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Mara will ihrem Vater Bernhard endlich von ihren Heiratsplänen erzählen. Doch der Juwelier kehrt von seiner sonntäglichen Rafting-Tour nicht zurück. Hatte er einen Unfall? Mara und ihre Mutter Kamila beauftragen die Bamberger Privatdetektivin Katinka Palfy mit der Suche nach ihm. Bernhard hat in seinem Geschäftsleben ein ganzes Netz halblegaler Verbindungen gewebt, das bis in abgelegene Steuerparadiese reicht. Wurde er ermordet, oder handelt es sich bei seinem Verschwinden um einen gigantischen Versicherungsbetrug?
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Seitenzahl: 310
Veröffentlichungsjahr: 2019
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Friederike Schmöe
Angeschwärzt
Katinka Palfys 13. Fall
Unfall oder Mord? Ein heißer Bamberger Sommer: Privatdetektivin Katinka Palfy untersucht das Verschwinden von Bernhard Lechner, einem begüterten Juwelier mit Immobilieneigentum in bester Stadtlage. Doch bald kommen Katinka Zweifel: Hat der Geschäftsmann seinen Tod inszeniert, um die Versicherung zu prellen? Ein Erpresser fordert von der Familie 200.000 Euro, sonst würde öffentlich, dass Lechner Steuern hinterzog. Kann das stimmen? Die Ehefrau verneint es. Während eine antikapitalistische Gruppe Lechner vor aller Welt zu diffamieren beginnt, bröckelt die private Fassade: In Lechners Leben gibt es ein Geheimnis, das seine Tochter Mara nach langem Verdrängen endlich wahrzunehmen bereit ist. Ben, ihr Zukünftiger, versagt ihr allerdings seine Unterstützung. Und wer ist Schlangenauge, der geheimnisvolle Geschäftspartner Lechners, den niemand je zu Gesicht bekam? Schließlich wird auch Katinka im Netz verleumdet …
Geboren und aufgewachsen in Coburg, wurde Friederike Schmöe früh zur Büchernärrin – eine Leidenschaft, der die Universitätsdozentin heute beruflich nachgeht. In ihrer Schreibwerkstatt in der Weltkulturerbestadt Bamberg verfasst sie seit 2000 Kriminalromane und Kurzgeschichten, gibt Kreativitätskurse für Kinder und Erwachsene und veranstaltet Literaturevents, auf denen sie in Begleitung von Musikern aus ihren Werken liest. Ihr literarisches Universum umfasst u. a. die Krimireihen um die Bamberger Privatdetektivin Katinka Palfy und die Münchner Ghostwriterin Kea Laverde.
Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:
Kurbäder im Herzen Europas (2019, mit Petra und Carsten Steps), Drauß’ vom Walde (2018), Geisterflug (2018), Mörderische Prachtbäder (Hrsg. zus. mit Petra Steps) (2018), Oberfranken (2018), Kreidekreis (2018), Falsche Versprechen (2017), Dohlenhatz (2017), Die viel zu lange Lüge, E-Book only (2016), Von Zimtsternen und Zimtzicken (Hrsg.) (2016), Die Bernsteinburg, E-Book only (2016), Stille Nacht, grausige Nacht (2015), Kirchweihleichen (2015), Zuträger (2015), Ein Toter, der nicht sterben darf (2014), Wer mordet schon in Franken (2014), Schaurige Weihnacht überall (2013), Du bist fort und ich lebe (2013), Still und starr ruht der Tod (2012), Rosenfolter (2012), Lasst uns froh und grausig sein (2011), Wasdunkelbleibt (2011), Wernievergibt (2011), Süßer der Punsch nie tötet (2010), Wieweitdugehst (2010), Bisduvergisst (2010), Fliehganzleis (2009), Schweigfeinstill (2009),Spinnefeind (2008), Pfeilgift (2008), Januskopf (2007), Schockstarre (2007), Käfersterben (2006), Fratzenmond (2006), Kirchweihmord (2005), Maskenspiel (2005)
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
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Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2019
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © derjoachim / photocase.de
Druck: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in Germany
ISBN 978-3-8392-6176-7
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Dass eine Frau sich über ein außergewöhnliches Schmuckstück mehr freute als über ein besonders teures, musste er Bernhard erst beibringen. Er besaß diese Nase für Außergewöhnliches, das hatte Bernhard zugegeben. Obwohl man es ihm nicht ansah. Den Einkauf hatten sie daher gemeinsam gestaltet, in jenen Zeiten, bevor Bernhard meinte, er wäre etwas Besseres. Es gab Jahre, in denen hatten sie den Handel gerockt, und zwar mit Stil. Damals existierte in Bamberg kein Geschäft, das etwas Vergleichbares an Juwelierskunst geboten hätte. Erst recht hatte noch keiner vom Internet gehört, also blieb nur der Handel vor Ort oder in den Großstädten. Natürlich waren da Kunden, die es sich nicht nehmen ließen, am Wochenende nach München oder Stuttgart zu fahren, um in den einschlägigen Geschäften die noch extravaganteren, noch kostbareren Stücke zu erwerben, aber für eine Provinzstadt schlugen sie sich erstaunlich gut.
Auf die Kamee war er auf einer Messe in Bozen aufmerksam geworden. Bernhard war gegen die Reise nach Südtirol, was sollte dort schon Besonderes ausgestellt werden, doch er hatte seinen Chef – im Grunde waren sie Kumpel, aber gut, wenn Bernhard Wert auf Formalitäten legte, dann war er sein Chef – überzeugen können: Im Kleinen liegt das Exotische. Lass uns fahren.
Sie bereuten die Reise beide nicht. Wenngleich Bernhard, kaum dass ihm die Kamee gezeigt worden war, müde abwinkte. Kamee war out, genauso wie Gemme, das trug keine mehr. Die Frauen standen heutzutage auf Schmuck aus Edelstahl.
Er erinnerte sich noch genau, wie sich die Kanten des sich von dem Schmuckstein abhebenden Reliefs anfühlten. Kunstvoll herausgearbeitet der Feuerachat, er hatte später nie wieder so eine Arbeit gesehen. Das Motiv der Eidechse, aus der Vogelperspektive dargestellt, mit markanten vier Pfoten und einem langen Schwanz, der einmal um das ganze Tier herumführte, erinnerte an Zeichnungen, wie er sie von Indianerschmuck kannte. Selbstverständlich weigerte sich Bernhard, folkloristische Stücke ins Sortiment aufzunehmen, aber sei’s drum.
Die glänzenden Farben changierten zwischen Bernsteinbraun, Onyx, tiefem Grün, leuchtendem Orange und Gelb.
Als er Bernhard auf das Stück hinwies, grinste der amüsiert. »Was glaubst du wohl, wer so was in Bamberg kaufen soll?«
»Und wenn du es deiner Tochter schenkst?«
Der Spott in Bernhards Gesicht verflog. »Meinst du?«
Der Hintergedanke bei Geschenken an die weibliche Verwandtschaft war stets der gleiche: Die Damen standen öfter dekorativ im Geschäft herum, die Kundschaft achtete darauf, was der innere Zirkel trug – und wollte das gleiche.
Bernhard kaufte die Kamee und schenkte sie seiner Tochter.
Er, der Mann mit den Ideen, der sich stets im Hintergrund hielt, sah das Kleinod nie wieder. Bis … nun ja. Allerdings schlug er später in seiner Enzyklopädie nach. Unter »Feuerachat«. Und fand einen Hinweis auf eine Eidechse, »Schlangenauge« genannt, deren Halsfärbung in ähnlichen Tönen schimmerte wie das Mineral.
Seitdem nannte er sich Schlangenauge.
Sie kauert auf einer übelriechenden Matratze, den Rücken gegen eine rohe Wand gedrückt. Es ist dunkel und kalt, sie fröstelt. Das bisschen Licht, das unter der Tür durchscheint, reicht gerade aus, um die Matratze, die Wasserflasche, den Teller mit den Sandwiches und den Eimer ein klein wenig von der finsteren Umgebung abzuheben. Der Eimer.
Sie hat erbrochen. Kann das Wasser nicht trinken. Ihr ist schlecht, seit sie aufgewacht ist, und weil sie keine Uhr hat und sich nicht erinnern kann, wann sie hierher verschleppt wurde, fehlt ihr jegliches Zeitgefühl.
Ihr Kopf schmerzt. Sie trägt ihren Schlafanzug. Immer wieder tastet sie über die Knopfleiste am Dekolleté. Dort baumelt wieder die Kette mit dem Anhänger. Vertraut schmiegt er sich in ihre Finger.
Sie ist müde, so erschöpft, dass sie immer wieder einnickt, glücklich, für Minuten diesen Raum zu vergessen, das Ausgeliefertsein, die Unsicherheit. Warum hat er ihr den Anhänger zurückgegeben? Das Schmuckstück hat ihr kein Glück gebracht.
Der Brechreiz kommt unvermittelt, sie kriecht zum Eimer, würgt. Viel kommt nicht mehr.
Der Gestank bringt sie fast um.
Privatdetektivin Katinka Palfy schloss ihre Wohnungstür ab und spazierte gut gelaunt die Treppe hinunter. Als sie aus dem Haus trat, schlugen ihr die fröhlichen Klänge eines warmen Julitages entgegen. Ein Pärchen hatte sich in ihren Innenhof verlaufen und schoss ein Selfie mit den verlotterten Briefkästen im Hintergrund. Katinkas Stimmung sank um ein paar Grad.
»Morgen!«, grüßte sie.
Die beiden drehten sich um. Er mit Hipsterbart, sie bauchfrei.
»Sorry, mein Name auf meinem Briefkasten hat im Internet nichts zu suchen.«
Das Pärchen starrte Katinka tumb an.
»Do you speak English?«
Der Hipster legte den Arm um seine Liebste und führte sie eilig hinaus auf die Gasse.
Katinka seufzte.
»Frau Palfy, heute ausnahmsweise zu den üblichen Geschäftszeiten unterwegs?« Hinter Katinka materialisierte sich Dante Wischnewski. Der Reporter lebte seit geraumer Zeit als Mieter im obersten Stock ihrer Immobilie, die in ihrem momentanen Verrottungsstadium anscheinend allerhand Schaulustige anzog.
»Morgen, Wischnewski.«
»Was wollten denn die beiden Schnuckiputzis? Kaufinteressenten?«
»Nein, professionelle Selfisten.«
»Was ist das denn?« Er guckte ehrlich interessiert.
»War ein Scherz, Wischnewski. Die haben ein Selfie mit unseren Briefkästen geschossen.«
»Dagegen können Sie nichts machen, Frau Palfy, ehrlich. Oder wollen Sie ernsthaft jeden ersuchen, seine Bilder zu löschen, weil Ihr Briefkasten drauf sein könnte? An solche Restriktionen glauben nur Bürokraten.«
Katinka zwang sich zu einem Grinsen. Der Tag hatte vielversprechend angefangen, sie war nicht in der Stimmung, sich mit Lappalien abzugeben, auf die sie ohnehin keinen Einfluss hatte.
»Eben war ich noch bester Laune. Ich bin extra früh aufgestanden, um in der Detektei ein bisschen Papierkram wegzuschaffen. Sie wissen, das ist nicht gerade meine Lieblingsbeschäftigung.«
»Klar, Sie schlagen sich ja lieber die Nächte mit Beschattungen um die Ohren.«
»Wenn Sie auf meinen letzten Fall anspielen …«
»Der hat Ihnen sicher eine Menge Zaster eingebracht, wie?« Dante hatte sogar für die Zeitung eine kleine Meldung aus Katinkas Erfolg gebastelt. Einem Sammler war eine 400 Jahre alte Madonnenfigur geraubt worden; Katinka hatte sie wiederbeschafft. Der Raub war nicht sehr spektakulär verlaufen, der Sammler hatte erst am folgenden Morgen bemerkt, dass ihm die Figur fehlte. Der Räuber selbst erwies sich allerdings nicht als super-smart, er hatte nämlich den ebenfalls recht wertvollen und passgenauen Sockel an Ort und Stelle zurückgelassen. Katinka war sicher: Er würde zurückkommen, um sich dieses Teil auch noch unter den Nagel zu reißen. Allerdings musste sie sich geschlagene sechs Nächte auf die Lauer legen, um den Knaben zu erwischen. Wenn sie ehrlich war, fühlte sie sich immer noch müde.
»Ich bin zufrieden. Finanziell und auch rundum.« Katinka lächelte. Immerhin war vom Sommer noch genug übrig, um heute Abend ein paar Runden in der Regnitz zu schwimmen.
»Wie wäre es, wenn Sie einen Teil der Einnahmen in Ihre Immobilie investieren?«
Katinka blickte an der Fassade des Hauses hoch. Neue Fenster wären vor dem Winter das Mindeste. Außerdem könnte mal neu verputzt werden. Sie seufzte. Allein die Fenster würden ein Riesenloch in ihr Budget reißen. Abgesehen davon, dass man derzeit ohnehin keine Handwerker bekam.
»Ehrlich gesagt, manchmal trage ich mich mit dem Gedanken, zu verkaufen.«
»Was? Im Ernst?« Dante sah ehrlich bestürzt aus. »Das können Sie nicht machen! Ich habe so viel Herzblut und Geld in die Wohnung gesteckt, wenn Sie jetzt verkaufen und der nächste Eigentümer entscheidet sich für eine Generalsanierung …«
»Keine Panik. Im Moment rühre ich keinen Finger in dieser Hinsicht.« Sie setzte sich in Bewegung. Dante folgte ihr bis in den Durchgang zur kopfsteingepflasterten Concordiastraße. Eine Schwalbe umtanzte den efeuberankten Torbogen.
»Sehen Sie? Die Schwalben mögen es hier.« Tatsächlich hatten die schwarz-weißen Flugkünstler in diesem Frühjahr zum ersten Mal ihre Nester an die Außenfassade geklebt. »Spricht für den Umweltfaktor. Man kann mit gutem Gewissen sagen, dass Ihr Haus das naturbelassenste in der Straße ist.« Dante stellte seinen Rucksack ab. »Und der Wettbewerb ist wahrlich nicht leicht zu gewinnen. Also, Sie warnen mich vor, wenn Sie verkaufen wollen, vielleicht lassen Sie mich mitbieten.«
»Vergessen Sie’s. War ein Witz. Wirklich.«
Dante sah sie fragend an, während sie ihr Fahrrad aus dem Pulk von Drahteseln zerrte, die allesamt den in ihrer Erdgeschosswohnung eingemieteten Studenten gehörten. Und deren Gästen.
»Frau Palfy, sollen wir gelegentlich auf ein Bier? Auf den Keller? Wer weiß, wie lange das Wetter hält!«
»Machen wir!« Katinka winkte und holperte über das Kopfsteinpflaster davon, wobei sie einen mit Kameras behängten Mann umkurvte, der gerade mit einem Riesenobjektiv das Wasserschloss Concordia am unteren Ende der Gasse ins Visier nahm.
Manchmal kam sie sich vor, als lebte sie im Museum. Die Stadt Bamberg selbst war nichts anderes mehr, jedenfalls an den neuralgischen Punkten in der Innenstadt, fand Katinka. Touristen in Gruppen, Herden und Rotten, wohin man sah. Sie blockierten Gehsteige und Radwege, überrannten die besten Cafés und vertrieben die Bewohner von deren angestammten Lieblingsplätzen oder gleich in den Bamberger Osten, den manch alteingesessener Bürger im Weltkulturerbe schon gar nicht mehr als zur Stadt gehörig empfand. Dort schien man jedenfalls noch wohnen zu können, ohne von Leuten heimgesucht zu werden, die auf der Jagd nach dem romantischsten Foto waren, das das UNESCO-Welterbe ihnen liefern konnte. Es kam Katinka nach so vielen Jahren immer noch als Privileg vor, in einer Stadt zu leben, die mit den normalen deutschen Nachkriegsstadtbildern nichts gemein hatte. Alles stimmte hier. Es gab keine dramatischen Bausünden, und die wenigen, die es nach Bamberg geschafft hatten, konnte man sich wegdenken. Kaum Höllenkonstruktionen, die aus neurotischen Architektenhirnen hervorgegangen waren. Das Stadtbild war gewachsen, weitgehend, nur der Verkehr, vor allem die dröhnenden Stadtbusse, und die Reisebusse mit den Touristen an Bord machten einem mitunter das Leben schwer. Katinka lebte im Herzen der Altstadt, direkt am Fluss, was einer etwas eigenwilligen Fauna in ihrer unmittelbaren Nähe Vorschub leistete, aber sie fand das ganz charmant.
Zur Detektei, die auf der anderen Flussseite lag, radelte sie über Umwege, mit der Absicht, den größten Menschentrauben auszuweichen. Dafür musste sie ein paar steile Anhöhen überwinden, um schließlich den Abtsberg wieder hinunterzurollen und dann bei der Konzerthalle die Regnitz zu überqueren. An den Masten auf dem Platz davor schlugen die Fahnen im Wind. Ein Mann ordnete die Konzertankündigungen im Schaukasten neu an. Sie radelte die Weide entlang und flitzte bei Dunkelgelb in die Kapuzinerstraße. Als sie knapp vor einem Taxi, dessen Fahrer hupend seinem Unmut Luft machte, in die Hasengasse schoss, klebte ihr das Shirt vor Schweiß am Körper.
Zu beschäftigt damit, das Rad diebstahlsicher abzusperren, bemerkte sie die beiden Frauen nicht, die langsam vom oberen Ende der schmalen Gasse auf sie zukamen.
»Frau Palfy?«
Sie hatte hunderte von Malen, wenn nicht öfter, ihren Namen in diesem typischen Tonfall ausgesprochen gehört. Fragend, vorsichtig, schüchtern und fest entschlossen, zu gleichen Teilen. Sie brauchte nicht aufschauen, um zu wissen, dass sie zwei neue Klientinnen vor sich hatte. Katinka unterdrückte ein Seufzen. Zu gerne hätte sie ein paar Tage lang das gute Wetter genossen. Womöglich lag Wischnewski nicht falsch. Am 22. Juli blieb nicht mehr allzu viel vom warmen Glück übrig. So wenig sie das auch wahrhaben wollte.
»Grüß Gott.« Katinka richtete sich auf.
»Wir«, begann die Jüngere. Beide trugen sie dunkle Kostüme, trotz der Wärme, und Sonnenbrillen. Sie hatten die gleiche Figur, waren ausgesprochen schlank, die Ältere wirkte hager, und auch ohne, dass die beiden ihre Brillen abnahmen, erkannte Katinka, dass es sich um Mutter und Tochter handeln musste. Sogar die Haarfarbe war gleich; die Locken der Tochter wirbelten kinnlang um ihr Gesicht, silberne Ohrstecker blitzten auf. Die Mutter trug einen strengen Kurzhaarschnitt. Ein teurer Friseurbesuch lag vermutlich nicht lange zurück. »Also, ich meine, Sie sind doch die Detektivin?«
»Kommen Sie rein.« Katinka schloss die Detektei auf, erleichtert darüber, dass sie in der letzten Zeit selten hier gewesen und daher kein großes Chaos angerichtet hatte. Nur die Papierstapel auf ihrem Schreibtisch wiesen darauf hin, dass ein paar Angelegenheiten abgearbeitet werden wollten.
»Bitte.« Auf die Besuchersessel deutend, verdrückte sich Katinka in ihr Hinterzimmer. »Entschuldigen Sie mich einen Moment.«
Sie warf ihren Rucksack auf den einzigen Stuhl, der in der vollgestopften Kammer Platz gefunden hatte, checkte das Faxgerät, das seit Monaten nichts mehr ausgespuckt hatte, sie könnte das Ding eigentlich entsorgen, und nahm sich eine Flasche Franken Brunnen aus dem Kühlschrank. Gierig trinkend wischte sie sich den Schweiß von der Stirn. An dem winzigen Waschbecken neben der Toilette brachte sie ihre schweißnassen, kurzen Strähnen in Ordnung. Mittlerweile schlich sich das eine oder andere silberfarbene Haar in ihren Schopf. Hatte Dante nicht neulich so einen Spruch ausgespuckt? »Wir müssen alle in den sauren Apfel beißen?« Oder so ähnlich? Typisch Dante, der hätte ein paar graue Haare wahrscheinlich als Luxusproblem empfunden, schließlich war er bis auf einen hauchfeinen Flaum völlig kahl.
Mit halbem Ohr hörte sie, wie die beiden Frauen sich vorne leise unterhielten. Soll ich ihnen sagen, ich bin ausgebucht?, überlegte Katinka, während sie sich mit dem Handtuch das Gesicht trockenrieb. Den Papierwust in die blaue Tonne schmeißen und schwimmen gehen?
Ihre Fälle hatten sich seit Pfingsten in schneller Folge abgewechselt, sie war kaum zum Denken gekommen. Gut für die Kasse, aber vom Sommer hatte sie noch nicht allzu viel gehabt. Katinka hexte ein Lächeln auf ihr Gesicht, bevor sie wieder nach vorn ging.
»Darf ich Ihnen was anbieten? Kaffee vielleicht?«
»Danke, nein«, antworteten beide unisono. Sie trugen immer noch die Sonnenbrillen.
»Was Kaltes dann?«
»Auch nicht, vielen Dank«, sagte die Jüngere. »Ich bin Mara Lechner. Meine Mutter, Kamila. Wir vermissen meinen Vater.«
Katinka betrachtete kurz die dunklen Kostüme der beiden Frauen. Vorgezogene Trauerkleidung?
»Möchten Sie von vorn anfangen?« Sie griff nach einem Notizblock und kramte aus dem Sammelsurium an Killefit auf dem Schreibtisch einen Kuli hervor.
»Es geht um Bernhard Lechner. Meinen Vater, wie gesagt. Wir vermissen ihn seit über einer Woche. Die Polizei konnte uns bisher nicht helfen, deshalb …«
»Mein Mann geht ab und zu zum Rafting ins Fichtelgebirge. Wir haben eine kleine Jagdhütte dort.« Kamila Lechner senkte die Stimme, kämpfte mit ihren Gefühlen. Was für ein Akzent ist das?, grübelte Katinka. Die Frau sprach beinahe perfektes Deutsch, nur das »l« klang anders, weicher. Tschechisch, dachte Katinka. Ihre Muttersprache könnte Tschechisch sein. Frau Lechner nahm die Brille ab. Rote, geschwollene Augen.
Mara sprang ein. »Am 13. morgens fuhr er los, am 14. abends sollte er zurückkommen. Das war gestern vor einer Woche. Seither fehlt jede Spur von ihm, und er hat sich nicht bei uns gemeldet.« Sie scrollte über ihr Telefon. »Hier. Das ist ein aktuelles Foto von ihm.«
Katinka besah sich den Mann mit dem gebräunten Gesicht und dem mustergültigen Lachen. Akkurat gescheiteltes, weißblondes Haar. Perfekter Krawattenknoten. Sie schob ihre Handynummer über den Tisch. »Schicken Sie mir das bitte!«
Mara wischte auf dem Smartphone herum. »Die Polizei hat das Gelände abgesucht. Sein Wagen ist weg, das Floß unauffindbar und er selbst auch.«
»Floß?«
»Sein Rafting-Floß.«
»Aha.« Katinka schrieb »Wagen, Floß, Mann« auf ihren Block. Ihr Handy gab Laut. Das Foto war da. »Spurenlage?«
»Im Haus stand sein Rucksack, er hatte nicht viel dabei, nur Proviant hatte er von daheim mitgenommen. Und etwas Bargeld.«
»Ausweis? Kreditkarten?«
»Hatte er alle zu Hause gelassen«, sagte Mara schnell. »Die Polizei macht uns nicht viele Hoffnungen. Dummerweise haben wir noch ein anderes Problem.«
»Nämlich?«
Kamila beugte sich vor. »Wir müssen sicher sein, dass Sie diskret mit der Sache umgehen.«
»Sie haben mit der Polizei nicht über dieses spezielle Problem gesprochen?«
»Wir … sind uns nicht sicher, weil … die Lage ist eben … besonders.« Auch Mara nahm nun die Sonnenbrille ab.
Verblüfft sah Katinka zwischen den beiden Frauen hin und her. Die Tochter war der Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten. Wie ein jüngerer Zwilling.
»Wir werden erpresst.« Mara legte die Brille auf Katinkas Schreibtisch. Unter ihren Augen hatten sich tiefe Schatten breitgemacht. Es schien, als würde sie mit jeder Minute, die das Gespräch dauerte, altern.
»Ach du Schande.«
»Angeblich hat mein Vater Schwarzgeld in einem Steuerparadies geparkt. Der Erpresser will davon Wind bekommen haben. Und er fordert Geld von uns. Viel Geld.«
Katinka lehnte sich zurück.
»Ist das wahr? Hat Ihr Mann, Ihr Vater Geld in ein Steuerparadies verfrachtet?«
»Wir wissen es nicht.« Kamila Lechner. In ihrem warmen, kuscheligen Akzent.
»Wirklich nicht?«
»Nein. Wir lügen Sie nicht an, Frau Palfy.«
»Sie brauchen nicht zu fürchten, dass ich beim Finanzamt anrufe. Aber ein verschwundener Ehemann und Vater zeitgleich mit einer Erpressung, das ist ziemlich haarig. Hat der Erpresser Ihnen zu verstehen gegeben, dass er es mit derselben Masche vorher schon bei Herrn Lechner versucht hat?«
Die beiden Frauen nickten unisono.
»Und?«
»Bernhard hat uns nichts davon gesagt. Er benahm sich wie immer. Wirkte weder nervös noch irgendwie belastet. Nicht wie jemand, der unter Druck gesetzt wird, eine halbe Million zu berappen«, sagte Kamila.
Mara ergänzte: »Er sollte bis Sonntagabend zahlen. Hat er aber offenbar nicht.«
Katinka legte sich blitzschnell den möglichen Zeitplan des Erpressers zurecht. Als der kein Geld bekam, richtete er seine Geheimwaffe auf Frau und Tochter. Bernhard Lechner hatte entweder nichts springen lassen wollen oder war vorher verschwunden. Oder Opfer eines Unfalls geworden.
»Haben Sie nach Unterlagen gesucht, die die Geschichte glaubhaft machen?«
»Haben wir.« Mara nickte eilfertig. »Uns ist nicht ein Schnipsel in die Finger gefallen, der auf Steuerhinterziehung hinweist.«
»Was ist Herr Lechner denn von Beruf?«
»Unserer Familie gehört das Juweliergeschäft am Obstmarkt. Das in dem neu renovierten Altbau.«
Wow! Eine Immobilie erster Güte. Allein die Sanierung musste Millionen gekostet haben! Beim Tag des offenen Denkmals vor einem Jahr hatte Katinka sich das Bauwerk angesehen. Die Lage war 1 A, insbesondere bei dem Aufgebot an Touristen, die täglich an genau dieser Stelle der Stadt vorbeischlenderten. Restauriert hatte man erstklassig. Hochwertiger ging es nicht.
»Das Gebäude ist doch erst vor einem Jahr fertig geworden.«
»Zuvor betrieben wir das Geschäft in der Langen Straße. Leider ist die Umgebung dort so schäbig geworden.« Kamila.
Katinka schickte ihre Gedanken auf die Reise. Ein Juwelier, der sein Geschäft an einen lukrativeren Ort und in ein besseres Haus verlegte, hievte sich Schulden noch und nöcher auf die Schultern. Ein Juwelier verkaufte vielleicht mal etwas unter der Hand. Eine Chance, Schwarzgeld einzunehmen und zu verschieben, wohin auch immer. Die Steuerzahlungen waren wegen der hohen Schulden auf dem Geschäft natürlich überschaubar.
»Rechnen Sie damit, dass der Erpresser recht haben könnte?«
Mara blickte rasch zu ihrer Mutter, bevor sie antwortete: »Eventuell wäre es möglich. Man meint ja immer, man kennt einen Menschen, bis man eines besseren belehrt wird. Andererseits hat mein Vater sich nie auch nur ansatzweise geäußert, dass er Geld an der Steuer vorbei irgendwo versteckt. Er hat nicht einmal über die Steuervorauszahlungen gemeckert. Ihn hat eigentlich immer nur der Besprechungstermin beim Steuerberater genervt.«
»Ist Ihr Mann, Ihr Vater mal verreist? Falls er Geld beiseite geschafft hat, könnte er das selbst gemacht haben? Mit Barem im Aktenkoffer?«
»Schwer vorstellbar.« Mara schüttelte ehrlich ratlos den Kopf. »Uns ist nichts aufgefallen. Oder?«
Ihre Mutter zuckte die Achseln. »Nein. Ob dieser Erpresser Bernhard etwas angetan hat?«
»Das wäre unwahrscheinlich«, gab Katinka zu bedenken. »Denn wenn er darauf aus ist, Ihrem Mann Geld aus dem Kreuz zu leiern, braucht er ihn bei guter Gesundheit. Hat der Erpresser mittlerweile den Preis erhöht?«
»Er will nach wie vor 500.000 Euro. Die wir nicht haben.«
»Welchen Zeitrahmen hat er genannt?«
»Fünf Tage.«
»Gerechnet von …?«
»Vor drei Tagen hat er sich gemeldet.«
»Also ist es am Mittwoch so weit … Wie hat er Kontakt aufgenommen?«
»Er hat angerufen. Die Rufnummer war unterdrückt.«
»Der Polizei haben Sie nichts davon gesagt?«
»Wenn wir das tun, wird sofort in Bernhards Leben herumgeschnüffelt!«, fuhr Kamila auf.
»Wäre es eine Option, dass Ihr Mann hier alles stehen und liegen ließ, weil er ahnt, dass die Steuerfahndung ihm längst auf den Fersen ist?«
»Das würde er nicht tun«, widersprach Mara. Kamila schüttelte bestätigend den Kopf.
»Gesetzt den Fall, Sie treiben das Geld auf: Wie können Sie sicher sein, dass dieser Unbekannte wirklich etwas gegen Bernhard Lechner in der Hand hat? Vielleicht blufft er nur.«
Die beiden Frauen verspannten sich. Mara betrachtete ihre Hände, Kamila verschränkte die Arme, scharrte mit den Füßen. Katinka wartete.
»Wenn solche Dinge öffentlich werden, dann bleibt immer etwas hängen. Wird das nicht auf die ganze Familie zurückfallen?«, fragte Kamila. »Vielleicht lässt sich der Preis drücken.«
»Sie brauchen einen Beleg, dass der Mann Beweise hat. Das ist das Mindeste.«
»Und wie machen wir das?«
»Lassen Sie mir einen Tag Zeit. Ich überlege mir eine Strategie.«
»Vielleicht«, sagte Mara, »möchten Sie morgen mit uns zur Jagdhütte fahren? Eventuell fällt Ihnen etwas auf, was die Polizei vernachlässigt hat.«
»In Ordnung«, stimmte Katinka zu. »Kommen wir noch kurz zum Geschäftlichen.«
Bis morgen wüsste sie hoffentlich Rat.
»Verreist du?« Katinka hätte nicht erstaunter sein können, wenn ihr Lebensgefährte, Hauptkommissar Harduin Uttenreuther, im Raumanzug vor ihr gestanden hätte. Stattdessen drehte er sich mitten im Schlafzimmer einmal um die eigene Achse, warf schließlich sein Rasierzeug in den Handkoffer und schlug den Deckel zu.
»Leider.« Er küsste sie kurz zur Begrüßung.
»Kann das möglich sein?«
Er packte sie bei den Schultern. Sein massiger Körper löste immer noch wohliges Prickeln zwischen ihren Schulterblättern aus. Eine wunderbare Idee, dachte sie, sich zwei Wohnungen zu gönnen. Da bleibt Raum fürs Romantische, selbst wenn die Wohnungen im selben Haus und sogar einander gegenüber auf demselben Stockwerk liegen.
»LKA.«
»Moment. Die brauchen dich?«
»Ist das so seltsam?« Er lachte auf. »Ich nehme den Zug. Muss mich beeilen.«
Katinka starrte ihn verdattert an. Soweit sie wusste, hatte Hardo noch nie ein anderes Verkehrsmittel als seinen PKW genutzt. Allenfalls ein Dienstfahrzeug. Wahrscheinlich hatte er nicht einmal den leisesten Schimmer, wie er zum Bahnsteig finden sollte. Schade, sie hätte gern mit ihm über ihre neuen Klientinnen gesprochen. Und über das spezielle Problem, von dem die Polizei noch nichts wusste.
»Ehrlich gesagt …«, begann sie.
»Du vertraust mir nicht.« Er ließ sie los und griff sich den Koffer.
»Quatschkopf. Natürlich. Nur …«
»Schulung.«
»Worum geht’s?«
»Das ist vertraulich!«
Katinka sah ihn verdattert an. »Vertraulich?« Dann konnte es wohl nur eins sein. Terror, Islamismus, Einwandererkriminalität. Wann immer diese Themen auf den Tisch kamen, brach irgendwem bei den bayerischen Behörden des Inneren der Schweiß aus. Hardo berichtete oft genug von den Memos, die die inneramtliche Dienstpost ihm und seinen Kollegen auf die Schreibtische spie. Sobald irgendwo ein Briefkasten von der Wand fiel oder ein Paket von einem Anhänger kullerte, witterte man in den Amtsstuben den nächsten Terroranschlag.
»Wann kommst du wieder?«
»Übermorgen, wenn alles glattgeht. Ade!« Er war schon zur Tür draußen.
Katinka tappte in ihre Wohnung. Apropos Briefkästen … Ob sie die rostigen Behälter in ihrem Durchgang nicht ersetzen sollte? Andererseits hatte sich bisher kein Mieter beschwert. Die Studenten mochten den morbiden Charme ihrer Bleibe, Dante war zu emsig mit anderen Dingen beschäftigt, um Renovierungsarbeiten überhaupt zu bemerken, selbst wenn er das Gegenteil behauptete, und Hardo vertrat die Meinung, dass ein Zuviel an Chique nur ungebetene Gäste anlockte. Eigenartig, mit welcher Eile er aufgebrochen war.
Unentschlossen öffnete Katinka sämtliche Fenster. In der Wohnung roch es abgestanden und nach Müll. Sie zerrte die Abfalltüte aus dem Eimer, schnürte sie zu und stellte sie vor die Wohnungstür. Sie würde sie nachher mit hinunternehmen. Eine Stunde Schwimmen im Fluss wäre jetzt genau das Richtige. Doch zuvor wollte sie noch bei der Kripo in Hof anrufen, die unter der Leitung von Hauptkommissarin – und Katinkas guter Bekannter – Petronella Kallweit die Spuren in Bernhard Lechners Jagdhütte aufgenommen hatte.
Die Kallweit konnte ihr ein ungefähres Bild der Lage vermitteln, wobei sie sich natürlich ausschließlich auf Lechners Verschwinden konzentrierte. Was in Sachen Erpressung zu geschehen hatte, musste Katinka noch durchdenken.
Bernhard Lechner war am 13. Juli frühmorgens in die Jagdhütte im Fichtelgebirge gefahren, um raften zu gehen. Laut Kallweit fanden sich außerdem Langlaufski, ein Rodelschlitten, Wanderstiefel und -stöcke und andere Sportausrüstung in der Hütte. Wie seine Tochter geschildert hatte, gab es jedoch kein Portemonnaie, keine Kreditkarte. Sein Wagen war unauffindbar, die Polizei hielt weiterhin Ausschau nach Lechners SUV. Das Raftingfloß: nicht in der Jagdhütte.
»Könnte er einen Unfall gehabt haben?«, fragte Katinka.
»Möglich wäre das, er hat sich laut Ehefrau gern im Höllental aufgehalten, und da geht es wild zu, wie der Name suggeriert. Wir haben eine Rettungsweste in der Jagdhütte gefunden, womöglich hatte er also keine angelegt und ist ertrunken. Er kann sich auch den Kopf verletzt haben, Rafting ist eine riskante Sache, vor allem, wenn man allein unterwegs ist.«
»Möglich, dass er zwei Westen hat.«
»Klar, kann sein, wir stochern im Trüben herum, Frau Palfy. Allerdings stand auf dem Tisch in der Hütte eine Tasse mit Instantkaffee, voll bis zum Rand. Die hat er entweder vergessen zu trinken, oder sein Aufbruch war übereilt. Sein Handy«, die Kallweit tippte auf einer Tastatur herum, »haben wir geortet. Es lag unweit vom Haus. Er muss es verloren haben.«
»Letzter Anruf?«
»Am Abend zuvor bei seiner Frau. Während seines Aufenthalts im Fichtelgebirge hat er nur mit seiner Frau telefoniert. Zum ersten Mal, als er Samstagmittag dort ankam, und am Abend um halb elf. Deckt sich mit Kamila Lechners Aussage. Ansonsten unauffällig.«
»Seine Tochter und seine Frau behaupten, dass die Polizei nicht genug tut.«
»Dann halten Sie sich ran, vielleicht kriegen Sie mehr gebacken als wir.« Die Kallweit lachte leise. »Lechner ist ein Dickfisch, Frau Palfy! Der muss richtig Geld haben. Die Damen werden schon was springen lassen, wenn Sie den Ernährer wiederfinden!«
»Tz«, machte Katinka im Stillen, bevor sie nachhakte:
»Gibt es irgendeine Schweinerei in Lechners Register?«
»Eine Anzeige wegen sexueller Belästigung, die fallen gelassen wurde.«
»Von wem?«
»Einer Mitarbeiterin. Ist drei Jahre her. Er selbst wurde außerdem beraubt. Auch vor ungefähr drei Jahren. Er sollte auf einer Mineralienmesse in München Edelsteine zeigen, im Wert von mehreren Hunderttausenden. Sie wurden ihm entwendet, als er im Hotel beim Frühstück war.«
»Hat er diese Steine einfach in seinem Zimmer stehen lassen?«
»In einem Stahlkoffer. Angekettet an die Heizung. Die Diebe müssen ruckzuck mit dem Spezialschloss fertiggeworden sein. Die Versicherung hat sich geziert, aber dann doch gezahlt.«
»Ist seine Frau berufstätig?«
»Offiziell ist sie in seinem Geschäft angestellt. Die Tochter hat erst vor zwei Monaten ihr BWL-Studium in Konstanz beendet und lebt seitdem wieder in Bamberg.«
»Bei den Eltern?«
»Exakt.«
»Sonst irgendwelche Spuren bei dem Ferienhaus?«
»Nicht die Bohne! Am Abend von Lechners Verschwinden ging da oben ein Wolkenbruch nieder. Sollte es eine Entführung oder was auch immer gegeben haben, die Spuren sind für immer kalt. Nicht mal seine Reifenspuren kann man mehr ausmachen, und so ein SUV hinterlässt durchaus ein paar Furchen im Boden.«
»Denken Sie an Kidnapping?«
»Es gibt keine Lösegeldforderung. Entweder ist der Mann freiwillig abgetaucht, oder es hat einen tragischen Unfall gegeben.«
»Freiwillig abgetaucht würde wohl Versicherungsbetrug bedeuten.«
»Wenn seine Frau beispielsweise darauf bestünde, ihn für tot zu erklären, damit sie an eine fette Versicherungssumme kommt, dann würde ich mich auf diese Annahme stürzen. Noch aber gibt es auf Betrug keine echten Hinweise. Wir konzentrieren uns auf die Unfalltheorie.«
Katinka hatte das Gespräch beendet, nicht ohne sich artig zu bedanken, was bei Petronella Kallweit ein leises Schnauben hervorrief, das ein Lachen sein konnte – oder Ironie.
Mara Lechner hatte also am Bodensee studiert. Eine weite Fahrt, zu weit, um jedes Wochenende nach Hause zu fahren. Falls eine Studentin das überhaupt wollte. Außerdem, in der Prüfungszeit blieb dafür kein Freiraum. Also hätte sie wohl kaum mitbekommen, wenn ihr Vater ein paar ungewöhnliche Reisen in eine als Steuerparadies bekannte Gegend unternahm. Katinka rief sich die Adresse der Lechners in Erinnerung. Berggebiet, na, da passten sie hin.
Während sie ihre Schwimmsachen zusammensuchte, kreisten Katinkas Gedanken um die Tasse mit Kaffee in Lechners Jagdhütte. Ein schöner Sommermorgen. Lechner hatte seine Ausrüstung zusammengepackt, das Auto beladen. Wollte noch einen Kaffee trinken. Was könnte ihn dazu bewegt haben, die Tasse stehen zu lassen und einfach so loszuziehen? Raften war kräftezehrend. Ein Sport, für den die Food-Industrie Proteinriegel erfunden hatte. Und war Lechner nicht nervös? Immerhin erpresste ihn jemand um eine halbe Million. Das bedeutet einen mentalen Ausnahmezustand!
Sie schrieb Hardo eine Message: »Alles klar im Zug?«
»Melde mich später.«
»Okay«, tippte Katinka und legte ihr Handy weg. In Gedanken kehrte sie zur Jagdhütte zurück.
Sollte Lechner ganz woanders raften gegangen sein? Nicht im Höllental? Sondern zum Beispiel in Böhmen? Oder wenn er weiter weggefahren war? Er konnte ausreichend Bargeld dabeihaben und eine zusätzliche Kreditkarte besitzen, von der die Ehefrau nichts wusste. Katinka zweifelte nicht an Kallweits Angaben, dass die Polizei an den Zustiegsstellen zu den diversen Wildwassern erfolglos nach dem SUV gesucht hatte. Womöglich tat sich da noch etwas in den nächsten Tagen.
Morgen jedenfalls würde sie mit Mara und Kamila Lechner zur Jagdhütte fahren, um sich selbst ein Bild zu machen. Ein Sommerausflug ins kühle Fichtelgebirge. Das Beste, was sie an einem heißen Julitag machen konnte.
Sie schnappte sich ihren Rucksack und verließ die Wohnung.
Katinka steuerte ihren »Italiener«, einen zweitürigen Kleinwagen, über die Autobahn. Sie fuhr ungern als Passagier mit Klienten mit. Und da Mara ohne ihre Mutter gekommen war, war mehr als genug Platz in dem Gefährt.
»Ihre Mutter wollte nicht mitfahren?«
»Sie wird im Geschäft gebraucht.« Mara rückte die Sonnenbrille gerade. Sie trug dunkle, weite Hosen, Sandalen und ein ärmelloses Top. Viel Wert auf Schmuck schien sie nicht zu legen. Nur in ihren Ohrläppchen glitzerten zwei silberne Stecker. »Was für eine Hitze.«
»Im Radio haben sie gesagt, es wird richtige Hundstage geben.«
»Und dann einen Kälteeinbruch. Ist meistens so in diesen Breiten.«
»Wäre nicht unüblich, das stimmt. Ihre Mutter kommt aus Tschechien, oder?«
»Sie haben gute Ohren.«
»Sie spricht super Deutsch.«
»Mein Vater hat sie rausgeheiratet aus der ČSSR.«
»Wann war das?«
»1986. Da war meine Mutter 20.«
»Wow.«
»Tja. Heiße Zeiten. Sie hat mich auf Tschechisch erzogen. Eine Zeitlang wollte ich die Sprache mit ihr nicht mehr sprechen. Sie redete tschechisch mit mir, ich antwortete auf Deutsch. Pubertät eben. Mein Glück war, dass wir um diese Zeit längst hin und her reisen konnten, rüber nach Böhmen, und die Verwandten kamen uns besuchen. Dadurch musste ich Tschechisch sprechen, allein um mit Oma und Opa kommunizieren zu können.«
Katinka blickte träumerisch auf die tiefgrünen Wälder rechts und links der Autobahn. Die Landschaft wurde bergiger und steiler. »Das klingt toll.«
»Für mich war es super, doch mein Vater war kein Freund von Verwandtenbesuchen. Wann immer Mutters Leute bei uns einfielen, zog er frühmorgens ins Geschäft ab und kam so spät wie möglich zurück. Aber meine Eltern führen eine glückliche Ehe. Denken Sie nichts Falsches!« Mara lachte.
Katinka beschloss, erst später nach Bernhard Lechners Lebenswandel zu fragen, vor allem nach der Anzeige wegen sexueller Belästigung. Und nach dem Raub. Lieber zunächst eine Beziehungsebene zu ihrer Klientin aufbauen. Aus den Augenwinkeln sah Katinka den Verlobungsring an Maras linkem Ringfinger. Ein nettes Detail. Auch etwas für später.
»Wissen Sie, ich habe hin und her überlegt«, sagte Mara. »Könnte mein Vater abgehauen sein, uns im Stich gelassen haben?«
»Und? Könnte er?«
»Nein. Würde er nie tun. Er hat uns zu gern unter Kontrolle.« Mara lachte wieder, als sei ihr eine lustige Bemerkung rausgerutscht.
Ein erster Sprung in der glänzenden Fassade. Noch kam Bernhard Lechner Katinka vor wie ein Schemen, eine Lichtreflexion an einem heißen Tag wie heute.
»Ich werde Kontakt mit dem Erpresser aufnehmen. Einen Beleg verlangen, dass er tatsächlich etwas gegen Ihren Vater in der Hand hat.«
»Und wenn er sich nicht drauf einlässt?«
»Zeitgewinn ist alles. Haben Sie einen Treffpunkt ausgemacht?«
»Im Type&Token. Sandstraße. Mittwoch, 21.30 Uhr.«
»Gut.« Katinka beschloss, das Thema zu wechseln. »Ihre Mutter arbeitet im Geschäft mit?«
»Ja, mindestens an zwei Tagen die Woche. Im Weihnachtsgeschäft oder vor dem Valentinstag und dem Muttertag, da steht sie sechs Tage die Woche im Laden.«
»Wie geht das jetzt? Wo Ihr Vater nicht da ist?«
»Eine Weile läuft das Geschäft schon. Da sind ja Angestellte. Ein Mann und zwei Frauen. Wir wollen nicht, dass die Kunden von seinem Verschwinden erfahren.«
Schlecht für den Umsatz, weil es Vertrauen kostet. Lieber Geld verlieren als Vertrauen, nachvollziehbar, dachte Katinka.
»Gibt es unter den Mitarbeitern jemanden, der ihn erpressen würde?«
»Sind Sie verrückt? Die Leute riskieren doch nicht ihren Job.«
Katinka gab Gas. Der Wagen erreichte nun den Höhengrat, hinter dem sich im Osten das Fichtelgebirge erhob. Heute lagen die Berge hinter blau-grauem Dunst. Dennoch zeichneten sich deutlich die beiden höchsten Gipfel, der Schneeberg und der Ochsenkopf, vor dem milchig weißen Himmel ab. Es würde verdammt heiß werden.
»Immer alles eitel Sonnenschein?«
»Wie meinen Sie das?«
»Also, ich frage mich, wie das kam: Vor drei Jahren hat eine ehemalige Angestellte Ihren Vater angezeigt. Sie wissen davon?«
»Pffff!« Mara drehte demonstrativ den Kopf zum Fenster. »Die Frau hat die Anzeige zurückgezogen.«
»Nehmen wir an, sie hätte kein falsches Spiel gespielt.«
»Machen Sie sich nicht lächerlich. Von vornherein war klar, dass diese Tussi nur absahnen wollte. Unser Geschäft läuft gut. Die Leute trauen dem Geld nicht mehr. Manche kaufen Immobilien, die nächsten Kunst, wieder andere Schmuck. Edelsteine und hochpreisige Goldschmiedearbeiten sind Objekte, die man sich jahrelang in den Safe legen kann. Die verlieren nicht an Wert.«
»Essen kann man sie aber auch nicht.« Katinka bog auf die Autobahn nach Berlin ab.
»Wiederverkauf ist kein Problem. Geht viel einfacher als bei Kunstwerken oder Häusern.«
»Kauft Ihr Vater auch von privat an?«
»Natürlich. Er bekommt öfter Stücke zur Prüfung vorgelegt. Warum?«
»Hätte mich mal interessiert.«
»Frau Palfy, was glauben Sie eigentlich, was hier los ist?« Großspurig zeigte Mara auf das von der Autobahn der Länge nach zerschnittene, weitläufige Tal vor ihnen. »Die Generationen vor uns haben sich überhaupt nicht auf Geld verlassen. Die haben an andere Werte geglaubt. Viele haben Schmuck zu Hause gehortet. Meine tschechische Oma zum Beispiel. Als sie starb, waren mehrere Schachteln mit guten Stücken zurückgeblieben.«
»Mitnehmen kann man nichts.«
Mara achtete nicht auf Katinkas Einwurf. »Mein Vater hat den Wert dieser Sachen geschätzt. Da waren locker 40.000 Euro drin, wenn nicht mehr. Jetzt gehen Sie mal davon aus, dass Kinder in den Häusern ihrer verstorbenen Eltern Schmuck finden. Gold, Platin, Juwelen. Selbst wenn es nicht viele Stücke sind, ihr Wert kann doch beträchtlich sein.«
»Und solche Stücke kauft Ihr Vater an?«
»Nur die guten. Solche mit hohem Wiederverkaufswert.«
»Wie viel Prozent an Gewinn ist da drin?«
»25«, sagte Mara.
Da lache ich ja, dachte Katinka. Laut sagte sie:
»Jeder Preis ist Verhandlungssache. Was, wenn Ihr Vater einen Betrag nennt, der sehr deutlich unter dem eigentlichen Wert liegt?«
»Solche betrügerischen Sachen macht mein Vater nicht.«
»Ich will auf was anderes hinaus.« Katinka fand, es war an der Zeit, Mara wieder ein bisschen Honig ums Maul zu schmieren. »Eine Person könnte sich übervorteilt fühlen. Den Eindruck gewonnen haben, dass Ihr Vater sie über den Tisch ziehen wollte. Und aus Wut darüber …«
»… ihn erpressen?«
»Zum Beispiel.«
»Woher sollte so ein Mensch etwas über Schwarzgeldkonten im Ausland wissen? Falls es die überhaupt gibt?«
»Keine Ahnung, Mara. Wir müssen alles in Erwägung ziehen, um anschließend zu filtern. Nach Wahrscheinlichkeit, nach Beweislage. Wir stehen erst ganz am Anfang!«
Mara nickte langsam. Das schien sie einzusehen.