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»Diese Novellen gehören zu dem Besten, das Ingvar Ambjørnsen je geschrieben hat. Sie sind ganz einfach makellos. Wir haben es hier mit einem der wenigen Autoren zu tun, die immer neue Überraschungen bieten.« Kjell Olaf Jensen, Osloer Arbeiderbladet. Ich wartete. Worauf, weiß ich nicht, Vielleicht darauf, dass meine Seele, die ich irgendwo vergessen zu haben glaubte, zurückkäme, mich wieder erreichte. Ich kam mir vor wie halb. Hier saß ich still und abwartend, aber es war wie in einem Traum, es fiel mir schwer, mein Bild ernst zu nehmen. Stille. Ich hatte vergessen, was Stille bedeutet. Ein aufgeladener Zustand, der jederzeit zerreißen kann, zerfetzt werden von einem springenden Fisch, einer verwirrten Fliege. Die Stille als Zustand der Erwartung. In elf Kurzgeschichten und Erzählungen schildert der sanfte Rebell und Grandseigneur der norwegischen Gegenwartsliteratur die Wahrnehmung des Einzelnen im Kampf mit dem Ich, dem Wir und dem ganzen wundersamen Rest der Welt. »Diese Sammlung beweist, dass Ambjørnsen eine Stimme hat, auf die wir hören und mit der wir sprechen sollten. Wir werden dazu gezwungen, uns der Melancholie der Einsamkeit, Gewalt, Angst, Leere, Distanz, Leiden, Tod zu stellen. Das macht uns nicht unbedingt glücklich. Aber es macht uns klüger.« Steinar Sivertsen, Stavanger Aftenblad. Der Erzählband »Schwarze Mutter« von Ingvar Ambjørnsen, übersetzt ins Deutsche von Gabriele Haefs, nun auch als eBook!
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Seitenzahl: 150
Copyright der eBook-Ausgabe © 2014 bei Hey Publishing GmbH, München
Originalausgabe © 1999 by Eiswasser Verlag.
Die Erzählung »Die Möwe« (Måken) wurde erstmals in der Anthologie EISWASSER Norwegen special (Vechta, Eiswasser Verlag 1997) in deutscher Sprache veröffentlicht.
Die Erzählung »Mutti« erschien zuerst in »Rabe 52 - Der nordische Rabe« (Zürich, Haffmanns-Verlag 1998).
Ingvar Ambjørnsen hat den Text für diese Ausgabe überarbeitet. Berichte über die Schicksale von »Besatzungskindern« die oft Jahrzehnte nach dem II. Weltkrieg auf Spurensuche in Deutschland gingen, haben den Autor zu dieser Erzählung angeregt.
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Coverabbildung: FinePic®, München
Autorenfoto: © privat
ISBN: 978-3-95607-081-5
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Schwarze Mutter
»Diese Novellen gehören zu dem Besten, das Ingvar Ambjørnsen je geschrieben hat. Sie sind ganz einfach makellos. Wir haben es hier mit einem der wenigen Autoren zu tun, die immer neue Überraschungen bieten.« Kjell Olaf Jensen, Osloer Arbeiderbladet.
Ich wartete. Worauf, weiß ich nicht, Vielleicht darauf, dass meine Seele, die ich irgendwo vergessen zu haben glaubte, zurückkäme, mich wieder erreichte. Ich kam mir vor wie halb. Hier saß ich still und abwartend, aber es war wie in einem Traum, es fiel mir schwer, mein Bild ernst zu nehmen.
Stille. Ich hatte vergessen, was Stille bedeutet. Ein aufgeladener Zustand, der jederzeit zerreißen kann, zerfetzt werden von einem springenden Fisch, einer verwirrten Fliege. Die Stille als Zustand der Erwartung.
In elf Kurzgeschichten und Erzählungen schildert der sanfte Rebell und Grandseigneur der norwegischen Gegenwartsliteratur die Wahrnehmung des Einzelnen im Kampf mit dem Ich, dem Wir und dem ganzen wundersamen Rest der Welt.
»Diese Sammlung beweist, dass Ambjørnsen eine Stimme hat, auf die wir hören und mit der wir sprechen sollten. Wir werden dazu gezwungen, uns der Melancholie der Einsamkeit, Gewalt, Angst, Leere, Distanz, Leiden, Tod zu stellen. Das macht uns nicht unbedingt glücklich. Aber es macht uns klüger.« Steinar Sivertsen, Stavanger Aftenblad.
Vor vielen Jahren an einem heißen Sommertag hätte er um ein Haar ihren Kopf gegen das Armaturenbrett gestoßen. Sie steckten bei Toulouse in einem Stau, es war schrecklich heiß, sie hatten alle Fenster heruntergekurbelt, sie hatte die eine Hand am Lenkrad, in der anderen hatte sie eine Zigarette. Sie war gereizt, ungeduldig, er selber fand, sie hätten Zeit genug; und außerdem würde ihr Adrenalin sie auch nicht schneller ins Hotel bringen können. Um sie wortlos zu beruhigen - er ahnte schon, dass in diesem Moment jedes Wort gefährlich sein könnte - legte er ihr den linken Arm um die Schulter und ließ seine Finger ihren Nacken hoch wandern, bis ihr Hinterkopf wie ein großer warmer Stein in seiner Hand ruhte. Sie lächelte. Sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er sie kannte. Aber er hatte sich selber nicht gekannt. Die Vorstellung, ihren Kopf mit aller Kraft gegen das Armaturenbrett zu stoßen, überkam ihn vollständig unerwartet, kurz sah er das Blut vor sich, ihren ungläubigen Blick, hörte den Schrei. Er zog seine Hand zurück, er hatte die dünne Membran zwischen allem und nichts gesehen, dieses Erlebnis hatte etwas mit ihm gemacht, er wusste nicht, was.
Er lag auf dem Bett und rauchte, die Badezimmertür war angelehnt, er konnte sehen, wie sie vor dem Spiegel stand und sich die Lippen nachzog. Ein unschönes blasses Rosa, das ihn immer an die sechziger Jahre erinnerte, an Blondinen mit hochtoupierten Haaren, an kragenlose Kostüme in Pepitamuster.
»Bist du so weit?« Sie steckte den Lippenstift in ihre Handtasche, blieb stehen und schmatzte ihrem Spiegelbild zu.
Ja, er war so weit. Der Frühstückssaal war fast leer, es war zehn vor zehn, sie waren die letzten. Ein einsames Spiegelei schwamm im Fett auf einem weißen Teller, der Saft war lauwarm, der Kaffee ungenießbar. Er trank ihn trotzdem und sah angeekelt zu, wie sie mit dem Messer das Eigelb zerteilte, wie der Dotter im Fett zerrann, wie sie alles mit einem Stück Weißbrot auffing, es zwischen ihre rosa Lippen führte, ihm schauderte, als ihre Zunge im rechten Mundwinkel einen Krümel erwischte.
»Du musst doch versuchen, wenigstens irgendetwas zu essen«, sagte sie mit vollem Mund. Jetzt bekam der Speck Messer und Gabel zu spüren. Schlaffer, fetter Speck, nicht salzig genug.
»Fang jetzt bloß nicht wieder damit an.« Er zündete sich eine Zigarette an, die dritte. »Ich esse, wenn mein Magen das will. Im Moment rät er mir energisch davon ab.«
»Sie legte den Kopf schräg. »Ich verstehe mich heute auch nicht so gut mit meinem Magen. Aber wenn ich gar nichts esse … Himmel, was haben die uns gestern bloß in die Getränke gemischt?«
»Mir Whisky und Eis. Ich glaube, deine waren ein bisschen komplizierter zusammengesetzt.«
Der Vorabend erschien jetzt fast unwirklich. Sie hatten fast eine Woche gebraucht, um Schottland zu durchfahren, sie hatten von Thurso aus die Fähre nach Orkney genommen und waren am frühen Nachmittag in Kirkwall angekommen. Sie hatte in einem kleinen Fischrestaurant Kabeljau und Scallops gegessen und dann den Abend in der Hotelbar verbracht. Sie hatten ihr Reiseziel erreicht, die grünen Inseln im Norden, den Tummelplatz von Pikten und norwegischen Herzögen, sie waren erschöpft.
Und dann stellte sich heraus, dass die Inselbevölkerung, oder vielleicht eher ein phantasieloser Hoteldirektor, auf die Idee verfallen war, am Tag ihres Eintreffens in der Hotelbar einen »Bermudaabend« zu arrangieren. Kirkwalls Jugend brach scharenweise über sie herein, in Hawaiihemden und Bermudashorts, sie kamen durch peitschenden Regen und Wind in eine Bar, wo nichtsahnende Touristen mit ihrem Drink saßen und ihren Augen nicht trauen wollten. Ein beschwipster Knabe mit einem amseleigroßen Pickel auf der einen Wange hatte ihr das erste meergrüne Getränk eingeflößt - und damit hatte das Schicksal seinen Lauf genommen. Beim Aufwachen hatten sie quer über dem Doppelbett gelegen, sie hatte ihre Strümpfe noch an.
»Hier oben wohnen schon seit fünftausend Jahren Menschen«, sagte sie und schob ihren Teller zurück. »Hast du das gewusst?« Sie nahm eine von seinen Zigaretten. »Himmel, haben damals nicht die Ägypter die ersten großen Pyramiden gebaut?«
»Weiß ich nicht mehr«, sagte er.
»Gräber«, sagte sie. »Auf den ganzen Inseln wimmelt es nur so von Gräbern. Gibst du mir mal den Kaffee?« Gegen zwölf erreichten sie den Hof. Ein Wohnhaus aus verwitterten Ziegelsteinen, eine Doppelgarage, eine Scheune. Ein einsames Huhn pickte mit seinem gelben Schnabel im Kies herum; Schatten hinter den dünnen Gardinen, als sie auf dem Hofplatz anhielten.
Ein Privatmuseum.
Sie hatten nicht gewusst, dass es so etwas überhaupt gab, als sie einige Kilometer weiter nördlich das Schild gesehen hatten.
Einige hundert Meter ostwärts endete das Land. Weiße Möwen hoben und senkten sich im Wind über schwarzen zackigen Klippen.
Die Frau, die auf die Treppe trat, war groß und dünn, fast mager, eher achtzig als siebzig. Ihre Augen lagen tief in ihren Höhlen, aber trotzdem strahlten sie vor Leben, er dachte, dass sie sicher eine junge Seele habe, banal, aber er dachte es eben. Als er ihre Hand in seine nahm, erfuhr er einiges über den Boden hier draußen.
Gräber? Auf ihrem Land hatten sie nur eins, Joe würde ihnen den Weg zeigen, sowie er fertig gegessen hätte. Sie wollte heute nicht mitessen, nein, davon, dass sie im Wagen warteten, konnte nicht die Rede sein.
Sie betraten eine überdachte Veranda, die sich um das ganze Haus zog. An der Wand unter den Fenstern standen Glasvitrinen. Ihr gekrümmter Zeigefinger wies auf Pfeilspitzen und Steinäxte, Schädel und Knochenreste, sie sprach über lebenslange Grabungen im »Garten«.
Und dann geschah das, was er sich insgeheim bei jedem Museumsbesuch gewünscht hatte. Die Alte nahm den Glasdeckel von einer Vitrine.
Sie drehte sich um. »Ich weiß, dass niemand die Geschichte verstehen kann, ohne sie anzufassen. Das ist wie … mit dem Tod.« Jetzt lächelte sie wie ein kleines Mädchen, ein kleines Mädchen, das ein unerwartetes Geschenk bekommen hat.
Einen Moment später hielten sie beide einen Schädel in der Hand.
»Ich nenne sie John und Lucy«, sagte die alte Frau und fuhr vorsichtig mit einem Finger über die braungelbe Fläche in ihrer Hand. »Sie sind schön. Ich finde sie schön. Sie sind über viertausend Jahre alt. Ich stelle mir gern vor, dass sie zusammen gelebt haben. Sie waren wie wir. Hass. Liebe. Freude. Melancholie. Was ihr jetzt in den Händen haltet, ist alles, was euch gehört.«
Er wog den Schädel in der Hand. Er wog fast nichts. Wenn er ihn ins Licht hielt und durch die Augenhöhlen sah, konnte er sehen, wie das Licht gelb durch die dünne Knochenwand schien. Die Zähne waren weiß und kräftig, keine Spur von Abnutzung, nur ein Eckzahn fehlte.
John? Wie er wohl geheißen hatte? Welche Träume waren hinter der dünnen Schale umhergeflimmert? Durch seine Gedanken hindurch hörte er die Alte über die Menschen sprechen, die hier draußen auf den letzten Felsen vor dem Ozean gehaust hatten, sie nannte sie »Adlerklauenvolk«, da sich in ihren Gräbern Adlerklauen befunden hatten, es war eine hierarchische Gesellschaft gewesen. Der eine war mit drei Klauen beigesetzt worden, die andere mit acht. Sie hatten ein Männergrab geöffnet und zwölf Klauen gefunden, sie hatten den Toten für den Häuptling gehalten, aber sein Hinterkopf war ein Krater gewesen.
»Und der hier? John?«
Sie lachte. »Ein Arbeiter. Ein Bauer. Ein Träumer. Bei John haben wir keine Krallen gefunden. Und auch bei Lucy nicht.«
Vorsichtig legte er den Schädel in die Vitrine und empfand eine Ehrfurcht, die ihn überraschte. Er blickte verstohlen die Frau an, mit der er sein Leben teilte, und sah, dass es ihr genauso ging. Sie streichelte vorsichtig Lucys Stirn, als ob sie ein Kind aus der Vorzeit trösten wollte, eine Schwester vielleicht. Auch dieser Schädel wies starke weiße Zähne auf, eine ununterbrochene Reihe. Aber sämtliche Zähne waren auf ungefähr halbe Länge abgeschliffen; er sah die Frau des Jägers vor sich, die am Feuer saß und das Leder weich kaute. Ein kontinuierlicher Prozess, wie Verdauung, Stillen oder die konstante Aktivität der Gedanken.
Die alte Frau nahm seine Hand. »Sie sind Rechtshänder?«
Ja, das war er.
Sie stand so dicht neben ihm, dass er sie riechen konnte, einen schwachen Lavendelduft, und noch etwas anderes, dass er nur als den Geruch einer alten Frau definieren konnte. Er sah die Haut, die sich straff wie ein Trommelfell über Nasenrücken und Stirn spannte, eine dünne Ader zog sich über die linke Schläfe, ihr Blick - offen, blau; ein Licht, wie das, das er im eben weggelegten Schädel gesehen hatte.
»Sehen Sie dies hier. Sie glauben, einen Stein zu sehen, aber in Wirklichkeit sehen Sie ein Meisterwerk.«
Er sah einen Stein. Einen länglichen grauen Stein, der ungefähr ein Pfund wog, von unregelmäßiger Form, aber feingeschliffen, so, wie das Meer Stein an Stein formt.
Sie legte ihm den Stein in die Hand, und er zuckte zusammen, als seine Hand sich um ihn schloss. Der graue Stein ruhte in perfektem Gleichgewicht in seiner Faust, er wurde zu einem Teil seiner Hand, einer Verlängerung, zu einer lebensgefährlichen Schlagwaffe.
Sie nickte. Eine Schlagwaffe.
Er konnte den Stein nicht loslassen. Er musste an seinen Großvater denken, an dessen Tod. Zweiundneunzig Jahre alt, ein fast federloser Sperling, seine riesigen Arbeitshände zu bleichen Klauen reduziert. Der Alte hatte ihn gebeten, seinen Hobel zu holen. Den langen Hobel. Er hatte gedacht, der Alte sei unmittelbar vor seiner letzten Reise noch senil geworden, hatte aber gehorcht. Der Großvater hatte sich im Bett aufgesetzt und den Hobel, den sein Großvater einst hergestellt hatte, schräg über die weiße Bettdecke gelegt. Versucht, ihn in die Hand zu nehmen. Jetzt allerdings ohne Kraft, aber er hatte es versucht. Seine Hände über den dunkelsten Partien des Holzes, die Partien, wo drei Generationen das Werkzeug mit ihrem Schweiß eingefärbt hatten.
»Der passt nicht mehr«, hatte der Großvater gesagt. »Der Hobel ist über mich hinausgewachsen.«
Aber der Stein passte. Er passte in die Hand eines Erwachsenen. Heute wie vor viertausend Jahren. Ein Stoß durchfuhr ihn, er war gerührt, merkte, wie die Tränen seinen Blick verschleierten, er dachte an die alte Frau, die gesagt hatte, dass niemand die Geschichte verstehen kann, ohne sie anzufassen, und daran, dass er hier einem Perfektionisten aus grauer Vorzeit begegnet war.
Joe sagte nicht viel. Er gab ihnen die Hand, als sie ihre ausstreckten, aber er fragte nicht, woher sie kamen, wer sie waren. Ein kurzer Stumpf von einem Mann, aber er bewegte sich leichtfüßig über die Felder.
Er zeigte ihnen den Wohnplatz. Einen Steinkreis im sumpfigen Boden.
»Zu Lebzeiten der Alten« war es anders gewesen. Damals hatte hier ein Wald gestanden. Es war warm gewesen. In den Abfallhaufen waren Spuren von vier verschiedenen Getreidesorten gefunden worden.
Er reichte ihnen einen Leinenbeutel mit sechs Batterien. Sie mussten die Batterien in der Taschenlampe erneuern und Knieschützer anlegen, ehe sie hineingingen. Er zeigte auf den Weg, der weiter auf Klippen und Meer zuführte. Sie konnten gar nicht fehlgehen.
Dann machte er kehrt.
Sie fanden das Grab. Einen grasbewachsenen Buckel in der Landschaft. Nur dreißig Meter vom Rand der schwarzen Klippen entfernt. Tief unten schlug das Meer grün und weiß gegen die Steinblöcke, sie sahen die Seevögel von oben.
Am Ende des Grabes vor ihnen lag Stein auf Stein bis zur anderthalb Meter hohen Torfdecke.
Ein quadratisches Loch war der Eingang.
Sie fanden Knieschützer und Taschenlampe. Und die Antwort auf die Frage, die sie beide nicht gestellt hatten. Sie mussten auf allen Vieren kriechen, um die Toten zu begrüßen. Der feuchte Korridor, der in den Hügel führte, war kaum einen Meter hoch und ungefähr ebenso breit.
Er wechselte die Batterien in der Taschenlampe aus. »Ich gehe vor.«
Sie sah skeptisch aus. »Ich weiß nicht, ob ich überhaupt will. Doch, ich will. Ja, geh' du vor.«
Es war eng. Enger, als er erwartet hatte. Er schwitzte, von der Steindecke herab tropfte Wasser auf sein Gesicht. Kalte Tropfen, er dachte an Wasserfolter, an regelmäßiges Tropfen auf den Schädel, Stunde um Stunde, Tag um Tag, bis sich jeder Tropfen anfühlt wie ein Hammerschlag.
Nach zehn, zwölf Metern erreichte er die Grabkammer. Hier war die Decke so hoch, dass er sich halbwegs aufrichten konnte. Das tat er, spürte, dass sein Rücken auf die Fünfzig zuging, und ließ sich wieder auf alle Viere sinken.
Stein. Schicht um Schicht aus Steinen. Die Decke war aus Beton gegossen, das störte ihn, ruinierte die Aussicht auf die Vorzeit.
Die Gräber waren längliche Nischen in den Steinschichten, durch Glasscheiben vor Andenkenjägern geschützt. Schädel. Haufen von gelbbraunen Schädeln. Und Knochen. Unterschenkel, Oberschenkel, Hüften, Rückenwirbel. Lose Kiefer, Zähne. Hier ruhte eine vollständige kleine Gemeinschaft.
Wie wohl die Todesrituale ausgesehen hatten? Er glaubte, irgendwo gelesen zu haben, dass die Pikten ihre Toten Raubvögeln und Raben hingelegt hätten. Dass sie dann die sauber abgenagten Knochen gesammelt und sie später bestattet hätten. Eine schöne Sitte. Das Wild, das man genommen hatte, gab man dem Wild zurück.
Er sah die Schädel an. Er fuhr sich mit dem Finger über die Stirn und betrachtete die Grabkammer. Steinwände. Schädel. Die Knochenwand unter der Haut - das weiche Gehirn. Drinnen, drinnen. Im Raum, im Gehirn. Dort draußen die anderen, das andere, die wechselnden Bilder. Der Raum wurde kleiner, die Wände kamen auf ihn zu, formten seine Reaktionen wie ein Schlag auf den Kopf die Gedanken ändert, das Bewusstsein, die Art, wie wir dem Äußeren und dem Inneren gegenübertreten.
Er musste nach draußen. Bisher hatte er Klaustrophobie nur theoretisch gekannt, jetzt badete er in einer neuen Erfahrung, die Panik trieb ihn, er konnte kaum atmen, ihm wurde übel, er hatte nichts gegessen, hatte nichts, was er erbrechen könnte. Mit hämmerndem Herzen, mit in den Schläfen pochendem Puls fing er an, zurückzukriechen, irgendetwas stimmte nicht, jetzt müsste er doch das Licht sehen können, Gras und Himmel, aber es war dunkel, etwas kam auf ihn zu, sie kam auf ihn zu, er schrie sie an, sie solle rückwärts kriechen, sie, erschrocken über die Panik in seiner Stimme, die Wut, schrie zurück, das könne sie nicht, er meinte, sie wolle nicht, nehme ihn nicht ernst, der enge Gang schloss sich um ihn, er wurde erwürgt, versuchte, den Kopf hin- und herzuschlagen, an die Steinwände, die Haut unter den Haarwurzeln platzte, er spürte, wie das Blut losströmte, heiß und klebrig über seine Finger, er ließ die Taschenlampe fallen, der Lichtstrahl traf ihn im Gesicht, sie rief einen Gott an, zu dem sie nie ein Verhältnis gehabt hatte, er rief, sie solle um dieses Gottes willen die Klappe halten, seine Trommelfelle … Sie kam näher an ihn heran, legte ihre Hand auf seine, flüsterte Worte, die er seit einem Jahrzehnt nicht mehr gehört hatte, ihr Gesicht dicht an seinem, er schlug noch einmal den Kopf gegen die Steinwand, sie nahm seinen Kopf in ihre Hände und fing an zu weinen, er stieß ihr mit aller Kraft den Kopf mitten ins Gesicht, er hörte ihr Nasenbein zerbrechen und ihr Blut strömte über seine Hände, als er sie im Fallen auffing.
Später, viel später, sagte sie: »Ich werde nie vergessen, was die Alte darüber gesagt hat, dass wir die Geschichte nicht verstehen können, ohne sie anzufassen. Ich weiß nicht, warum, aber diese Worte haben sich in mir festgeätzt.«
Sie hatten gerade zusammen gespült. Er strich das Geschirrtuch glatt und hängte es zum Trocknen über den Ofen. Er ging ins Badezimmer und betrachtete sich im Spiegel. Seine Geheimratsecken hatten sich vergrößert, seine Augen blickten immer tiefer in sich selber. Er legte die Stirn an das kühle Glas, und für einen zitternden Moment war er gedankenleer.
Im Nachtzug hatte er acht Bier getrunken, aber schlafen konnte er nicht. Im Zwielicht des Abteils hatte er mit einem schlafenden Jungen zusammen gesessen, sechzehn, vielleicht siebzehn, seine langen Haare sahen aus wie seine eigenen, er dachte: Da sitze ich so, wie die Vergangenheit mich losgelassen hat. Im Fenster auf der rechten Seite sah er ein doppeltes Spiegelbild, doppelbelichtet, er sah älter aus als er sich fühlte, die Runzeln waren tiefer als die, die er im Spiegel auf der Toilette sah.