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Victor von Falk ist Privatdetektiv und wohnt in St. Georg, dem anrüchigen Viertel gleich hinter dem Hamburger Hauptbahnhof. Drogenprobleme sind sein tägliches Brot, und der Auftrag einer Prostituierten führt ihn einmalmehr ins Heroingeschäft. Doch seine neue Klientin ist skurril: Ihre Beine sind Prothesen, aber ihre Geschäfte laufen nicht schlecht. Die «mechanische Frau» führt Falk an Orte und zu Menschen des Milieus, die selbst er als Insider der Szene bislang nicht kannte. Ein Roman, der dem Leser von der ersten Seite an Handschellen anlegt und ein Aussteigen unmöglich macht. »Ambjørnsen stimmungsvoller Roman handelt detailfreudig von der schmuddeligen Seite des Hamburger Nachtlebens.« DIE ZEIT »Hamburg St. Georg ist das Planquadrat, in dem Ingvar Ambjørnsen kalifornische Chandler Stimmung aufkommen lässt, einen Drogenmilieu-Blues intoniert, der einen tief hineinzieht, mitten ins Herz trifft und zu Tränen rührt. Oh, Mann, könnte man auch sagen, der Typ hat´s drauf.« Frank Göhre
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Seitenzahl: 487
Die Privatdetektive Ronny und Laila Olsen leben in Oslo und verdienen ihr Geld normalerweise mit der Beschattung untreuer Eheleute. Das ändert sich, als ihr Freund Bernhard tot aus dem Hamburger Hafen gezogen wird.
Die Ermittlungen des Schnüfflerpaares führen über Hamburg zum KZ Neuengamme, in dem Bernards Vater 1945 Zeuge wurde, wie sich ein russischer Kriegsgefangener freizukaufen versuchte – mit mysteriösen Diamanten aus der UdSSR. Diesen Diamanten war Bernard auf der Spur, und schnell befinden sich auch Laila und Ronny auf der Jagd nach »Stalins Augen« ...
Ingvar Ambjørnsens hervorragend beobachteter Roman illustriert die letzte Phase des Kalten Krieges aus der Sicht seiner beiden Antihelden und attackiert unterhaltsam und schwarzhumorig verdrängte deutsche Vergangenheit.
»Stalins Augen ist humorvoll, spannend, böse – wie ein Krimi sein soll.« Die Welt
Ingvar Ambjørnsen, geb. 1956 in Tønsberg, Norwegens kneipenreichster Stadt, aufgewachsen in Larvik. Nicht vollendete Gärtnerlehre und mancherlei Jobs in Industrie und Psychiatrie. Erste Buchveröffentlichung 1981: »23-salen«, seitdem zahlreiche Romane, Welterfolg mit den »Elling«-Romanen. Lebt seit 1985 in Hamburg. Bei CulturBooks erscheinen seine frühen Kriminalromane »Stalins Augen« (1989) und »Die mechanische Frau« (1991) und der Roman »San Sebastian Blues« (1990) als digitale Neuauflagen. Ingvar Ambjørnsen wurde mit dem Willy-Brandt-Preis 2012 ausgezeichnet.
Ingvar Ambjørnsen
STALINS AUGEN
Kriminalroman
Digitale Neuausgabe: © CulturBooks Verlag 2016
Gärtnerstraße 122, 20253 Hamburg
Tel. +4940 31108081, [email protected]
www.culturbooks.de
Alle Rechte vorbehalten
Deutsche Erstausgabe, Printfassung: © Edition Nautilus Verlag Lutz Schulenburg, 1989
Das Original Stalins oyne erschien 1985 im Cappelens Farlag Oslo.
Umschlaggestaltung: Magdalena Gadaj
eBook-Herstellung: CulturBooks
Erscheinungsdatum: 15.2.2016
ISBN 978-3-95988-006-0
»Lügen und verdammte Erfindung!« Ich mache mir diese Worte eines alten Meisters zu eigen. Dieses Buch sollte als Märchen unserer Zeit gelesen werden. Von den Personen, die für die Handlung von Bedeutung sind, hat nur eine, Genrich Grigoriewitsch Jagoda, das Licht der Welt erblickt. Und was Jagodas Rolle angeht, so endet die wirkliche Geschichte in dem Moment, in dem er aus seinem ehrenvollen Job gefeuert wird. Dass Jagoda eine etwas diebische Vergangenheit hatte, ist als Behauptung zu betrachten, nicht als historische Tatsache. Ich habe jedenfalls versucht, diesen eventuellen Diebstahl in ganz anderen Größenverhältnissen darzustellen, als es vielleicht der Fall gewesen ist.
Und mit diesen Worten sollte genug Rücksicht genommen sein. Bitte sehr – Stalins Augen gehören Ihnen!
Hamburg, Dezember 1984, Ingvar Ambjørnsen
Manfred Reudenbach hatte mehr getrunken, als er vertragen konnte. Als er die Kajüte Klaus Störtebeker verließ und über das Johannisbollwerk segelte, tat er das ziemlich breitbeinig und war von einzelnen schnellen Seitwärtsschritten abhängig, wenn er auf dem vereisten Asphalt nicht auf die Nase fallen wollte. Der Fahrer eines Audi, der vorbeifegte, während er noch mitten auf der Straße stand, drückte hitzig auf die Hupe, kam mit seinem Fuß der Bremse aber kein bisschen näher. Manfred Reudenbach schickte der guten Jungfrau ein Dankgebet und dachte daran, wie schnell sein Leben im Wert doch gefallen war. Vor weniger als einem Jahr war er ein Teil einer Gesellschaft gewesen, zu deren Aufbau vom absoluten Nullpunkt nach dem Sieg der Alliierten er mit eigenen Händen beigetragen hatte. Nun war er zu einem lahmen Trottel geworden, dem die Kinder auf der Straße mancherlei Frechheiten hinterherbrüllten. Er hatte auch früher schon getrunken – so wie die meisten Deutschen. Mäßig, aber regelmäßig. Vor zehn Monaten war er bei Blohm & Voss hinausgekegelt worden, er trat den Arbeitslosen Deutschlands bei und König Alkohol rückte ihm dichter auf den Leib. In den letzten Monaten, nachdem Ruth sich verabschiedet hatte und in geweihtem Boden bestattet worden war, hatte er die meiste Zeit bei Störtebeker zugebracht, wo er Altbier und Schnaps eingoss – Feuchtigkeit über die rauchenden Ruinen des Lebens, das ihm zugeteilt worden war. Manchmal erlitt er Weinanfälle und religiöse Anfechtungen, aber nicht oft. Er hatte sein geliebtes Hamburg einmal zu Asche werden sehen und hatte sich am Wiederaufbau beteiligt. Nun richtete er bisweilen Stoßgebete zum Höchsten und bat darum, jemand möchte sich um seine eigenen Ruinen kümmern, dazu beitragen, ihn wieder aufzurichten. Bisher hatte der Herr ihm zur Antwort ab und zu die Dicke Molly vorbeigeschickt, aber die war nicht zuverlässig und Manfred Reudenbach setzte seinen Gang durch das Hamburg der 80er Jahre als geschlagener und desillusionierter Mann fort.
Er blieb am Elbufer stehen und warf feuchte Blicke auf Trockendock 17, seine alte, verrostende Liebe. Witzig. Fast 17 Jahre lang hatte er Blohm & Voss treu gedient, bis sie plötzlich darauf verfallen waren, ihn zu wiegen und für zu leicht zu befinden. Ein oranges Signallicht oben auf dem Dock leuchtete einsam im Schneegestöber. Manfred Reudenbach zog seine Jacke enger und beschloss, nach Hause zu gehen. Es war Mitternacht, wenn er Glück hatte, würde er bald Schlaf finden, vielleicht einen Traum, der ihn aufrecht hielt, bis das Morgenlicht wieder zur Untätigkeit rief.
Er druckte die Zigarette am Zeigefingernagel aus. Mit einem »Scheiße« warf er die Kippe in die Elbe, wobei er der rotgelben Glut mit den Augen folgte. Sie beschrieb zuerst einen gleichmäßigen Bogen, dann kam ein Windstoß und fegte sie aus der Bahn, unter das Heck eines kleinen Schleppers, der an seinen Vertäuungen zerrte. Punktum für diesen Abend, dachte Manfred Reudenbach. Aber als er sich schon umdrehen wollte, fiel sein Blick auf den Punkt, wo vor wenigen Sekunden die Zigarette das Wasser berührt hatte. Ein grünliches Hafenlicht schickte seine Strahlen durch das Schneegestöber, durch die oberste Schicht graubraunen Wassers. Ein Gesicht blickte ihn von da unten an. Ein weißes Gesicht, aufgequollen und widerlich.
Manfred Reudenbach hatte schon früher Leichen in der Elbe gesehen. Aber das war im Jahre 1944. Böse Erinnerungen. Albträume, die seit Jahrzehnten kamen und gingen. Deshalb schrie er an diesem eiskalten Februarabend 1983 so entsetzlich.
Ronny Olsen versuchte, Frau Lind nicht anzustarren. Von seinem Eckplatz aus, hinten im Nebenzimmer von Halvorsens Konditorei, konnte er sie zwar nach Herzenslust betrachten, ohne auffällig zu wirken, aber dass er seinen Blick fast nicht von ihr abwenden konnte, ging ihm wider die Berufsehre.
Frau Linds Profil hob sich reizvoll von der großen Fensterscheibe ab. Die hohe Stirn und die leicht gebogene Nase gaben ihr ein klassisches Aussehen. Die Augen, die er im scharfen Gegenlicht nicht deutlich sehen konnte, richteten sich auf die Tür. Aber ihr Blick hatte das Angespannte verloren, das er die ersten Male beobachtet hatte. Ihr zarter Körper, nun eingehüllt in ein hellblaues Kostüm, war entspannt, strahlte Selbstvertrauen aus. Frau Lind hatte Ruhe gefunden, das zeigte ihre ganze Erscheinung. Als er nur wenige Minuten nach ihr die Konditorei betreten und sich an ihrem Tisch vorbeigedrängt hatte, war er für eine kurze Sekunde ihrem Blick begegnet. Ihre dunklen Augen zeigten Intelligenz und Sensibilität.
Heut ist sie reif! hatte er gedacht Sonst gefällt sie mir am Ende zu sehr. Schade, dass ich bei so einem Reh zur Büffelmethode greifen muss!
Ja, das war schade. Aber Ronny Olsen hatte es langsam reichlich satt, bei Halvorsen seinen Vormittagskaffee zu trinken. Außerdem war er seiner Sache jetzt sicher. Und auf seiner Liste standen noch andere Aufträge.
Der Knabe kam um Punkt halb zwölf hereingeschlendert.
Ronny ging davon aus, dass er von der pünktlichen Sorte war. Er sah so aus. Kurzgeschnitten und fesch, wie die Mode es in der konservativen Szene vorsah, in der er vermutlich verkehrte. Tadellos gekleidet für sein Alter, dunkelblaue Daunenjacke vom richtigen Fabrikat, dunkelgraue Hose und Wildlederstiefel. Dutzendware aus dem Villenviertel, restlos uninteressant. Ronny archivierte ihn automatisch als zufälligen Statisten und wusste, dass Frau Lind in ein oder zwei Stunden desgleichen tun würde.
Sie nahm ihn in Augenschein. Gründlich. Musterte ihn vom Scheitel bis zur Sohle, ehe er einen Stuhl heranziehen und sich setzen konnte. Frau Lind schien zufrieden mit dem, was sie sah. Jedenfalls ließ sie sich zu einem großzügigen Lächeln herab. Ronny Olsen lächelte ebenfalls leicht. Allerdings bedeutend reservierter.
Sie war so heiß in der Hose, dass sie keine Zeit mit Kaffee und Geplauder vergeudete. Gleich zur Sache. Ronny gefiel sie immer besser. Sie erhob sich, schlüpfte in ihren Persianer und ging.
Der Knabe wartete eine Viertelstunde und drehte Frau Linds hinterlassene Kaffeetasse zwischen seinen langen Fingern, dann stand auch er auf und ging.
Ronny Olsen folgte ihm.
Er ließ sich Zeit. Gab dem Knaben einen ziemlichen Vorsprung. Als der Westendbroiler ins Hotel Continental stapfte, wanderte Ronny mit aufgesetzt selbstsicherer Miene ins Theatercafé. Er mochte diesen großen, offenen Saal nicht und ihm missfielen die Gäste aufs Schärfste. Das Lokal und die intellektuellen Schwärmer, die hier herumzusitzen pflegten, ließen Ronny Olsen sich nackt, unsicher fühlen, Er hatte das Gefühl, dass das laute Lachen, das ihm entgegenwogte, als er die Glastüren aufstieß, gegen ihn gerichtet war, dass die erfolgreichen Kulturgurus ihn durchschaut und begriffen hatten, dass er auch nur ein Allerweltstrottel war.
Er bestellte eine halbe Flasche Rotwein und trank sie langsam, ein etwas halbherziger Versuch, Frau Linds Sexualleben eine gewisse Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Vom Schäferstündchen war erst eine halbe Stunde vergangen, die Flasche war halbvoll und sein Fotoapparat enthielt einen unbelichteten Film.
Arthur Lehmann wirkte nicht besonders begeistert, als er Ronny Olsen in der Rezeption des Continental erblickte. Mit großer Mühseligkeit hatte er sich eine zackige, aufrechte Haltung hinter dem Tresen eines der besten Osloer Hotels zugelegt – er sackte in sich zusammen, als er Ronnys Rotweingrinsen sah, ging augenblicklich in Verteidigungsposition. Der Kunde am Tresen schien diese wenig ansprechende Veränderung des Portiers indessen nicht zu bemerken. Er durchwühlte unverdrossen weiterhin die atlantiktiefen Innentaschen, vermutlich auf der Jagd nach dem Pass, der beweisen sollte, dass er der war, für den er sich auszugeben beliebte.
Ronny griff zu einer Zigarette, ließ sich beim Anzünden viel Zeit, versuchte gleichzeitig, Arthur zu signalisieren, dass er sich nicht allzu sehr aufregen sollte. Von Ronny drohten keine Skandale. Heute nicht. Ronny hatte sorgfältig trainiert, gleichzeitig unschuldig und ein bisschen bedrohlich auszusehen und Arthur seinerseits hatte trainiert, solche Signale zu empfangen und zu deuten. Er war Ronny schon öfter im Zweikampf begegnet und er war aus den meisten nicht als Sieger hervorgegangen. Nun befeuchtete er mit blitzschneller Zunge seine fülligen Lippen, seine Hand fuhr immer wieder zur Trendfrisur hinauf:
Arthur Lehmann war nervös, und das passte Ronny Olsen ganz vorzüglich.
»Alles klar, Mr. Carmichael!« Arthur rang sich ein seelenloses Lächeln ab und drehte sich schwerfällig um, um den Schlüssel hervorzufischen, ohne den Gast aus den Augen zu verlieren. Der Mann schnaubte in seinen Schnurrbart und verschwand auf der Treppe. Ronny, der die ganze Zeit Gewitterwolken aus ungesundem Zigarettenrauch in Richtung Arthur geschickt hatte, ließ die Zigarette auf den Boden fallen und trat sie diskret in den Teppich.
»Auf diese Weise gibt’s kein Trinkgeld, mein Junge, das raffst du wohl hoffentlich.«
Arthur betrachtete, offenbar mit großem Interesse, die Haare auf seinem Handrücken. »Lass mich in Ruhe! Lass mich doch bloß in Ruhe!«
Ronny lächelte. »Gerader Kurs aufs Festland? Nicht aufgeben, Arthur. Noch zwei Jahre und du bist ein ehrenwerter Mann wie jeder andere. Wer kümmert sich denn um die kleinen Jugendsünden? Ein paar ausgeschlagene Zähne bei einer alten Schachtel, die zu blöd war, um ihre Tasche loszulassen, obwohl du doch klar und deutlich gesagt hattest, du wolltest die haben? Das schert doch wirklich kein Aas mehr, Arthur. Die Zeit vergeht und die Leute werden mit jedem Tag weniger zimperlich.«
Arthur schloss beide Augen. Er kannte Ronnys Einleitungen schon. »Was willst du hier?«
»Sie!« sagte Ronny. »Was wollen Sie hier! Fall jetzt um Gotteswillen nicht aus deiner neuen Rolle, bloß, weil du eine bekannte Visage siehst«
»Kannst du nicht gehen, Ronny? Ich hab einen Job zu erledigen.«
»Richtig. Einen Job zu erledigen.« Ronnys Hand klatschte auf den Tresen. »Aber vor allem hast du einen Job zu behalten! Vergiss das nicht, mein lieber König Arthur, vergiss das nie!« Er holte eine neue Zigarette hervor und vergewisserte sich, dass Arthurs Aufmerksamkeit in Reichweite war. »Hier ist ein Junge reingekommen, nicht wahr? So ein kleiner Broiler, den du und ich und anständige Arbeitsleute nicht sonderlich abkönnen. Vor einer halben Stunde, einer guten halben Stunde sogar. Ich nehme an, er hat dich nach der Zimmernummer seiner Mutter gefragt – oder sowas auf die Tour.«
»Und wenn schon! Bitte, blas mir nicht die ganze Zeit Rauch in die Fresse!«
»Und wenn schon will ich gerne dieselbe Frage beantwortet haben. Wo steckt Mama, Arthur? In welchem Zimmer?«
»Hör zu«, antwortete Arthur spitz. »Wenn du glaubst, dass ich Auskünfte über unsere Hotelgäste verkaufe ...«
»Mein lieber Arthur! Wofür hältst du mich? Ich bin doch nicht hergekommen, um etwas von dir zu kaufen! Nein, da enttäuschst du mich wirklich, alter Freund! Gratis will ich das, ganz gratis!«
»Verpiss dich! Mach ganz schnell, dass du hier wegkommst! Ich hab genug von Stinktieren wie dir!«
Das Wort »Stinktier« veranlasste Ronny Olsen, seine Kinderfunkstimme augenblicklich abzulegen. Ohne, dass Arthur Lehmann das auch nur ahnen konnte, weckte dieses Wort bei ihm unangenehme Erinnerungen an die Turnstunden seiner Schultage.
»Corwig & Williams«, sagte Ronny kurz. »Du kannst gut um Hilfe rufen, aber du kannst sicher sein, dass ich dich überschreie. Und ich werde ›Kokain!‹ brüllen. Tierisch laut.« Nach einer Kunstpause von einigen Sekunden fuhr er fort: »Du musst doch kapieren, dass du in diesem Cowboystädtchen nicht Waschpulver für eine ganze Fußballmannschaft besorgen kannst, ohne dass jemand das in die Nase kriegt? Du musst damit aufhören, Arthur, du musst ganz aussteigen.«
Arthurs Blick suchte wieder die Haare auf seinem Handrücken. »So, das wäre für heute die kleine Moralpredigt, Junge. Jetzt noch die Kollekte, dann sind wir fertig. Zimmernummer. Und den Universalschlüssel. Gib von deinem Überfluss. Himmel, hinter dir hängen doch Hunderte von Schlüsseln!«
Ronny lächelte wehmütig, als er die Treppe hinaufging. Die armen Schweine hatten Nr. 69 bekommen. »Jaja, die Alltagssymbolik!« Mehr konnte er nicht denken, denn eine akute Welle der Übelkeit fiel wie ein halbverfaulter Dämon über ihn her, zwang ihn zu einer kleinen Pause. Er kannte diese Anfälle schon. Sie kamen in der letzten Zeit immer häufiger. Die Übelkeit wurzelte in seinen leicht misshandelten Innereien, hatte aber eine Tendenz, bei Aufträgen wie diesem voll zuzuschlagen. Manchmal fragte er sich, ob nicht auch trübe psychische Ursachen mit im Spiel sein könnten. Zum tausendsten Mal schwor er, nun mit den Fickjobs Schluss zu machen und zum tausendsten Mal wusste er, dass er diesen Schwur brechen würde.
Mit der steifbeinigen Entschlossenheit der Alkoholiker hielt er, die Kamera schussbereit, auf die Tür zu und drei Sekunden darauf stürzte er ins Zimmer. »Presse!« rief Ronny Olsen. »Es dauert nur einen Moment!«
An diese Büffelmethode würde er sich nie gewöhnen! Sie war jedes Mal gleich scheußlich. Es war eine Sache, dieses ungesetzliche Gevögel in aller Heimlichkeit zu knipsen, dabei hatte er zumindest Anonymität, das Gefühl, nur ein Schatten in der Finsternis zu sein, ein Arschloch, das niemand sah oder kannte. Die Büffelmethode aber war anders. Sie erforderte, dass er zu seiner Schweinerei stand, dass er offen als Schießscheibe für Furcht und Hass anderer Menschen herhielt. Zum Ausgleich war sie weniger zeitraubend. Während er ununterbrochen die beiden fotografierte, die bisher eng umschlungen unter der Decke gelegen hatten, kämpfte er verbissen gegen den Drang, die Kamera in die Ecke zu feuern. Die armen Leute. Sie wollten es sich doch bloß ein bisschen gemütlich machen. Ein Nümmerchen so mitten am öden Vormittag. Sie bekamen, was sie wollten. Bloß saß in einem Büro in der Stadt ein schlaffer Aktienmakler, der auch seine Wünsche hatte. Bilder wollte er. Beweise. Ronny Olsen hatte im Moment keinen anderen Wunsch, als den ganzen Film zu verknipsen, die Treppe hinunterzustürzen und sich ins Regenwetter draußen zu retten.
Der Knabe hatte vermutlich die erste Runde hinter sich gebracht und als sie unterbrochen wurden, gab sich Frau Lind gerade Mühe, seinen Fahnenmast zu neuen Ehren aufzurichten. Dem entsetzten Gesichtsausdruck des Knaben nach zu urteilen, knickte der Fahnenmast jählings ab, als der Mann mit dem Fotoapparat seinen Einzug hielt. Frau Lind gab jedenfalls auf und schaute ebenfalls hervor. Sie hielt den Mund und versuchte gar nicht erst, sich zu bedecken. Der Knabe dagegen musste sich alle Mühe geben, um im Handumdrehen zum erwachsenen Mann zu werden. Er brauste auf und warf mit Schimpfworten und Drohungen um sich. Mit wütendem Gebrüll schlug er die Decke zur Seite und bescherte Ronny damit einen pikanten Abschluss für seine Bildserie, stürzte nackt durch das Zimmer und wollte auf den Eindringling losschlagen. Ronny, der sich gerade davon überzeugte, dass wirklich alle Bilder verknipst waren, landete einen überraschenden Schlag und traf den Knaben auf die Nase. Blut und Tränen.
»Steig in deine Lumpen! Wenn ich in der Stimmung dazu bin, geb ich dir gleich ein Bier aus. Ich bin nicht so bescheuert, wie ich aussehen kann. Lass dich nie vom ersten Eindruck blenden, Junge!«
Inzwischen hatte Frau Lind ihr graues Heer mobilisiert.
»Es ist wohl nicht ganz sicher, dass wir beide fertig miteinander sind?« Ihr Blick richtete sich fest auf Ronny. »Oder ist schon alles fest entschieden?«
Ronny nahm ruhig den Film aus der Kamera und steckte ihn in die Tasche. »Ganz sicher ist das wohl nicht.« Es irritierte ihn, dass er ihrem Blick nur mit Mühe standhalten konnte. Der Knabe, der sich jetzt anzog, schien verwirrt zu sein. Ronny klärte ihn auf: »›Wir beide‹ sind Frau Lind und ich, mein Junge. Das mit dem Bier tut mir leid, du hast es noch gut!« Er dachte: Es ist wohl nicht ganz unwahrscheinlich, dass wir uns wieder über den Weg laufen.
Puterrot und ohne ein Wort verschwand der bezahlte Liebhaber in sein feines Westend. Vielleicht mit einem bohrenden Zweifel an seinen Fähigkeiten, dem Verdacht, dass Ronny Olsen der Nächste auf Frau Linds Liste männlichen Zeitvertreibs sein könnte.
»Meinst du, er ist eifersüchtig?« Ronny brach die Stille, nachdem die Tür ins Schloss gefallen war. »In dem Alter hat man doch noch starke Gefühle!«
»Apropos Gefühle«, sagte Frau Lind und zog sich die Decke züchtig über ihre Brüste, die reichlich kess ins Zimmer gewippt waren. »Was ist das für ein Gefühl, eine Ratte zu sein?«
»Nicht so toll«, antwortete Ronny Olsen wahrheitsgemäß. Ihm war so schlecht, dass er bereits die Entfernung zum Badezimmer mit Blicken ausmaß. Ein einstimmiger Chor von Magen, Leber und Nieren legte ihm nahe, der Sache ganz schnell ein Ende zu bereiten. »Das sollten wir nicht weiter diskutieren. Ich nehme an, du möchtest über anderes mit mir sprechen als über meine Gefühle.«
»Ja«, sagte sie. »Ich glaub nicht, dass die existieren.«
»Gut, lassen wir’s dabei.«
Sie griff nach den Zigaretten auf dem Nachttisch, zog eine Salem aus der Schachtel, hatte aber kein Feuer zur Hand. Ronny Olsen gab ihr aus seinem frischerworbenen türkisen Bic, Typ Wegwerf, 5,50 im Supermarkt – Feuer. Heutzutage können selbst Ratten es sich leisten, den Kavalier zu spielen.
»Wieviel kriegst du hierfür?« Ihre Stimme war trocken und sachlich.
Zum Glück, dachte er. Er hatte genug von der Sorte getroffen, die flehten und bettelten.
»5000. Plus Spesen. Das halbe Honorar auch ohne Resultat.«
»Hohe Spesen?«
»Kaffee. Ein paar Mal Taxi. Film. Nur Kleinkram.«
»Und du hältst dicht, wenn ich den Film für sechs kaufe?«
»Ich halte für fünf dicht«, sagte Ronny in einem Versuch, eine gewisse Ritterlichkeit zu zeigen.
Frau Lind schien davon nicht sonderlich beeindruckt zu sein.
Vielleicht hatten 1000 Kronen in ihrer Welt keine große Bedeutung. »Und du kannst ... kannst ihm klarmachen, dass er keinen Grund zur Besorgnis hat?«
»Ich bin ein tüchtiger Lügner, Frau Lind! Gegen gute Bezahlung kann ich St. Petrus einreden, dass Satan ein braver Bursche ist, der es nur zu gut verdient hat, durch den Zoll gelassen zu werden.«
»Das glaube ich sofort!«, sagte Frau Lind. Sie griff zum Scheckbuch in ihrer Handtasche.
Ronny Olsen stand vor dem Standbild von Karl Johan auf dem Schlossplatz und fühlte sich erbärmlich. In der Senke unter ihm lag ein Oslo in Matsch und Regen. Graue Häuser, graue Straßen, ein graues Volk, als dessen Teil er sich mehr denn je fühlte. Hier in dieser matschigen Stadt hatte er sich seine Kinderschuhe abgelatscht, bis die Sohlen nicht mehr wollten, hier hatte er seine Jugend und die Hälfte der Lebensphase verlebt, die als »seine volle Manneskraft« bezeichnet werden könnte. Ronny Olsen war 42 und er fand, dass sein Leben bisher ein einziges Fiasko gewesen war. Und weit draußen, am unklaren Horizont seiner Phantasie, sah er, wie sich der Ozean der Hoffnungslosigkeit immer weiter erstreckte – nirgendwo Land in Sicht. Was hatte er Frau Lind und diesem jungen Hüpfer eigentlich getan? Er hatte sie nach besten Fähigkeiten fertiggemacht Frau Lind hatte überlebt, weil sie geistesgegenwärtig genug war und Geld auf dem Konto hatte. Der Knabe ... Ein kleiner Furz, der sich prostituierte, weil er gerne vögelte und glaubte, unbemerkt davonzukommen. Sein Schicksal würde er anderswo treffen, Ronny hatte ihm nur den ersten Schlag von vielen verpasst. An dem Tag, an dem der Bengel mit seiner eigenen Sexualität umgehen müsste, in einer Beziehung, in der die Hunderter nicht mit im Spiel sein würden ...
Ronny Olsen kam nicht um die Tatsache herum, dass er sein Leben auf dem Unglück anderer aufbaute, dass er seine kostbare Zeit auf Erden damit vergeudete, im Schrotthaufen des Wohlfahrtsstaates herumzuwühlen. Er war eine Ratte. Und sein Tummelplatz war der Schrotthaufen, auf dem die Träume und Sehnsüchte der Menschen zu einer zähen, stinkenden Masse verknetet wurden. Das ärgste Problem für Ronny an diesem triefnassen Februartag war, dass er nicht so recht wusste, wohin er sich sonst wenden könnte. Es war ihm schmerzhaft bewusst, dass er in einem Blumenbeet rein gar nichts zu suchen hatte.
Müde und alkogeil kehrte er der Innenstadt den Rücken, passierte die Schilderhäuschen der Garde und steuerte die Kneipe Krølle an – die Quelle. Wenn Ronny Olsen so wie heute zumute war, löschte er seinen Durst im klaren Wein dieser Quelle – gab sich alle Mühe, sich darin zu ertränken.
Am Morgen danach ging es ihm so schlecht wie üblich. Sieben Zwerge hackten irgendwo in seinem Schädel nach Diamanten, große Werte fanden sie wohl kaum, ein Drache schlug seine Zähne in seine Leber. Stöhnend drehte er sich auf die linke Seite und fiel krachend zu Boden. Erst jetzt begriff er, dass er sich im Büro befand, dass er noch eine Nacht auf Tante Wilhelmines lebensgefährlichem, schmalem Sofa verbracht hatte. Das Sofa von Tante Wilhelmine, die um die Jahrhundertwende in die Familie seines Vaters eingeheiratet hatte, hatte sich schon öfters große Mühe gegeben, ihn ums Leben zu bringen und hatte ihn vor ein paar Monaten bei einem Beischlafversuch nach indischem Muster fast umgebracht. Tante Wilhelmine soll eine äußerst puritanische Frau gewesen sein, die angeblich während einer 20jährigen Ehe ihre Tugend bewahrt hatte und voller Ehren und kinderlos dastand, als die TBC an die Tür klopfte und die Befreiung von fleischlichen Trieben und Schwächen verhieß. Ganz für sich hatte Ronny das Sofa »Tante Wilhelmines Rache« getauft und hatte sich seiner nur aus Mangel an Energie noch nicht entledigt. Es war zu schwer, er konnte sich nicht erinnern, wie es seinerzeit ins Büro geschafft worden war. Er musste das verdrängt oder die Untat im Vollrausch begangen haben.
Die Dielenbretter waren hart und kalt. Er hatte ihren lieblosen Kuss schon öfter empfangen, aber nun kamen sie ihm besonders abweisend vor. Er kam auf die Beine, wankte zum Fenster und kratzte an der kalten, schönen Eisblume. Zehn Grad minus. Halb im Tran bezwang er abermals die feindlichen Dielenbretter, zog den »Krisenbitter« aus dem Aktenschrank. Feuer. Kühlendes Feuer, wärmendes Feuer. Kühlt die Nerven, wärmt den Körper. Ronny Olsen war zur Stelle, dort, wo er zu dieser Tageszeit hingehörte, ein neuer Arbeitstag segelte langsam herauf. Es war zehn Uhr, eine Viertelstunde war verstrichen, aber er stand noch immer mit der Flasche in der Hand am Fenster und spähte durch die halbgefrorene Fensterscheibe hinaus. Ganz langsam näherte er sich seiner eigenen Oberfläche. Unten im Hinterhof stand ein anderer Mann beim Klapperschluck. Pelle der Eroberer kippte eiskaltes Export mit steifgefrorenen Fingern in seinen wartenden Schlund. Gelbe Signalflecken, wie in den über Nacht gefallenen Schnee geschossen, umgaben die Jammergestalt.
Ronny trat zwei Schritt zurück. Wenn der Eroberer ihn entdeckte und zu nerven anfing, würde er das Wrack heute nicht mehr loswerden. Pelle der Eroberer hatte so viele unaufgeklärte Fälle in der Birne, so viele Mysterien, für die er gerne eine Lösung wüsste. »Wo du doch Detektiv bist und überhaupt ...«
»Wo du doch Detektiv bist ...« Ronny setzte sich auf seinen ruinierten Bürostuhl und ließ seinen Blick durch den Raum Wandern. Zwei Bürostühle an einem Schreibtisch. Seiner, auf dem er saß und Lailas leerer. Der Schreibtisch war von alten Zeitungen, Papieren, Rechnungen überfüllt, Das Telefon, das lebenswichtige Telefon, ragte zusammen mit Lailas Remington gerade noch aus dem ganzen Chaos heraus. An der braungelben Wand ein schrilles Plakat aus Hawaii – es stellte den Traum dar – und darunter, direkt neben dem Aktenschrank, einige äußerst unklare Fotos von ihm und Laila auf Pauschalreise in Benidorm. Letztere repräsentierten die Wirklichkeit. Auf dem einen Bild konnte er, Zigarettenrauch und schlechter Belichtung zum Trotz, sehen, wie er und Laila den Fotografen hasserfüllt anstarrten. Auf Bild Nr. 2 saß Ronny Olsen mit blödem Lächeln auf einem Barhocker, und das letzte zeigte Lailas halbnackten Körper, zum Trocknen im Sand ausgestreckt.
»Geschmackvolles Dekor«, murmelte Ronny leise und bitter und warf Tante Wilhelmines Rache einen scheelen Blick zu. Er dachte: Als Junge habe ich bestimmt davon geträumt, Privatdetektiv zu werden. Oder Kommissar, jedenfalls einer, der Verbrechen aufklärt. Himmel, ich hab doch Detektivgeschichten verschlungen wie die Christenmenschen die Bibel. Im Geiste hab ich mich selber gesehen, in einem finstren Torweg, den Hut tief ins Gesicht gezogen und eine schlenkernde Zigarette im rechten Mundwinkel. Gerecht. Aber stahlhart. Die Hände tief in den Manteltaschen und einen unergründlichen Blick in meinen eisblauen Augen. Herrgott! Ich bin ein Mann, der gesehen hat, wie Träume in Erfüllung gehen ...
Aber die schönsten Träume sind und bleiben doch die unerfüllten.
Schritte auf der Treppe. Schwere Schritte leichter Füße. Ronny versteckte die Flasche wieder im Aktenschrank.
Laila sah an diesem schicksalhaften Februarmorgen aus wie ein Blechkanister. Ihre kurzen gebleichten Haare standen nach allen Seiten ab, ihr Gesicht war voller alter Schminke und die Kälte hatte ihrer Haut ein raues Rot verpasst. Die Röte hätte vielleicht wie ein frischer Windstoß in einem ansonsten erschöpften Gesicht wirken können, aber aus irgendeinem Grund ließ sie Laila nur noch versoffener und aufgedunsener aussehen als sonst.
»Sag nichts!« bat Ronny, »Lass mich raten. Hast du versucht, mit bloßen Händen einen Zug anzuhalten? Hast du dich mit einem schizophrenen Wildschwein geprügelt? Oder bist du ganz einfach mit deinem Scheißbullen auf die Rolle gegangen?«
»Halt die Fresse!«, riet Laila. Sie riss sich den Lammfellmantel von der Schulter und schmiss ihn aufs Sofa. »Halt die Fresse und wirf einen Blick auf dich selber!«
»Eine kleine Runde mit dem Knüppel, hm?«
»Er hat einen wunderbaren Knüppel, Ronny. Wunderbar. Können wir mit dem Scheißgefasel aufhören und an die Arbeit gehen?«
Ronny hob die rechte Hand. Sie war schwer. »Friede! Hast du die Zeitungen mitgebracht?«
»Njet. Was liegt heute an?«
»Ich geh bloß schnell die Zeitungen kaufen«, sagte Ronny Olsen.
62 Treppenstufen führten vom 2. Stock zum Hof hinunter. Es war ihm unmöglich geworden, sie nicht zu zählen. Gute Zwangshandlung, dachte Ronny, Lenkt die Aufmerksamkeit von den grünen Steinwänden im Treppenhaus ab und wenn man wirklich Schwein hat, dann vergisst man den Kloakengeruch vom kaputten Klo im ersten.
Ronny und Laila Olsen hatten sich ein wirklich elendes Büro zugelegt. Dass sie überhaupt Kundschaft bekamen, war nur dem Telefon zu verdanken. Die Leute fanden im Telefonbuch die Detektei Olsen, wenn es im Leben zu viele Verwirrungen und ungelöste Rätsel gab. Laila und Ronny Olsen. Im Volksmund hieß die Detektei Olsen »Detektivbüro Darling«. Weder Laila noch Ronny verfügten über ein besonders ansprechendes Äußeres, aber beide beherrschten die Kunst, sich zusammenzunehmen, sich am Riemen zu reißen, wenn ein neuer Kunde gekeilt werden sollte. Reiner Mentholatem und strahlende Zähne, frischüberholt mit Zahnweiß oder Zigarrenasche. Außerdem hatten beide gute Telefonstimmen. Und die Konsultationen fanden zumeist in irgendeinem Restaurant statt, weit entfernt von dem dunklen Zimmer in der Toftesgate, Grünerløkka, Oslo 5. Das war nicht billig, aber Ronny und Laila hatten keine Hemmungen, die Konsultationen auf die Rechnung zu setzen, wenn die Stunde der Abrechnung nahte. Meistens war die Kundschaft dumm genug, das zu akzeptieren. Erleichtert, weil die beiden Kristallgehirne in ihr lächerliches Leben wieder Ordnung und Symmetrie gebracht hatten. Dazu gehörte oft so wenig. Die Bestätigung des alten Verdachts, dass der Ehemann ein wenig zu munter mit dem Schwanz wedelt, wenn er zu Tagungen muss. Eine Untersuchung, die es an den Tag bringt, dass der das Vertrauen aller genießende Industriearbeiter Fredriksen im Lager Plastikaschenbecher mopst. Die Wirklichkeit kommt wieder ins Gleis, das Leben in Legoland geht weiter. Die Leute sind so glücklich, wenn ihnen irgendein Trottel den Sündenbock mit Namen und Adresse liefern kann. Das Gefühl, sich zu prostituieren, und das auf eine simplere Weise als die Frauen, die sich unten auf dem Bankplatz die Gesundheit wegfroren, war weder Ronny noch Laila fremd.
Im Briefkasten im Treppenhaus lag ein einsamer Drohbrief vom Finanzamt. »Wenn Sie nicht innerhalb usw.« Ronny riss ihn ruhig in Fetzen und warf die Schnipsel den Dielenbrettern zum Fraß hin. Das Ehepaar Olsen hatte im Laufe der Jahre zu Staat und Steuer ein gelinde gesagt platonisches Verhältnis entwickelt. Was man nicht hassen mag, ignoriert man nach besten Fähigkeiten. Ronny Olsen lächelte müde und trat in die arktische Temperatur hinaus.
Arktis! Zur Kälte auch noch Wind. Blöde Schneeflocken, die um die Ecke schwirrten. Der Himmel war finster, böse, hier waren noch weitere Gemeinheiten zu erwarten. Er zog sich den Mantelkragen über die Ohren und dachte an Juli, sonnenwarme Felsen im Wasser, nackte Hintern. Wir Nordländer sind wie Bären. Wir halten Winterschlaf, aber in unserem Gehirn, da träumen wir, um zu überleben.
Harry an der Ecke war nicht in Superstimmung. Seine Lippe hing, sein Blick war bleich. Ronny dachte, dass vielleicht noch andere heute einen Neujahrsgruß vom Finanzamt bekommen hatten.
»Heißa, Harry! Ich hätte gern drei Zeitungen und eine doppelte South State ohne Filter und drei Export für meine Süße. Ich hoffe, ich stör dich nicht bei deinen Fluchtplänen!«
»Hast du Geld?« Harry unternahm nicht einmal den Versuch, als der schleimende Krämer aufzutreten, der er im Grunde war.
»Aber Harry! Red keinen Quatsch! Du weißt doch, dass ich am Monatsende bezahle!«
»Von welchem Monat?« fragte Harry.
Ronny verkniff sich ein paar Säuerlichkeiten, bezahlte bar und beschloss, in Zukunft bei Achmed einzukaufen. Achmed war zwar auch ein Geizkragen, hatte aber keine so freche Klappe wie Harry.
Er klemmte sich die Zeitungen unter den Arm und wünschte, er könnte an einen besseren Ort gehen als in das verdreckte Büro, zu einem anderen Menschen als seiner verkaterten Frau. Man kann träumen, man kann wünschen ... Ronny Olsen ging zurück ins Büro und zu Laila.
Bei Stufe 37 bohrte sich das Stilett in seine Leber. Sonst kam er immer weiter. Er blieb automatisch stehen und warf dabei einen Blick auf die Titelseite vom Dagbladet. »Norweger in Hamburg tot aufgefunden!« Die dicken Schlagzeilen waren von einem großen Foto des Hamburger Hafens begleitet, schwarze abgeblätterte Stahlskelette vor hellem Himmel. Untertitel: »Polizei tippt auf Mord.«
Er ging weiter und dachte vage an Norweger, die sich mit ausländischem Billigschnaps amüsieren. Erreichte Stufe 62, erreichte das Büro, erreichte Laila.
»Mord in Hamburg. Sollen wir den Fall übernehmen?« Die Tür fiel krachend hinter ihm ins Schloss.
»Ich hab aufgeräumt«, sagte Laila. »Den Schreibtisch ausgegraben. Ein Kerl hat angerufen und wollte wissen, was sein Fall macht.«
»Pettersen. Glaubt, seine Alte hätte einen Liebhaber.«
»Und?«
»Irrt sich. Die hat mindestens drei. Ich ruf ihn an, wenn ich in Stimmung bin.«
»Der Teufel soll die Fickjobs holen«, meinte Laila. »Ich wünschte, wir kriegten mal einen richtigen Fall.«
»Die Fickjobs halten uns am Leben, Laila. Wenn die Leute nicht mit ungebärdigen Tieren zwischen den Beinen rumliefen, dann hätten wir schon längst einpacken können.«
»Wir sind doch verdammte Luder!« Laila lachte. »Pfui Teufel, was für ein Job!«
»Wir leben. Das ist das Wichtigste.« Und Ronny dachte, als er ihr erschöpftes Gesicht betrachtete: Aber auch nur noch haarscharf!
»Ich raff das nicht, Ronny. Ich kapier nicht, dass die Leute so viel Kohle hinblättern, bloß um zu erfahren, dass irgendwer ein Verhältnis hat.«
Nicht alle erfahren sowas gratis, dachte Ronny. Er gab keine Antwort.
Sie entdeckten es gleichzeitig. Laila las VG, Ronny noch immer Dagbladet. Derselbe Name. Im Ganzen dieselbe Geschichte.
Bernard!
Als sie vor zwei Tagen gefunden wurde, hatte die Leiche keinerlei Papiere bei sich, war inzwischen aber schon identifiziert. Die Leiche in Hamburg war einst ein quicklebendiger Mann von 42 Jahren gewesen, sein Name hatte Bernard Lindquist gelautet. Bernard Lindquist, ein enger Freund von Laila und Ronny.
»Wann ist Bernard noch verschwunden?« fragte Ronny, nachdem sich der erste lähmende Schock gelegt hatte.
»Vor zwei Monaten«, antwortete Laila. »Fast auf den Tag genau vor zwei Monaten.«
Ronny wühlte in Klein- und Großhirn, suchte nach Daten, klaren Erinnerungen. Laila hatte recht. Vor zwei Monaten, um den 15. Dezember, hatten die Zeitungen eine Suchmeldung gebracht und die gesuchte Person war Bernard Lindquist. Bernard war verschwunden, war zumindest nach einer Reise in die Niederlande und Belgien im Oktober nicht in seine Wohnung in Oslo zurückgekehrt. Bernard war Schriftsteller und Freelancer gewesen. Nur wenige seiner Bekannten hatten die Suchmeldung ernst genommen. Nach allgemeiner Auffassung war er im Suff irgendwo versackt, Ronny und Laila hatten über die ganze Angelegenheit nur gelacht. Aber nun appellierte Bernards Verschwindenummer nicht mehr an die Lachmuskeln von Laila und Ronny Olsen. Sie saßen einander mit ihren Zeitungen gegenüber, ließen ihre Blicke die triste Umgebung durchstoßen und sich auf Erinnerungen richten, die im Moment jedenfalls licht wie die Sommersonne erschienen.
Tot, tot, tot. Bernard war tot. Ronny dachte ziemlich träge, dass er einen guten Freund verloren hatte, ein neuer toter Freund fügte sich glatt in die Reihe derer ein, die bereits früher denselben Weg gegangen waren. Aber diesmal war es anders. Wenn in den Zeitungen die Wahrheit stand, dann konnte kaum Zweifel daran bestehen, dass Bernard ermordet worden war. Der Rest der dahingegangenen Garde hatte sich mehr oder minder halbherzig selber ums Leben gebracht.
Laila sagte: »Ich fass es nicht! Ich raff es ganz einfach nicht, es ergibt keinen Sinn für mich!«
Laila hatte einen doppelten Verlust erlitten. Sie hatte einen guten Freund verloren. Und einen guten Liebhaber.
»Er war bisexuell«, sagte Ronny schließlich. »Es gibt genug Leute, die Männerliebhaber hassen.«
»Er war auch Journalist«, erwiderte Laila leise und Ronny musste widerwillig vor sich selber zugeben, dass meistens Laila die Punkte davontrug. »Manche Leute hassen Journalisten.«
»Ja«, sagte Ronny. »Ja.«
Laila öffnete ein Bier, lehnte sich im Bürostuhl zurück und dachte an Bernard Lindquist. Er war viele, viele Jahre lang ein naher Freund gewesen. Und nachdem alle Welt eingesehen hatte, dass ihre Beziehung zu Ronny nicht mehr von der festgezimmerten und heiligen Sorte war, war er bisweilen auch ihr Liebhaber gewesen. Bernard hatte ihr etwas gegeben, was sie bei Ronny schmerzlich vermisste und was sie bei anderen Männern in dieser Stadt vergeblich gesucht hatte: Lebensfreude. Den Willen zu leben, sich zu entfalten. Mit Bernard zu schlafen war wie eine Energiespritze gewesen, wie eine Injektion seiner Freude, da zu sein, dazuzugehören. Und Gott, der in seinem hohen Himmel saß und den heiligen Ehebund gestiftet hatte, mochte wissen, dass sie das gebraucht hatte.
Und nun war Bernard tot. Tot, fort für immer. Es wirkt so ungerecht, dachte sie, als sie nach einer von Ronnys Zigaretten griff. Unkraut wie Ronny und ich soll weiterwachsen, wenn Blumen wie Bernard ohne Vorwarnung ausgerupft werden.
Auch Ronny dachte an Bernard. Seine Gedanken richteten sich zwar nicht auf das rein Sexuelle, aber auf seine Weise dachte auch er über Bernards Lebenskraft nach. Aus irgendeinem Grund hatte sie sich an Bernard Lindquists Beinen festgemacht. Er sah Bernards lange Beine vor sich, damals, als sie bei der Schulmeisterschaft zusammen gerannt waren. Bernards Beine hatten immer vorne gelegen, waren unschlagbar gewesen: Und der alte Turnlehrer Andersen sagte: »Es kommt auf den Willen an, Jungs. Auf den Willen!«
Ronny Olsen war immer ganz hinten gewesen.
Tot. Bernard weilte unter den himmlischen Scharen, hatte seine Schreibmaschine gegen Harfe und Posaune getauscht. Bernard Lindquist war von irgendeinem Schwachmaten ermordet worden, dem es auf den Geist ging, dass er Quartalsschwuler, Journalist oder Schriftsteller war. Oder sonst was. Irgendwer hatte ihn, diesen lieben Mann, als so bedrohlich empfunden, dass er, sie, oder alle zusammen, sich genötigt gesehen hatten, ihn aus dem Weg zu räumen. Wenige töten gern, dachte Ronny, Morde geschehen entweder im Affekt oder weil alle anderen Wege und Möglichkeiten versperrt sind. Bernard Lindquist musste sterben, aber ich kann nicht verstehen, warum.
Er las den Artikel im Dagbladet noch einmal. Viel Geschrei und wenig Ei. Bernard Lindquist war vor zwei Tagen aus dem verdreckten Wasser des Hamburger Hafens gefischt worden und war bereits über eine Woche tot gewesen. Die Todesursache war noch nicht festgestellt, aber es wurde angedeutet, dass die Leiche arge Kopfverletzungen hatte. Außerdem war eine Kette mit von der Partie. Um seine langen Läuferbeine hatte jemand eine Kette gewickelt. Die Kette war losgerissen, als er gefunden wurde und der Kriminalreporter zog den kühnen Schluss, dass daran ursprünglich etwas Großes, Schweres befestigt gewesen war, etwas, das Bernard Lindquists Körper lange unter Wasser halten sollte.
Ronny und Laila kam diese Theorie nicht unwahrscheinlich vor.
Laila trank ex. »Wir müssen mit Tante Åse reden.« Sie stellte die Flasche auf den Tisch und rülpste diskret. »Das müssen wir!«
»Arme Tante Åse!« meinte Ronny. »Haben wir das Geld für den Bus?«
Seit die Männer von der Kriminalpolizei mit ihrem grässlichen Foto dagewesen waren, hatte Åse Marie Bakke die Zeit im Grunde mit Weinen zugebracht. Vor einem Tag hatte sie sie hereingelassen und sie stellte zu ihrer Verwunderung fest, dass sie immer noch Tränen auf Lager hatte. Ach, die Männer waren schon rücksichtsvoll gewesen, das war es nicht. Aber sie waren eben Männer mit Haut und Haaren, wenig geschickt im Umgang mit den Gefühlen anderer Menschen. Außerdem waren sie in einer Behörde tätig, wo Tod und Gewalt nicht zu den Seltenheiten gehören und obwohl sie ihr wirklich die allerschlimmste Nachricht gebracht hatten, hatte über ihren Worten und ihren Fragen doch eine unangebrachte Alltäglichkeit gelegen. Sie taten ihr fast leid. Sie hatten so grau und erschöpft gewirkt und trotzdem versucht, Mitleid und Taktgefühl zu zeigen. Sie hatten sich wirklich Mühe gegeben. Aber hinter der Teilnahme hatte sie die Routine erahnt, hinter ihrem mitfühlenden Nicken den Wunsch, Åse Marie Bakke so schnell wie möglich verlassen zu können. Und sie hatten ihre kostbare Zeit wirklich nicht länger als nötig mit Beschlag belegt. Es war Bernard, den das von ihnen mitgebrachte Foto zeigte und dass er tot war, brauchte ihr niemand zu erzählen.
Laila Olsen schellte an der Tür. Das Treppenhaus, in dem sie und Ronny standen, hatte Ähnlichkeit mit dem in der Toftesgate, wo ihr Büro lag und dem in der Helgesensgate, wo das Ehepaar sich allergrößte Mühe gab, aus einem Zimmer plus Küche geringen Standards ein »Heim« zu machen. Aber alte Mietskasernen unterscheiden sich nirgends besonders voneinander. Vor allem dann nicht, wenn sie Spekulanten oder Banditen mit weißem Kragen gehören. Dieses Haus in der Schweigaardsgate gehörte zu Oslos schlimmsten und Tante Åse beklagte sich immer wieder über die undichten Stellen in den verrotteten Fensterrahmen, durch die die Gicht gekrochen kam. In einem ganz anderen Teil der Stadt saß ein Mann und verdiente Geld daran, dass Leute wie Åse Marie Bakke langsam in Auflösung übergingen.
An diesem Vormittag sah sie aufgelöster aus als sonst. Ihre grauen Haare schienen grauer, die Falten tiefer geworden zu sein – ihre lieben blauen Augen, in denen immer ein Lächeln gelegen hatte, waren matt vom Weinen. Als sie in der Türöffnung stand und zu ihnen aufschaute, erinnerte sie Ronny vor allem an einen zerzausten kleinen Spatz. Dann stimmt es also, dachte er. Dann war es wirklich kein Namensvetter von Bernard, der da unten in Hamburg das Freischwimmen nicht geschafft hatte.
»Das tut uns so leid, Åse«, sagte Laila. Sie fiel ihr um den Hals. »Herrgott, wir können es noch immer nicht ganz glauben!«
»Kommt rein«, piepste Åse Marie Bakke und drückte Laila fest an sich. »Mach ja die Tür zu, Ronny.«
Ronny machte die Tür zu. Danach stand er etwas hilflos neben den beiden Frauen, strich Åse vorsichtig über die Haare, fand aber keine Worte.
»Wir haben Kaffee und einen Kuchen mitgebracht«, brachte er schließlich heraus, mit belegter, fremder Stimme. »Ich setz eben Wasser auf, geht doch schon ins Wohnzimmer.«
Åse befreite sich. »Aber ich kann doch ...«
»Nein, nein«, sagte Laila. »Komm ins Wohnzimmer. Ronny ist doch so häuslich! Er schafft es sicher, Wasser in den Kessel zu füllen und den Kuchen aus dem Zellophan zu nehmen!«
Der Kuchen schmeckte nach Zellulose, angereichert mit Zitrone und Zucker. Ronny würgte ihn mit schwarzem Kaffee herunter, während er das vertraute Wohnzimmer betrachtete. War es wirklich möglich, dass sich nichts verändert hatte, seit er und Bernard als Kinder hier gespielt hatten? Es sah so aus. Doch, es gab natürlich einen Fernseher. Farbe, Typ Reise. Er hatte sich eingestellt, nachdem Bingo in Norwegen eingeführt worden war. Tante Åses Glückstreffer. Davon hatte es in ihrem Leben nicht allzu viele gegeben.
Ansonsten war alles noch genauso wie damals. Das schwarze Klavier stand an der einen Querwand und war sicher noch genauso verstimmt wie damals, als er und Bernard wie die Besessenen geübt hatten, um ein neuer, vierhändiger Jerry Lee Lewis zu werden. Dieselbe gelbe Leinendecke lag über dem Deckel und auch die Kristallvase mit eingraviertem Wikingerschiff und Grüßen aus Norwegen stand an ihrem Platz. Alles wie damals. Auf dem abgenutzten Teppich hatten sich die Katzenpisseflecken vermehrt, aber er konnte auch als der alte durchgehen. Die schweren Möbel standen noch immer fest auf ihren Löwenfüßen, wenn Åse auch zugegeben hatte, dass sie bisweilen in Gefahr gerieten, wenn das Thermometer auf 20 Grad minus sank. Wer weiß schon, dass die Alten in Oslo jeden Winter frieren, dass Stühle und Tische zum Raub der Flammen werden, wenn die Kälte die einfachen Fensterscheiben durchdringt? Die Alten wissen es, dachte Ronny. Und die Hausbesitzer. Höflicherweise hatte er den Mantel ausgezogen, aber er bemerkte, dass Åse zwei Strickjacken und einen dicken Schal trug und dass sie in der Wohnung mit Stiefeln herumlief.
Er kam zur Sache. »Wann hast du eigentlich zuletzt von ihm gehört?«
»Von Bernard? Ach, das ist ziemlich lange her. Die Polizei hat auch danach gefragt. Ich weiß nicht ... auch wenn sie sehr höflich waren, hatte ich doch das Gefühl, dass sie argwöhnisch waren, wenn ihr versteht, was ich meine. Nicht, dass sie das so offen gesagt hätten, aber ... ja, eine alte Frau hat schließlich ihre Intuition, nicht wahr? So, als ob Bernard sich in irgendwas Ungesetzliches verwickelt hätte. Ich hab wahrheitsgemäß gesagt, dass ich seit Oktober, seit er gefahren ist, nichts mehr von dem Jungen gehört habe. Direkt nach seiner Abreise hab ich eine Postkarte bekommen, aus Amsterdam, das weiß ich noch, da waren so viele schöne Tulpen drauf.«
»Hast du die Karte noch?« fragte Laila mit einem kurzen Seitenblick auf Ronny.
»Natürlich hab ich die Karte noch, Liebes! Du glaubst doch wohl nicht, ich würde eine Karte von meinem Jungen wegwerfen?« Ihre Stimme wurde dünner und sie wischte sich eine Träne aus dem Auge, als sie aufstand und zur Kommode neben der Tür hinüberging. Ronny gab Laila das Zeichen für »dünnes Eis« und sie nickte vorsichtig.
Warum hab ich danach gefragt? dachte Laila. Das ist doch kein verdammter Job! Oder doch? Widerwillig musste sie zugeben, dass sie mitten in ihrer persönlichen Trauer auch eine Spur von beruflicher Neugier empfand. Von den Tulpen aus Amsterdam war es weit bis zum Kloakenwasser in Hamburg und irgendwo auf diesem Weg musste es Spuren geben, die erklärten, warum Bernard nicht mehr unter den Lebenden weilte.
»Hier ist sie«, sagte Åse und dann durchbrach ihre Tränenflut wieder den Damm. Ronny war schon aufgesprungen und führte sie zu einem Sessel. »Na, na, Åse! Lass es doch fließen. Du brauchst Zeit und die brauchen wir auch.«
»Aber ich kann doch nicht bis zum Jüngsten Tag weiterheulen!« Sie verbarg das Gesicht in den Händen und schniefte. »Verflixt, soviel hab ich nicht mehr geweint, seit Alf im Chinesischen Meer geblieben ist.«
Laila nahm die Karte vom Tisch. Sie zeigte wirklich ein Tulpenmeer, weiße, rote, gelbe. Im Hintergrund gab es eine Windmühle und einige Niederländerinnen in ihren bekannten Trachten. »Liebe Mama! Gut in Amsterdam angekommen, wo ich einen Wagen mieten und nach Süden fahren will. Der Flug war gut – die ganze Zeit schönes Wetter. Liebe Grüße, dein Bernard.«
»Mama«. Bernard hatte seine Tante Åse immer »Mama« genannt. Vielleicht kein Wunder, denn seine leibliche Mutter hatte er kaum kennengelernt, hatte jedenfalls keine Erinnerung mehr an sie. Fünf Monate, nachdem sie den Jungen geboren hatte, belohnten die Deutschen sie mit einer Passage auf dem Frachter Donau, da sie immer noch mit jüdischem Blut in den Adern herumlief. Norwegen – Deutschland. Einfache Fahrt. Der Junge wurde in letzter Sekunde von Åse und Alf Bakke gerettet – Bernards Vater nahm noch in derselben Woche seine Stiefel vom Haken und schloss sich dem bewaffneten Widerstand an. Das sollte ihm dann auch eine Fahrkarte nach Deutschland eintragen. Er kam jedoch irgendwie zurück, auch wenn das Rote Kreuz seine Heimreise finanzieren musste. Aber es hieß, dass es ihm in den Lagern nicht sehr gut gefallen hatte. Ja, so wenig hatte ihm die deutsche Verpflegung zugesagt, dass er unmittelbar nach seiner Heimkehr einen überzeugenden Versuch startete, sich zu Tode zu trinken. Damit war er nun, fast vierzig Jahre später, immer noch beschäftigt und die Wahrscheinlichkeit, dass es ihm eines Tages gelingen würde, stieg immer mehr. Laila hatte nie daran gezweifelt, dass er sein Projekt am Ende erfolgreich beenden würde. Lars Petter Lindquist würde an dem Tag, an dem der Tod es wollte, mit erhobener Flasche über die Ziellinie gehen und wenn er in seinem Leben auch nicht oft gesiegt hatte, so würde dieser Tod über die Nazifolterer und Sadisten siegen: Sie hatten ihm nur ein Auge nehmen, ihn zum Krüppel schlagen und auf ewig seine Nerven ruinieren können. Und dabei waren sie wohl kaum von der schlaffen Sorte gewesen, sondern von dem Typ, der gern die Nacht zur Hilfe nimmt, wenn der Tag nicht lang genug ist. Nein, Lindquist senior war ein sturer Bock. Er wollte leben und er wollte nach Hause. Nach Hause in die Gossen des Vaterlandes, heim zu Methylalkohol und Spiritus und echtem Schnaps für die Sonntage. Es kam gar nicht in Frage, ihm einen kleinen Jungen von vier Jahren zu überlassen.
»Der Junge bleibt bei mir!« – So hatte Tante Åse eine historische Rede in einem öffentlichen Bürokratenbüro im wundersamen Jahr des Herrn 1945 beendet. Und Bernard blieb.
»Er war so lieb, wisst ihr. In dem Jungen steckte nichts Böses. Warum kann jemand es auf ihn abgesehen haben? Nein, dafür muss es eine verständliche Erklärung geben. Oder was meint ihr, ihr seht sowas doch oft?« Tante Åse sah von Laila zu Ronny, Ronny hätte um ein Haar eine giftige Antwort über die Fälle, mit denen er meist zu tun hatte, von sich gegeben, nahm sich aber noch rechtzeitig zusammen.
»Tja ...« sagte Laila.
Ronny dachte: Verständliche Erklärung? Es gibt keine verständliche Erklärung dafür, dass ein Mann mit eingeschlagenem Schädel und einer Kette um die Beine aus dem Wasser gefischt wird. Das ist, gelinde gesagt, unverständlich. Er sagte nur: »Eins stellt fest, Åse, ein Selbstmordkandidat war Bernard nicht.«
»Er hat auch nicht besonders viel getrunken«, fügte Laila eilig hinzu und schenkte sich tugendhaft mehr Kaffee ein. »Das kann also keine Rolle gespielt haben.«
Keiner trinkt wohl so übermäßig, dass er sich eine Kette um die Beine wickelt, ehe er zufällig im Suff ins Wasser fällt, dachte Ronny.
»Neiiin«, sagte Åse zu den Schatten an der Wand. »Alkohol ...« »Hast du mit Lars Petter gesprochen?« Ronny dachte, wo sie das Thema nun schon angeschnitten hätte ...
»Nein. Nein, hab ich nicht. Ich ... Himmel, ich konnte einfach nicht. Ja, ihr wisst doch, wie er ist. Es ist sicher für den Armen genauso schrecklich, aber ich hatte einfach keine Kraft, nachdem ich das erfahren hatte.« Sie setzte sich gerade und hob mit zitternden Händen ihre Kaffeetasse. »Aber er ist ja in guten Händen.« Sie lächelte schief, als sie die Tasse mit der linken Hand stützen musste. »Ich meine ... nicht allein, jedenfalls.«
»Nein«, sagte Laila, »Ewaldsen ist in Ordnung. Nicht wie diese anderen christlichen Heinis. Ja, er ist jetzt doch in der Tür?«
»Doch, sicher. Und das bleibt er auch, bis er stirbt, das denke ich jedenfalls.«
Ganz sicher, dachte auch Ronny und schüttelte ablehnend den Kopf, als Åse ihm die Kaffeekanne reichen wollte. Er hatte schon längst zu viel Hausfrauendröhnung eingegossen, in Magen und Darm brummte und pfiff es, er schwitzte heftig am ganzen Körper. »Hat er etwas darüber gesagt, was er da unten in Holland und Belgien vorhatte?«
»Nein. Nur, dass er eine Weile verreisen und vielleicht Stoff für ein Buch sammeln wollte. Außerdem wollte er wohl Reisereportagen schreiben, das hat er im Ausland doch immer gemacht. Nein, ich glaube, er hatte nichts Besonderes vor. Er war doch so – reiste meistens aufs Geratewohl. Er hatte wohl ein Stipendium oder sowas bekommen und wollte wahrscheinlich die Gelegenheit ausnutzen, um mal was Neues zu sehen.«
Laila nickte und fragte sich, seit wann es üblich war, im Oktober Stipendien zu verteilen. Im vorigen Jahr hatte sie Bernard Lindquist eine ganze Woche lang über eine Absage hinwegtrösten müssen. Und diese Woche war im März gewesen.
»Wir müssen wohl gehen«, sagte Ronny. »Du hast doch unsere Nummer, wenn irgendwas anliegt?«
»Doch«, antwortete Åse Marie Bakke. »Die Beerdigung ist am Freitag. Das Bestattungsunternehmen hat alles arrangiert.«
Schweigaardsgate 70 ist ein dreistöckiges Steinhaus und seine Fassade unterscheidet sich nicht sonderlich von den übrigen Bauten im Viertel. Ein schmutziggelbes Haus zwischen schmutziggrün und schmutziggrau – von außen ist dem Haus nicht anzusehen, dass es der Gemeinde gehört, von der Heilsarmee geleitet und von Säufern bewohnt wird. Das Haus blickt auf den Harald Hårdrådes Plass und von allen Fenstern dieser Seite aus kann der Hinkelstein des Wikingers Harald, der so hart regiert hat, bewundert werden. Auch der Hinkelstein hat sich als hart genug erwiesen, um zumindest zwei betrunkene Fahrer ums Leben zu bringen, die angeblich auf die blödsinnige Idee gekommen waren, die Inschrift auf dem Stein vom Steuer aus lesen zu wollen. Also echt – man kommt doch nicht mit dem Auto, um verstorbene Wikinger zu ehren! Jedenfalls nicht Harald Hårdråde.
An diesem Spätwintertag schien sich niemand sonderlich für Harald oder für seinen Platz zu interessieren. Die wenigen, die draußen zu sehen waren, eilten weiter, ohne auch nur einen Blick auf den braunen Stein zu werfen und der Verkehr in der Schweigaardsgate floss im vernünftigen Schneckentempo dahin. Ronny und Laila kamen von der Planke, dem Stadtplatz der Trinker unterhalb der Gefängnismauer. Dort hatte es mehr als genug Spuren gegeben, aber die Kippen und die leeren Flaschen an der Mauer erzählten, dass sich die Gesellschaft anderswohin verzogen hatte. Das Ehepaar Olsen hatte auch nicht damit gerechnet, dort irgendwen zu finden. Nicht jetzt, nicht bei einem Wetter, das jeden zur Flucht nach Sibirien verlocken könnte. Es war ein paar Grad wärmer geworden, aber der Wind war stärker und draußen war es fast nicht auszuhalten. Das Schneegestöber wehte fast waagerecht von Galgeberg im Norden herein, es klebte an den Hausmauern wie Meeresschaum an einem stürmischen Tag an den Felsen. Nein, Ronny und Laila hatten nicht mit einem Erfolg bei der Planke gerechnet. Sie hatten diesen Weg einfach nur eingeschlagen, weil sie in der Nähe das Alkoholmonopol besucht hatten. Eine halbe Flasche Wodka für den alten Guerillero in der Offenen Tür. Das brauchte er an einem Tag wie heute. Fanden Ronny und Laila. Die Flasche wurde auf Lailas etwas schlaffem Bauch körperwarm. Erfüllt von einer desperaten Willenskraft hatten sie beschlossen, nichts für den eigenen Verbrauch zu kaufen, Leber und Nieren, Kronen und Öre zu schonen. Beide wussten, dass sie diesen kühnen Entschluss später bereuen würden, wenn der Abend mit Fernsehfilm und Langeweile näher rückte. Aber vorläufig richteten sie einander mit Sprüchen darüber auf, dass sie doch noch nicht so tief gesunken wären, dass sie sich nicht ein oder zwei Abende in der Woche zusammennehmen könnten.
Sie erreichten Nr. 70 und gingen hinein.
Leif Ewaldsen füllte den Bürostuhl der Wachstube gut aus. Er war ein Mann um die 60, mit weißen, nach hinten gekämmten Haaren, und wenn eine Lebensmittelknappheit einträte, würde er zu denen gehören, die am meisten zuzusetzen hätten. Sein gerötetes Gesicht strahlte Ruhe und Zufriedenheit mit dem Leben aus und die dicken Finger waren über einem Bauch gefaltet, der in den Raum hineinragte. Seine Daumen drehten sich träge umeinander und an den Schreibtisch hatte er eine Kriminalzeitschrift gelehnt. Leif Ewaldsen hatte durchaus nicht den Herrn, dem er diente, vergessen, befand sich nun aber gerade mitten in einem illustrierten Bericht aus Sussex, England, wo ein verrückter Ehemann seiner Gattin den Kopf abgeschnitten und ihn dann öffentlich auf einem Zaunpfahl zur Schau gestellt hatte. Leif Ewaldsen konnte solche Ehemänner nicht verstehen. Ihnen vergeben – ja. Sieben mal siebzig Mal konnte er Leuten vergeben, die anderen die Köpfe abschnitten und dieselben auf ihren Zaunpfosten zur Schau stellten, aber sie verstehen – nein! Im Laufe eines bald 40jährigen Zusammenlebens mit seiner lieben Klara war ihm nicht einmal der Gedanke gekommen, ihr den Kopf abzuschneiden, geschweige denn die Nachbarn zu Zeugen einer so widerwärtigen Untat werden zu lassen. Es muss an der Zeit liegen, dachte Ewaldsen mit einem langsamen Kopfschütteln. Es muss die Zeit sein, die solche Menschen schafft! Doch dann fiel ihm ein Mann aus einer ganz anderen Zeit ein, ein Mann namens Johannes, der in dieselbe unangenehme Lage geraten war, festlich angerichtet auf einer Schüssel, auf Wunsch einer bösen Frau. Und Ewaldsen sah ein, dass es ein zeitloserer Zeitvertreib sein müsste, den Leuten die Köpfe abzuschneiden, als er zunächst vermutet hätte.
Die Tür im Flur wurde geöffnet. Jahrelang trainiert, legte er automatisch den Kopf schräg, um das schwache Klirren in einer von vorsichtigen Fingern getragenen Plastiktüte zu hören, konnte aber nur das Geräusch von Stiefeln wahrnehmen, die langsam und methodisch auf einer Matte abgewischt wurden. Gäste, dachte Ewaldsen. Die da gehören nicht hier ins Haus!
»Na, Ewaldsen«, sagte Ronny und grüßte mit erhobener Rechten. »Wie steht’s in der Schweigaardsgate denn mit den Sündern?«
»Ach, danke. Wer mag, findet genug zu vergeben«, antwortete Ewaldsen und lachte schallend. »Nein, das ist wirklich nett! Die Olsenbande persönlich! Komm her, Laila und gib einem alten Mann einen Knutsch!« Er warf die Kriminalzeitschrift auf den Tisch und streckte zwei riesige Arme aus. Laila tauchte hinein und pflanzte ihm auf jede Wange einen schallenden Schmatz.
»Wie geht’s denn, Väterchen? Wir haben gehört, du hättest dir neulich mal zwei Rippen gebrochen?«
»Ja, kannst du begreifen, wieso ein Mann so hart zuschlägt?«, fragte Ewaldsen und führte ihre Hand über seinen schützenden Seitenspeck. »Das war natürlich Fredriksen. Er ist in alten Zeiten auf Japanfahrt gewesen und hat da irgendwelche Tricks aufgeschnappt. Kurate, oder wie das nun heißt, oder Zen. Jedenfalls hat er mir eine reingesemmelt, dass ich fast St. Petrus in der Ferne erspäht hätte. Himmel, war gut, dass er nicht auf die Nieren gezielt hat, das soll ja noch viel schlimmer sein. Ja, Fredriksen war ja nachher ganz geknickt, ist ja verständlich und wir haben beschlossen, nicht mehr über die Sache zu reden. Ihr müsst die Klappe halten, wenn er auftaucht, er ist doch so sensibel, dieser Fredriksen und ich möchte nicht, dass er Depressionen kriegt wie letzten Winter. Da hätte er uns hier fast ins Grab gesoffen. Das ganze Haus. Soll ich Kaffeewasser aufsetzen?«
»Nein danke!«, sagten Ronny und Laila im Chor. Ronny fügte hinzu: »Wir wollten eigentlich bloß mal nach Lars Petter schauen.«
»Ja, natürlich.« Ewaldsen wurde sofort ernst, teilnahmsvoll im Blick. »Übel. Wirklich übel. So ein junger Spund! Ja, Entschuldigung, so kommt mir das wenigstens vor, ich hab euch doch schon als Kinder gekannt. Nein, für Lindquist ist das hart, das muss ich schon sagen. Ihr wisst ja, wie er sich ausdrückt, aber ich kenne ihn doch schon seit vor seiner Fahrt nach Deutschland und ich kann zwischen seinen Großbuchstaben lesen. Ich habe noch keinen Mann so hart trinken sehen, wie er das jetzt tut, das kann ich euch flüstern und ich habe doch fast alles gesehen!«
Ronny und Laila schwiegen. Sie wussten, dass Ewaldsen fast alles gesehen hatte.
»Sternhagelvoll!«, fuhr Ewaldsen fort. »Rund um die Uhr sternhagelvoll. In den letzten zwei Jahren hat er sich fast ganz ans Bier gehalten, aber seit dem letzten Herbst steht er wieder auf Schnaps, und das bringt ja allerlei Unannehmlichkeiten mit sich, wie ihr sicher wisst. Heute hat er sich bei Karl Rennert ein blaues Auge gefangen, aber ich wollte mich nicht einmischen, ich glaube, ehrlich gesagt, dass er das verdient hatte. Ja, er liegt oben. Ich hab ihn vor zwei Stunden ins Bett gesteckt und er ist sicher bald wieder nüchtern und reif für die nächste Runde.«
»Hat er Post von Bernard bekommen?«
»Da bin ich nicht so sicher, aber wahrscheinlich nicht, schließlich hat er ihn doch suchen lassen. Ja, ich hab ihm übrigens dabei geholfen. Es musste doch über mich gehen und auch über Åse Marie, sonst hätten die sicher das Ganze nicht ernstgenommen. Zuerst wollte er unbedingt, dass wir in der Armee das übernehmen sollten, aber ich fand, es wäre besser, es zuerst bei der Polizei zu versuchen. Ja, die Polizei war ja auch hier, nachdem sie Bernard da unten gefunden hatten, aber ich kannte den Jungen ja gut genug, um ihn auf dem Foto zu erkennen. Ich habe ihnen gesagt, sie könnten sich die Mühe sparen, mit Lars Petter zu reden, er war ja nicht mal imstande, sein eigenes Gesicht wiederzuerkennen. Ich hab ihn später an dem Tag in mein Büro geholt und es ihm so schonend wie möglich beigebracht, aber ihr wisst ja ... jedenfalls liegt er oben.«
Ein ätzender Geruch von altem Zigarettenrauch, vermischt mit dem unbestimmbaren Aroma von Bier. Vage, aber spürbare Ausdünstungen von zehn, fünfzehn Männern, die nicht die Gewohnheit haben, sich zu waschen. Ein süßer, wunderlicher Geruch. Nicht schlimm, eigentlich, nur fremd, selten in einer Gesellschaft, die jeden Tag farb- und geruchloser wird. In Wirklichkeit war es der Geruch von ruiniertem Leben, der ihnen entgegenschlug, aber weder Ronny noch Laila dachten so weit, als sie die Treppe zum zweiten Stock hinauf trampelten und oben die braune Doppeltür erreichten. Sie traten ein und blieben einige Sekunden im langen Gang stehen. Vor ihnen lag der große Schlafraum, in dem vier Männer mit wechselndem Glück zusammen kampierten. Links lagen Küche und Aufenthaltsraum und ganz am Ende des Flurs das Zimmer der Alten, der wirklichen Veteranen, die seit ihrer Konfirmation energisch gezecht und insgesamt an die 150 Jahre in der Herberge verbracht hatten. Ein Dreipersonenzimmer. Rechts lagen ein Zweipersonenzimmer, und das einzige Einzelzimmer der Etage. Letzteres bewohnte der epileptische Säufer des Hauses. Seine Anfälle waren so schlimm, dass Ewaldsen es für angebracht hielt, ihn ein wenig von der Gemeinschaft zu isolieren.