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Die Gedanken sind frei! Für Peter und den Prof ist künstlerische Freiheit ein wichtiges Gut. Unvorstellbar also, dass Prof die Manuskripte von Norwegens jüngster literarischer Hoffnung gestohlen haben soll. Doch genau das wird ihm angelastet. Was die Sache nicht einfacher macht: Er hat das beste Motiv der Welt. »Peter?« »Am Apparat«, sagte ich. »Du, ich geb das ja nur verdammt ungern zu, aber ich brauche einen Rat. Die Sache ist die ...« »Die Sache ist die, dass der Prof vor zehn Minuten hier angerufen hat«, fiel mein Vater mir ins Wort. »Das ist die Sache.« Ich stöhnte vor Erleichterung. »Alles in Ordnung?« »Alles wäre wohl haarscharf übertrieben. Er war gerade in der Helgesensgate aufgewacht. Auf dem Rücksitz in einem geklauten Auto. Sag mir eins: Was habt ihr gestern Abend eigentlich eingeschmissen?« Eine gute Frage! Und was genau ist eigentlich geschehen, nachdem Prof Erlandsen seine Freundin auf der Party beim Knutschen mit einem anderen Kerl erwischt hat? Jarle Svennes ist der neue Star und das viel gelobte Enfant terrible der Osloer Dichterszene – harte Konkurrenz für den Prof! Als kurz darauf in Jarles Wohnung eingebrochen wird und dessen Manuskripte gestohlen werden, gerät der Prof unter Hauptverdacht. Selbstverständlich will Peter seinem Freund helfen und setzt alle Hebel in Bewegung, um den wahren Schuldigen zu überführen. Dabei findet er in einer legendären Gestalt der künstlerischen Halbwelt einen unverhofften Verbündeten … »Asphaltdichter« ist der neunte Band der Jugendkrimi-Reihe Peter und der Prof – wer schreibt, bleibt! Aus dem Norwegischen übersetzt von Gabriele Haefs
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Seitenzahl: 226
Aus dem Norwegischen
Copyright © 1995, Ingvar Ambjørnsen
Übersetzt von Gabriele Haefs
Copyright der überarbeiteten eBook-Ausgabe © 2014 bei Hey Publishing GmbH, München
Die Norwegische Originalausgabe erschien 1995 unter dem Titel »Storybens Stemme« im J.W. Cappelens Forlag, Oslo
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Covergestaltung: Sarah Borchart, ZERO Werbeagentur, München
Coverabbildung: FinePic®, München
Autorenfoto: © Christine Poppe
Artwork "SIXT": © Josef-Maruan Paschen
ISBN: 978-3-942822-86-2
Asphaltdichter ist der neunte Band der Jugendkrimi-Reihe Peter und der Prof. Eine Auflistung weiterer Titel finden Sie am Ende des Buches (bitte hier klicken).
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Die Gedanken sind frei! Für Peter und den Prof ist künstlerische Freiheit ein wichtiges Gut. Unvorstellbar also, dass Prof die Manuskripte von Norwegens jüngster literarischer Hoffnung gestohlen haben soll. Doch genau das wird ihm angelastet. Was die Sache nicht einfacher macht: Er hat das beste Motiv der Welt.
»Peter?«
»Am Apparat«, sagte ich. »Du, ich geb das ja nur verdammt ungern zu, aber ich brauche einen Rat. Die Sache ist die ...«
»Die Sache ist die, dass der Prof vor zehn Minuten hier angerufen hat«, fiel mein Vater mir ins Wort. »Das ist die Sache.«
Ich stöhnte vor Erleichterung. »Alles in Ordnung?«
»Alles wäre wohl haarscharf übertrieben. Er war gerade in der Helgesensgate aufgewacht. Auf dem Rücksitz in einem geklauten Auto. Sag mir eins: Was habt ihr gestern Abend eigentlich eingeschmissen?«
Eine gute Frage! Und was genau ist eigentlich geschehen, nachdem Prof Erlandsen seine Freundin auf der Party beim Knutschen mit einem anderen Kerl erwischt hat? Jarle Svennes ist der neue Star und das viel gelobte Enfant terrible der Osloer Dichterszene – harte Konkurrenz für den Prof! Als kurz darauf in Jarles Wohnung eingebrochen wird und dessen Manuskripte gestohlen werden, gerät der Prof unter Hauptverdacht. Selbstverständlich will Peter seinem Freund helfen und setzt alle Hebel in Bewegung, um den wahren Schuldigen zu überführen. Dabei findet er in einer legendären Gestalt der künstlerischen Halbwelt einen unverhofften Verbündeten …
»Asphaltdichter« ist der neunte Band der Jugendkrimi-Reihe Peter und der Prof – wer schreibt, bleibt!
Die Bullerei tauchte so gegen drei Uhr auf und drehte die Anlage ab. Zwei Typen. Ich bemerkte sie erst, als der donnernde Bass plötzlich versiegte und eine fast hypnotische Stimmung sich über das Lokal senkte. Dann fingen alle an zu pfeifen und zu protestieren, aber dem machte das eine Blauhemd mit der Mitteilung ein Ende, wir sollten die Fresse halten, sonst würden sie die ganze Technologie mit zur Wache schleifen. Und so, wie er das sagte, konnten wir kaum bezweifeln, dass er das auch so meinte. Soundanlagen-Freak, das konnte ich ihm ansehen. Ihm quollen fast die Augen aus dem Kopf, als er sich die Maschinerie ansah. Das war was für die Hip-Hop-Bande im Polizeipräsidium unten in der Stadt. Mir selber war das alles ehrlich gesagt egal. Ich hatte seit Mitternacht so ungefähr nonstop getanzt. Und obwohl das nicht gerade eine Leistung war, mit der ich vor den anderen Anwesenden protzen konnte, war das für mich wirklich reichlich. Ich war ganz wirr in der Birne von der hämmernden Musik und hatte Pudding in den Knien. Aus Peter Pettersen würde wohl nie ein echter House-Freak werden. Doch auch wenn das, was hier in dieser Nacht abgegangen war, nur der bleiche Schatten einer echten House-Party war, konnte ich doch ein bisschen verstehen, von was für einem Kick die House-Jünger so gern schwärmten. Den Rausch, der sich durch das Tanzen und die monotone Musik einstellt. Die Ekstase. Lauter Kram, der in uns abgelagert ist, seit der Zeit, als wir um das Lagerfeuer getanzt sind und längst vergessene Gottheiten angebetet haben. Diese Musik war keine, die man sich zu Hause anhört, während man Grammatik und chemische Formeln büffelt. Hierzu konnte man nur hemmungslos abgehen - und brauchte jede Menge Platz für Körpereinsatz. Ich taumelte durch die halb offene Schiebetür und wurde fast geblendet von dem hellen Sommerhimmel über dem Hinterhof. Ich schnippte einen Zehner in die Dose an der Wand und fischte eine Cola aus der Eistonne. Kühlte mir mit der kalten Flasche die Stirn und ließ mich dann auf einen Bretterstapel hinten im Hof fallen. In einem Fenster im ersten Stock entdeckte ich Lise, die mir zuwinkte. Ich winkte mit der Cola-Flasche zurück. Lise beugte sich vor und schaute zum Sommerhimmel hoch und einen Moment lang konnte ich in ihrem weiten T-Shirt-Ausschnitt zwei sonnenbraune Brüste sehen. Herrgott, dachte ich. Wenn du da oben bist und wenn du überhaupt in meinem Leben irgendwas zu sagen hast, dann mach, dass ich mich nicht in Lise Leonardsen verliebe! Aber eigentlich war ich wohl schon auf dem besten Weg dazu. Das war sogar einer der Gründe, weshalb ich mich hier auf dem Hinterhof der Bäckerei befand, eines ehemals besetzten Hauses im unteren Tøyen. Lise Leonardsen oder »die Schönheit aus Finnmark«, wie der Prof sie nannte, wenn er mich hochnehmen wollte. Grüne Augen, die immer wieder funkelten, lange, rotbraune Haare. Sie war einfach so nach Oslo gezogen und sie war von der Sorte, der alles glatt gelingt, obwohl sie nur ein Jahr älter war als ich. Rein instinktiv wusste ich ja, dass ich hier keine Chance hatte, auch wenn sie immer nett zu mir war. Sie umgab sich mit Typen mit massenhaft Tätowierungen und Ohrringen und würde wohl kaum auf einen kleinen Spießer wie mich abfahren. Aber hoffen durfte ich ja trotzdem. Und träumen.
»Krasse Party«, sagte sie.
»Ja«, sagte ich. »Aber ich glaube, jetzt geht's aufs Ende zu. Auf jeden Fall war eben die Bullerei hier und hat die Kabel gekappt.«
»Typisch. Und in der Stadt wimmelt's nur so von unmotivierter Gewalt und Vergewaltigern, die mit gezogenem Messer durch die Gegend laufen. Klar macht da ein bisschen Action hier bei uns mehr Spaß.«
»Sind der Prof und Jorun noch oben?«, fragte ich.
»Hab sie vorhin noch gesehen. Ich seh mal nach. Gleich wieder da!«
Ich wollte noch rufen, dass mir das nicht so wichtig war, dass mich das einen Dreck scherte, aber sie war schon verschwunden. Der berühmte Frauenheld Peter Pettersen, der einfach das Gespräch in Gang halten wollte, hatte prompt etwas von sich gegeben, was ihr sofortiges Verschwinden nach sich zog. Und dann stand sie wieder am Fenster und war wie ausgewechselt. Ihre lässige Selbstsicherheit war wie weggeblasen, sie kam mir geradezu gestresst vor.
»Peter, du musst kommen! Der Prof ist total ausgerastet. Ich hab Schiss, dass ihm irgendwer eins auf die Mütze gibt, wenn du ihn nicht beruhigen kannst.«
Ich war sofort auf den Beinen. Und stürzte zur Tür, die zur Hintertreppe führte.
In meinem Kopf wütete das Chaos, als ich die Treppe hochrannte, ich kapierte überhaupt nichts mehr. Mein guter Freund, der Prof, ist nämlich keiner von der Sorte, die auf Festen »ausrastet«. Im Alltag rastet er übrigens normalerweise auch nicht aus. Der Prof ist eher von der nachdenklichen Truppe, ja, ein Grübler. In all den Jahren, in denen wir uns nun schon kannten, hatte ich ihn nur zwei- oder dreimal richtig wütend erlebt. Und das war nun wirklich nicht viel, schließlich hatten wir uns schon gekannt, als wir beide noch Windeln brauchten.
Zu viel Alk vielleicht, überlegte ich, während ich zwei Stufen auf einmal nahm. Nein. Das passte nicht zum Prof, der selbst dann nach drei Pils aufhörte, wenn er mal richtig einen draufmachte. Oft tat er es auf Festen ganz alkoholfrei und das war auch heute der Fall gewesen. Wir waren hergekommen um zu tanzen, und dabei stört Alkohol doch nur. Lise wartete schon auf mich. »Schnell! Hier rein!« Sie packte mich am Arm und lotste mich in die Wohnung von Betta und Heiki. Ich stolperte über die Türschwelle und landete in einem Wirrwarr aus Jacken und Schuhen.
Im Wohnzimmer bot sich mir ein ganz und gar unwirkliches Bild. Betta und Heiki hielten den Prof fest, der strampelte und zappelte, um sich zu befreien, und dabei unzusammenhängendes Zeug vor sich hin brabbelte. Hinten im Zimmer weinte Jorun an der Brust von Jarle Svennes, und Jarle streichelte auf eine Weise ihren Rücken, die ich nicht so ganz als normales Trösten deuten konnte.
»Auf frischer Tat ertappt!«, schrie der Prof. »Ich geh für zehn Minuten aus dem Zimmer und als ich zurückkomme … O verdammt ich kotze gleich! Bist du bist du wirklich so billig, dass du … glaubst du … und ausgerechnet mit dem da! Den kannst du doch in der Pfeife rauchen! Poesie? Redest du von Poesie? Der hat doch überhaupt keine Ahnung davon, was Gefühle sind! Ein verdammter PR-geiler Idiot ist der! Eine beschissene Null!«
»Prof!«, sagte ich. »Komm runter. Reg dich ab! Was zum Kranich ist hier eigentlich los?«
»Etwas, wovon du keine Ahnung hast!«, schrie der Prof wütend. »Du kannst ja bloß in alle Heimlichkeit diese Spitzenelse aus Finnland oder so da rum anhimmeln!«
Ich spürte, wie ich knallrot anlief, und irgendwer fing an zu kichern. Die Spitzenelse aus Finnmark oder da so rum stand dicht hinter mir und ganz bestimmt registrierte sie die Hitze meiner Glühbirne. O verdammt! Dieser Arsch! Was er hier herausposaunte, hatte ich selber nur mit Mühe über die Lippen gebracht, und das nur aus dem einzigen Grund, dass ich einfach irgendwem mein Herz ausschütten musste. »Ich finde, du verpisst dich jetzt, Fettsack«, sagte Jarle. »Hier hast du heute nichts mehr zu melden, verstehst du.«
Jorun wimmerte verzweifelt vor sich hin, aber sie presste dabei ihr Gesicht an Jarles Pullover. Ich glaube, sie wollte sagen, dass er den Prof nicht Fettsack nennen sollte. »Alles klar«, sagte der Prof. »Ich gehe.« Plötzlich war er so ruhig, dass mir das schon ein bisschen unheimlich vorkam.
»Kann mir irgendwer verraten, was hier eigentlich los ist?«, fragte ich.
»Nichts!«, sagte der Prof und riss sich los. »Jorun ist nur einfach zu der Erkenntnis gekommen, dass sie unserem Dichter ein bisschen an den Eiern herumgrabbeln muss.«
»Das stimmt überhaupt nicht! Und ich kann doch nichts für meine Gefühle, oder?« Jorun brach wieder in Tränen aus.
»Du hast überhaupt keine Gefühle«, sagte der Prof eiskalt. »Du spielst Fußball mit meinem Herzen, das ist alles. Zusammen mit deinem verdammten Regenbogenpressenpudding!«
Jarle lächelte höhnisch. »Große Worte aus einem Kloakenmund. Du bist gerade der Richtige um über die Regenbogenpresse herzuziehen! Du hast doch da fast schon deine eigene Krimi-Abteilung!«
»Hört auf!«, heulte Jorun. »Hört jetzt alle beide auf!«
»Ja«, sagte der Prof. »Darauf kannst du Gift nehmen, dass ich aufhöre!« Er drehte sich auf dem Absatz um und stürzte zur Tür. Wir hörten ihn die Treppen hinunterpoltern. Ich wollte hinterherlaufen, aber Heiki hielt mich fest. »Lass ihn jetzt in Ruhe. Der muss allein ein paar Runden drehen. Heute Abend kannst du doch nichts mehr machen.«
»O verdammt, Jorun«, sagte ich. »Ich will mich ja nicht einmischen, aber hättest du die Kündigung nicht ein bisschen schonender ausfallen lassen können?«
»Sehr gut«, sagte Jarle. »Misch dich nicht ein. Außerdem warst du nicht dabei. Wenn du meinst, wir hätten hier herumgevögelt, dann hast du dich geschnitten.«
»Alles klar«, sagte ich. »Friede!«
Betta gähnte. »Ich glaube, jetzt ist Schluss mit lustig, Leute. Haut ab, allesamt, ich muss mich für ein paar Stunden aufs Ohr hauen.«
Ich ging. Jarle und Jorun gingen mit Lise zu ihr in die Wohnung, aber da ich gerade keinen besonderen Bock darauf hatte, mich im selben Zimmer aufzuhalten wie Jarle und Jorun, lehnte ich dankend ab, als Lise mich auch einladen wollte. Ich glaube, sie wusste, dass mir das als eine Art Verrat am Prof vorkommen würde. Sie lächelte ihr seltsames Lächeln, dieses Lächeln, das nur ihr gelang, und schlug vor, ich sollte in den nächsten Tagen mal hereinschauen. Ich wusste nicht so recht, was ich von dieser Aufforderung halten sollte. Hatte das Gefühl, bei ihr total verschissen zu haben, wo der Prof meine Empfindungen doch einfach so herausposaunt hatte. Dieser Trottel! Aber er war nicht nur ein Trottel. Er war auch mein bester Kumpel. Und jetzt ging es ihm verdammt dreckig. Jorun und er - das war mir irgendwie so natürlich vorgekommen. Dass diese Beziehung zur Bauchlandung werden könnte, wäre mir nicht einmal im Traum eingefallen.
Als ich unten auf der Straße stand, merkte ich, wie müde ich war. Zum Umfallen müde. Und bis Torshov war es weit. Wenn ich die Knete gehabt hätte, dann hätte ich ein Taxi genommen, aber ich war so pleite wie am Tag meiner Geburt. Ich hatte erst fünfzig Meter hinter mich gebracht, als jemand meinen Namen rief. Jorun. Sie kam angerannt und hatte mich bald eingeholt.
»Peter! Das ist alles einfach nur schrecklich. Bist du jetzt böse auf mich, oder was?«
Ich versuchte zu lächeln. »Natürlich nicht!«
»Können wir mal fünf Minuten reden?«
»Klar.«
Wir setzten uns auf die niedrige Fensterbank eines Lebensmittelladens und Jorun steckte sich eine Teddy an, ihre neue Zigarettenmarke, seit es keine Blue Master ohne Filter mehr gab.
»Heute ist alles einfach total danebengegangen. Alles!«
»Das Gefühl hatte ich auch«, sagte ich. Sie zog hart an ihrer Zigarette und ich wusste, dass jetzt die Beichte erfolgen würde.
»Ich war schon seit dem Abend im Nordraak total verknallt in Jarle«, sagte sie und stieß den Rauch aus. »Hab Gott angefleht das vorbeigehen zu lassen, aber es wurde immer nur noch schlimmer. Der Prof ist wirklich der letzte Mensch auf der Welt, dem ich wehtun möchte. Aber verdammt noch mal, wir sind doch keine Maschinen! Es wäre schon toll, wenn wir uns aussuchen könnten, in wen wir uns verlieben!«
»Ja«, sagte ich. »Da hast du Recht.« Ich dachte an Jarle und Lise, die jetzt in Lises schwarz gestrichener Wohnung saßen, und ich merkte, dass die Eifersucht in mir schwelte. Die beiden hatten auch früher schon aneinander herumgefummelt. Aber Jorun war offenbar mit ihren Gedanken ganz woanders. »Der Prof muss es doch gemerkt haben«, sagte sie jetzt. »Dass ich nicht so ganz da war, meine ich. Er hat gefragt, was denn los wäre. Ich hab behauptet, alles wäre in Ordnung, aber er ist ja nicht gerade ein Trottel.«
»Nein«, sagte ich. »Manchmal kann er eine Gleichung durchaus lösen.«
»Dann habe ich vor ein paar Tagen Jarle auf der Straße getroffen. Er war mit Lise und Betta unterwegs und wir sind ins Gespräch gekommen und so. Und bei mir hat es einfach geschnappt. Lise und Betta sind dann gegangen und Jarle und ich haben im Dasslokket gesessen und noch eine Ewigkeit miteinander gequatscht. Es hat einfach geknallt. Wir hatten das Gefühl uns schon eine Ewigkeit zu kennen. Zu Hause habe ich dann den ganzen Abend nur noch geheult. Ich wusste, dass ich mit dem Prof Schluss machen musste, aber ich wusste nicht, wie ich das schaffen sollte.«
»Ja, ja. Aber heute Abend scheint das dann ja wie von selbst gegangen zu sein.«
»Ich hatte doch überhaupt keine Ahnung, dass Jarle hier sein würde. Echt nicht! Mir ist richtig das Kinn runtergekippt, als ich ihn gesehen habe. Und ich hatte ihm kein Wort vom Prof gesagt. Idiotisch von mir, natürlich. Er dachte, ich wäre allein hier, und …«
»Und als er gerade dachte, du wärst allein hier, betrat der Prof die Bühne«, sagte ich.
»Genau. Ungefähr so. Kannst du nicht mit ihm sprechen, Peter? Ihm sagen, wie Leid mir das tut. Dass ich um nichts in der Welt gewollt hätte, dass es so endet.«
»Sicher«, sagte ich. »Aber ich glaube, ich muss noch einen Tag oder zwei damit warten. Im Moment ist der Prof wie ein angeschossenes Nashorn.«
»Weiß ich. Ich kenn ihn doch auch, Mann. Sag ihm, dass ich ihn immer noch mag.«
»Nein, da liegt für mich die Grenze«, sagte ich. »Dann krieg ich eins auf den Hut. Das wäre ungefähr so blöd wie vorzuschlagen, dass ihr ja immer noch gute Freunde sein könnt.«
»Na gut. Aber kümmere dich um ihn, machst du das?« Sie drückte ihre Zigarette aus und stand auf.
»Mir wird wohl nichts anderes übrig bleiben«, sagte ich.
Wir verabschiedeten uns und ich schaute ihr hinterher, als sie zu der alten Mietskaserne zurückwanderte. Als sie im Torweg verschwand, kam Heiki dort zum Vorschein und machte sich auf den Weg in Richtung Grønland.
Aus irgendeinem Grund schaute ich in diesem Moment auf die Uhr. Es war Viertel vor vier.
Ich ging allein nach Hause. Und das war vielleicht nur gut so, denn meine schlechte Laune wollte ich wirklich niemandem zumuten. Ich überlegte mir, dass ich auch ein bisschen daran schuld war, dass die Beziehung von Jorun und dem Prof eine Bauchlandung hingelegt hatte. Auf jeden Fall hatte ich den Flirt mit einer Szene angefangen, zu der wir eigentlich nicht gehörten. Die einen Tick härter war, als wir das gewohnt waren. Und auch einen Tick ausgeflippter. Ich fragte mich, ob Jorun wirklich so heiß in Jarle verliebt war, wie sie behauptete, oder ob sie sich einfach nur in dem neuen Dschungel verirrt hatte.
Die Bäckerei, ein ziemlich heruntergekommenes Haus, war vor drei Jahren besetzt worden. Es hatte viel Geschrei und allerlei Geschreibsel in den Zeitungen gegeben. Bullerei und Prügeleien. Aber dann hatte die Stadt plötzlich beschlossen sich reizend zu geben. Sie hatte den Besetzern Mietverträge versprochen, wenn sie die Butze selber renovierten. Das alles war abgelaufen, ohne mich besonders zu interessieren. Ich wohnte zu Hause und hatte vorerst auch keine Umzugspläne. Meine Eltern waren von der liberalen Sorte, ich hatte nicht das Gefühl, irgendwelchem Scheiß entkommen zu müssen. Und Klein-My wäre total unglücklich gewesen. Sie verfügt über die seltsame Eigenart, ihren großen Bruder lieb zu haben. Mit den Leuten in der Bäckerei war ich eigentlich nur deshalb in Kontakt gekommen, weil Betta dort eingezogen war.
Betta heißt eigentlich Elisabeth und wir sind schon seit dem ersten Schuljahr in derselben Klasse. Zähe Frau, diese Betta. Sie wusste schon, was sie wollte, als sie in der dritten Klasse die Stummelpfeife unseres Rektors mit Knetgummi verstopfte. Als sie also mitten in der neunten Klasse, kurz vor Weihnachten, ihre neue Adresse bekannt gab, die Bäckerei nämlich, kam uns das irgendwie natürlich vor. Was ihre Familie dazu sagte, wussten wir nicht, aber gefragt worden war sie sicher nicht. Ich wusste aber, dass Bettas Mutter irgendwann in ihren wilden Jahren mit meiner Mutter befreundet gewesen war, und deshalb ging ich davon aus, dass sie kein besonderes Geschrei veranstaltet hatte. Meine Mutter protzte jedenfalls immer damit, wie früh sie von zu Hause abgehauen war, um sich freier Liebe, Liedern von Bob Dylan - und Typen wie meinem Vater zu widmen. Wenn Bettas Eltern denselben Standard eingehalten hatten wie meine, dann konnten sie wohl kaum Widerspruch einlegen, als ihre Tochter zwei Plastiktüten mit T-Shirts und Unterhosen füllte und in den Ostteil der Stadt übersiedelte. Dass sie bei Heiki einzog, einem ziemlich abgedröhnten Punk aus Finnland, einem Typen, der vier Jahre älter als sie war, hatte sie ihren Alten nicht mitgeteilt. Die glaubten, dass sie mit einer Freundin zusammenwohnte. Und diese Freundin war eben Lise. Betta hatte fast alle ihre Sachen bei Lise geparkt, wohnte in Wirklichkeit aber zusammen mit Heiki in der Wohnung gegenüber. Es würde also keine Probleme geben, wenn gegen jegliche Erwartung die familiäre Sittenpolizei doch einmal auftauchen sollte.
Nach und nach fing Betta an, mich zu allerlei Partys in der großen ehemaligen Bäckerei einzuladen, die in einem Nebengebäude des eigentlichen Wohnhauses lag. Und ich schleppte den Prof und Jorun mit. Jede Menge Platz. Fetzige Musik. Die Feste gefielen uns und die Leute, auch wenn viele um einiges älter waren als wir.
So fing alles an.
Und nun ging ich davon aus, dass es dem Ende entgegenging.
Meine Mutter war vor der Glotze eingeschlafen, ein Musiksender flimmerte über die Mattscheibe. Irgendein Heavy-Metal-Gnom versuchte einen klugen Spruch über seine Musik zu bringen und aus Mutters Morgenmantel lugte eine große, weiße Brust heraus. Sie sah aus wie ein geheimnisvolles Wesen von einem anderen Stern, das aus einem großen, roten Auge den Fernseher anstarrte.
Mutter fuhr aus dem Schlaf hoch, als ich den Fernseher ausschaltete. Ließ mit routiniertem Griff das UFO verschwinden und fragte gähnend, ob wir nicht ausgemacht hätten, dass ich um halb drei wieder im Lager einlaufen würde. »Es ist etwas Unvorhergesehenes dazwischengekommen«, sagte ich.
»Ach? Und wie heißt sie?«
»Du denkst zu viel an Sex«, antwortete ich. »Aber eigentlich liegst du gar nicht so falsch. Jorun hat mit dem Prof Schluss gemacht. Ich musste bei ihr den Seelsorger spielen, als der Prof wütend in die Sommernacht hinausgerauscht ist.«
»Ach, das ist aber traurig, Peter. Wo die beiden doch so gut zusammengepasst haben. Das … Nein, das höre ich wirklich nicht gern. Der arme Prof. Wie geht's ihm denn jetzt?«
»Wie gesagt: Er ist davongerauscht. Ich nehme aber an, dass er nicht gerade Freudentänze aufführt.«
»Ach, das macht mich wirklich wieder ganz wach. Ist denn … hat Jorun …?«
»Aber darüber hältst du die Klappe«, sagte ich. »Ich habe kein Wort verraten.«
»Alles klar«, sagte Mutter. »Großes Indianerehrenwort mit Blitz und Spinnenbein.«
»Jorun ist mit Jarle zusammen. Mit Jarle Svennes.«
»Mit Jarle Svennes?« Jetzt war sie hellwach.
»Reg dich ab«, sagte ich. »Der ist auch nur ein normaler Mensch. Ob du's glaubst oder nicht, er ist genauso ein Mensch wie du und ich. In seinen Adern fließt Blut und ich bin sicher, dass er sogar aufs Klo geht. Ab und zu zumindest. Und ich gehe jetzt ins Bett. Versuch My davon abzuhalten, mich vor elf in meinem Schönheitsschlaf zu stören. Gute Nacht!«
Ich konnte nicht schlafen. Es war zu hell im Zimmer und mir wirbelten verrückte Gedanken und Bilder durch die Birne. Das verbissene Gesicht des Prof vermischte sich mit Joruns Verzweiflung und Jarles leicht arrogantem Grinsen.
Ich dachte daran, dass Jorun gesagt hatte, sie hätte sich schon an dem Abend im Nordraak in Jarle verknallt. Im Café Nordraak, sollte ich wohl sagen, schließlich wohnen nicht alle in Oslo und kennen diese Tränke beim Schlosspark. Eine bei Künstlern und Schriftstellern beliebte Kneipe. Und für Leute, die sich gern in der Nähe von Künstlern und Schriftstellern aufhalten. Mein Alter hängt oft dort herum und Mutter behauptet, dass er sich da vor allem den Damen zeigen will. Jungen Kunststudentinnen und solchen Leuten, die davon beeindruckt sind, dass der Alte gar nicht schlecht ist, wenn er Totempfähle schnitzen und unbegreifliche Bilder hinklecksen soll. Ich fand den Laden nicht besonders toll.
Aber der Abend, von dem Jorun gesprochen hatte, war etwas Besonderes gewesen. Einige Monate zuvor, gegen Ende Februar, hatte ein Kulturjournalist vom Dagbladet eine ziemlich gute Idee gehabt. Statt nur etablierte Autoren zu fragen, was sie uns mit ihrem letzten genialen Werk hatten sagen wollen, war dieser Knabe in Oslos Untergrund gegangen um sich über die dortige Literaturszene zu informieren. Und ich rede hier nicht von der U-Bahn. Der Journalist hatte mit Nutten und Kriminellen gesprochen, mit Junkies und Knackis, mit Punks und mit allen möglichen anderen Leuten, die aus irgendeinem Grund haarscharf am Rand der Gesellschaft lebten. Und er hatte festgestellt, dass sehr viele von denen schrieben. Gedichte und Erzählungen. Tagebücher natürlich. Ein alter Berber hatte ein Manuskript von dreihundert Seiten in der Jackentasche, glaubte aber, die Menschheit wäre noch nicht reif für seine Botschaft.
In einer Serie von Artikeln hatte der Journalist dann einige von diesen ganz unbekannten Schriftstellern vorgestellt, zusammen mit Auszügen aus ihren Werken. Ziemlich viel verrückter Kram war natürlich dabei, aber es gab auch gute Sachen. Auf jeden Fall wurde dadurch deutlich, dass es überall blubbert und wächst, nicht nur an den Stellen, die von der Sonne beschienen werden.
Doch erst mit Jarle war im ganzen literarisch interessierten Norwegen der Alarm losgegangen. Dagbladet brachte ein langes Gedicht, fast über eine ganze Seite. Es hieß Wir warten unter den Brücken und schlug ein wie eine Bombe. An den folgenden Tagen meldete sich ein bekannter Schriftsteller nach dem anderen zu Wort, und alle behaupteten, nie ein vergleichbares Talent getroffen zu haben. Jarle Svennes wurde mit den größten Dichtern der ganzen Welt verglichen und ein Verleger sagte in einem Interview, »bei uns steht rund um die Uhr die Tür offen.« Und wenn ich meinen Vater richtig verstanden hatte, der ja über einige Erfahrung mit Absagen und künstlerischen Niederlagen verfügte, dann bringen Verleger wohl nur sehr selten in aller Öffentlichkeit solche Sprüche. Schon gar nicht, wenn es um einen neunzehnjährigen Heini geht, der bisher nicht einmal eine halbe Zeile veröffentlicht hat und dessen Name bisher restlos unbekannt war.
Jarles Gedicht war eine Sensation. Und Jarle selber wurde über Nacht zum Superpromi. Überall waren Interviews mit ihm zu lesen. Er erschien sogar für dreißig Sekunden in den Fernsehnachrichten. Und das nicht ohne Grund. Erstens hielten ja alle, die glaubten, etwas von Gedichten und Poesie zu verstehen, seinen Text für absolut grandios. Das Gedicht handelte von der anderen Seite der Großstadt, der gefährlichen Seite, von der die braven Bürger keine Ahnung haben. Und dass Jarle sich dort auskannte, wurde von wirklich niemandem bezweifelt. Weder der Prof noch ich kannten ihn besonders gut, aber wir wussten, dass er schon mit zwölf oder dreizehn Jahren im Bjølsenpark herumgehangen hatte und dass er schon harte Sachen eingeworfen hatte, als wir noch nicht über Himbeerlimonade hinausgekommen waren. Speed. Jede Art von Pillen. Alk und Klebstoff. Schon mit fünfzehn war er einer der hoffnungslosen Fälle gewesen, die unten bei Eika am Akerselv herumlungerten. Er war damals viel mit Filla zusammen, einem Kumpel vom Prof und mir, und mit Janne Karlsen, Bettas älterem Bruder. Janne war fünf Jahre älter als wir und kurz nach seinem einundzwanzigsten Geburtstag war er gestorben. Nicht an einer Überdosis, sondern einfach, weil er so zugedröhnt war, dass er fast nicht mehr aufrecht stehen konnte, und deshalb war er unten im Zentrum auf einer Rolltreppe auf die Fresse gefallen. Und hatte sich das Genick gebrochen. Janne landete also nicht in der Statistik über Drogentote, aber trotzdem hatten die Drogen ihn umgebracht.
Jarle fand Hilfe, vor allem bei der Heilsarmee und bei der evangelischen Stadtmission, und fast wie durch ein Wunder kam er wieder auf die Beine. Die Heilsarmee besorgte ihm ein Zimmer und eine Art Aushilfsjob in ihrem Kleiderladen, und Jarle gab alles auf, was stärker war als ab und zu zwei kleine Bier. Und dann war er berühmt geworden. Die Journalisten wären ja verrückt gewesen, wenn sie auf diese Story nicht angesprungen wären. Ein quicklebendiges ehemaliges Drogenwrack, das sich als das pure Genie entpuppt. Auf die Frage, ob er noch mehr verfasst hätte als dieses eine Gedicht, antwortete Jarle, er habe eine Diskette mit um die hundert Gedichten und Erzählungen. Und wann das Buch erscheinen würde? »Keine Ahnung«, antwortete Jarle. »Ich hab's nicht eilig.« Aber an diesem Donnerstagabend Anfang Mai hatte er sich immerhin überreden lassen, an einer Lesung im Café Nordraak mitzuwirken. Es war »heringstonnenmäßig«, wie mein Vater sich ausdrückt, wenn er sagen will, dass die Bude voll ist. Es lasen noch zwei weitere Lyriker, die beide schon haufenweise Bücher veröffentlicht hatten, aber es war ganz klar, wen die Leute hören wollten. Eigentlich sind Dichterlesungen für mich ja nicht gerade Alltagskost. Aber meine Eltern wollten ums Verrecken hin. Und da auch der Prof und Jorun ins Nordraak wollten, ging ich eben mit. Es war ja irgendwie auch toll, das muss ich zugeben, dass um einen von den Jungs aus unserer Gegend so ein Wirbel gemacht wurde.