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So hatten sich Peter Pettersen und Prof Erlandsen ihren Ausflug nicht vorgestellt: In einem Wald nahe der schwedischen Grenze begegnet ihnen ein verängstigtes Mädchen, das scheinbar illegal nach Norwegen geschleust wurde. Sind die beiden Nachwuchsdetektive etwa einer Schlepperbande auf der Spur? »Hab ich schon erwähnt, dass es hier spukt?« Ich lachte. »Du konntest es wohl nicht länger aushalten, was? Auf den Schmus da habe ich im Grunde schon beim Essen gewartet.« Der Prof lächelte vielsagend und nahm einen Schluck aus seinem Teebecher. »Na ja. Aber in dem Wald hier wimmelt es von Rätseln, so viel steht fest.« »Denkst du an geheimnisvolle Flugzeuge ohne Kennzeichen und so?« Fischen, Futtern, Faulenzen – das war der Plan für Peter und Profs Kurztrip in die norwegische Wildnis. Doch wie so oft im Leben kreuzen unvorhergesehene Dinge (und Menschen) die schönsten Absichten, und das entspannte Männerwochenende ist passé: Entgegen ihrer Abmachung hat der Prof seine Freundin Jorun samt Anhang hinzugeladen, was ordentlich für Verstimmung zwischen den Freunden sorgt. Doch die ist schnell vergessen, als sich unweit ihrer Hütte eine Katastrophe ereignet. Und wenn Menschen in Not sind, gibt es für Peter und den Prof nur noch einen Plan: Helfen! »Nach dem Orkan« ist der siebte Band der Jugendkrimi-Reihe Peter und der Prof – kein Mensch ist (ill)egal! Aus dem Norwegischen übersetzt von Gabriele Haefs
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Seitenzahl: 219
Aus dem Norwegischen
Copyright © 1993, Ingvar Ambjørnsen
Übersetzt von Gabriele Haefs
Copyright der überarbeiteten eBook-Ausgabe © 2014 bei Hey Publishing GmbH, München
Die Norwegische Originalausgabe erschien 1993 unter dem Titel »Etter orkanen« im J.W. Cappelens Forlag, Oslo
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Covergestaltung: Sarah Borchart, ZERO Werbeagentur, München
Coverabbildung: FinePic®, München
Autorenfoto: © Christine Poppe
ISBN: 978-3-942822-84-8
Nach dem Orkan ist der siebte Band der Jugendkrimi-Reihe Peter und der Prof. Eine Auflistung weiterer Titel finden Sie am Ende des Buches (bitte hier klicken).
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So hatten sich Peter Pettersen und Prof Erlandsen ihren Ausflug nicht vorgestellt: In einem Wald nahe der schwedischen Grenze begegnet ihnen ein verängstigtes Mädchen, das scheinbar illegal nach Norwegen geschleust wurde. Sind die beiden Nachwuchsdetektive etwa einer Schlepperbande auf der Spur?
»Hab ich schon erwähnt, dass es hier spukt?«
Ich lachte. »Du konntest es wohl nicht länger aushalten, was? Auf den Schmus da habe ich im Grunde schon beim Essen gewartet.«
Der Prof lächelte vielsagend und nahm einen Schluck aus seinem Teebecher. »Na ja. Aber in dem Wald hier wimmelt es von Rätseln, so viel steht fest.«
»Denkst du an geheimnisvolle Flugzeuge ohne Kennzeichen und so?«
Fischen, Futtern, Faulenzen – das war der Plan für Peter und Profs Kurztrip in die norwegische Wildnis. Doch wie so oft im Leben kreuzen unvorhergesehene Dinge (und Menschen) die schönsten Absichten, und das entspannte Männerwochenende ist passé: Entgegen ihrer Abmachung hat der Prof seine Freundin Jorun samt Anhang hinzugeladen, was ordentlich für Verstimmung zwischen den Freunden sorgt. Doch die ist schnell vergessen, als sich unweit ihrer Hütte eine Katastrophe ereignet. Und wenn Menschen in Not sind, gibt es für Peter und den Prof nur noch einen Plan: Helfen!
»Nach dem Orkan« ist der siebte Band der Jugendkrimi-Reihe Peter und der Prof – kein Mensch ist (ill)egal!
Gründonnerstag, 08.15: Die Welt platzte gerade vollständig aus den Nähten.
Das ist natürlich übertrieben. Nur unsere Bude in der Bentsebrugata, Torshov, fiel auseinander. Mutter suchte nach den Schlüsseln für den Dachboden und unseren Bodenraum, während sie gleichzeitig Klein-My mit einem Käsebrot verfolgte, das My gar nicht haben wollte. Klein-My heulte vor Wut und hämmerte mit ihren Fäustchen auf alles in der Küche ein, was irgendein Geräusch von sich geben konnte. Auf Topfdeckel, Plätzchendosen und irgendein buddhistisches Gebammel, das Mutter aufgehängt hatte, um Jesu Auferstehung zu feiern. Das Radio lief volles Rohr; die schlechten Nachrichten von nah und fern wurden so laut verbreitet, dass die Wände wackelten. Ich selber lief zwischen meinem Zimmer, dem Wohnzimmer und der Küche hin und her und raffte alles zusammen, was ich brauchen würde um einige Tage in der Wildnis zu überleben. Das letzte Buch von Ken Follett, zum Beispiel. Lange Unterhosen und Erdnüsse.
Der einzige Ruhige in dieser Versammlung war der Prof. Er saß am Küchentisch, las die letzten Neuigkeiten über Donald Duck, schlürfte dabei heißen Tee und aß ein Leberwurstbrot. Mein Vater war nachts auf einem Fest gewesen und lag bis auf weiteres als Leiche im Schlafzimmer.
Ich lief durch die Küche und drehte das Radio auf der Fensterbank aus. Klatschte in die Hände: »Könnt ihr mal bitte kurz die Klappe halten!«
Die anderen verstummten und starrten mich blöde an.
»Sprich so nicht mit deiner Mutter«, sagte meine Mutter.
»Doch!«, widersprach ich. »Genau so. Mir bricht ja schon der Schweiß in den Ohren aus, wenn ich euch sehe!«
»Zeig mal!«, befahl Klein-My.
»Das Kind muss etwas essen«, sagte meine Mutter, die noch immer das schwachsinnige Käsebrot in der Hand hielt.
»Komm einfach mal zu mir, My«, sagte der Prof und bestrich eine weitere Brotscheibe mit Butter. »Dann macht dein Nachbar dir ein Brot, das richtig schmeckt. Was sagst du zu einer dünnen Schicht Erdbeermarmelade mit etwas fein gehacktem Hering und einem Spritzer Mayonnaise?«
Klein-My kletterte auf seinen Schoß, um festzustellen, ob es auch in der Welt der Wirklichkeit solche Brote geben konnte.
Die gab es. Sie behauptete sogar, es hätte gut geschmeckt. Der Prof grinste.
Mutter betrachtete das Käsebrot. »Ja, ja. Leffy kann jeden Moment hier sein, und er hat heute noch einen weiten Weg vor sich. Ich habe versprochen, dass ihr fertig seid, wenn er kommt. Aber die Rucksäcke sind auf dem Boden, und die Schlüssel sind spurlos verschwunden.«
Der Prof, der im ganzen Geschrei und Generve offenbar nicht mal gerafft hatte, worum sich die ganze Hysterie drehte, blickte Mutter an und sagte: »Aber um Himmels willen, gnä' Frau, da brauchen Sie Ihren Erben doch bloß einen Stock tiefer zu schicken. Da hausen nämlich meine Eltern. Er soll schön von mir grüßen, dann findet sich bestimmt ein Rucksack. Himmel, diese beiden Frischluftfreaks haben doch den ganzen Kleiderschrank voll. Sie werden vor Freude weinen, wenn sie einen loswerden können.«
»Bist du da ganz sicher, Prof?« Mutter war skeptisch. »Deine Eltern wollen doch zu Ostern sicher selber losziehen, wie ich sie kenne.«
»Nur Tagestouren«, sagte der Prof und machte sich über ein weiteres Brot her. »Und sie machen sich bestimmt nicht mit einem Rucksack auf dem Rücken und einem vorm Bauch auf den Weg. Hast du nicht gehört, sie haben den Kleiderschrank voll!«
»Okay«, sagte Mutter. »Dann frag ich sie mal. Iss du auch endlich was, Peter.« Weg war sie.
»Himmel«, sagte ich und ließ mich auf einen Stuhl fallen. »Sonst ist sie nicht so!«
»Weiß ich doch«, sagte der Prof. Er und My steckten tief in Entenhausen. »Viele werden zu Ostern nervös. Bei meiner Mutter passiert das zu Weihnachten. Mein Alter dreht meistens um den Johannistag herum durch.«
Es war nämlich so, dass wir über den Vater vom Prof über Ostern einen alten, verlassenen Bauernhof hatten leihen können. Der Hof lag mitten im Wald, nicht weit von der schwedischen Grenze entfernt, und hieß »Sagrønningen«. Er war seit zwanzig Jahren unbewohnt. Ich freute mich wie verrückt aufs Leben in der Wildnis. Kein Strom. Wasser aus dem Bach. Nur der Prof und ich und die verwunderten Elche. Der Prof war schon mehrmals mit seinen Eltern dort gewesen. Für mich war es etwas ganz Neues. Wenn meine Eltern mich überhaupt mal auf einen Spaziergang geschleppt hatten, dann hatte mein Vater rasch den kürzesten Weg zu seiner Stammkneipe ausfindig gemacht.
»Gibt’s da oben einen Kamin?«, fragte ich und trank kalte Milch.
Der Prof blickte auf. »Sei nicht so blöd. Kamine gibst in Ferienhäusern. Für die Gemütlichkeit. Verschlingt Holz und gibt wenig Wärme. Die Leute oben auf Sagrønningen haben da nicht der Gemütlichkeit halber gewohnt, das kann ich dir flüstern.«
»Genau!«, sagte Klein-My.
»Natürlich bin ich blöd«, sagte ich und tat so, als ob ich kein bisschen verletzt wäre. »Schließlich bist du der Herr des Dschungels. Ich dachte immer, dass Kamine wie blöd einheizen!«
»Da oben steht ein riesiger Jotulofen«, erklärte der Prof unbeeindruckt. »Das reine Atomkraftwerk, wenn der erst mal loslegt.«
Die Tür wurde aufgerissen.
Leffy. Das hatte er sich in der letzten Zeit angewöhnt. Hereinstürzen ohne zu klingeln.
»Ach, Jungs! Schon aufgestanden zum Klavierspielen? Hallo, My!«
Er gab ihr einen Kuss auf die Wange, und sie schnitt eine Grimasse, auf die keiner von uns besonders achtete. Für sie war Leffy »Onkel« Leffy, übrigens der einzige Onkel, den sie hatte, und das wusste sie zu schätzen. In Wirklichkeit war Leffy überhaupt nicht mit uns verwandt. Er tat nur so, da er keine eigene Familie hatte. Leffy war schon in Ordnung. Jugendfreund meines Vaters. Grauer Pferdeschwanz und Goldring im linken Ohr. Lkw-Fahrer mit Leib und Seele.
Er setzte sich ohne seine abgenutzte Lederjacke auszuziehen.
»Momentchen noch«, sagte ich. »Meine Mutter holt unten noch meinen Rucksack.«
»Willst du damit sagen, dass du noch gar nicht gepackt hast?« Er warf die Salami gleich vom Teller ein.
»Alles liegt schon bereit; ich muss es bloß noch reinstopfen.«
»Reinstopfen! Herrgott, du bist genau wie dein Vater. Wo steckt der denn übrigens? Liegt wohl noch in der Falle, was?« Er goss sich in Mutters Tasse Kaffee ein. »Rolf!«
»Vergiss es«, sagte ich. »Ich glaube, er ist erst um vier nach Hause gekommen.«
»Und ich bin seit fünf Uhr auf. Musste ganz allein die Umzugsladung erledigen. Stühle und Tische und ein verdammtes Doppelbett. Und weißt du, wer versprochen hatte, mir zu helfen?«
»Ich glaube wohl«, antwortete ich. »Aber es war unrealistisch von dir zu glauben, Vater könnte um diese Tageszeit aufrecht stehen.«
»Stimmt«, sagte Leffy und schlürfte Kaffee. »Ich war auch nicht so schrecklich enttäuscht.«
Meine Mutter brachte den Rucksack, und ich machte mich ans Packen. Leffy rannte hinter ihr durch die Küche und tat so, als wollte er mit seinen Händen ihren Hintern erwischen. Als er sie endlich in die Ecke beim Spülbecken gedrängt hatte und sie ihm in aller Freundschaft eine runterhaute, stand Vater in der Schlafzimmertür. Er sah aus wie ein langhaariger Fisch, den irgendwer durch die Sahara geschleift hatte. Seine Augen waren so rot wie zwei glühende Kohlen, und er war mit einem Lederriemen um das linke Handgelenk bekleidet.
»Meine Fresse«, sagte Vater.
Leffy pflanzte Mutter einen Kuss aufs Ohr, sie musste kichern, und er schob sie beiseite. »Zieh deinen Schlips an und geh wieder in die Falle, Alter. Die Frau hier ist viel zu gut für dich.« Er drehte sich zum Prof und mir um. »Wenn ihr euren Schnaps jetzt verstaut habt, hauen wir ab.«
Das Wetter war nicht gerade ein Grund zum Hurraschreien. Wir hatten einen grünen Winter gehabt, und es war noch immer grün, aber ein beißender Wind wehte uns den Regen mitten ins Gesicht, als wir über die Straße zu Leffys Lkw gingen. Wir warfen Rucksäcke und Schlafsäcke hinein und setzten uns alle drei ins Führerhaus.
»Bist du sicher, dass da oben im Busch kein Schnee liegt?«, fragte ich den Prof, während ich mich besser hinsetzte und anschnallte.
Er nickte. »Mein Vater hat heute Morgen mit einem Bauern telefoniert, den er da oben kennt. Die haben den ganzen Winter über keine Schneeflocke gesehen.«
Leffy ließ den Wagen an und schaltete die Heizung ein. »Schneeflocken, nein. Aber wenn die Sonne nicht auftaucht, und das wird sie nicht, dann, fürchte ich, müssen wir auf Glatteis hochfahren. Und ich muss den ganzen Weg nach Trysil.« Er schaltete einen Country-Sender ein und drehte die Karre in Richtung Sandakerveien. »Öffne deine Herrrzenstüüüüür!«
Wir grölten mit und lachten.
Als wir die Stadt verlassen hatten und anfingen, uns in die tiefen Wälder hineinzubohren, kapierten wir, wovon Leffy geredet hatte. Nirgendwo war Schnee, aber Tannen und Kiefern hatten Reif im Bart. Und die Fahrbahn war gefährlich glatt. Leffy, der sonst immer Witze machte und blöde Lügen über das Leben auf den Straßen erzählte, wenn wir mit ihm fuhren, verstummte fast vollständig. Er hielt ein ziemliches Tempo bei, aber ich konnte sehen, dass er sich konzentrierte.
»Glatt?«, fragte der Prof.
Leffy antwortete, indem er ganz kurz auf die Bremse trat. Einige Sekunden lang schlingerte der Wagen. »Verdammt glatt. Aber macht euch keine Sorgen. Der gute alte Leffy ist schon öfter über Schlittschuhbahnen gefahren. Ich weiß noch, wie ich in einem Herbst von Røros nach Trondheim fahren sollte und lebendige Hühner geladen hatte. Hatte auch zwei Frauen aufgelesen, und so ...«
»Die Geschichte kennen wir schon!«, schrien der Prof und ich wild durcheinander.
Normalerweise achtete Leffy nicht auf solche Proteste, aber nun hielt er sofort die Klappe. Ich bemerkte, dass er etwas langsamer fuhr und dass sein Blick sich teilte. Ein Auge auf die Straße vor ihm, die nun recht steil abfiel und außerdem zwischen Felskuppen und hohen Tannen nach rechts abbog. Das andere Auge hing am Rückspiegel.
»Was zum Teufel«, sagte er und kaute auf seiner Unterlippe, während er einen anderen Gang einschaltete. »Will der uns etwa ...«
Und dann war der große Toyota mit Allradantrieb neben uns. Er fuhr mit uns in die Kurve, gefährlich dicht neben Leffys Karre. Mitten in der Kurve überholte er uns in einem Affenzahn und legte sich so abrupt vor uns, dass Leffy mit dem Bremspedal flirten musste, um nicht auf den Toyota aufzufahren. Sofort geriet der große Lkw dermaßen ins Schwanken, als ob er reinen Alkohol getankt hätte. Leffy fluchte wie ein Weltmeister und schaltete zurück. Der Toyota verließ uns jetzt, aber am Ende der Kurve legten wir noch einen Schlenker ein, der uns immer heftiger hin und her schlingern ließ. Wir waren dem Straßenrand gefährlich nahe, und der Straßenrand rechts von uns bestand aus fünfzehn Meter Abhang über einer ekelhaften Geröllhalde. Wenn sich uns jetzt etwas in den Weg stellte, würden wir es zerquetschen. Das heißt, wenn es nicht größer wäre als wir. Denn dann würden wir zerquetscht werden.
Ich heulte. Der Prof heulte. Ich dachte an meine Mutter, die im Grunde völlig in Ordnung war, auch wenn sie ein paar blöde Macken hatte. Ich dachte auch an meinen Vater. Der hatte mich oft genug restlos genervt. Aber jetzt, kurz vor meinem wahrscheinlichen Tod im Alter von sechzehn Jahren, erkannte ich, wie verdammt gern ich beide hatte. My hatte ich immer heiß geliebt, schon als sie nur eine kleine Beule in Mutters Bauch gewesen war. Wie würden sie reagieren? Wie würden sie auf die Nachricht reagieren, dass ihr Junge, Peter Pettersen, in der Einöde in einen Abgrund gestürzt war und sein Leben lassen musste, weil ein verdammter Toyotabesitzer wie ein Idiot gefahren war?
Ja, das dachte ich. Ich bin wirklich nicht egozentrischer als die meisten, glaube ich, aber in diesem Moment dachte ich wirklich an meinen eigenen Tod.
Aber zu unserem Glück stieg die Straße hinter der Kurve wieder an. Das dämpfte unser Tempo. Und Gott - oder wer auch immer - hielt zu uns. Uns kamen nur Wind und Regen entgegen. Wir hielten mitten auf dem sanften Hang an, und Leffy zog die Bremse und legte sich übers Lenkrad. Er stieß seltsame Geräusche aus. Einen Moment lang dachte ich schon, er weinte, aber dann hörte ich, dass es nur seine tabakverwüstete Lunge war, die mit Müh’ und Not Luft ein- und auspumpte. Wahrscheinlich hatte er die Luft angehalten, seit sich der Allradantrieb neben uns geschoben hatte.
Der Prof kurbelte an seiner Seite das Fenster hinunter und steckte den Kopf hinaus. Er würgte wie blöd, es kam aber nichts heraus.
»So was habe ich bisher nur in der Glotze gesehen«, sagte ich. »Wollte der uns wirklich von der Straße abdrängen?«
Leffy antwortete nicht sofort. Er setzte mit dem Wagen zurück in die Senke, dann drehte er sich mit zitternden Fingern eine Zigarette. Als er sie angezündet hatte und wieder losfuhr, sagte er nur: »Weiß nicht. Ich weiß bloß, dass es ihm fast gelungen wäre.«
»Ich glaube echt, ich hab mir in die Hose gepisst«, sagte der Prof. »Aber nur ein bisschen. Einen Spritzer.«
Leffy nickte und rollte die Zigarette von einem Mundwinkel in den anderen. »Erzählt das euren Eltern nicht, Jungs. Die würden sich nämlich bis zu den Schuhsohlen nass pissen. Und das wollen wir doch nicht, oder?«
»Nein«, sagte ich und gab mir alle Mühe um mir ein Grinsen abzuwürgen. »Das wollen wir nicht.«
Der Prof schaltete wieder das Radio ein, das er vor weniger als zwanzig Minuten hatte aus dem Autofenster werfen wollen. Jetzt erschien uns die blökende Stimme von Norwegens Countrysänger Nummer eins wie der reine Engelsgesang.
Tannenwald. Kiefernwald. Kiefernwald. Tannenwald. Mischwald. Wald! Ich hatte noch nie so viele Bäume auf einmal gesehen. Natürlich war ich ein paar Mal mit dem Prof in der Nähe von Oslo im Wald gewesen, ein totaler Grünschnabel war ich also nicht. Aber die Landschaft, die wir jetzt durchfuhren, war anders als alles, was ich je gesehen hatte. Hier im Busch würden wir garantiert nicht über Jogger mit rosa Stirnband und Familien auf Fahrrädern im Partnerlook stolpern. Hier oben würde uns wohl eher die Waldfee begegnen. Nackt. Oder ein gewaltiger Waldschrat mit Haselruten in den Ohren.
Mit meiner gleichgültigsten Stimme fragte ich den Prof: »Und du findest bestimmt den Weg?«
Er und Leffy prusteten los. Ich merkte, wie mein Gesicht zu glühen anfing.
»Naaa ja ...« Der Prof dehnte seine Antwort aus.
»Du brauchst dich jetzt noch nicht aufzuregen, Pettersen«, sagte Leffy. »Ist noch weit bis zur Wildnis, verstehst du. Erst müssen wir durch diesen Park. Hat hier übrigens irgendwer Hunger? In zwei Kilometern erreichen wir Karis Gasthaus, und das ist keine amerikanische Burgerbar, das kann ich euch flüstern. Wer da drinnen Wörter wie Hamburger oder Pizza sagt, kriegt eins mit dem Kochlöffel übergezogen. Was sagst du, Prof? Motiviert für ein Dutzend Frikadellen mit gedämpftem Weißkohl?«
»Ja!«, sagten der Prof und ich im Chor.
Nichts macht so hungrig wie das Überleben.
Abgesehen von Reklameplakaten für Diplom-Eis und Ringnes Light-Bier, die an der Tür befestigt waren, sah Karis Gasthaus ein bisschen aus wie ein alter Wildwestsalon. Kleine Fenster in einer grauen verwitterten Holzwand. Nicht einmal die Bretterveranda rechts und links vom Eingang fehlte. Dort saßen zwar keine Greise in wurmzerfressenen Schaukelstühlen, aber trotzdem. Stattdessen hatte irgendwer dort ein teilweise auseinander genommenes Moped abgestellt. Eine rot-weiß gefleckte Katze lag wie ein Pelz über dem verrosteten Tank und sah uns träge an. Ich wollte gerade ein paar witzige Bemerkungen über diese Katze machen, die richtig rostig aussah, als der Prof quietschte: »Da haben wir ja die Rennfahrer!«
Ich ließ meinen Blick am Zeigefinger des Prof entlangwandern, und richtig: Vom Haus teilweise verdeckt, stand da der weiße Toyota. Nur ein Teil der Front lugte hervor, aber es konnte kaum einen Zweifel geben. Diese Karre hatte vor einer Stunde fast dafür gesorgt, dass zwei Elternpaare und jede Menge Frauen in Oslo extrem schlechte Nachrichten hätten hören müssen.
»Aha«, sagte Leffy und setzte mit dem Lkw zurück, sodass der Besitzer des Allradantriebes nicht mehr entkommen konnte. Auf dem Parkplatz standen ansonsten noch ein riesiger Lkw und vier Pkw, alle schön ordentlich am Waldrand geparkt, so weit wie möglich vom Gasthaus weg.
Western. Die Wirklichkeit sah jetzt aus wie ein Western. Als wir Karis Gasthaus betraten, glaubte ich, mich selber in einem B-Western aus dem Jahre 1946 zu sehen. Drei hungrige Cowboys betreten den Salon, und in der Luft liegt so viel Ärger, dass wir wie durch Nebel blicken. Mein Herz hämmerte, und ich hielt mich dicht hinter Leffys Rücken. ‘Dieser Wald ist nicht groß genug für uns beide!’ Das musste Leffy sagen. Oder so etwas Ähnliches. Ich hätte am liebsten kehrtgemacht und wäre wie vom Teufel gejagt in den Wald gestürzt.
Das Lokal war größer, als es von außen ausgesehen hatte. Und hatte doch kaum Ähnlichkeit mit einem Westernsalon. Die Möbel waren aus hellem Kiefernholz, und auf allen Tischen lagen rot karierte Decken. Der Tresen stand rechts, und mit Ausnahme von Limo- und Colaflaschen und einem Kühlschrank mit Glastür gab es kaum etwas, was sich in einem eventuellen Revolverduell wirkungsvoll hätte pulverisieren lassen. Kiefertäfelung mit Astlöchern, als ob hier schon andere mit ihren Colts herumgeballert hätten. Und ein gewaltiges Frauenzimmer, das aussah, als ob es die blauen Bohnen mit der Hand auffangen könnte.
Die drei Companeros blieben vor der Tür stehen und nahmen die restlichen Gäste in Augenschein. An einem langen Tisch an der gegenüberliegenden Wand saßen zwei Mannsbilder in karierten Holzfällerhemden, spielten Karten und tranken Kaffee. Einer von ihnen, ein Typ, der einen halben Meter von der Tischkante entfernt saß, weil sein Bauch ihm keine weitere Annäherung gestattete, hob seine Paddel über den Tisch, als er Leffy entdeckte. An einem anderen Tisch saß eine junge Frau und aß ein Steak. In einer Ecke saßen zwei Typen in Jeans und Leder und spachtelten etwas, das aussah wie Speck und Bohnen. Und an einem Tisch beim Tresen saß ein älteres Ehepaar, das sich offenbar vom Stadtpark hierher verirrt hatte. Weiße Haare, Kniebundhosen, selbst gestrickte Pullover.
Ich hatte erwartet, dass Leffy sofort zulangen würde, aber das tat er nicht. Er machte dasselbe wie der Prof und ich - registrierte die Anwesenden und steuerte dann den Tresen an.
Er reichte dem Frauenzimmer, vermutlich Kari, die Hand. »Lange nicht mehr gesehen. Wie sieht’s aus, hast du jetzt vegetarisches Essen auf der Speisekarte?«
Sie lachte dermaßen, dass ihr Doppelkinn wild durcheinander zitterte, und begrub Leffys Hand zwischen ihren beiden. Leffys dünne Finger schienen in eine rosa Decke eingewickelt zu werden.
»Wo hast du bloß die ganze Zeit gesteckt? Die Stadt bekommt dir nicht gut, Leffy. Die Stadt saugt dir das Mark aus dem Rückgrat. Mein Angebot besteht noch, vierzehn Tage Aufenthalt hier im Hinterzimmer. Dann kriege ich dich wieder hin. Und was hast du da für Burschen mitgebracht?« Sie zwinkerte uns mit ihren lieben Augen zu.
»Ach, das sind bloß die Gören von Bekannten. Ich musste ohnehin nach Trysil, und da habe ich angeboten, sie hier im Wald auszusetzen. Sie sind inzwischen zu teuer in der Kost und reißen den Schnabel zu weit auf.«
Wir stellten uns vor.
Der Prof und ich entschieden uns für Elchfrikadellen mit Erbsenpüree. Leffy nahm Elcheintopf und bezahlte das ganze Gelage.
Es gab genug freie Tische, aber Leffy steuerte den an, an dem die beiden Holzfällerhemden saßen. Der Prof und ich gingen hinterher. Ich mit einem riesigen Krug Eiswasser, der Prof mit drei Gläsern.
Die Holzfäller, die gar keine Holzfäller waren, sondern Lkw-Fahrer samt Beifahrer, waren von der wortkargen Sorte. Sie tauschten ein paar Floskeln über Straßen und Straßenverhältnisse mit Leffy aus, den sie offensichtlich kannten, dann versenkten sie sich wieder in Pik Dame und Herzbuben.
»Wer?«, flüsterte der Prof.
»Was glaubst du wohl?«, fragte Leffy zurück und zerbrach ein Streichholz, um es sich zwischen die Schneidezähne zu schieben.
»Die Jungs hinten in der Ecke natürlich«, murmelte ich. »Sie glotzen dich übrigens gerade an, Leffy. Und grinsen.«
»Sollen sie glotzen. Sollen sie grinsen.«
»Kennst du sie?«, fragte der Prof.
»Ich habe sie gekannt«, korrigierte Leffy. »Wir waren einen Sommer und einen Herbst über im selben Hotel eingesperrt. Das ist lange her. Lange, ehe ich mit Lkw-Fahren angefangen habe und meine Einkünfte brav dem Finanzamt melde.«
Der Prof stieß einen Pfiff aus. »Und dann hast du ihre Salami geklaut? Und deshalb haben sie versucht uns zu killen?«
»Die wollten mich ... uns ... nicht killen. Aber Herman und Schieli haben nur an die vierzehn Gehirnzellen. Beide zusammen. Und dann haut man leicht daneben, wenn es draußen glatt ist.«
Das Essen kam. Der Prof stand auf und reichte Kari zum Dank die Hand, als er die Portion sah, die sie vor ihm abgestellt hatte. »Tausend Dank!«, sagte er. »So was habe ich noch nie im Leben gesehen. Nein, wirklich nicht!« Vergessen waren Banditen und Fast-Unfalle auf spiegelglatter Straße.
So ist der Prof: Alle Sorgen und Kümmernisse verschwinden wie Tau im Sonnenschein, wenn er nur etwas zu essen bekommt. Viel zu essen. Gutes Essen. Das Leben des Prof hatte sich im Grunde immer schon an vier Schauplätzen abgespielt: am Esstisch. Im Bett. Im Sessel (mit einem guten Buch). Und auf dem Klo (mit der Zeitung). Nicht einmal die Tatsache, dass er jetzt mit einer wirklich tollen Frau zusammen war, hatte seine Gewohnheiten verändern können. Eher hatte er Jorun mit in sein altes Muster hineingezogen. Er setzte Jorun auf die andere Seite des Esstisches. Er zog sie ins Bett oder in den Sessel und las ihr laut vor. Aufs Klo allerdings ging er, soviel ich wusste, immer noch allein.
Jetzt freute er sich wie ein Kind. Er war so glücklich, dass seine Augen glänzten.
»Seht euch das an, Jungs! Vier Elchfrikadellen! Und so große!« Er lachte ein kurzes, wieherndes Lachen, das den Beifahrer die falsche Karte ziehen ließ, wodurch ihm der Stich durch die Lappen ging. »Und fünf Kartoffeln! Und ich sage euch, Leute, das sind nicht die labberigen Dinger, die wir in der Stadt kriegen. Seht euch die Farbe an! Rot wie ... wie ... also, ich wette, wenn ich mit der Gabel in eine hinein steche, dann ist die richtig schön mehlig!«
»Prof.«, sagte ich. »Wenn du mit deinen Eltern reden willst, dann nimm doch bitte Karis Telefon!«
»Okay«, flüsterte er. »Aber das ist doch ein Ding, was? Seit Jahr und Tag treibe ich mich- mit meinen Eltern in dieser Gegend rum, aber sie haben hier noch nie Halt gemacht.«
Leffy und ich prusteten gleichzeitig los.
»Nein«, sagte Leffy, als er wieder Luft bekam. »Komisch, was?«
»Ich scheiß auf die Waage«, murmelte der Prof und spachtelte los. »Ich scheiß auf die Waage.«
Und dann fiel plötzlich ein Schatten über den Tisch. Die Wirklichkeit war noch immer der reine Western.
»Ach, Leffy. Mal 'ne Runde auf dem Eis tanzen?«
Der Typ, der das gesagt hatte, hatte halb lange blonde Haare und einen gewaltigen Walrossschnurrbart. Er war einer von den beiden, die hinten in der Ecke Bohnen und Speck gegessen hatten. Von den Wilden im Toyota. Neben ihm stand sein Kumpel, ein rothaariger Kerl mit einer dicken Messernarbe auf der rechten Wange und der Nase.
Wortlos aß Leffy weiter. Der Lkw-Fahrer und sein Kumpel spielten weiter, aber ich merkte, dass sie jetzt angespannt waren. Sie witterten dasselbe wie ich - Ärger.
»Herman hat dich was gefragt!«, sagte der Rotschopf. Und nun fiel mir auf, dass seine eng sitzenden Augen schielten.
»Ja«, sagte Leffy, noch immer ohne aufzublicken. »Mal 'ne Runde auf dem Eis tanzen.«
Sie kamen ganz einwandfrei nicht weiter. Es war klar, dass sie sich einen wütenden Leffy erhofft hatten, aber als er ihnen nun einfach nur nach dem Munde redete, wussten sie offenbar nicht, wie sie damit umgehen sollten. Vielleicht stimmte das, was Leffy gesagt hatte, und sie hatten zusammen nur vierzehn Gehirnzellen.
Sie zuckten mit den Schultern und gingen.
Aber wir wussten ja: Das war nur das erste Kapitel. So, wie Leffy seine Karre geparkt hatte, fehlten nun noch mindestens zwei.
»Weißt du noch, wie ich dir bei Brumunddal aus dem Graben geholfen habe?«, fragte Leffy den Dicken.
Der Dicke starrte ihn interessiert an. »Irgendwas los?« Er nickte in Richtung der beiden, die eben die Tür hinter sich geschlossen hatten.
»Fast schon im Teich«, sagte Leffy.
Der Prof fügte hinzu: »Die beiden Mistkerle haben uns fast von der Straße abgedrängt. Ganz bewusst.«
»Ins Geröll«, korrigierte ich. »Es ging zehn, fünfzehn Meter nach unten, und unten war eine Geröllhalde.«
»Und du hast die Gelegenheit nicht genutzt, ihnen eins in die Fresse zu geben?«, fragte der Beifahrer und sah Leffy verständnislos an.
In diesem Moment wurde die Tür aufgerissen, und Schieli erschien, mit zwei schielenden Augen mitten in einem feuerroten Gesicht. »Leffy?«
Der Lkw-Fahrer legte seine Karten auf den Tisch und drückte seine Kippe aus.