Die Stille - Don DeLillo - E-Book

Die Stille E-Book

Don DeLillo

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Beschreibung

Die Welt im Ausnahmezustand – Don DeLillos neuer Roman ist das Buch der Stunde. Nur wenige Wochen vor Ausbruch der Corona-Pandemie schloss Don DeLillo die Arbeit an seinem neuen Roman ab. Ein Werk mit verblüffenden Parallelen zur aktuellen Situation in der Welt. Ein literarischer Meilenstein. New York im Jahr 2022: Es ist der Super Bowl Sunday. In einer Wohnung auf der East Side von Manhattan wollen fünf Menschen gemeinsam das Finale der American Football-League im Fernsehen anschauen. Die emeritierte Physikprofessorin, ihr Mann und ihr früherer Student warten auf die Ankunft eines befreundeten Paares, das gerade auf dem Rückflug von Paris ist. Die Gespräche drehen sich um Einsteins Relativitätstheorie, ein Überwachungsteleskop im nördlichen Chile und eine besondere Bourbon Marke. Und dann passiert etwas Seltsames – auf einmal brechen alle digitalen Verbindungen ab. Sämtliche Bildschirme werden schwarz. Tiefschwarz. Die Freunde treffen ein, ihr Flug war dramatisch. Verwunderung, Erschütterung, Mutmaßungen. Die fünf versuchen sich einen Reim auf das rätselhafte, beängstigende Geschehen zu machen. Sie tauchen tief ein in das Wesen der Zeit, in die Essenz der menschlichen Existenz. Es ist geradezu unheimlich, wie hellsichtig Don DeLillo in seinem neuen Roman die gegenwärtige Situation in der Welt reflektiert oder gar vorwegnimmt. Seine geschliffene Sprache, seine Phantasie und sein seismographisches Gespür machen »Die Stille« zu einem unvergleichlichen literarischen Kunstwerk.

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Seitenzahl: 77

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Don DeLillo

Die Stille

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Frank Heibert

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Don DeLillo

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Motto

Teil Eins

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

Teil Zwei

Essay »Mann am Fenster«

Inhaltsverzeichnis

»Ich bin nicht sicher, mit welchen Waffen der Dritte Weltkrieg ausgetragen wird, aber im Vierten Weltkrieg werden sie mit Stöcken und Steinen kämpfen.«

Albert Einstein

Inhaltsverzeichnis

Teil Eins

1

Wörter, Sätze, Zahlen, Entfernung zum Ziel

Der Mann drückte auf den Knopf und stellte seine Rückenlehne nach hinten. Er ertappte sich dabei, wie er auf den nächstgelegenen der kleinen Bildschirme direkt unter den Gepäckfächern starrte, die Wörter und Zahlen, die sich im Lauf des Fluges ständig ändern. Flughöhe, Lufttemperatur, Geschwindigkeit, Ankunftszeit. Er wollte schlafen, sah aber immer weiter hin.

Heure à Paris. Heure à London.

»Guck mal«, sagte er, und die Frau nickte schwach, schrieb aber weiter in ein kleines blaues Notizbuch.

Er sagte die Wörter und Zahlen laut auf, weil es sinnlos war und folgenlos, wenn er die wechselnden Informationen nur wahrnahm und dann im Doppeldröhnen von Kopf und Flugzeug sofort wieder verlor.

»Okay. Flughöhe dreiunddreißigtausendundzwei Fuß. Exakter Fakt«, sagte er. »Température extérieure minus achtundfünfzig Grad C.«

Er hielt inne, wartete darauf, dass sie Celsius sagte, aber sie betrachtete das Notizbuch auf dem Klapptablett vor ihr und dachte ein bisschen nach, bevor sie weiterschrieb.

»Okay. Zeit in New York zwölf fünfundfünfzig, a.m. oder p.m. Steht da nicht. Muss uns ja auch keiner sagen.«

Schlaf, darum ging’s. Er brauchte Schlaf. Aber die Wörter und Zahlen hörten nicht auf.

»Ankunftszeit sechzehn zweiunddreißig. Geschwindigkeit vierhunderteinundsiebzig mph. Verbleibende Flugzeit drei vierunddreißig.«

»Ich denke an den Hauptgang zurück«, sagte sie. »Und ich denke an den Champagner mit Cranberrysaft.«

»Hattest du gar nicht bestellt.«

»Kam mir affig vor. Aber ich freu mich auf die Scones, die es nachher noch gibt.«

Sie sprach und schrieb gleichzeitig.

»Ich will das Wort richtig aussprechen«, sagte sie. »Ein verkürztes O. Wie in Schott oder Trott. Oder sagt man Scone wie Stallone?«

Er sah ihr beim Schreiben zu. Schrieb sie auf, was sie gerade sagte, was sie beide sagten?

Sie sagte: »Celsius. Großes C. So hat jemand geheißen. Der Vorname fällt mir nicht ein.«

»Okay. Was ist mit vitesse. Was heißt vitesse überhaupt?«

»Ich denke über Celsius nach, seine Arbeit an der hundertteiligen Skala.«

»Und dann gibt’s noch Fahrenheit.«

»Ja, den auch.«

»Was heißt vitesse?«

»Was?«

»Vitesse.«

»Vitesse. Geschwindigkeit«, sagte sie.

»Vitesse. Siebenhundertachtundvierzig km pro Stunde.«

Er hieß Jim Kripps. Aber für die langen Stunden dieses Fluges hieß er wie seine Sitzplatznummer. Das war die übliche Vorgehensweise, Sitzplatznummer verknüpft mit der Nummer, die auf seiner Bordkarte gedruckt stand.

»Er war Schwede«, sagte sie.

»Wer?«

»Der Herr Celsius.«

»Hast du etwa gerade kurz in dein Telefon geschaut?«

»Du weißt doch, wie so was läuft.«

»Da kommt was aus den Tiefen des Gedächtnisses hochgeschwommen. Wenn dir gleich der Vorname von dem Mann einfällt, werd ich mich unter Druck fühlen.«

»Unter was für einem Druck?«

»Den Vornamen von Herrn Fahrenheit zu liefern.«

Sie sagte: »Guck wieder auf deinen himmelhohen Bildschirm.«

»Dieser Flug. Diese ganzen langen Flüge. Diese ganzen Stunden. Schlimmer als Langeweile.«

»Mach dein Tablet an. Guck einen Film.«

»Ich hab Lust zu reden. Keinen Kopfhörer. Wir haben beide Lust zu reden.«

»Ohne Knopf im Ohr«, sagte sie. »Reden und schreiben.«

Sie war Jims Frau, dunkelhäutig, Tessa Berens, karibisch-europäisch-asiatische Wurzeln, eine Dichterin, die oft in Literaturzeitschriften veröffentlichte. Außerdem war sie viel online als Redakteurin einer Ratgebergruppe, die Abonnentenfragen zu Themen von Hörverlust über Gleichgewichtssinn bis zu Demenz beantwortete.

Vieles, was die beiden zueinander sagten, schien hier in der Luft einem automatisierten Prozess zu entspringen, als entstünden ihre Bemerkungen direkt durch das Flugreisen. Keine Weitschweifigkeiten wie bei Menschen in geschlossenen Räumen, in Restaurants, wo größere Bewegungen von der Schwerkraft eingedämmt werden und Gespräche frei flottieren. All diese Stunden über Meeren oder riesigen Landmassen, abgehackte, quasi bewusst abgekapselte Sätze, Passagiere, Piloten, Kabinenpersonal, jedes Wort vergessen, sobald das Flugzeug auf der Piste aufsetzt und endlos auf einen freien Rüssel zurollt.

Nur er würde sich an Teile davon erinnern, dachte er, mitten in der Nacht im Bett, Bilder von schlafenden Menschen in Flugzeugdecken, wie Tote, die groß gewachsene Flugbegleiterin fragt, ob er noch Wein möchte, der Flug ist zu Ende, die Anschnallzeichen erlöschen, das befreite Gefühl, wartende Passagiere in den Gängen, Flugpersonal an den Ausstiegen, all die Dankeschöns und das Kopfnicken, das Millionen-Meilen-Lächeln.

»Such dir einen Film. Guck dir einen Film an.«

»Bin zu müde. Entfernung zum Zielort eintausendsechshunderteins Meilen. Zeit in London achtzehn null vier. Geschwindigkeit vierhundertfünfundsechzig mph. Ich lese alles, was da erscheint. Durée du vol drei fünfundvierzig.«

»Wann ist das Spiel?«, fragte sie.

»Anstoß sechs Uhr dreißig.«

»Schaffen wir es pünktlich nach Hause?«

»Hab ich das nicht gerade vom Bildschirm abgelesen? Ankunftszeit x Uhr y.«

»Wir landen in Newark, vergiss das nicht.«

Das Spiel. In einem anderen Leben könnte sie das interessieren. Der Flug. Sie wollte gern da sein, wo sie hinflog, aber ohne dieses Intermezzo. Mag irgendjemand lange Flüge? Sie war eindeutig nicht irgendjemand.

»Heure à Paris neunzehn null acht«, sagte er. »Heure à London achtzehn null acht. Geschwindigkeit vierhundertdreiundsechzig mph. Wir haben gerade zwei Meilen pro Stunde verloren.«

»Okay, ich erzähl dir, was ich gerade schreibe. Ganz einfach. Ein paar von den Dingen, die wir gesehen haben.«

»In welcher Sprache?«

»Englisch Grundkurs. Jack and Jill went up the hill.«

»Wir haben Prospekte, Broschüren, ganze Bücher.«

»Ich muss das in meiner Handschrift sehen, vielleicht in zwanzig Jahren, wenn ich dann noch lebe, und irgendein fehlendes Element finden, irgendwas, das ich jetzt gerade übersehe, wenn wir dann alle noch leben, in zwanzig Jahren, zehn Jahren.«

»Sich die Zeit vertreiben. Nicht zu vergessen.«

»Sich die Zeit vertreiben. Langweilig sein. Sein Leben leben.«

»Okay. Température extérieure minus siebendundfünfzig F«, sagte er. »Ich tue mein Bestes mit der Aussprache, Französisch Grundkurs. Entfernung zum Ziel eintausendfünfhundertachtundsiebzig Meilen. Wir hätten den Limo-Service kontaktieren sollen.«

»Wir springen einfach in ein Taxi.«

»Die ganzen Leute, in so einem Flieger. Die haben ihre Autos vorbestellt. Das Riesengerangel an den Ausgängen. Die wissen genau, wo sie hinmüssen.«

»Die haben Gepäck aufgegeben, die meisten, einige. Wir nicht. Unser Vorteil.«

»Zeit in London achtzehn elf. Ankunftszeit sechzehn zweiunddreißig. Das war auch die letzte Ankunftszeit. Beruhigend, oder. Zeit in Paris neunzehn elf. Flughöhe dreiunddreißigtausendunddrei Fuß. Durée du vol drei sechzehn.«

Diese Wörter und Zahlen zu sagen, auszusprechen, aufzulisten, gab den angezeigten Informationen eine gewisse Lebenszeit, offiziell registriert oder willentlich registriert – ein hörbarer Scan, dachte er, des Wo und Wann.

Sie sagte: »Mach die Augen zu.«

»Okay. Geschwindigkeit vierhundertsechsundsiebzig Meilen pro Stunde. Verbleibende Flugzeit.«

Sie hatte recht, Komm, wir checken unser Gepäck nicht ein, das kriegen wir noch ins Gepäckfach. Er betrachtete den Bildschirm, dachte kurz an das Spiel, wusste nicht mehr, gegen wen die Titans spielten.

Ankunftszeit sechzehn dreißig. Température extérieure minus siebenundvierzig C. Zeit in Paris zwanzig dreizehn. Flughöhe vierunddreißigtausendundzwei Fuß. Das gefiel ihm, die zwei Fuß. Absolut beachtenswert. Außentemperatur minus dreiundfünfzig F. Distance à parcourir.

Die Seahawks natürlich.

Kripps war ein Name für einen groß gewachsenen Mann, und er war groß, ja, aber auf unverbindliche Weise, es fiel ihm also nicht schwer, seinem Bedürfnis nach Unauffälligkeit gerecht zu werden. Er war kein stolz aus der Menge hervorwippender Kopf, sondern eine mit Anonymität gesegnete gebeugte Gestalt.

Dann dachte er an das Einsteigen, als alle Passagiere endlich saßen, Essen in Sicht, heiße feuchte Tücher für die Hände, Zahnbürste, Zahnpasta, Socken, Wasserflasche, Kissen zusammen mit der Decke.

Verspürte er einen Anflug von Scham angesichts dieser Bequemlichkeiten? Sie hatten beschlossen, trotz der Kosten Business Class zu fliegen, weil die Enge in der Economy bei einem langen Flug eine Härte darstellte, die sie dieses eine Mal vermeiden wollten.

Schlafbrille, Feuchtigkeitscreme fürs Gesicht, der Getränkewagen mit Wein und Spirituosen, der ab und zu durch die Kabine geschoben wird.

Er betrachtete den hängenden Bildschirm, und plötzlich blinzelte ihm der platte Luxus zu. Er sah sich selbst absolut als Economy. Flugzeuge, Züge, Restaurants. Er wollte nie gut angezogen sein. Das kam ihm vor wie die Machenschaften eines betrügerischen zweiten Ichs. Mann im Spiegel, höchst beeindruckt von seinem gepflegten Image.

»An welchem Tag hat es geregnet?«, fragte sie.

»Du trägst den Tag, an dem es geregnet hat, in dein Erinnerungsbuch ein. Den Regentag, für die Unsterblichkeit. Der springende Punkt an einem Urlaub ist doch, etwas ganz Besonderes daraus zu machen. Das hast du zu mir gesagt. Die Höhepunkte in Erinnerung zu behalten, die strahlenden Momente und Stunden. Die langen Spaziergänge, das tolle Essen, die Weinbars, das Nachtleben.«

Er hörte sich selber nicht zu, weil er wusste, alles heiße Luft.

»Jardin du Luxembourg, Île de la Cité, Notre-Dame, verstümmelt, aber am Leben. Centre Pompidou. Ich hab noch die abgerissene Eintrittskarte.«

»Ich muss wissen, an welchem Tag es geregnet hat. Es geht darum, dass ich in vielen Jahren diese Notizen lesen und sehen will, wie präzise und detailliert sie sind.«

»Du kannst nicht anders.«

»Ich will gar nicht anders können«, sagte sie. »Ich will bloß nach Hause und auf eine leere Wand starren.«

»Verbleibende Flugzeit eine Stunde sechsundzwanzig. Ich sag dir, woran ich mich nicht erinnere. An den Namen dieser Airline. Vor zwei Wochen, Hinflug, andere Airline, kein zweisprachiger Bildschirm.«