich ein zweiter Aufseher, und sie unterhielten sich eine Zeit lang leise, während die automatische Tür aufglitt und Leute hereinkamen, mit Kindern, ohne Kinder, und der Mann ging zurück auf seinen Platz an der Wand, wo er jetzt reglos stand und Anthony Perkins dabei zusah, wie er sich umdrehte.
Die kleinste Kamerabewegung stellte eine einschneidende Verschiebung in Raum und Zeit dar, aber jetzt gerade bewegte sich die Kamera nicht. Anthony Perkins dreht sich um. Das geschah wie in ganzen Zahlen. Der Mann konnte die Abstufungen der Bewegung von Anthony Perkins’ Kopf mitzählen. Anthony Perkins dreht sich um, in fünf Zuwachsbewegungen, nicht im kontinuierlichen Fluss. Wie Steine in einer Wand, klar zählbar, nicht wie der Flug eines Pfeils oder Vogels. Andererseits war es mit nichts vergleichbar oder unvergleichbar. Anthony Perkins’ Kopf, der mit der Zeit auf seinem langen dünnen Hals herüberschwenkt.
Nur die aufmerksamste Beobachtung führte zu dieser Wahrnehmung. Einige Minuten lang war er nicht abgelenkt vom Kommen und Gehen Anderer und konnte den Film mit dem erforderlichen Grad an Intensität anschauen. Das Wesen des Films erlaubte totale Konzentration und hing auch davon ab. Das gnadenlose Weiterlaufen des Films war bedeutungslos ohne die entsprechende Aufmerksamkeit, ohne den Einzelnen, dessen absolute Wachheit das Verlangte nicht verriet. Er stand da und starrte. In der Zeit, die Anthony Perkins zum Umdrehen brauchte, war es, als setzte sich eine Ansammlung von Gedanken in Gang, Wissenschaftliches und Philosophisches und namenlose andere Dinge, vielleicht sah er auch zu viel. Doch es war unmöglich, zu viel zu sehen. Je weniger zu sehen war, je genauer er hinschaute, desto mehr sah er. Das war der springende Punkt. Zu sehen, was da war, endlich hinzuschauen und zu wissen, dass man es tat, das Vergehen der Zeit zu spüren, wach zu sein für das, was in den kleinsten Einheiten der Bewegung geschieht.
Jeder kennt den Namen des Killers, Norman Bates, aber keiner kennt mehr den Namen des Opfers. Anthony Perkins ist Norman Bates, Janet Leigh ist Janet Leigh. Das Opfer muss den Namen der Schauspielerin tragen, die es spielt. Es ist Janet Leigh, die das abgelegene Motel betritt, das Motel von Norman Bates.
Er hatte über drei Stunden da gestanden und geschaut. Dies war der fünfte Tag in Folge, an dem er hergekommen war, und der vorletzte, bevor die Installation beendet wurde und in eine andere Stadt ging oder irgendwo in einem obskuren Depot verschwand.
Niemand, der hereinkam, schien zu wissen, was er zu erwarten hatte, und ganz sicher niemand erwartete das hier.
Der Originalfilm war so verlangsamt worden, dass seine Laufzeit jetzt vierundzwanzig Stunden betrug. Was er hier sah, schien der reine Film zu sein, die reine Zeit. Das große Grauen des alten Horrorfilms wurde von der Zeit verschlungen. Wie lang würde er hier stehen müssen, wie viele Wochen oder Monate, bevor das Zeitschema des Films sein eigenes aufsog, oder hatte dieser Vorgang schon eingesetzt? Er trat näher an die Leinwand heran, etwa dreißig Zentimeter, und sah Stückwerk und ein bisschen Schnee, Wirbel zitternden Lichts. Er umrundete die Leinwand mehrere Male. Der Raum war jetzt leer, und er konnte sich in unterschiedlichem Winkel und Abstand zu ihr aufstellen. Er ging rückwärts, immer weiter die Leinwand fixierend. Er begriff absolut, warum der Film ohne Ton abgespielt wurde. Er musste stumm sein. Er musste den Einzelnen in einer Tiefe ergreifen, die weiter ging als die üblichen Annahmen, die Dinge, die der Einzelne so vermutet und voraussetzt und für selbstverständlich nimmt.
Er ging zurück zu der Wand am Nordende, vorbei an dem Aufseher in der Tür. Der Aufseher war da, aber er zählte nicht als Anwesender. Der Aufseher war da, um ungesehen zu bleiben. Das war seine Aufgabe. Der Aufseher blickte auf den Rand der Leinwand, aber er schaute nirgendwo hin, schaute, wo immer Museumsaufseher hinschauen, wenn ein Raum leer vor ihnen liegt. Der Mann an der Wand war da, aber vielleicht zählte der Aufseher ihn ebenso wenig als Anwesenden wie umgekehrt. Der Mann war seit Tagen da, täglich lange Stunden, und außerdem stand er wieder an der Wand, im Dunkeln, reglos.
Er beobachtete die Augen des Schauspielers auf ihrem langsamen Weg durch ihre knochigen Höhlen. Stellte er sich vor, mit den Augen des Schauspielers zu sehen? Oder war es, als suchten die Augen des Schauspielers nach ihm?
Er wusste, er würde bleiben, bis das Museum schloss, in zweieinhalb Stunden, und dann am Morgen wiederkommen. Er beobachtete zwei Männer, die hereinkamen, der ältere mit Stock und einem Anzug, der aussah, als wäre er in ihm gereist, sein langes weißes Haar im Nacken zu einem Zopf geflochten, vielleicht ein emeritierter Professor, ein Filmwissenschaftler vielleicht, und der jüngere in Freizeithemd, Jeans und Laufschuhen, der Assistenzprofessor, schmal, etwas nervös. Sie bewegten sich jetzt von der Tür weg in das relative Dunkel entlang der angrenzenden Wand. Er beobachtete sie weiter, die beiden Akademiker, Adepten des Films, der Filmtheorie, der Filmsyntax, von Film und Mythos, der Dialektik des Films, der Metaphysik des Films, während Janet Leigh begann, sich für die bevorstehende bluttriefende Dusche zu entkleiden.
Jede Muskelbewegung eines Schauspielers, jedes Blinzeln der Augen war eine Offenbarung. Jede Handlung wurde in Komponenten zerlegt, die sich so deutlich vom Gesamten unterschieden, dass der Betrachter sich von jeglicher Erwartung isoliert fühlte.
Alle betrachteten irgendwas. Er betrachtete die beiden Männer, sie betrachteten die Leinwand, Anthony Perkins an seinem Guckloch betrachtete Janet Leigh beim Ausziehen.
Niemand betrachtete ihn. Das war die ideale Welt, wie er sie sich im Geist ausgemalt haben könnte. Er hatte keine Vorstellung davon, wie er in den Augen der anderen aussehen mochte. Er war ja nicht einmal sicher, wie er in seinen eigenen Augen aussah. Er sah aus wie das, was seine Mutter sah, wenn sie ihn anschaute. Aber seine Mutter war gestorben. Das führte zu einer Frage für fortgeschrittene Studenten. Was war von ihm übrig, in den Augen der anderen?
Zum ersten Mal machte es ihm nichts aus, hier nicht allein zu sein. Diese beiden Männer hatten gute Gründe, hier zu sein, und er fragte sich, ob sie sahen, was er sah. Selbst wenn, sie würden andere Schlüsse daraus ziehen, andere Bezüge in einem Spektrum aus Filmografien und Fachgebieten herstellen. Filmografie. Bei dem Wort hatte er früher immer den Kopf eingezogen, als wollte er auf antiseptische Distanz dazu gehen.
Vielleicht wollte er die Dauer der Duschszene messen, dachte er. Dann dachte er, dass er das auf gar keinen Fall wollte. Er wusste, im ursprünglichen Film war es eine kurze Szene, kürzer als eine Minute und für ihre Kürze berühmt, und vor ein paar Tagen hatte er hier die lang gedehnte Szene gesehen, nur zerhackte Bewegung, ohne Spannung oder Angst oder das alarmierende, pulsierende, eulenhafte Kreischen. Vorhangringe, daran erinnerte er sich am deutlichsten, die Ringe des Duschvorhangs, die sich auf der Stange drehen, als der Vorhang abgerissen wird, ein Augenblick, der im Normaltempo verloren geht, vier Ringe, die sich langsam über Janet Leighs zu Boden gestürzter Gestalt drehen, ein Zufallsgedicht, höher als der höllische Tod, und dann das blutige Wasser, das im Duschabfluss wogt und wirbelt, Minute für Minute, und irgendwann in die Tiefe strudelt.
Er war erpicht darauf, es nochmals zu sehen. Er wollte die Vorhangringe zählen, vielleicht vier, möglicherweise fünf oder mehr oder weniger. Er wusste, die beiden Männer an der nächsten Wand würden ebenso aufmerksam zuschauen. Ihm war, als hätten sie etwas gemeinsam, wir drei, so lautete sein Gefühl. Es war die seltene Kameradschaft, die von einzigartigen Ereignissen hervorgebracht wird, auch wenn die anderen gar nicht wussten, dass er da war.
Fast niemand betrat den Raum allein. Sie kamen in Mannschaften, in Trupps, schlurften herein und verharrten kurz bei der Tür und gingen wieder. Einer drehte sich um und ging, oder zwei, und dann die anderen, vergaßen schon, was sie gesehen hatten, in den paar Sekunden, die es dauerte, sich umzudrehen und zur Tür hinauszugehen. Er sah sie als Mitglieder von Theatergruppen. Film, dachte er, ist etwas Einsames.
Janet Leigh in der langen Phase ihrer Ahnungslosigkeit. Er beobachtete sie beim langsamen Ablegen ihres Bademantels. Zum ersten Mal begriff er, dass Schwarz-Weiß das einzige wahre Medium für den Film als Gedanke, den Film im Geist war. Er wusste fast, warum, aber nicht ganz. Die Männer, die in der Nähe standen, würden wissen, warum. Für diesen Film, in diesem kalten dunklen Raum war Schwarz-Weiß absolut notwendig, ein weiteres neutralisierendes Element, wodurch die Handlung dem elementaren Leben angenähert wird, einem Phänomen, das sich in seine sedierten Teile zurückzieht. Janet Leigh bei dem kleinteiligen Vorgang, nicht zu wissen, was gleich mit ihr passieren wird.
Dann gingen sie wieder, einfach so, sie strebten zur Tür. Er wusste nicht, wie er das nehmen sollte. Er nahm es persönlich. Die hohe Tür glitt auf für den Mann mit dem Stock und dann für den Assistenten. Sie gingen hinaus. Was, gelangweilt? Sie gingen an dem Aufseher vorbei und waren weg. Sie mussten in Worten denken. Das war ihr Problem. Die Handlung schritt zu langsam voran, um zu ihrem Filmvokabular zu passen. Er wusste nicht, ob das auch nur den geringsten Sinn ergab. Sie konnten den Herzschlag der Bilder, die in diesem Tempo projiziert wurden, nicht spüren. Ihr Filmvokabular, dachte er, konnte nicht an Vorhangstangen und Vorhangringe und Ösen angepasst werden. Was, zum Flieger? Sie hielten sich für ernsthaft, waren es aber nicht. Und wenn man nicht ernsthaft ist, hat man hier nichts zu suchen.
Dann dachte er, ernsthaft, inwiefern?
Jemand trat bis zu einem bestimmten Punkt in den Raum und warf einen Schatten auf die Leinwand.
Diese Erfahrung brachte auch ein Element des Vergessens mit sich. Er wollte den ursprünglichen Film vergessen oder zumindest die Erinnerung daran beschränken auf eine ferne, unaufdringliche Bezugsgröße. Hinzu kam außerdem die Erinnerung an diese Version, die er die ganze Woche lang wieder und wieder gesehen hatte. Anthony Perkins als Norman Bates, der Hals eines Stelzvogels, ein Vogelgesicht im Profil.
Durch den Film fühlte er sich wie jemand, der einen Film sah. Was das bedeutete, entzog sich ihm. Er fühlte ständig Dinge, deren Bedeutung sich ihm entzog. Aber dies war eigentlich kein Film oder nicht im engeren Sinne des Wortes. Es war ein Video. Aber es war auch Film. Im weiteren Sinne des Wortes sah er einen Film, bewegte Bilder, ein mehr oder weniger bewegendes Stück Kino.
Ihr Bademantel, der endlich auf dem geschlossenen Deckel der Toilette zu liegen kam.
Der Jüngere wollte bleiben, dachte er, in abgewetzten Laufschuhen. Aber er musste dem traditionellen Theoretiker mit dem Zopf folgen, wollte er seine akademische Zukunft nicht gefährden.
Oder der Sturz die Treppe hinunter, noch lange hin, Stunden vielleicht, bis der Privatdetektiv Arbogast rückwärts die Treppe hinunterfliegt, mit übel zerschlitztem Gesicht, aufgerissenen Augen, fuchtelnden Armen, eine Szene, an die er sich von einem früheren Zeitpunkt in der Woche erinnerte, oder war es erst gestern gewesen, unmöglich, mit den Tagen und Filmsequenzen nicht durcheinanderzukommen. Arbogast. Der Name tief verwurzelt in irgendeiner dunklen Ecke der linken Hirnhälfte. Norman Bates und der Detektiv Arbogast. Das waren die Namen, die er über die Jahre, seit er in dem ursprünglichen Film gewesen war, nicht vergessen hatte. Arbogast auf der Treppe, ein endloser Sturz.
Vierundzwanzig Stunden. Das Museum schloss an den meisten Tagen um halb sechs. Er wünschte sich, das Museum möge schließen, nicht aber das Kabinett. Er wollte die Filmvorführung von Anfang bis Ende sehen, vierundzwanzig ununterbrochene Stunden lang. Und niemand dürfte hereinkommen, wenn es einmal angefangen hatte.
Was er sah, war in gewisser Weise Geschichte, ein überall bekannter Film. Er spielte mit dem Gedanken, das Kabinett sei eine geschützte Stätte, das Landhaus oder unbekannte Grab eines toten Dichters, eine Kapelle aus dem Mittelalter. Bitte sehr, das Bates-Motel. Aber das sehen die Leute nicht. Sie sehen zerhackte Bewegung, Einzelaufnahmen an der Grenze zu betäubtem Leben. Er begreift, was sie sehen. Sie sehen einen hirntoten Raum in sechs leuchtenden Stockwerken, die randvoll mit Kunst sind. Ihnen ist der ursprüngliche Film wichtig, eine gemeinsame Erfahrung, die man zu Hause vorm Fernsehbildschirm erleben kann, den Abwasch in der Spüle.
Die Erschöpfung, die er spürte, saß in seinen Beinen, Stunden und Tage im Stehen, das Gewicht seines Körpers im Stehen. Vierundzwanzig Stunden. Wer würde das überleben, körperlich und anderweitig? Wäre er in der Lage, nach draußen auf die Straße zu gehen, nachdem er einen Tag und eine Nacht ununterbrochen auf dieser radikal veränderten Zeitschiene gelebt hätte? Im Dunkeln stehen, auf eine Leinwand schauen. Jetzt schauen, wie das Wasser vor ihrem Gesicht tanzt, während sie an der gefliesten Wand hinunterrutscht, mit der Hand nach dem Duschvorhang greifend, um sich festzuhalten, um die Bewegung ihres Körpers hin zu seinem letzten Atemzug aufzuhalten.
Wie das Wasser aus dem Duschkopf fällt, eine Art Flattern darin, die Illusion eines Schwankens oder Flackerns.
Würde er nach draußen auf die Straße gehen und nicht mehr wissen, wer er war und wo er wohnte, nach vierundzwanzig Stunden nonstop? Oder selbst bei den derzeitigen Öffnungszeiten, wenn die Installation noch länger liefe und er weiterhin käme, fünf, sechs, sieben Stunden am Tag, Woche um Woche, würde er noch in der Welt leben können? Wollte er das? Wo war sie, die Welt?
Er zählte sechs Ringe. Die Ringe, die sich auf der Vorhangstange drehen, wenn sie den Vorhang mit sich hinabzieht. Das Messer, die Stille, die rotierenden Ringe.
Es verlangt konzentrierte Aufmerksamkeit, um zu sehen, was vor einem geschieht. Es verlangt Arbeit, innige Anstrengung, um zu sehen, was man anschaut. Das faszinierte ihn, welche Tiefe durch die Verlangsamung der Bewegung möglich wurde, welche Dinge zu sehen waren und welche Tiefe der Dinge bei den oberflächlichen Sehgewohnheiten so leicht zu übersehen war.
Leute, die ab und zu Schatten auf die Leinwand warfen.