Weißes Rauschen - Don DeLillo - E-Book
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Don DeLillo

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Beschreibung

»DeLillo ist zweifellos einer der Meister des politischen Romans unserer Epoche. Vor allem aber ist er ein begnadeter Erzähler.« Uwe Wittstock, Die Welt. Das Buch zur gleichnamigen Netflix-Verfilmung von Noah Baumbach. Jack Gladney ist Professor für Hitler-Studien an einem amerikanischen College. Er und seine fünfte Frau Babette leben gemeinsam mit ihren vier Kindern aus verschiedenen Ehen in einem sympathischen Chaos. Doch als sich in einer nahen Chemiefabrik ein Giftgasunfall ereignet, nimmt ihr ganzes Leben eine jähe Wendung ...

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Seitenzahl: 531

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Don DeLillo

Weißes Rauschen

Roman

Aus dem Amerikanischen von Helga Pfetsch

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Don DeLillo

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Widmung

I. Wellen und Strahlen

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

II. Der luftübertragene toxische Vorfall

21. Kapitel

III. Dylarama

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

Dank

Inhaltsverzeichnis

Für Sue Buck und für Lois Wallace

Inhaltsverzeichnis

IWellen und Strahlen

1. Kapitel

Die Kombiwagen trafen um zwölf Uhr ein, eine lange glänzende Schlange, die durch den westlichen Campus zog. Einer hinter dem anderen umfuhren sie die orangefarbene Stahlträgerskulptur und bewegten sich auf die Studentenheime zu. Die Dächer der Kombiwagen bogen sich fast unter den sorgfältig festgebundenen Koffern voller leichter und warmer Kleidung, den Kisten mit Decken, Stiefeln und Schuhen, Schreibzeug und Büchern, Bettwäsche, Kopfkissen, Quilts; den zusammengerollten Bettvorlegern und Schlafsäcken; den Fahrrädern, Skiern, Rucksäcken, Western- und englischen Sätteln, aufgeblasenen Gummiflößen. Sowie die Autos auf Schrittempo verlangsamten und dann anhielten, sprangen schon Studenten heraus und rasten zu den Hecktüren, um mit dem Ausladen der drinnen verstauten Gegenstände anzufangen: die Stereoanlagen, Radios, Personal Computer; kleine Kühlschränke und Kochplatten, die Kartons mit Schallplatten und Kassetten; die Haarföhne und Lockenstäbe; die Tennisschläger, Fußbälle, Hockey- und Lacrosseschläger, Pfeile und Bögen; die rezeptpflichtigen Substanzen, die Antibabypillen und Verhütungsmittel; der noch in Tüten verpackten Knabberkram – Zwiebel- und Knoblauchchips, Nacho-Flips, Erdnusskrempastetchen, Waffeletten und Kaboom-Flocken, Kaubonbons und Toffeepopcorn; die Dumdumlutscher und die mystischen Pfefferminz.

Ich beobachte dieses Schauspiel jeden September, schon seit einundzwanzig Jahren. Es ist ein gleichbleibend überwältigendes Ereignis. Die Studenten begrüßen sich mit komischen Aufschreien und Gesten schlaffen Zusammenbruchs. Ihr Sommer war wie immer vollgestopft mit kriminellen Vergnügungen. Die Eltern stehen von der Sonne geblendet neben ihren Automobilen und sehen in allen Richtungen Spiegelbilder ihrer selbst. Die gewissenhafte Sonnenbräune. Die gut geschnittenen Gesichter und die überlegenen Blicke. Sie verspüren neue Kräfte, fühlen sich allseitig anerkannt. Die Frauen drahtig und forsch, diätgestählt, mit vorzüglichem Namensgedächtnis. Ihre Ehemänner zufrieden damit, kostbare Zeit zuzumessen, zurückhaltend, aber nicht murrend, mit der Elternrolle vertraut, etwas an ihnen lässt massiven Versicherungsschutz ahnen. Dieses Treffen der Kombiwagen vermittelt den Eltern, fast stärker als alles, was sie sonst im Laufe eines Jahres tun mögen, und mehr als formelle Liturgien und Gesetze, dass sie eine Ansammlung von Gleichgesinnten, von geistig Verwandten sind, ein Volk, eine Nation.

Ich verließ mein Zimmer und ging den Hügel hinunter und in die Stadt. In der Stadt gibt es Häuser mit Türmchen und zweistöckigen Veranden, auf denen Leute im Schatten von uralten Ahornbäumen sitzen. Es gibt neugriechische und gotische Kirchen. Und es gibt eine Irrenanstalt mit einem langgestreckten Säulengang, verzierten Giebelfenstern und einem steil abfallenden Dach, das von einer Ananaskreuzblume gekrönt ist. Babette und ich und unsere Kinder aus früheren Ehen wohnen am Ende einer ruhigen Straße, an einer Stelle, wo sich einst eine bewaldete Gegend mit tiefen Schluchten erstreckte. Jetzt führt hinter dem Grundstücksende eine Schnellstraße vorbei, ein Stück unter uns, und wenn wir uns nachts in unser Messingbett kuscheln, spült dünn der Verkehr vorbei, ein entferntes und beständiges Murmeln um unseren Schlaf, wie von toten Seelen, die am Rande eines Traumes raunen.

Ich bin Leiter der Abteilung für Hitlerforschung im College-on-the-Hill. Ich habe im März 1968 die Hitlerforschung für Nordamerika entdeckt. Es war ein kalter strahlender Tag mit böigen Ostwinden. Als ich dem Rektor vorschlug, dass wir eine ganze Abteilung um Hitlers Leben und Werk schaffen könnten, erkannte er schnell die Möglichkeiten. Es war ein unmittelbarer und erregender Erfolg. Bis zu seinem Tode in einem Skilift in Österreich diente der Rektor weiterhin Nixon, Ford und Carter als Berater.

An der Ecke von Forth und Elm Street biegen die Autos nach links zum Supermarkt ab. Eine in ein schachtelartiges Gefährt geduckte Polizistin fährt das Gelände ab und hält Ausschau nach falsch geparkten Autos, abgelaufenen Parkuhren, Inspektions-Aufklebern mit verfallenem Datum. An Telegrafenmasten überall in der Stadt hängen handgeschriebene Zettel, auf denen nach entlaufenen Hunden und Katzen gesucht wird, manchmal in Kinderschrift.

2. Kapitel

Babette ist groß und ziemlich ausladend; alles an ihr ist Umfang und Gewicht. Ihr Haar ist ein fanatischer blonder Mopp von einem bestimmten lohfarbenen Ton, den man früher schmutzig blond nannte. Wäre sie eine zierliche Frau, so würde ihr Haar zu niedlich, zu schelmisch und künstlich wirken. Die Größe aber verleiht ihrer Wuscheligkeit etwas Seriöses. Üppige Frauen planen so etwas nicht. Ihnen fehlt die Raffinesse für Verschwörungen des Körpers.

»Das hättest du sehen müssen«, sagte ich zu ihr.

»Was?«

»Heut war der Tag der Kombiwagen.«

»Habe ich sie schon wieder verpasst? Du solltest mich doch dran erinnern.«

»Sie standen ganz runter bis zur Musikbücherei und auf die Interstate. Blau, grün, burgunderrot, braun. Sie glänzten in der Sonne wie eine Wüstenkarawane.«

»Du weißt doch, dass man mich immer erinnern muss, Jack.«

Babette, mit ihrem zerzausten Haar, hat die unbekümmerte Würde eines Menschen, der zu sehr mit ernsthaften Dingen beschäftigt ist, als dass er merkte oder sich Gedanken darüber machte, wie er aussieht. Nicht, dass sie Talente für das Große hätte, was die Welt gemeinhin schätzt. Sie sammelt die Kinder um sich und versorgt sie, leitet einen Kurs in einer Institution für Erwachsenenbildung, gehört einer Gruppe von Freiwilligen an, die blinden Menschen vorlesen. Einmal in der Woche liest sie einem älteren Mann namens Treadwell vor, der am Rande der Stadt wohnt. Er ist als »der alte Treadwell« bekannt, als sei er eine Sehenswürdigkeit, eine Felsformation oder ein brütender Sumpf. Sie liest ihm aus dem National Enquirer, dem National Examiner, dem National Express, dem Globe, der World, dem Star vor. Der alte Knabe verlangt seine wöchentliche Ration an Kultmysterien. Warum sie ihm versagen? Mir jedenfalls gibt Babette mit allem, was sie tut, das Gefühl süßen Belohntseins, das Gefühl, mit einer seelenvollen Frau verbunden zu sein, einer, die das Tageslicht und das pralle Leben liebt, mit dem mannigfaltig wimmligen Geruch von Familie. Ich beobachte sie unaufhörlich dabei, wie sie in wohlüberlegter Abfolge Dinge verrichtet, gekonnt, offenbar ganz entspannt, ganz anders als meine früheren Ehefrauen, die die Tendenz hatten, sich der gegenständlichen Welt entfremdet zu fühlen – diese Handvoll überempfindlicher Egozentrikerinnen mit ihren Verbindungen zur Gemeinschaft der Geheimdienstler. »Die Kombiwagen interessieren mich ja gar nicht so sehr. Aber die Leute, wie sehen die aus? Haben die Frauen karierte Faltenröcke an und Pullover mit Zopfmuster? Stecken die Männer in Golfjacken? Was ist eigentlich eine Golfjacke?«

»Sie haben sich mit ihrem Geld angefreundet«, sagte ich.

»Sie glauben allen Ernstes, dass es ihnen zusteht. Diese Überzeugung verleiht ihnen eine Art derbe Gesundheit. Sie glühen ein wenig.«

»Ich habe Schwierigkeiten, mir bei dieser Einkommensstufe den Tod vorzustellen«, sagte sie.

»Vielleicht gibt es dort keinen Tod, wie wir ihn kennen. Einfach nur Dokumente, die den Besitzer wechseln.«

»Dabei haben wir doch selbst einen Kombiwagen.«

»Aber der ist klein, metallicgrau und hat eine Tür, die völlig verrostet ist.«

»Wo ist Wilder?«, fragte sie, gewohnheitsmäßig von Panik gepackt, und rief das Kind, eins von ihren, das unbeweglich auf seinem Dreirad im Hof saß.

Babette und ich führen unsere Unterhaltungen in der Küche. Die Küche und das Schlafzimmer sind die wichtigsten Räumlichkeiten hier bei uns, die Kraftzentren, die Quellen. Sie und ich, wir gleichen uns darin, dass wir den Rest des Hauses als Stauraum betrachten, zum Abstellen von Möbeln, Spielzeug, all den unbenutzten Gegenständen aus früheren Ehen und verschiedenen Kinderscharen, den Geschenken verlorener Schwippschwäger, den vererbten Kleidern und dem Ramsch. Sachen, Kisten. Warum haben diese Besitztümer so ein kummervolles Gewicht? Etwas Dunkles hängt ihnen an, eine böse Vorahnung. Sie wecken meinen Argwohn, nicht vor persönlichem Misserfolg oder persönlicher Niederlage, sondern vor etwas Allgemeinerem, etwas von Umfang und Inhalt her Größerem.

Sie kam mit Wilder herein und setzte ihn auf die Küchentheke. Denise und Steffie kamen herunter, und wir sprachen über die Dinge, die sie für die Schule brauchen würden. Bald darauf war es Zeit fürs Mittagessen. Wir traten in eine Phase des Lärms und des Chaos ein. Wir wimmelten durcheinander, zankten ein wenig, ließen Besteck fallen. Schließlich waren wir alle zufrieden mit dem, was wir uns aus den Schränken oder aus dem Kühlschrank hatten ergattern oder voneinander stibitzen können, und wir begannen in aller Ruhe, unser leuchtend buntes Essen mit Senf oder Mayonnaise zu beschichten. Es herrschte eine Stimmung todernster Vorfreude, hart erkämpfter Belohnung. Es war voll am Tisch, und Babette und Denise stießen einander zweimal mit dem Ellbogen, aber keine von beiden sagte etwas. Wilder saß immer noch auf der Theke, umgeben von offenen Schachteln, zerknitterter Alufolie, glänzenden Kartoffel-Chips-Tüten, Schüsseln mit teigigen Substanzen, die mit Plastikfolie zugedeckt waren, Ringen vom Dosenaufreißen und Drehverschlüssen, einzeln verpackten Scheiben von orangefarbenem Käse. Heinrich kam herein und betrachtete die Szene aufmerksam, mein einziger Sohn, dann ging er durch die Hintertür hinaus und verschwand.

»Das ist eigentlich nicht das Mittagessen, das ich mir vorgenommen hatte«, sagte Babette. »Ich hatte ernstlich an Joghurt und Weizenkeime gedacht.«

»Wo haben wir das bloß schon mal gehört?«, sagte Denise.

»Wahrscheinlich genau an dieser Stelle«, sagte Steffie.

»Sie kauft das Zeug ständig.«

»Aber sie isst es nie«, sagte Steffie.

»Weil sie glaubt, wenn sie es immer weiter kauft, muss sie es auch essen, um es loszuwerden. Als ob sie sich selbst austricksen wollte.«

»Die halbe Küche ist voll davon.«

»Aber sie wirft es weg, bevor sie es isst, weil es schlecht wird«, sagte Denise. »Und dann fängt sie mit dem Ganzen wieder von vorne an.«

»Wo man hinschaut«, sagte Steffie, »steht es rum.«

»Sie hat ein schlechtes Gewissen, wenn sie es nicht kauft, sie hat ein schlechtes Gewissen, wenn sie es kauft und es nicht isst, sie hat ein schlechtes Gewissen, wenn sie es im Kühlschrank sieht, sie hat ein schlechtes Gewissen, wenn sie es fortwirft.«

»Als ob sie rauchen würde, aber das tut sie ja nicht«, sagte Steffie.

Denise war elf, ein hartgesottenes Kind. Sie führte einen mehr oder weniger täglichen Protestkampf gegen jene Angewohnheiten ihrer Mutter, die ihr verschwenderisch oder gefährlich vorkamen. Ich verteidigte Babette. Ich erklärte ihr, dass ich derjenige sei, der eigentlich Disziplin in Sachen Essen zeigen müsste. Ich erinnerte Babette daran, wie sehr mir ihr Aussehen gefiel. Ich gab zu verstehen, dass dem Massigen etwas Ehrliches anhaftet, wenn es gerade das richtige Ausmaß hat. Die Menschen bringen einem gewissen Ausmaß von Masse bei anderen Vertrauen entgegen.

Doch Babette war nicht glücklich über ihre Hüften und Oberschenkel, sie schlug beim Gehen ein scharfes Tempo an, sie jagte die Stadiontreppen bei der neoklassischen High School hinauf. Sie sagte, ich verkehre ihre Mängel in Tugenden, weil es in meiner Natur läge, Menschen, die ich liebte, von der Wahrheit abzuschirmen. In der Wahrheit lauere etwas, sagte sie.

Im Flur im ersten Stock ging die Rauchalarmanlage los, entweder um uns mitzuteilen, dass die Batterie leer war oder dass das Haus brannte. Wir beendeten schweigend unser Mittagessen.

3. Kapitel

Die Leiter der Fachabteilungen im College-on-the-Hill tragen Talar. Keine großartigen, wallenden, bodenlangen Angelegenheiten, sondern eine ärmellose Tunika, die an den Schultern gefältelt ist. Mir gefällt das. Ich befreie gern meinen Arm aus den Falten des Gewands, um auf die Uhr zu schauen. Der einfache Vorgang des Zeitablesens wird durch diese schwungvolle Gebärde aufgewertet. Dekorative Gesten bringen Romantik ins Leben. Müßiggehende Studenten sehen so vielleicht die Zeit selbst als komplizierte Ausschmückung, als Romanze des menschlichen Bewusstseins, wenn sie Zeuge davon werden, wie der Institutsleiter über den Campus geht, wie der gebeugte Arm aus seinem mittelalterlichen Talar auftaucht, die Digitaluhr im Spätsommerdunst aufblinkt. Der Talar ist selbstverständlich schwarz und passt zu fast allem.

Es gibt kein eigentliches Hitler-Seminargebäude. Wir sind in der Centenary Hall untergebracht, einem dunklen Backsteinkomplex, den wir mit der Abteilung für Popkultur teilen, die offiziell unter der Bezeichnung Amerikanische Milieus läuft. Ein kurioser Haufen. Der Lehrkörper setzt sich fast ausschließlich aus New Yorker Emigranten zusammen, die clever und brutal sind, verrückt nach Kino und Trivialwissen.

Sie sind hier, um die natürliche Sprache der Kultur zu dechiffrieren, um die glitzernden Vergnügungen, die sie in ihrer Europa-geprägten Kindheit genossen haben, zu einer formalen Methode zu machen, einem aristotelischen Gedankengefüge aus Kaugummi-Papierchen und Margarinereklame. Der Leiter der Abteilung ist Alfonse (Fast Food) Stompanato, ein breitschultriger, finster blickender Mann, dessen Sammlung von Vorkriegs-Limonadenflaschen in ständiger Ausstellung in einer Nische zu sehen ist. Alle Lehrer in seiner Abteilung sind männlich, tragen zerknitterte Kleidung, müssten dringend zum Friseur, halten beim Husten das Gesicht in Richtung Achselhöhle. Zusammen sehen sie aus wie Funktionäre einer Lastwagenfahrergewerkschaft, die sich versammelt haben, um den verstümmelten Körper eines Kollegen zu identifizieren. Sie vermitteln einen Eindruck von alles durchdringender Bitterkeit, von Verdacht und Intrige.

Eine Ausnahme bildet in einiger Hinsicht Murray Jay Siskind, ein Exsportjournalist, der mich im Speisesaal, wo der institutionalisierte Geruch schwer bestimmbarer Speisen in mir eine verschüttete, düstere Erinnerung weckte, einlud, mit ihm zusammen zu essen. Murray war neu im Hill, ein Mann mit hängenden Schultern, einer kleinen runden Brille und einem Ziegenbärtchen. Er sollte als Gastdozent Vorlesungen über »Lebende Legenden« halten und schien peinlich berührt von dem, was er über seine Kollegen im Fach Popkultur bisher in Erfahrung gebracht hatte.

»Ich verstehe die Musik, ich verstehe die Filme, ich begreife sogar, dass Comics uns etwas mitteilen können. Aber hier gibt es ausgewachsene Professoren, die nichts anderes lesen als die Texte auf den Cornflakespackungen.«

»Das ist die einzige Avantgarde, die wir haben.«

»Ich beklage mich ja gar nicht. Mir gefällt es hier. Ich bin absolut hingerissen von diesem Ort. Kleinstadtatmosphäre. Ich will frei sein von Großstädten und komplizierten Sexgeschichten. Von der Hitze. Das verkörpern Großstädte für mich. Man steigt aus der Bahn und tritt aus dem Bahnhof, und die Woge schlägt einem voll entgegen. Die Hitze von Luft, Verkehr und Menschen. Die Hitze von Essen und Sex. Die Hitze der hohen Gebäude. Die Hitze, die aus den Unterführungen und Tunnels strömt. In den Großstädten ist es immer fünfzehn Grad heißer. Die Hitze steigt von den Bürgersteigen auf und fällt vom vergifteten Himmel. Die Busse atmen Hitze. Die Massen der Einkaufenden und Büroangestellten strahlen Hitze aus. Die gesamte Infrastruktur basiert auf Hitze, zehrt die Hitze verzweifelt auf und brütet weitere Hitze aus. Der dermaleinstige Hitzetod des Universums, über den die Wissenschaftler so gerne reden, ist schon in vollem Gange, und in jeder großen oder mittleren Stadt kann man spüren, wie er sich ringsum ereignet. Die Hitze und die Feuchtigkeit.«

»Wo wohnen Sie, Murray?«

»In einer Pension. Ich bin absolut fasziniert und bezaubert. Es ist ein herrliches altes, baufälliges Haus in der Nähe der Irrenanstalt. Sieben oder acht Mieter, mehr oder weniger auf Dauer, mit Ausnahme von mir. Eine Frau, die ein schreckliches Geheimnis hütet. Ein Mann mit gehetztem Blick. Ein Mann, der nie sein Zimmer verlässt. Eine Frau, die stundenlang am Briefkasten steht und auf etwas wartet, das offenbar nie ankommt. Ein Mann ohne Vergangenheit. Eine Frau mit Vergangenheit. In dem Haus hängt ein Geruch von unglücklichen Kino-Lebensläufen, auf den ich sehr stark reagiere.«

»Welcher davon sind Sie?«, fragte ich.

»Ich bin der Jude. Was sonst sollte ich sein?«

Etwas Rührendes war an der Tatsache, dass Murray fast vollständig in Cordsamt gekleidet war. Ich konnte mich des Gefühls nicht erwehren, dass er schon mit elf Jahren in seiner dicht besiedelten Betonwüste diesen strapazierfähigen Stoff mit höherer Gelehrsamkeit an einem unerreichbar fernen, von Bäumen beschatteten Ort assoziiert hatte.

»Es ist mir unmöglich, in einer Stadt namens Blacksmith nicht glücklich zu sein«, sagte er. »Ich bin hier, um Situationen zu vermeiden. Großstädte sind voller Situationen, voller sexuell gewitzter Menschen. Es gibt Teile meines Körpers, zu deren freizügiger Handhabung ich keine Frau mehr ermutige. In Detroit befand ich mich mit einer Frau in einer Situation. Sie brauchte meinen Samen für ein Scheidungsverfahren. Das Ironische daran ist, dass ich Frauen liebe. Ich zerschmelze beim Anblick von langen Beinen, die an einem Wochentag im Spiel des Morgenlichts ausschreiten, rasch, während vom Fluss eine Brise heraufweht. Die zweite Ironie dabei ist, dass mich letztlich nicht nach dem Körper von Frauen verlangt, sondern nach ihrem Geist. Dem geistigen Sein der Frau. Der feinsinnigen Verkammerung und dem wuchtigen, in eine Richtung verlaufenden Strom, wie in einem physikalischen Experiment. Welch ein Vergnügen bereitet es, sich mit einer intelligenten Frau, die Nylonstrümpfe trägt, zu unterhalten, während sie die Beine übereinanderschlägt. Dieses kleine elektrisierende Geräusch von knisterndem Nylon ist auf mehreren Ebenen beglückend für mich. Die dritte und damit in Zusammenhang stehende Ironie ist, dass ich mich unweigerlich zu den kompliziertesten und neurotischsten und schwierigsten Frauen hingezogen fühle. Ich mag einfache Männer und komplizierte Frauen.«

Murrays Haar war dicht und sah schwer aus. Er hatte buschige Brauen, und an seinem Hals kräuselten sich seitlich Haarlocken nach oben. Der kleine steife Bart, der sich auf sein Kinn beschränkte und von keinem Schnurrbart begleitet war, schien ein beliebig verwendbares Versatzstück, anklebbar oder abnehmbar, je nachdem, wie die Umstände es rechtfertigten.

»Was für Vorlesungen wollen Sie denn abhalten?«

»Genau darüber wollte ich mit Ihnen reden«, sagte er. »Sie haben hier mit Hitler eine großartige Sache auf die Beine gestellt. Sie haben sie geschaffen, Sie haben sie gehegt, Sie haben sie zu Ihrer Sache gemacht. Kein Fakultätsmitglied eines Colleges oder einer Universität in dieser Region kann auch nur das Wort Hitler aussprechen, ohne ein Nicken in Ihre Richtung, wörtlich oder bildlich gesprochen. Dies ist das Zentrum, die unbestrittene Quelle. Er ist jetzt Ihr Hitler, Gladneys Hitler. Das muss doch hochbefriedigend für Sie sein. Das College ist infolge der Hitlerforschung international bekannt. Es hat eine Identität, den Anstrich von etwas Geleistetem. Sie haben ein ganzes System um diese Figur geschaffen, ein Gefüge mit zahllosen Subgefügen und damit in Beziehung stehenden Forschungsgebieten, eine Geschichte innerhalb der Geschichte. Ich bewundere diese Leistung. Das war meisterhaft, gescheit und verblüffend vorausschauend. Dasselbe möchte ich mit Elvis machen.«

 

Ein paar Tage später fragte Murray mich nach einer Touristenattraktion, die als meistfotografierte Scheune Amerikas bekannt war. Wir fuhren zweiundzwanzig Meilen ins Land um Farmington hinein. Dort gab es Wiesen und Apfelplantagen. Weiße Zäune zogen sich durch die wogenden Felder. Bald tauchten die Schilder auf. DIE MEISTFOTOGRAFIERTE SCHEUNE AMERIKAS. Wir zählten fünf Schilder, bevor wir die Stelle erreichten. Vierzig Autos und ein Bus standen auf dem Behelfsparkplatz. Wir gingen einen Trampelpfad entlang bis zu dem leicht erhöhten Punkt, der zum Anschauen und Fotografieren ausersehen war. Alle Leute hatten Fotoapparate dabei; einige sogar Stative, Teleobjektive, verschiedene Filter. Ein Mann in einem Kiosk verkaufte Postkarten und Dias – Bilder der Scheune, die von dem erhöhten Punkt aus aufgenommen worden waren. Wir standen in der Nähe eines kleinen Baumbestandes und beobachteten die Fotografen. Murray verfiel in anhaltendes Schweigen, wobei er gelegentlich Notizen in ein Büchlein kritzelte.

»Keiner sieht die Scheune«, sagte er schließlich.

Langes Schweigen folgte.

»Sobald man die Hinweisschilder auf die Scheune gesehen hat, wird es unmöglich, die Scheune selbst zu sehen.«

Wieder verstummte er. Menschen mit Fotoapparaten verließen den höher gelegenen Platz, und sofort traten andere an ihre Stelle.

»Wir sind nicht hier, um ein Bild einzufangen, wir sind hier, um eines aufrechtzuerhalten. Jedes Foto verstärkt die Aura. Spüren Sie das, Jack? Eine Anhäufung namenloser Energien.«

Ausgedehntes Schweigen folgte. Der Mann im Kiosk verkaufte Postkarten und Dias.

»Hier zu sein bedeutet eine Art geistiges Ausgeliefertsein. Wir sehen nur, was die anderen sehen. Die Tausende, die in der Vergangenheit hier gewesen sind, und diejenigen, die in der Zukunft noch kommen werden. Wir haben eingewilligt, Teil einer kollektiven Wahrnehmung zu sein. Das bringt im wahrsten Sinne des Wortes Farbe in unser Vorstellungsvermögen. Eine religiöse Erfahrung gewissermaßen, wie aller Tourismus.«

Erneutes Schweigen schloss sich an.

»Sie fotografieren das Fotografieren«, sagte er.

Eine Weile sprach er nicht mehr. Wir lauschten dem unaufhörlichen Klicken von Auslösern, dem rasselnden Kurbeln von Hebeln, die den Film transportierten.

»Wie war die Scheune, bevor sie fotografiert wurde?«, fragte er. »Wie sah sie aus, inwiefern unterschied sie sich von anderen Scheunen, inwiefern glich sie anderen Scheunen? Wir können diese Fragen nicht beantworten, weil wir die Schilder gelesen haben, die Leute gesehen haben, die die Fotos schießen. Wir können nicht aus der Aura heraus. Wir sind Teil der Aura. Wir sind hier, wir sind das Jetzt.«

Er schien unendlich erfreut darüber.

4. Kapitel

In schlechten Zeiten verspüren die Menschen einen Drang, zu viel zu essen. Blacksmith ist voll von fettleibigen Erwachsenen und Kindern, sackhosig, kurzbeinig, watschelig. Sie kämpfen sich aus Kleinwagen heraus; sie legen Trainingsanzüge an und rennen familienweise durch die Landschaft; sie gehen mit Essen im Gesicht die Straße hinunter; sie essen in Läden, Autos, auf Parkplätzen, in Warteschlangen vor dem Bus und dem Kino, unter den stattlichen Bäumen.

Nur die Älteren scheinen vom Essfieber ausgenommen. Mögen sie auch manchmal weit weg von ihren Worten und Gesten sein, so sind sie doch schlank und sehen gesund aus, die Frauen sorgfältig gepflegt, die Männer zweckmäßig und gut gekleidet, wenn sie draußen vor dem Supermarkt einen Einkaufswagen aus der Schlange auswählen.

Ich überquerte den Rasen der High School und ging zur Rückseite des Gebäudes und auf das kleine offene Stadion zu. Babette rannte die Stadionstufen hinauf. Ich setzte mich an der anderen Seite des Platzes in die erste Reihe von Steinsitzen. Der Himmel war voller langgezogener Wolken. Wenn Babette den oberen Rand des Stadions erreicht hatte, blieb sie stehen und pausierte, wobei sie die Hände auf die hohe Brüstung legte und sich zum Ausruhen schräg dagegenlehnte. Dann drehte sie sich um und ging mit wippenden Brüsten wieder hinunter. Der Wind kräuselte ihren übergroßen Anzug. Sie ging mit den Händen auf den Hüften und gespreizten Fingern. Sie hatte das Gesicht nach oben gereckt, um die kühle Luft aufzusaugen, und sie sah mich nicht. Als sie die unterste Stufe erreicht hatte, drehte sie sich zu den Sitzreihen um und machte eine Art von Nackendehnübung. Dann fing sie wieder an, die Stufen hinaufzulaufen.

Dreimal stieg sie die Stufen hoch und kam langsam wieder hinunter. Niemand war in der Nähe. Sie rackerte sich ab, ihr Haar flog, die Beine und Schultern arbeiteten. Jedes Mal, wenn sie die Höhe erreicht hatte, lehnte sie sich gegen die Wand, Kopf nach unten, mit pochendem Oberkörper. Nach dem letzten Abstieg ging ich am Rand des Spielfelds auf sie zu und umarmte sie, wobei ich meine Hände in den Schweißbund ihrer grauen Baumwollhose legte. Ein kleines Flugzeug tauchte über den Bäumen auf, Babette war feucht und warm und strahlte ein kreatürliches Summen aus.

Sie rennt, sie schaufelt Schnee, sie dichtet die Badewanne und das Spülbecken ab. Sie spielt mit Wilder Sprachlernspiele und liest abends im Bett laut klassische Erotika. Und was tue ich? Ich zwirble die Müllsäcke, binde sie zu, schwimme Bahnen im College-Schwimmbad. Wenn ich spazieren gehe, kommen Jogger lautlos hinter mir her, tauchen an meiner Seite auf und lassen mich in idiotischem Schrecken zusammenfahren. Babette spricht mit Hunden und Katzen. Ich sehe farbige Flecken im rechten Augenwinkel. Sie plant mit vor Aufregung glänzendem Gesicht Skireisen, die wir niemals unternehmen. Ich gehe zu Fuß den Berg zum College hinauf und bemerke die weiß gestrichenen Steine, die die Auffahrten der neueren Eigenheime säumen.

Wer wird zuerst sterben?

Diese Frage taucht von Zeit zu Zeit auf, so wie: Wo sind die Autoschlüssel? Sie beendet einen Satz, verlängert einen Blick zwischen uns. Ich frage mich, ob der Gedanke selbst Teil des Wesens der körperlichen Liebe ist, ein umgekehrter Darwinismus, der den Überlebenden mit Traurigkeit und Furcht belohnt. Oder ist er ein träges Element in der Luft, die wir atmen, etwas Rares wie Neon, mit einem Schmelzpunkt, einem Atomgewicht? Ich hielt Babette auf der Aschenbahn in meinen Armen. Kinder kamen in unsere Richtung gelaufen, dreißig Mädchen in leuchtenden Shorts, eine unwahrscheinliche, auf- und abhüpfende Masse. Das eifrige Atmen, die sich überschneidenden Rhythmen ihrer Tritte. Manchmal denke ich, unsere Liebe ist unerfahren. Die Frage nach dem Sterben wird zur weisen Mahnung. Sie heilt uns von unserer Unschuld gegenüber der Zukunft. Die einfachen Dinge sind dem Untergang geweiht, oder ist das ein Aberglaube? Wir sahen zu, wie die Mädchen wieder vorbeikamen. Jetzt waren sie auseinandergezogen, hatten Gesichter und unterschiedliche Laufstile, waren fast schwerelos in ihrem Sehnen, waren fähig, leicht zu landen.

Das Airport Marriott Hotel, das Holiday Inn, das Sheraton Hotel und Kongresszentrum.

Auf dem Heimweg sagte ich: »Bee will Weihnachten zu Besuch kommen. Wir können sie zu Steffie legen.«

»Kennen sich die beiden?«

»Sie haben sich in Disney World kennengelernt. Es wird schon gehen.«

»Als du in Los Angeles warst?«

»Du meinst Anaheim.«

»Als du in Anaheim warst?«

»Du meinst Orlando. Es ist fast drei Jahre her.«

»Wo war ich?«, fragte sie.

Meine Tochter Bee, aus meiner Ehe mit Tweedy Browner, begann gerade in einem Washingtoner Vorort mit der siebten Klasse und hatte Probleme, sich nach zwei Jahren in Südkorea wieder an das Leben in den Staaten zu gewöhnen. Sie bestellte sich Taxis, um zur Schule zu fahren, telefonierte mit Freunden in Seoul und Tokio. Im Ausland hatte sie Ketchup-Sandwiches und Salzstangen zu essen verlangt. Jetzt kochte sie wilde, zischende Gerichte aus Frühlingszwiebeln und Baby-Shrimps und nahm Tweedys professionellen Restaurantherd in Beschlag.

An diesem Abend, einem Freitag, ließen wir uns chinesisches Essen kommen und sahen alle sechs gemeinsam fern. Das hatte Babette eingeführt. Sie schien zu glauben, wenn Kinder einen Abend in der Woche mit Eltern oder Stiefeltern zusammen fernsähen, so würde das Medium dadurch in den Augen der Kinder seines falschen Zaubers beraubt und zu einem gesunden häuslichen Sport werden. Sein narkotischer Sog und seine unheimliche krankhafte und hirnzersetzende Wirkung würden allmählich reduziert werden. Ich fühlte mich durch diese Argumentation irgendwie gekränkt. In der Tat war der Abend für uns alle eine subtile Form der Bestrafung. Heinrich saß schweigend über seinen Eierröllchen. Steffie geriet aus der Fassung, sobald sich anzudeuten schien, dass auf dem Bildschirm jemandem etwas Beschämendes oder Demütigendes zustoßen würde. Sie hatte ein ungeheures Talent, für andere Menschen peinlich berührt zu sein. Sie verließ oft das Zimmer, bis Denise ihr signalisierte, dass die Szene vorbei war. Denise benützte diese Gelegenheiten, um dem jüngeren Mädchen gute Ratschläge zum Thema Härte zu erteilen und über die Notwendigkeit, auf dieser Welt gemein und dickfellig zu sein.

Mein persönlicher regelmäßiger Freitagsbrauch war es, mich nach einem Abend vor dem Fernseher bis tief in die Nacht bei Hitler festzulesen.

In einer solchen Nacht stieg ich neben Babette ins Bett und erzählte ihr, wie der Rektor mir damals, 1968, geraten hatte, mit meinem Namen und meiner äußeren Erscheinung etwas zu unternehmen, falls ich als Hitler-Innovator ernst genommen werden wollte. Jack Gladney reiche einfach nicht, sagte er, und fragte mich, welche anderen Namen ich zur Verfügung hätte. Schließlich kamen wir überein, dass ich mir noch eine Initiale ausdenken und mich J.A.K. Gladney nennen sollte, ein Etikett, das ich trug wie einen geborgten Anzug. Der Rektor warnte mich auch vor etwas, was er als meine Neigung bezeichnete, eine schwache Darstellung meiner selbst zu geben. Er empfahl mir dringlichst zuzunehmen. Er wollte, dass ich in Hitler »hineinwachsen« sollte. Er selbst war groß, dickbäuchig, rot, hängebackig, großfüßig und dumm. Eine gräßliche Kombination. Ich hatte die Vorzüge einer beträchtlichen Größe, großer Hände, großer Füße, doch mangelte es mir entscheidend an Masse, oder jedenfalls fand er das, an der Ausstrahlung ungesunden Übermaßes, an Gepolstertheit und Übertreibung, an ungeschlachter Massigkeit. Wenn ich hässlicher werden könnte, das schien er andeuten zu wollen, würde das meiner Karriere enorm weiterhelfen.

So hat Hitler mir etwas gegeben, in das ich hineinwachsen, worauf ich mich zuentwickeln kann, wie zaghaft mein Bemühen darum auch gelegentlich gewesen sein mag. Die Brille mit dem dicken schwarzen schweren Gestell und den dunklen Gläsern war meine eigene Idee, eine Alternative zu dem buschigen Bart, den meine damalige Frau mir nicht zugestehen wollte. Babette sagte, ihr gefalle die Abfolge J.A.K., und sie finde nicht, dass sie auf eine billige Art aufmerksamkeitsheischend sei. Für sie verkörpere sie Würde, Bedeutung und Prestige.

Ich hinke hinter meiner Ausstrahlung her.

5. Kapitel

Genießen wir doch diese planlosen Tage, solange wir können, sagte ich mir, in leiser Furcht, bald könne alles vorbei sein.

Beim Frühstück las Babette alle unsere Horoskope laut vor, wobei sie ihre Märchentantenstimme benutzte. Ich versuchte, nicht zuzuhören, als sie an meins kam, obwohl ich eigentlich zuhören wollte, ich glaube, ich suchte Anhaltspunkte.

Nach dem Abendessen hörte ich auf dem Weg nach oben den Fernseher sagen: »Wir wollen uns jetzt in den halben Lotussitz niederlassen und an unser Rückgrat denken.«

In dieser Nacht schien ich, Sekunden, nachdem ich eingeschlafen war, durch mich selbst hindurchzufallen, in einem flachen, das Herz anhaltenden Sturz. Bebend erwacht, starrte ich in die Dunkelheit, und mir wurde klar, dass ich soeben die mehr oder weniger normale Muskelkontraktion erlebt hatte, die als myoklonischer Krampf bekannt ist. Ob es wohl so ist, abrupt, definitiv? Sollte der Tod, dachte ich, vielleicht doch kein Schwalbensprung sein, anmutig, weißbeschwingt und glatt, ohne eine Spur an der Oberfläche zu hinterlassen?

Bluejeans drehten sich im Trockner.

Wir begegneten Murray Siskind im Supermarkt. Sein Korb enthielt markenlose Ess- und Trinkwaren, Gegenstände in rein weißer Verpackung mit einfacher Beschriftung; eine weiße Dose, auf der EINGEMACHTE PFIRSICHE stand; ein weißes Paket mit durchwachsenem Speck ohne das Plastikfenster, durch das man eine repräsentative Scheibe hätte sehen können. Auf einem Glas mit gerösteten Nüssen klebte ein weißes Etikett mit den Worten UNSORTIERTE ERDNÜSSE. Murray nickte Babette unaufhörlich zu, als ich sie einander vorstellte.

»Dies ist die neue Nüchternheit«, sagte er. »Geruchsdichte Verpackungen. Mir gefällt das. Ich habe das Gefühl, dass ich nicht nur Geld spare, sondern überdies einen Beitrag zu einer Art spirituellen Übereinkommens leiste. Es ist wie der dritte Weltkrieg. Alles ist weiß. Sie werden uns unsere leuchtenden Farben nehmen und sie für ihre Kriegsanstrengungen benützen.«

Er starrte Babette in die Augen und hob dabei Gegenstände aus unserem Einkaufswagen hoch und roch daran.

»Ich habe diese Erdnüsse schon einmal gekauft. Sie sind rund, kubisch, pockennarbig, haben Risse. Zerbrochene Erdnüsse. Eine Menge Krümel auf dem Boden des Glases. Aber sie schmecken gut. Am allerbesten gefallen mir die Verpackungen selbst. Sie hatten recht, Jack. Dies ist die letzte Avantgarde. Kühne neue Formen. Die Macht zu schockieren.«

Eine Frau fiel vorne im Geschäft in einen Ständer mit Taschenbüchern. Ein vierschrötiger Mann tauchte aus der erhöhten Kabine in der anderen Ecke auf und bewegte sich vorsichtig auf sie zu, mit schräg gelegtem Kopf, um klarere Sicht zu bekommen. Ein Mädchen an der Kasse sagte: »Leon, Petersilie?«, und er antwortete, während er auf die gestürzte Frau zuging: »Neunundsiebzig.« Seine Brusttasche steckte voller Filzstifte.

»Dann kochen Sie also in Ihrer Pension?«, sagte Babette.

»Man kann einen Elektrokocher in meinem Zimmer anschließen. Ich bin dort glücklich. Ich lese das Fernsehprogramm, ich lese die Anzeigen in Ufologie heute. Ich möchte in die amerikanische Magie und die amerikanische Furcht eintauchen. Mein Seminar läuft gut. Die Studenten sind gescheit und ansprechbar. Sie stellen Fragen, und ich beantworte sie. Sie machen sich Notizen, während ich spreche. Das ist in meinem Leben eine ziemliche Überraschung.«

Er nahm unsere Flasche mit extra starkem Schmerzmittel in die Hand und schnüffelte um den Rand der kindergesicherten Verschlusskappe herum. Er roch an unseren Honigmelonen, unseren Flaschen mit Club Soda und Ginger Ale. Babette ging den Gang zwischen der Tiefkühlkost hinunter, einen Bereich, den zu meiden mein Doktor mir geraten hatte.

»Das Haar Ihrer Frau ist ein lebendes Wunder«, sagte Murray und schaute mir dabei dicht ins Gesicht, wie um mir mitzuteilen, dass diese neue Information seinen Respekt vor mir vertieft habe.

»Ja, das ist es«, sagte ich.

»Sie hat bedeutendes Haar.«

»Ich glaube, ich verstehe, was Sie meinen.«

»Ich hoffe, Sie schätzen diese Frau.«

»Ausgesprochen.«

»Eine Frau wie sie ist nämlich nicht selbstverständlich. «

»Das weiß ich.«

»Sie muss sehr gut mit Kindern umgehen können. Oder noch mehr als das, ich bin sicher, es muss großartig sein, sie bei einer Familientragödie in der Nähe zu haben. Sie ist doch wohl der Typ, der die Sache in die Hand nimmt, Stärke zeigt und Trost gibt.«

»Nein, im Gegenteil, sie ist ganz aufgelöst. Sie war ganz aufgelöst, als ihre Mutter starb.«

»Wer wäre das nicht?«

»Sie war ganz aufgelöst, als Steffie aus dem Sommerlager anrief und sich die Hand gebrochen hatte. Wir mussten die ganze Nacht fahren. Ich fand mich auf einer Straße wieder, die nur für Holzabfuhr bestimmt war. Neben mir weinte Babette.«

»Ihre Tochter, weit fort, unter Fremden, und dabei Schmerzen. Wer würde da nicht weinen?«

»Nicht ihre Tochter. Meine Tochter.«

»Nicht einmal ihre eigene Tochter.«

»Nein.«

»Erstaunlich. Das muss mir einfach gefallen.«

Wir gingen zu dritt hinaus, versuchten, unsere Einkaufswagen zwischen den Taschenbüchern, die über den ganzen Eingang verstreut lagen, hindurchzumanövrieren. Murray schob einen unserer Einkaufswagen auf den Parkplatz und half uns dann, all unsere in Doppeltüten verstauten Einkäufe in den Kofferraum des Kombiwagens zu wuchten und zu schieben. Autos fuhren herein und hinaus. Die Polizistin in ihrem winzigen Reißverschluss-Auto kundschaftete das Areal nach roten Signalen auf den Parkuhren aus. Wir stellten Murrays einzige leichtgewichtige Tüte voller weißer Artikel zu unserer Ladung und fuhren über die Elm Street in Richtung seiner Pension. Es kam mir so vor, als hätten Babette und ich durch die Menge und Vielfalt unserer Einkäufe, durch die schiere Vollkommenheit, an die diese vollgestopften Tüten gemahnten, durch ihr Gewicht, ihre Größe und Anzahl, durch die vertrauten Verpackungen und die bunten Beschriftungen, die Großpackungen, die Familiensparpackungen mit den leuchtfarbenen Rabatt-Aufklebern, durch das Gefühl des Aufgetankthabens, das uns erfüllte, durch das Wohlbehagen, das Sicherheitsgefühl und die Zufriedenheit, die diese Produkte einer Art trautem Heim in unseren Seelen brachten – mir schien, als hätten wir dadurch eine Fülle des Seins erreicht, die solchen Menschen nicht bekannt ist, die weniger brauchen, weniger erwarten, die ihr Leben um einsame Abendspaziergänge planen.

Murray nahm beim Aussteigen Babettes Hand.

»Ich würde Sie bitten, mit in mein Zimmer zu kommen, aber es ist zu klein für zwei Menschen, es sei denn, sie seien bereit, intim zu werden.«

Murray ist fähig, einen Blick zu erzeugen, der vielsagend und offen zugleich ist. Es ist ein Blick, der gleichermaßen die Katastrophe und den wollüstigen Erfolg erwartet. Er sagt, er habe in den alten Tagen seiner urbanen Verstrickungen geglaubt, dass es nur einen Weg gäbe, eine Frau zu verführen, und zwar durch klares und offenes Begehren. Er habe sich darum bemüht, Selbstverachtung, Selbstverhöhnung, Zweideutigkeit, Ironie, Subtilität, Verwundbarkeit, einen kultivierten Weltüberdruss und einen tragischen Geschichtssinn auszuschalten, und dabei seien das für ihn, sagt er, die natürlichsten Dinge. Von allen diesen habe er nur ein einziges Element, nämlich die Verletzlichkeit, allmählich Eingang in sein Programm der freimütigen Wollust finden lassen. Er sei dabei zu versuchen, eine Verletzlichkeit zu entwickeln, die Frauen attraktiv fänden. Er arbeite bewusst daran, wie ein Sportler in einer Turnhalle mit Gewichten und Spiegel. Doch haben seine Bemühungen bisher nur diesen vielsagenden Blick hervorgebracht, der blöde und einschmeichelnd wirkt.

Er dankte uns fürs Mitnehmen. Wir sahen zu, wie er auf die schiefe, mit Schlackesteinen gestützte Eingangsterrasse zuging, wo ein Mann in einem Schaukelstuhl in den Weltraum spähte.

6. Kapitel

Heinrichs Haaransatz beginnt sich zu lichten. Ich mache mir Gedanken darüber. Hat seine Mutter irgendeine genzerstörende Substanz eingenommen, als sie schwanger war? Bin ich irgendwie verantwortlich? Habe ich ihn, unwissentlich, in der Nachbarschaft einer Sondermülldeponie aufgezogen, im Bereich von Luftströmen, die Industrieabgase mit sich führen, welche Degenerationen der Kopfhaut und wunderschöne Sonnenuntergänge bewirken können? (Die Leute sagen, die Sonnenuntergänge seien hier in der Gegend vor dreißig oder vierzig Jahren nicht annähernd so überwältigend gewesen.) Die Schuld des Menschen in der Geschichte und in den Gezeiten seines eigenen Blutes ist durch die Technologie, jenen täglich tropfenden, falschherzigen Tod, kompliziert worden.

Der Junge ist vierzehn, oft ausweichend und launisch, zu anderen Zeiten beunruhigend willfährig. Ich habe so ein Gefühl, dass sein bereitwilliges Nachgeben gegenüber unseren Wünschen und Forderungen seine private Waffe des Vorwurfs ist. Babette hat Angst, dass er in einem verbarrikadierten Winkel enden wird, aus dem er Hunderte von Maschinengewehrsalven über eine leere Einkaufszone jagen wird, bevor die SWAT-Mannschaften mit ihren Schnellfeuergewehren, ihren Megafonen und Kampfanzügen ihn holen kommen.

»Es wird heute Abend regnen.«

»Es regnet jetzt schon«, sagte ich.

»Im Radio hieß es heute Abend.«

Ich fuhr ihn an seinem ersten Tag nach einer fiebrigen Halsentzündung in die Schule. Eine Frau in gelbem Ölzeug hielt den Verkehr an, um einige Kinder die Straße überqueren zu lassen. Ich stellte sie mir in einem Werbespot für Suppe vor, wie sie ihren Südwester abnimmt, während sie die freundliche Wohnküche betritt, in der ihr Mann sich über einen Topf dampfender Hummercremesuppe beugt, ein schmächtiges Männchen, das nur noch sechs Wochen zu leben hat. »Schau doch auf die Windschutzscheibe«, sagte ich. »Ist das Regen oder nicht?«

»Ich erzähl dir ja nur, was sie gesagt haben.«

»Nur weil es im Radio kam, brauchen wir nicht gleich unseren Glauben an die Offensichtlichkeit unserer Sinne außer Kraft zu setzen.«

»Unserer Sinne? Unsere Sinne täuschen sich viel, viel öfter, als sie recht haben. Das ist in Labortests bewiesen worden. Weißt du denn nichts von all den Lehrsätzen, die besagen, dass nichts so ist, wie es scheint? Es gibt außerhalb unseres Denkens keine Vergangenheit, keine Gegenwart, keine Zukunft. Die sogenannten Bewegungsgesetze sind ein riesiger Schwindel. Sogar der Schall kann das Bewusstsein täuschen. Nur weil man ein Geräusch nicht hört, bedeutet das noch nicht, dass es nicht da ist. Hunde können es hören. Andere Tiere auch. Und ich bin sicher, es gibt Geräusche, die auch Hunde nicht hören können. Aber sie existieren in der Luft, in Wellen. Vielleicht hören sie nie auf. Ganz, ganz hochfrequentig. Von irgendwo kommen die doch her.«

»Regnet es«, sagte ich, »oder regnet es nicht?«

»Das würde ich nicht gern entscheiden müssen.«

»Was, wenn dir jemand eine Pistole an die Stirn hielte?«

»Wer, du?«

»Irgend jemand. Ein Mann im Trenchcoat und mit getönter Brille. Er hält dir die Pistole an die Stirn und sagt: ›Regnet es, oder regnet es nicht? Du brauchst nur die Wahrheit zu sagen, und ich steck die Pistole weg und hau mit dem nächsten Flugzeug hier ab.‹«

»Welche Wahrheit will er? Will er die Wahrheit von jemand, der sich mit Lichtgeschwindigkeit in einer anderen Galaxis bewegt? Will er die Wahrheit von jemand, der sich in der Umlaufbahn um einen Neutronenstern bewegt? Wenn diese Leute uns durch ein Teleskop sehen könnten, dann würden wir vielleicht aussehen, als ob wir dreiunddreißig Zentimeter groß wären, und vielleicht hätte es dann gestern geregnet statt heute.«

»Er hält die Pistole an deine Stirn. Er will deine Wahrheit.«

»Was nützt meine Wahrheit? Meine Wahrheit bedeutet nichts. Was ist, wenn dieser Typ mit der Pistole von einem Planeten aus einem ganz anderen Sonnensystem kommt? Was wir Regen nennen, das nennt er Seife. Was wir Äpfel nennen, nennt er Regen. Was also soll ich ihm sagen?«

»Sein Name ist Frank R. Smalley, und er kommt aus St. Louis.«

»Er will wissen, ob es jetzt regnet, in dieser Minute?«

»Hier und jetzt. Genau.«

»Gibt es so etwas wie jetzt? ›Jetzt‹ kommt und geht so schnell, wie du es aussprichst. Wie kann ich sagen, dass es jetzt regnet, wenn dein sogenanntes ›jetzt‹ ›dann‹ wird, sobald ich es ausspreche?«

»Du hast gesagt, es gäbe keine Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft.«

»Nur in unseren Verben. Das ist die einzige Stelle, wo wir sie finden.«

»Regen ist ein Substantiv. Ist hier, genau an dieser Stelle, innerhalb der nächsten zwei Minuten, in denen du beliebst, auf die Frage zu antworten, Regen?«

»Wenn du über genau diese Stelle sprichst, während du in einem Fahrzeug sitzt, das sich ganz offensichtlich bewegt, dann meine ich, liegt hier der Haken der ganzen Diskussion.«

»Jetzt antworte schon, Heinrich, okay?«

»Ich könnte allerhöchstens eine Vermutung aussprechen.«

»Entweder regnet es, oder es regnet nicht«, sagte ich.

»Genau. Genau das meine ich doch. Du müsstest eine Vermutung anstellen. Es kann so oder so sein.«

»Aber du siehst doch, dass es regnet.«

»Man sieht auch, wie sich die Sonne über den Himmel bewegt. Aber bewegt sich die Sonne über den Himmel, oder dreht sich die Erde?«

»Ich kann diese Analogie nicht akzeptieren.«

»Du bist so sicher, dass das Regen ist. Woher weißt du, dass es nicht Schwefelsäure von den Fabriken auf der anderen Flussseite ist? Woher weißt du, dass es nicht radioaktiver Niederschlag von einem Krieg in China ist? Du willst hier und jetzt eine Antwort. Kannst du beweisen, hier und jetzt, dass das Zeug Regen ist? Woher soll ich wissen, dass das, was du Regen nennst, wirklich Regen ist? Und was ist überhaupt Regen?«

»Es ist das Zeug, das vom Himmel fällt und dich das macht, was man nass nennt.«

»Ich bin nicht nass. Bist du nass?«

»Na schön«, sagte ich. »Sehr gut.«

»Nein, mal ernst, bist du nass?«

»Erstklassig«, sagte ich zu ihm. »Ein Sieg für Ungewissheit, Willkürlichkeit und das Chaos. Eine Sternstunde der Wissenschaft.«

»Sei ruhig ironisch.«

»Die Sophisten und die Haarspalter erleben eine Sternstunde.«

»Nur zu, sei nur ironisch, mir macht das nichts.«

Heinrichs Mutter lebt jetzt in einem Ashram. Sie hat den Namen Mutter Devi angenommen und kümmert sich um die geschäftliche Seite der Dinge. Der Ashram befindet sich im Randgebiet der ehemaligen Kupfer verarbeitenden Stadt Tubb in Montana, die jetzt Dharamsalapur heißt. Die üblichen Gerüchte über sexuelle Freizügigkeit, sexuelle Versklavung, über Drogen, Nacktheit, Gehirnwäsche, mangelnde Hygiene, Steuerhinterziehung, Anbetung von Affen, Folter, verlängerte und hässliche Todesqualen bleiben natürlich nicht aus.

Ich sah zu, wie er durch den Platzregen zum Schuleingang ging. Er bewegte sich bewusst langsam und nahm seine tarnfarbene Mütze schon zehn Meter vor dem Eingang ab. In solchen Momenten stelle ich fest, dass ich ihn mit einer animalischen Verzweiflung liebe, mit einem Drang, ihn unter meinen Mantel zu nehmen und ihn an meine Brust zu drücken, ihn dort zu halten, ihn zu beschützen. Er scheint Gefahr auf sich zu ziehen. Sie sammelt sich in der Luft und folgt ihm von Zimmer zu Zimmer. Babette backt seine Lieblingsplätzchen. Wir beobachten ihn an seinem Schreibtisch, einer ungestrichenen Holzplatte mit Büchern und Zeitschriften. Er arbeitet bis tief in die Nacht, knobelt Schachzüge aus für ein Spiel, das er per Post mit einem wegen Mordes überführten Insassen der Strafanstalt spielt.

Am nächsten Tag war es warm und strahlend, und die Studenten des Hill saßen auf dem Rasen und in den Studentenheimfenstern, ließen ihre Tonbänder laufen und nahmen Sonnenbäder. In der Luft lag ein wehmütiger Sommernachhall, der letzte schwüle Tag, Gelegenheit, noch einmal leicht gekleidet zu gehen, den gemähten Klee zu riechen. Ich ging hinüber in den Geisteswissenschaften-Komplex, unser neuestes Gebäude, eine zweiflügelige Angelegenheit mit einer Fassade aus eloxiertem Aluminium in Meergrün, die die Wolken einfing. Im unteren Stockwerk war der Filmvorführraum, ein ansteigender, mit dunklen Teppichen ausgelegter Raum mit zweihundert Plüschsitzen. Ich saß im schwachen Licht am Ende der ersten Reihe und wartete auf meine Studenten.

Es waren alles Hitler-Hauptfachstudenten, Teilnehmer des einzigen Seminars, das ich noch selbst abhielt, Nazismus für Fortgeschrittene, drei Stunden pro Woche, auf fortgeschrittene Semester nach der Zwischenprüfung beschränkt, eine Veranstaltung, die darauf abzielte, den historischen Weitblick zu fördern, sowie theoretische Exaktheit und gereifte Einsicht in die sich fortsetzende Massenattraktion der faschistischen Tyrannei, mit besonderem Schwergewicht auf Paraden, Aufmärschen und Uniformen, drei benotete Arbeiten, schriftliche Protokolle.

Jedes Semester organisierte ich eine Filmvorführung von Hintergrundmaterial. Dieses bestand aus Propagandafilmen, Szenen, die bei Parteitagen aufgenommen worden waren, herausgeschnittenen Takes aus mystischen Filmepen über Turner- und Bergsteigeraufmärsche – ein Sammelsurium, das ich zu einem eindrucksvollen achtzigminütigen Dokumentarfilm zusammengeschnitten hatte. Massenszenen herrschten vor. Gedrängte Nahaufnahmen von Tausenden von Menschen vor einem Stadion nach einer Goebbels-Rede, wogende, sich drängende Massen, die sich in die Straßen ergießen und den Verkehr blockieren. Hallen, mit Hakenkreuzfahnen behängt, mit Trauerkränzen und Totenkopfinsignien. Tausende von aufgereihten Fahnenträgern, vor Säulen gefrorenen Lichts aufgestellt, hundertdreißig Flak-Scheinwerfer, die schnurgerade nach oben gerichtet waren – eine Szene, die einem geometrischen Verlangen glich, der formellen Notierung eines mächtigen Wunsches der Massen. Es gab keine Erzählerstimme. Nur monotonen Singsang, Lieder, Arien, Reden, Schreie, Begeisterungsstürme, Beschuldigungen, Gebrüll.

Ich stand auf und nahm vorne im Saal Aufstellung, vor dem Mittelgang, Blick zur Tür.

Sie kamen aus der Sonne herein, in ihren Laufshorts aus Popeline und ihren T-Shirts beschränkter Auflage, in ihrer hochwertigen Strickkleidung, ihrem Polo-Styling und den Rugby-Streifen. Ich sah zu, wie sie sich auf ihre Plätze setzten, und nahm die gedämpfte und ehrfürchtige Stimmung wahr, die unbestimmte Erwartung. Einige hatten Hefte und Taschenlampenbleistifte; einige trugen Vorlesungsmaterial in bunten Mappen unterm Arm. Es gab Geflüster, Papier raschelte, das klopfende Geräusch von herunterklappenden Sitzen, als sich die Studenten einer nach dem anderen niederließen. Ich lehnte mich gegen den Bühnenrand, während ich wartete, bis die letzten paar Studenten hereingekommen waren und jemand die Tür vor unserem wollüstigen Sommertag verschlossen hatte.

Bald wurde es ruhig. Es war an der Zeit, dass ich die einführenden Worte sprach. Ich ließ die Stille sich noch einen Moment vertiefen, dann machte ich die Arme von den Falten des Amtstalars frei, um ungehindert gestikulieren zu können. Als die Vorführung beendet war, fragte jemand nach der Verschwörung, bei der Hitler getötet werden sollte. Die Diskussion ging dann zu Verschwörungen im Allgemeinen über. Ich hörte mich zu den versammelten Häuptern sagen: »Alle Verschwörungen tendieren dazu, zum Tode zu führen. Das liegt in der Natur von Verschwörungen. Politische Verschwörungen, Verschwörungen von Terroristen, Liebesverschwörungen, Dramenverschwörungen, Verschwörungen, die ein Teil von Kinderspielen sind. Wir rücken dem Tod immer näher, jedes Mal, wenn wir uns verschwören. Das ist wie ein Vertrag, den alle unterschreiben müssen, die Verschwörer ebenso wie die, die Ziel der Verschwörung sind.«

Ist das wahr? Warum habe ich das gesagt? Was bedeutet das?

7. Kapitel

Zwei Abende in der Woche geht Babette zur Congregational Church am anderen Ende der Stadt und hält dort im Kellergeschoss Erwachsenen Vorträge über richtige Körperhaltung. Im Wesentlichen bringt sie ihnen bei, wie man steht, sitzt und geht. Die meisten ihrer Schüler sind alt. Mir ist eigentlich nicht klar, warum sie ihre Haltung verbessern wollen. Wir glauben anscheinend, es sei möglich, den Tod abzuwenden, indem wir Regeln sorgfältiger Körperpflege befolgen. Manchmal begleite ich meine Frau in das Kellergeschoss der Kirche und schaue zu, wie sie steht, sich dreht, verschiedene heroische Posen einnimmt, anmutig gestikuliert. Sie erwähnt Yoga, Kendo, das Gehen in Trance. Sie spricht von Sufi-Derwischen, Sherpa-Lastträgern. Die alten Leutchen nicken und hören zu. Nichts ist ihnen fremd, nichts zu entlegen, um zuzutreffen. Ich bin jedesmal überrascht über ihre Bereitwilligkeit und ihr Vertrauen, ihren rührenden Glauben. Nichts ist zu fragwürdig, um ihnen von Nutzen zu sein bei ihrem Streben danach, ihren Körper aus einer lebenslangen schlechten Haltung zu erlösen. Es ist das Ende des Skeptizismus.

Wir gingen unter einem Ringelblumenmond nach Hause. Unser Haus am Ende der Straße sah alt und fahl aus, die Eingangsbeleuchtung schien auf ein Dreirad aus Plastik und einen Stapel von künstlichem Kaminholz aus Sägemehl und Wachs, buntflammig, Brenndauer drei Stunden. Denise machte in der Küche ihre Hausaufgaben und passte auf Wilder auf, der die Treppe heruntergekommen war, um auf dem Fußboden zu sitzen und durch das Sichtfenster in den Backofen zu starren. Stille in den Fluren, Schatten auf dem schräg abfallenden Rasen. Wir schlossen die Tür und entkleideten uns. Das Bett war ein Chaos. Zeitschriften, Gardinenstangen, ein rußiger Kinderstrumpf. Babette summte etwas aus einem Broadway Musical und stellte die Gardinenstangen in eine Ecke.

Wir umarmten uns, fielen kontrolliert seitwärts aufs Bett, brachten uns dann in eine neue Stellung, badeten einer in des anderen Fleisch und versuchten dabei, die Laken von unseren Knöcheln zu strampeln. Ihr Körper besaß eine Anzahl länglicher Vertiefungen, Stellen, zu deren Erkundung die Hand im Dunkeln gern haltmachte, tempoverlangsamende Stellen.

Wir glaubten, dass im Keller etwas hauste.

»Was möchtest du jetzt tun?«, sagte sie.

»Das, was du möchtest.«

»Ich möchte, was für dich am schönsten ist.«

»Für mich ist am schönsten, dir Freude zu bereiten«, sagte ich.

»Ich möchte dich glücklich machen, Jack.«

»Ich bin glücklich, wenn ich dir Freude bereite.«

»Ich möchte das, was du möchtest.«

»Ich möchte, was am schönsten für dich ist.«

»Aber du machst mir eine Freude, wenn du zulässt, dass ich dir eine Freude mache«, sagte sie.

»Ich glaube, ich als männlicher Partner bin dafür verantwortlich, Freude zu geben.«

»Ich bin nicht sicher, ob das eine liebevoll einfühlsame Bemerkung ist oder eine sexistische.«

»Ist es denn falsch, wenn ein Mann seiner Partnerin gegenüber rücksichtsvoll ist?«

»Ich bin deine Partnerin, wenn wir Tennis spielen, was wir übrigens wieder aufnehmen sollten. Ansonsten bin ich deine Frau. Möchtest du, dass ich dir vorlese?«

»Großartig.«

»Ich weiß, du hast es gern, wenn ich dir Sexgeschichten vorlese.«

»Ich dachte, du magst das auch.«

»Hat nicht in erster Linie derjenige, dem vorgelesen wird, Gewinn und Befriedigung davon? Wenn ich dem alten Treadwell vorlese, dann tu ich das nicht, weil ich diese Revolverblättchen anregend finde.«

»Treadwell ist blind, ich nicht. Ich dachte, du liest gern erotische Stellen.«

»Wenn es dir Freude macht, tue ich es gern.«

»Aber es muss dir auch Freude machen, Baba. Wie würde ich mir denn sonst vorkommen?«

»Mir macht Freude, dass du Spaß daran hast, wenn ich lese.«

»Ich habe langsam das Gefühl, wir schieben eine Bürde hin und her. Die Bürde, wer derjenige sein muss, der sich freut.«

»Ich möchte gern lesen, Jack. Ehrlich.«

»Bist du absolut und völlig sicher? Wenn nicht, dann kommt es nämlich überhaupt nicht infrage.«

Jemand schaltete den Fernseher am Ende des Flurs an, und die Stimme einer Frau sagte: »Wenn er leicht bricht, nennt man ihn Schieferton. Wenn er nass ist, riecht er wie Ton.«

Wir lauschten auf den sachte versickernden Strom des nächtlichen Verkehrs.

Ich sagte: »Such dir ein Jahrhundert aus. Willst du über etruskische Sklavinnen lesen oder über georgianische Wüstlinge? Ich glaube, wir haben auch Literatur über Flagellationsbordelle. Wie wär’s mit dem Mittelalter? Wir haben Inkubi und Sukkubi. Massenhaft Nonnen.«

»Was für dich am schönsten ist.«

»Ich möchte, dass du es aussuchst. Das ist erregender. «

»Einer sucht aus, der andere liest. Wir wollen doch ein Gleichgewicht, eine Art Geben und Nehmen? Das macht es doch erst erregend, oder?«

»Eine Anspannung, eine Gespanntheit. Großartig. Ich werde etwas aussuchen.«

»Ich werde lesen«, sagte sie. »Aber ich möchte nicht, dass du etwas aussuchst, worin Männer in Frauen vorkommen, Anführungszeichen, oder Männer, die in Frauen eindringen. ›Ich drang in sie ein.‹ ›Er drang in mich ein.‹ Wir sind doch kein Dschungel oder feindliches Territorium. ›Ich wollte ihn in mir haben‹, als könnte er vollständig hineinkriechen, ein Lagerfeuer anzünden, schlafen, essen und so weiter. Können wir uns darauf einigen? Mir ist egal, was diese Leute tun, solange sie nicht eindringen oder in sie eingedrungen wird.«

»Einverstanden.«

»›Ich drang in sie ein und begann zu stoßen.‹«

»Ich bin absolut einverstanden«, sagte ich.

»›Dring in mich ein, dring in mich ein, ja, ja!‹«

»Blöder Ausdruck, vollkommen richtig.«

»›Steck ihn rein, Rex. Ich will dich in mir, dring ein, fest, tief, ja, jetzt, oh.‹«

Ich merkte, wie sich eine Erektion regte. Wie dumm und unpassend. Babette lachte über ihre eigenen Worte. Der Fernseher sagte: »Bis Chirurgen in Florida ein künstliches Glied ansetzten.«

Babette und ich erzählen einander alles. Ich habe jeder meiner Ehefrauen alles erzählt, was jeweils zu ihrer Zeit los war. Es gibt natürlich immer mehr zu erzählen, je mehr die Ehen sich häufen. Wenn ich sage, dass ich an das sich völlig Preisgeben glaube, so meine ich das nicht billig, als anekdotischen Wettbewerb oder seichte Enthüllungen. Es ist eine Form der Selbsterneuerung und eine Geste vormundschaftlichen Vertrauens. Die Liebe hilft uns, eine Identität zu entwickeln, die so sicher ist, dass man sie in die Fürsorge und den Schutz eines anderen Menschen legen kann. Babette und ich haben unser Leben vor dem einfühlsamen Blick des anderen bloßgelegt, haben es im Mondlicht in unseren bleichen Händen gedreht und gewendet, bis tief in die Nacht über Väter und Mütter, Kindheit, Freundschaft, Momente des Erwachens, alte Lieben, alte Ängste (mit Ausnahme der Angst vor dem Tod) gesprochen. Kein Detail darf ausgelassen werden, auch nicht der Hund, der Zecken hatte, oder der Nachbarsjunge, der wegen einer Wette ein Insekt verspeiste. Der Geruch von Speisekammern, die Atmosphäre leerer Nachmittage, das Gefühl von Dingen, die über unsere Haut regneten, Dinge wie Tatsachen und Leidenschaften, die Empfindung von Schmerz, Verlust, Enttäuschung, atemlosem Entzücken. In diesen nächtlichen Abfragestunden schaffen wir Raum zwischen den Dingen, zwischen unseren damaligen Empfindungen und unserer heutigen Sicht. Dies ist der Zwischenraum, der für Ironie, Anteilnahme und liebevolles Belächeln reserviert ist, die Mittel, mit deren Hilfe wir uns vor der Vergangenheit retten.

Ich entschied mich für das zwanzigste Jahrhundert. Ich zog meinen Bademantel an und ging den Flur entlang zu Heinrichs Zimmer, um ein Aufgeilheftchen zu suchen, aus dem Babette vorlesen könnte, eins von der Sorte, die Leserbriefe mit detailliert beschriebenen Liebesabenteuern abdrucken. Mir ging auf, dass dies einer der wenigen Beiträge der modernen Erfindungskraft zur Geschichte der erotischen Praktiken ist. Die Fantasien wirken zweimal bei diesen Briefen: Jemand schreibt erfundene Episoden auf und findet sie dann in einer überregionalen Zeitschrift veröffentlicht wieder. Welches ist das stärkere Stimulans?

Wilder saß bei Heinrich im Zimmer und schaute ihm bei einem physikalischen Experiment mit Stahlkugeln und einer Salatschüssel zu. Heinrich hatte einen Frotteebademantel an, ein Handtuch um den Hals und ein weiteres Handtuch auf dem Kopf. Er riet mir, unten zu suchen.

In einem Stapel von Papieren fand ich einige Familienfotoalben, von denen eines oder zwei mindestens fünfzig Jahre alt waren. Ich nahm sie mit hinauf ins Schlafzimmer. Wir brachten Stunden damit zu, sie im Bett sitzend durchzusehen. Kinder, die in die Sonne blinzelten, Frauen mit Sonnenhüten, Männer, die ihre Augen vor dem gleißenden Licht schützten, als hätte die Vergangenheit eine Lichtqualität besessen, die wir nicht mehr kennen, ein Sonntagsleuchten, das Menschen in Kirchgangskleidern dazu brachte, die Gesichter zu straffen und sich im Winkel zur Zukunft aufzustellen, eine Spur abgewandt, wie es schien, mit einem fixierten und fein gezeichneten Lächeln, einen leisen Zweifel im Blick vor etwas im Wesen der einfachen Boxkamera.

Wer wird zuerst sterben?

8. Kapitel

Mein Kampf mit der deutschen Sprache begann Mitte Oktober und dauerte fast das ganze akademische Jahr an. Als prominenteste Persönlichkeit auf dem Gebiet der Hitlerforschung in Nordamerika hatte ich lange die Tatsache zu verheimlichen versucht, dass ich kein Deutsch konnte. Ich konnte es weder sprechen noch lesen, konnte kein gesprochenes Wort verstehen, geschweige denn auch nur den einfachsten Satz zu Papier bringen. Die geringsten meiner Hitlerkollegen konnten wenigstens ein paar Brocken Deutsch; andere sprachen es entweder fließend oder waren der Sprache doch einigermaßen mächtig. Niemand konnte im College-on-the-Hill Hitler im Hauptfach studieren, ohne mindestens ein Jahr Deutsch gelernt zu haben. Kurzum, ich vegetierte am Rande einer Landschaft unermesslicher Schmach dahin.

Die deutsche Sprache. Fleischig, verschroben, spuckesprühend mit einem Stich ins Violette gehend und grausam. Letztlich musste ich mich ihr doch stellen. War nicht Hitlers eigener Kampf, sich auf Deutsch auszudrücken, der entscheidende Hintergrund seiner klotzigen, schwadronierenden Autobiografie, die er in einem Festungsgefängnis in den bayrischen Bergen diktiert hatte? Grammatik und Syntax. Vielleicht hatte sich dieser Mensch auf mehr als nur eine Art eingesperrt gefühlt.

Ich hatte schon mehrere Versuche unternommen, Deutsch zu lernen, ernsthafte Vorstöße in die Ursprünge, Strukturen, Wurzeln. Ich spürte die tödliche Gewalt der Sprache. Ich wollte sie beherrschen, sie als Zauber benützen, als Schutzmechanismus. Je mehr ich davor zurückschreckte, konkrete Wörter, Regeln und Aussprache zu lernen, desto wichtiger schien es, voranzukommen. Was wir nur widerstrebend angehen, erweist sich oft als eben der Stoff, aus dem unsere Rettung ist. Doch schon die einfachsten Laute brachten mich zu Fall, die barsche, ruckende Nördlichkeit der Wörter und Silben, der Kommandoton. Zwischen meinem Zungenrücken und meinem Gaumen passierte etwas, das meine Versuche, deutsche Worte auszusprechen, zur Farce machte.

Ich war fest entschlossen, es noch einmal zu versuchen.

Da ich einen hohen professionellen Rang erreicht hatte, da meine Vorlesungen gut besucht waren und meine Artikel in den größeren Fachzeitschriften abgedruckt wurden, da ich Tag und Nacht, wann immer ich mich auf dem Campus befand, einen Talar und eine dunkle Brille trug, da ich dreihundertdreißig Pfund auf einem einsfünfundachtzig hohen Knochengerüst herumtrug und große Hände und Füße hatte, wusste ich, dass meine Deutschstunden geheim bleiben mussten.

Ich nahm Kontakt mit einem Mann auf, der nichts mit dem College zu tun hatte, jemand, auf den Murray Jay Siskind mich aufmerksam gemacht hatte. Sie wohnten beide in dem Haus mit den grünen Schindeln am Middlebrook. Der Mann war in den Fünfzigern, zog den Fuß leicht nach. Er hatte sich lichtendes Haar, ein unauffälliges Gesicht und trug die Ärmel seines Hemds bis zu den Unterarmen aufgekrempelt, sodass sie die darunterliegende Thermowäsche enthüllten.

Seine Gesichtsfarbe war von einem Ton, den ich als fleischfarben bezeichnen möchte. Howard Dunlop war sein Name. Er sagte, er sei früher einmal Chiropraktiker gewesen, nannte aber keinen Grund, warum er nicht mehr aktiv war, und erzählte auch nicht, wann er Deutsch gelernt hatte oder warum, und etwas in seiner Art hielt mich davon ab, zu fragen.

Wir saßen in seinem dunklen, vollgestellten Zimmer in der Pension. Ein Bügelbrett stand aufgeklappt am Fenster. Auf einer Kommode standen angestoßene Emailletöpfe, Tabletts voller Haushaltsgeräte. Das Mobiliar war nichtssagend, zusammengewürfelt. An den Zimmerwänden standen die elementaren Gegenstände, ein nackter Heizkörper, ein mit Armeedecken bedecktes Bett. Dunlop saß auf der Kante eines Stuhls mit gerader Lehne und intonierte allgemeine Prinzipien der Grammatik. Wenn er von Englisch zu Deutsch überwechselte, war es, als habe sich in seinem Kehlkopf ein Stimmband verdreht. Eine unvermittelte Gefühlswallung durchdrang dann seine Stimme, ein Kratzen und Gurgeln, das wie der aufgestachelte Ehrgeiz eines Tieres klang. Er riss den Mund auf und gestikulierte, er krächzte, er war dem Ersticken nahe. Laute erbrachen sich von seiner Zungenwurzel, harte, vor Leidenschaft feuchte Laute. Er demonstrierte nur bestimmte Aussprachemuster, aber die Veränderungen in seinem Gesicht und seiner Stimme ließen bei mir den Eindruck entstehen, dass er von einer Seinsebene in eine andere überwechselte.

Ich saß da und machte mir Notizen.

Die Stunde verging schnell. Dunlop rang sich ein karges Achselzucken ab, als ich ihn bat, mit niemandem über die Stunden zu sprechen. Mir fiel ein, dass er der Mann sein musste, den Murray in seinem Resümee über seine Mitmieter als denjenigen beschrieben hatte, der niemals sein Zimmer verließ.

Ich klopfte an Murrays Zimmertür und lud ihn ein, mit mir nach Hause zum Abendessen zu kommen. Er legte sein American Transvestite-Heft hin und schlüpfte in seine Cordjacke. Auf der Eingangsveranda blieben wir stehen, bis Murray den Hauswirt, der dort saß, über einen tropfenden Wasserhahn im Badezimmer im zweiten Stock informiert hatte. Der Hauswirt war ein fülliger, rosiger Mann von solch robuster und überschäumender Gesundheit, dass uns schien, er müsse noch unter unseren Augen einen Herzanfall erleiden.

»Er wird ihn schon reparieren«, sagte Murray, als wir uns zu Fuß in Richtung Elm Street aufmachten. »Irgendwann repariert er alles. Er kennt sich sehr gut aus mit all diesen Werkzeugen und Installationen und Vorrichtungen, von denen die Leute in Großstädten nicht einmal die Namen kennen. Die Namen dieser Gegenstände sind nur in entlegenen Gemeinden, Kleinstädten und ländlichen Gegenden bekannt. Zu schade, dass er so ein kleingeistiger Eiferer ist.«

»Woher wissen Sie, dass er ein kleingeistiger Eiferer ist?«

»Menschen, die Dinge reparieren können, sind in der Regel kleingeistige Eiferer.«

»Wie meinen Sie das?«

»Denken Sie doch an all die Leute, die jemals in Ihrem Haus etwas repariert haben. Das waren doch alles kleingeistige Eiferer oder nicht?«

»Ich weiß nicht.«

»Sie fuhren Kleinlieferwagen, nicht wahr, mit Schiebeleitern auf dem Dach und irgendeinem Plastikmaskottchen, das am Rückspiegel baumelte?«

»Ich weiß nicht, Murray.«

»Das ist doch sonnenklar«, sagte er.

Er fragte mich, warum ich mir gerade dieses Jahr ausgesucht hatte, um Deutsch zu lernen, nach so vielen Jahren erfolgreichen Durchmogelns. Ich erzählte ihm, dass für das nächste Frühjahr im College-on-the-Hill eine Hitler-Tagung geplant sei. Drei Tage lang Vorträge, Arbeitsgruppen und Podiumsdiskussionen. Mit Hitlerforschern aus siebzehn Staaten und neun Nationen. Sogar echte Deutsche würden anwesend sein.

 

Zu Hause versenkte Denise eine feuchte Tüte mit Müll in den Küchenkompressor. Sie schaltete den Apparat ein. Der Presskolben schlug mit einem entsetzlich ruckenden Geräusch, voll unheimlichen Gefühls nach unten. Kinder kamen in die Küche und gingen wieder hinaus, in der Spüle tropfte Wasser, die Waschmaschine wogte im Flur. Murray schien in das Netz von Hintergrundgeräuschen vertieft. Wimmerndes Metall, explodierende Flaschen, flach gepresstes Plastik. Denise lauschte aufmerksam und achtete darauf, dass das zerfetzende Getöse die richtigen Schallelemente enthielt, was bedeutete, dass die Maschine richtig funktionierte.

Heinrich sagte zu jemandem am Telefon: »Tiere begehen ständig Inzest. Wie kann er denn da unnatürlich sein?«