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Man soll nicht alles glauben, was in der Zeitung steht! Das ist Peter und seinem Freund Prof spätestens dann klar, als die Kulturjournaille Peters Hippievater als ernstzunehmenden Künstler betitelt. An den Berichten über den vermeintlichen Unfalltod eines Mädchens haben die beiden Hobbyschnüffler ebenfalls gehörige Zweifel – die durch die Begegnung mit einem besonders skurrilen Schreiberling noch verstärkt werden … »Arbeitest du wirklich für die Lokalpresse?«, fragte ich. »Sicher. Muss ja ab und zu auch mal in die Schule, aber vor allem sitze ich in der Redaktion. Oder bin draußen im Feld. Schreibe über alles Mögliche. Mein Spezialgebiet ist aber die Kriminalität.« Der Prof erstickte ein breites Grinsen. »Gibt's denn in so einer Gegend so viel Kriminalität?« »Aber sicher. Wenn du genau hinschaust!« Das beschauliche Feriendomizil von Peter und dem Prof soll ein Hort des Verbrechens sein? Unmöglich, meinen die beiden – und sie müssen es wissen. Schließlich haben sie schon so manches kriminelle Schwergewicht zu Fall gebracht. Doch bald schon stellen die findigen Jungdetektive fest, dass Kråkenes’ Starreporter Harry Morgan recht hat. Ein mysteriöser Vorfall folgt dem nächsten: Das Mädchen Anita verschwindet auf hoher See, Peter und der Prof werden Zeuge eines Einbruchs und Anitas Vater wird übel mitgespielt. Auch wenn die beiden Spürnasen im Moment noch im Trüben fischen, ist eines jetzt schon klar: An Urlaub ist nicht mehr zu denken … »Die Rache vom Himmel« ist der achte Band der Jugendkrimi-Reihe Peter und der Prof – eine Schlagzeile wert! Aus dem Norwegischen übersetzt von Gabriele Haefs
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Seitenzahl: 204
Aus dem Norwegischen
Copyright © 1994, Ingvar Ambjørnsen
Übersetzt von Gabriele Haefs
Copyright der überarbeiteten eBook-Ausgabe © 2014 bei Hey Publishing GmbH, München
Die Norwegische Originalausgabe erschien 1994 unter dem Titel »Hevnen fra himmelen« im J.W. Cappelens Forlag, Oslo
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Covergestaltung: Sarah Borchart, ZERO Werbeagentur, München
Coverabbildung: FinePic®, München
Autorenfoto: © Christine Poppe
ISBN: 978-3-942822-85-5
Die Rache vom Himmel ist der achte Band der Jugendkrimi-Reihe Peter und der Prof. Eine Auflistung weiterer Titel finden Sie am Ende des Buches (bitte hier klicken).
Ingvar Ambjørnsen im Internet:
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Man soll nicht alles glauben, was in der Zeitung steht! Das ist Peter und seinem Freund Prof spätestens dann klar, als die Kulturjournaille Peters Hippievater als ernstzunehmenden Künstler betitelt. An den Berichten über den vermeintlichen Unfalltod eines Mädchens haben die beiden Hobbyschnüffler ebenfalls gehörige Zweifel – die durch die Begegnung mit einem besonders skurrilen Schreiberling noch verstärkt werden …
»Arbeitest du wirklich für die Lokalpresse?«, fragte ich.
»Sicher. Muss ja ab und zu auch mal in die Schule, aber vor allem sitze ich in der Redaktion. Oder bin draußen im Feld. Schreibe über alles Mögliche. Mein Spezialgebiet ist aber die Kriminalität.«
Der Prof erstickte ein breites Grinsen. »Gibt's denn in so einer Gegend soviel Kriminalität?«
»Aber sicher. Wenn du genau hinschaust!«
Das beschauliche Feriendomizil von Peter und dem Prof soll ein Hort des Verbrechens sein? Unmöglich, meinen die beiden – und sie müssen es wissen. Schließlich haben sie schon so manches kriminelle Schwergewicht zu Fall gebracht. Doch bald schon stellen die findigen Jungdetektive fest, dass Kråkenes’ Starreporter Harry Morgan recht hat. Ein mysteriöser Vorfall folgt dem nächsten: Das Mädchen Anita verschwindet auf hoher See, Peter und der Prof werden Zeuge eines Einbruchs und Anitas Vater wird übel mitgespielt. Auch wenn die beiden Spürnasen im Moment noch im Trüben fischen, ist eines jetzt schon klar: An Urlaub ist nicht mehr zu denken …
»Rache vom Himmel« ist der achte Band der Jugendkrimi-Reihe Peter und der Prof – eine Schlagzeile wert!
Der Prof sah total fertig aus. Schweißnasse Haare hingen ihm in die Stirn. Hautfarbe wie ein abgenutzter Radiergummi. Gehetzter Blick, und sein Adamsapfel jagte wie ein durchgeknallter Fahrstuhl auf und ab. Es war unverkennbar, dass er sich auf einen ganz besonders scheußlichen Tod vorbereitete. Wir befanden uns an die fünftausend Meter über dem Erdball, und der Erdball bestand in diesem Winkel der Welt aus sturmumtostem Granit und aufgewühlter See. Ein unsichtbarer Wind versuchte dem Flugzeug die Tragflächen abzureißen, und immer wieder plumpsten wir in luftleere Nischen, in denen sich mein Magen nach oben begab, um mich am Zäpfchen zu kitzeln.
»Nur eine kleine Turbulenz«, sagte ich.
Der Prof blickte mich sauer an.
»Reg dich ab, Prof. Diese Jungs fliegen doch sogar bei Orkan.«
Und das hätte ich lieber nicht sagen sollen. Nur wenige Monate zuvor hatten wir zusehen müssen, wie ein Flugzeug mitten über einem Tannenwald abgestürzt war. Bei Orkan. Ein - gelinde gesagt - nervenaufreibendes Erlebnis von der Sorte, die man für den Rest des Lebens nicht mehr vergisst. Ehrlich gesagt begriff ich auch nicht warum ich nicht in dieselbe Panik geriet wie mein Kumpel. Das Flugzeug ruckelte und huckelte, aber mir war nicht schlecht und Angst hatte ich auch nicht.
»Tu mir einen Gefallen«, sagte der Prof. »Tu so, als ob es dich gar nicht gäbe.«
Ich drehte mich um. Eine angeschnallte Mutter und eine angeschnallte kleine Schwester. Mutter sah aus, als ob sie in ihrem Eckzahn eine Kakerlake entdeckt hätte, Klein-My fuhr Rutschbahn und fand das ganz toll.
Ich sagte zu meiner Mutter: »Das Problem mit dir und dem Prof ist, dass ihr kein abgeklärtes Verhältnis zum Tod habt. Seht euch doch My und mich an. Wir sind bereit. Wir haben Frieden mit Gott geschlossen.«
»Hol dich der Teufel!«, sagte Mutter. Und das war für ihre Verhältnisse ganz schön heftig.
Alles hatte so schön angefangen. Ja, sehr schön. Mit der puren Idylle sogar. Es war nämlich so, dass mein Vater, der sich seit Jahren zur Verzweiflung der ganzen Familie als Künstler ausgegeben hatte, nun endlich richtig im Erfolg schwamm. Es war absurd, aber die Lage war tatsächlich so, dass mehr und mehr Menschen in Norwegen inzwischen seine indianisch inspirierten Skulpturen ernst nahmen. Als KUNST in Großbuchstaben. Weder Mutter noch ich kapierten, was da mit ihm passierte, aber jedenfalls tauchten plötzlich auf seinem Konto nette Summen auf, und dieses Konto hatten wir schon seit Ewigkeiten als ausgebrannte Ruine betrachtet. Schon mit sieben Jahren hatte ich gelernt, sofort aufzulegen, wenn die Bank anrief.
Aber jetzt hörte sich das alles ganz anders an. Der Alte redete von »Kari von der Kasse«, wenn er die Sparkasse meinte, und Gerüchten zufolge bezahlte er inzwischen sogar Steuern. Mit dem alten Pettersen ging es eben aufwärts. Als Letztes in einer ganzen Serie von erfreulichen Ereignissen hatte er den Auftrag erhalten, das Bürgerhaus des Ortes Kråkenes auszuschmücken. Und deshalb wackelten wir an diesem kalten Freitag im Mai in der Luft herum. Wir waren unterwegs nach Kråkenes. Wollten uns davon überzeugen, dass mein Vater seine Aufgabe erfüllte und nicht nur herumlungerte und Bier trank. Er war jetzt seit zwei Wochen dort oben, und Mutter fand, das sei sehr lange für einen Mann, dem gesagt werden musste, wann er seine Unterhose wechseln sollte.
Ehe der Brief von der Gemeinde Kråkenes bei uns eingetroffen war, hatte in der Bentsebrugata in Torshov niemand gewusst, dass es diesen Ort überhaupt gab. Sogar der Prof musste passen und zum Atlas greifen. Nach intensiven Studien der norwegischen Küste konnte er endlich auf einen kleinen Flecken im Norden tippen.
»Spitze«, meinte mein Vater. Er war scharf auf frischen Fisch und deutete an, dass er in den Zeiten, als er Mutter noch nicht kannte, mit Nordnorwegerinnen gute Erfahrungen gemacht hatte.
Der Pilot, der so lässig aussah wie zu Hause auf seinem Sofa, gab zu verstehen, dass er jetzt mit der kleinen Twin Otter landen wollte. Gleichzeitig schloss er die Tür, und wir hatten keinen Ausblick mehr auf seinen breiten Rücken und die vielen Instrumente, an denen er sich zu schaffen machte.
»Das wird witzig«, sagte ich und versetzte dem Prof einen Rippenstoß. »Weißt du, warum er das gemacht hat?«
»Was denn?«, fragte der Prof knurrig.
»Warum er die Tür zugemacht hat.«
»Konnte deine Klappe wohl nicht mehr ertragen, nehme ich an.«
»Falsch. Er hat das gemacht, damit wir nicht mehr nach vorne blicken können. Bei Windverhältnissen wie im Moment legt er sich nämlich beim Landen quer. Er richtet das Flugzeug erst unmittelbar vor dem Aufsetzen wieder auf. Und für uns gewöhnliche Sterbliche sieht das ziemlich dramatisch aus.«
Der Prof musterte mich mit fieberheißem Blick. »Machst du Witze?«
»Tut mir Leid, aber die Antwort ist Nein. Sieh her - halt lieber die Tüte bereit. Unter solchen Umständen hat das Mittagessen es manchmal eilig.«
»Halt jetzt endlich die Klappe!«, schrie Mutter hinter mir.
»Wenn ich diesen Flug überlebe, erwürge ich dich mit bloßen Händen«, sagte der Prof. »Und dann gehe ich zu Fuß zurück nach Oslo. Und ich werde jeden Schritt genießen.«
»Alles klar«, sagte ich. »Und wenn es schief geht, soll niemand behaupten, wir hätten keinen schönen Tod gehabt. Sieh dir das doch an, Mann!«
Es war schön. Es war so schön, dass ich geradezu stolz darauf war, in diesem seltsamen Land geboren worden zu sein. Unter uns lag das Meer und glitzerte dunkeltürkis. Weiße Schaumkronen auf den Wellen. In den Buchten konnten wir den Boden sehen - Sandboden. Ansonsten war das Bild dunkelgrün. Überall waren die Knospen gesprungen und neues Gras war aus dem Boden gewachsen. Draußen im Meer lag eine große Insel mit steilen Felsen und platt gewehtem Wald, und genau unter uns, auf einer Landspitze, lag das, was ich für Kråkenes City hielt. Rote und weiße Würfel, wie durch Zufall an einem Bleistiftstrich von Landstraße verteilt. Und der Flugplatz? Ein schwarzer Asphaltstreifen direkt am Strand. Ehrlich gesagt sah er ein bisschen kurz aus. Ob es wirklich möglich war, die Maschine da unten zum Stillstand zu bringen ohne im Wasser zu landen? Ich fragte den Prof, und der kniff als Antwort die Augen zu und presste die Lippen aufeinander. Seine Finger zerpflückten die Kotztüte zu schmalen Papierstreifen.
Mit einem Aufbrüllen der Motoren legte sich das Flugzeug auf die Seite und setzte zur Landung an. Ich schluckte und schluckte, konnte mich aber nicht von der Watte in den Ohren befreien. Es zitterte und bebte und wir wurden hin und her geschleudert, aber endlich setzten die Räder auf die Landebahn auf und der Pilot trat auf sämtliche Bremsen.
»Ja, ja«, sagte ich. »Das ist ja richtig gut gegangen.«
In diesem Moment erbrach sich der Prof in die Überreste seiner Tüte.
Es war wirklich ein bemerkenswerter Flugplatz. Auf der einen Seite das Meer, auf der anderen eine Felswand. An die Felswand hatte irgendwer ein Haus gepappt, das kaum größer war als eine Würstchenbude. Es war die kleinste Ankunftshalle, die wir allesamt je gesehen hatten. Gemeinsam mit den drei restlichen Fluggästen stemmten wir uns zusammengekrümmt gegen den Wind und steuerten dieses Häuschen an. Der Prof, der jetzt mit sich und der Welt schon wesentlich zufriedener war, schluckte große Mengen frische Atlantikluft und hatte wieder Farbe in den Wangen. Mutter hatte mir meine blöden Sprüche noch nicht verziehen, das verrieten mir ihre wütenden Seitenblicke, aber die Verzeihung stand schon bevor. Wenn mein Vater nicht zu viel Unfug angerichtet hatte, würde sie bald wieder die Alte sein.
Er sah immerhin normal aus. Oder eher so unnormal wie immer schon. Fettige lange Haare und Bartstoppeln. Ich sah ihn durch das Fenster, er stand mitten in der Nichtraucherzone und nuckelte an seiner Selbstgedrehten.
»Hallo, Schatz«, sagte Mutter. Sie nahm ihm die Kippe aus dem Mund und gab ihm einen Kuss. »Hast du uns vermisst?«
»Tja. Ich weiß nicht so recht, was ich sagen soll. Hast du was zu trinken mitgebracht?«
»Also echt, Rolf. Ich kenne wirklich kaum jemanden, der so herzlich ist wie du.«
Mein Alter grinste und hob Klein-My hoch, die schon versuchte an ihm hochzuklettern. »Natürlich habe ich euch vermisst. Ich habe mich jede Nacht in den Schlaf geweint. Ich hoffe, ihr habt nichts gegen gekochten Kabeljau. Ich habe gestern einen dicken Brocken von fast sieben Kilo erwischt.«
Der Prof stieß einen Pfiff aus. »Mit der Angel?«
»Nein. Beim Pilken. Hier oben nehmen nur Grünschnäbel die Angel. Leute aus Oslo und Schweden und anderer Abschaum.«
»Da kommt unser Gepäck«, sagte ich. »Müssen wir weit laufen?«
»Nein, gar nicht«, sagte Vater. »Ich hab eine Karre. Samt Chauffeur.«
Und das stimmte sogar. Vor dem Haus saß ein Typ in einem großen VW-Bus und las das Dagbladet. Walrossschnurrbart und Hängebauch. Er war auf den Namen Gunnar getauft, wie er uns erzählte, und arbeitete in der Grundschule.
»Er kann meine Arbeiten verstehen«, flüsterte mein Vater dem Prof und mir zu, als wir unser Gepäck im Wagen verstauten. »Und das ist nun wirklich nicht schlecht.«
»Klar versteht er die«, meinte der Prof. »Er arbeitet ja nicht umsonst in der Grundschule.«
Bald darauf fegten wir in Gunnars Karre am Fjord entlang. Wir saßen so gemütlich wie in Sesseln, und die gebrochene Stimme von Louis Armstrong sang aus einem ziemlich abgefahrenen Soundsystem What a wonderful world. Der Flugplatz lag weiter von Kråkenes entfernt, als es aus der Luft ausgesehen hatte, nur gut also, dass mein Vater für den Transport gesorgt hatte.
Als wir die ersten Häuser erreichten, zeigte der Prof aufs Wasser, wo eine Menge Boote eine lange Reihe bildeten. »Ist der Hering gekommen?«
»Nein«, sagte Gunnar.
Vater fügte hinzu: »Die suchen den Meeresboden ab. Ein Mädchen ist verschwunden.«
»O Gott«, sagte Mutter.
Der Prof und ich wechselten einen Blick und blieben stumm.
Ich übertreibe nicht, wenn ich behaupte, dass Kråkenes Vater mit offenen Armen aufgenommen hatte. Er konnte in einem Bootshaus am Ortsrand wohnen, mit eigenem Anleger und Boot. Und es war nicht einfach ein schnödes Bootshaus. Ich würde es eher als Luxusausgabe bezeichnen. Rot angestrichen, frisch renoviert, neue Fenster. Innen gab es eine Küche mit Hochbett, das Badezimmer hatte Fußbodenheizung, das Wohnzimmer schöne alte Möbel - und einen riesigen Fernseher. Vom Wohnzimmer aus führte eine steile Treppe zu einem kleinen Schlafzimmer unter dem Dach, das der Prof und ich sofort besetzten.
»Himmel«, sagte Mutter. »Hier wohnst du ja besser als zu Hause.«
»Was nicht ist, das kann noch werden«, sagte Vater. »Wenn diese Glückssträhne noch weiter anhält … Ich muss zugeben, dass es morgens mehr Spaß macht, ins Badezimmer zu gehen, wenn der Boden warm ist. Das Einzige, was wir uns in Torshov nicht zulegen können, ist die Aussicht. Und das Glucksen der Wellen unter dem Wohnzimmerboden bei Flut natürlich.«
»Das haben wir doch schon«, sagte ich. »Wenn ihr die Wellen nicht hören könnt, wenn der Prof unten in die Badewanne steigt, dann müsst ihr euch wirklich mal die Ohren waschen.«
Der Prof überhörte das und wandte sich an Vater. »Wo steckt denn der tote Kabeljau, Pettersen? Ich bin total ausgehungert, weil Peter mich im Flugzeug zum Kotzen gebracht hat.«
»Der liegt im Badezimmer in einem Eimer. Ihr könnt ihn ja zerlegen, dann setze ich die Kartoffeln auf.«
»Schön«, sagte der Prof munter. »Und vergiss die Möhren und Butter mit Eierstücken nicht.«
Es war ganz einfach ein Spitzenessen. Gunnar, der frisch geschieden war und nicht gern kochte, war richtig glücklich, als Mutter darauf bestand, dass er zum Essen blieb. Wir saßen also zu sechst um den abgenutzten Holztisch. Dampfender Kabeljau, der wie Perlmutt glänzte, dazu Möhren und Kartoffeln.
»So was kriegst du in der Stadt einfach nicht, selbst wenn du Beziehungen hast«, sagte Vater und spuckte diskret eine Gräte auf den Boden.
»Stimmt«, sagte der Prof. »Wenn sonst niemand den Kopf will …«
»Um Himmels willen!«, sagte Mutter. »Nimm du den nur.«
»Willst du den Kopf fressen?«, fragte My mit freudigem Entsetzen. Sie freute sich immer wieder über die perversen Essensgelüste des Prof.
»Aber sicher!«, sagte der Prof und starrte fasziniert den Kabeljaukopf auf seinem Teller an. Der Kabeljau seinerseits glotzte aus milchweißen Augen blind zurück.
Mir schauderte. Und während der Prof sich mit Hilfe von Schwester My als Gehirnchirurg betätigte, bat ich Vater und Gunnar, von dem Mädchen zu erzählen, nach dem die Boote gerade den Fjord absuchten.
»Wir wissen so gut wie nichts«, sagte Gunnar. »Das ist ja gerade das Schlimme. Und das bisschen, das wir wissen …«
»Ist noch schlimmer«, fiel Vater ihm ins Wort. »Ihr Boot trieb einige Hundert Meter vom Land entfernt auf dem Wasser. Am letzten Samstag. Und man braucht ja nicht viel Fantasie, um sich auszurechnen, was passiert ist. Armes Kind. Mit knapp 16 ist es einfach noch zu früh, um den Löffel abzugeben.«
»Und ihre Eltern? Wie gehen die damit um?«, fragte Mutter.
»Seit acht oder zehn Jahren wohnt sie allein mit ihrem Vater zusammen«, sagte Gunnar. »Ihre Mutter hat sich umgebracht. Manche hier im Ort meinen, Anita könnte die Schwermut ihrer Mutter geerbt haben.«
»Dass sie freiwillig ins Wasser gegangen ist, meinst du?« Der Prof blickte ihn mit ernster Miene an.
»Ich meine das nicht«, sagte Gunnar. »Ich hatte Anita sechs Jahre in meiner Klasse und ich kenne sie als munteres, lebhaftes Mädchen. Und auch wenn die Pubertät …«
»Auch wenn die Pubertät alle um den Verstand bringt, glaubst du nicht an die Selbstmordtheorie?«, fragte ich.
»Nein, das tue ich nicht«, sagte Gunnar und unterdrückte ein Lächeln. »Die Götter mögen wissen, dass ihr Vater ein ziemlicher Idiot sein kann, vor allem nach ein paar Schnäpsen, aber ich glaube nicht, dass sie zu Hause zu leiden hatte. Und ich habe erst vor wenigen Wochen mit ihr gesprochen. Damals hatte sie lauter Pläne für die Sommerferien.«
»Aber kann sie nicht ein bisschen zu früh mit den Ferien angefangen haben?«, fragte der Prof. »Ich meine, jeden Sommer tauchen in Oslo Leute auf, die aus Orten wie diesem hier abgehauen sind. Und ich bin ganz sicher, dass die wenigsten vorher Papa einen Zettel geschrieben haben.«
Gunnar zögerte mit der Antwort. »Möglich ist das natürlich. Aber ich glaube es nicht. Alles hier oben liegt so offen zutage. Jemand hätte davon gewusst. Und Bescheid gesagt. Spätestens, als die Suche losging. Und wir wissen, dass sie kein Flugzeug und keinen Bus genommen hat. Wenn sie mit einem Auto verschwunden ist, dann muss ein Fremder dieses Auto gefahren haben. Und jetzt, außerhalb der Reisesaison, gibt es von der Sorte hier nicht viele.«
»Und die Sache mit dem treibenden Boot sieht ja auch nicht so gut aus«, meinte Vater. »Nein, sie ist sicher ertrunken.«
Mehr wurde bis auf weiteres nicht über diese Angelegenheit gesagt. Der Prof kochte Kaffee und wir sprachen über Fische und das Wetter und über die Verhältnisse im Ort. Und danach wollten die Älteste und die Jüngste einen Blick auf Vaters Kunst werfen, während der Prof und ich zum Anleger liefen, um uns das Boot und die Aussicht anzusehen.
Der Wind hatte sich gelegt und es war nicht mehr so kalt. Ein riesiges Biest von Möwe breitete widerwillig die Flügel aus und segelte im Schrägflug übers Wasser, als wir den Anleger erreicht hatten. Durch das blaugrüne Wasser konnten wir ganz deutlich den Boden sehen, obwohl es mehrere Meter bis zum Grund waren.
»Tja«, sagte ich. »Etwas mehr Wasser als im Oslofjord.«
Der Prof nickte, aber ich merkte, dass er mit seinen Gedanken woanders war.
»Eiwei«, sagte ich. »Jetzt geht es nur noch um die Verschwundene? Um Anita?«
Er beförderte mit der Schuhspitze einen Stein ins Wasser. »Irgendwas an dieser Sache stimmt nicht.«
»Es ist etwas Schreckliches passiert«, sagte ich. »Das ist alles. Ich kann daran jedenfalls nichts Geheimnisvolles erkennen. Falls nicht irgendein Mr. X mit geilem Piepmatz sie aufgelesen hat. Und in dem Fall werden nicht wir sie finden.« Ich nickte in Richtung Meer. »Und wenn sie irgendwo da draußen liegt, auch nicht.«
Er lächelte. »Du kennst mich doch. Manchmal habe ich einfach so ein Gefühl, dass … Ja, dass etwas nicht stimmt.«
»Das weiß ich ja. Und meistens hast du damit sogar Recht. Aber echt - die Frau ist schon seit fast einer Woche verschwunden. Und ihr Boot trieb leer auf dem Fjord herum …«
»Sicher. Das sieht nicht gut aus. Da gibt's wirklich nichts zu diskutieren. Ich habe nur eben so ein Gefühl, dass alles eine andere Erklärung hat als die wahrscheinlichste. Vielleicht werde ich ganz einfach ein bisschen verrückt.«
Ich lachte. »Das wäre wirklich kein großes Wunder. Wir latschen doch überall voll in irgendwelche Mysterien. Aber ich glaube, diesmal kannst du ganz ruhig bleiben, Prof. Hier oben sind Angeln und frische Luft angesagt, sonst nichts. Ich meine, das mit dem Boot hat doch etwas zu bedeuten!«
»Ganz sicher. Aber was?«
»Für mich ist der Fall klar. Sie ist ins Wasser gefallen und ertrunken. Wenn sie das Boot auf dem Wasser gelassen hat und ohne ein Wort an irgendwen nach Kopenhagen abgedampft ist, dann muss sie doch ein ziemlicher Arsch sein. Ihr Vater ist doch bestimmt total fertig.«
»Vielleicht ist der hier ja der Arsch?«, fragte der Prof geheimnisvoll.
»Sehen wir uns lieber mal den Kahn von meinem Alten an«, sagte ich.
»Hab ich schon«, sagte der Prof. »Rana. 14 Fuß. Zehn PS Johnson. In so einem ist Platz genug für eine Menge Kabeljau.«
Wir wanderten ins »Zentrum«. Kråkenes war eine Cowboystadt. Zwei sich kreuzende Straßen. Zwei Tankstellen, eine Imbissbude und eine Kirche. Sowie Bürgerhaus, Pizzeria und Wohnhäuser. Das war alles, aber es reichte sicher. Hier konnte man sich nicht einmal verirren, wenn man blind und blau war.
»Langsam kapiere ich, was Gunnar damit gemeint hat, dass hier oben alles so offen zutage liegt«, sagte ich.
»Das ist bloß ein Mythos«, meinte der Prof. »Hier ist es auch nicht offener als in Oslo. Alle Orte, wo Menschen zusammen wohnen, sind geheimnisvoll. Weil der Mensch selber geheimnisvoll ist und voller Rätsel steckt. Wir, zum Beispiel, bilden uns wohl ein, alles voneinander zu wissen. Aber das stimmt natürlich nicht.«
Ich blieb stehen. »Hast du noch andere Perversionen, außer denen, von denen du mir schon erzählt hast?«
Er nickte. »Mein Leben wird von Dämonen und schwarzen Engeln gelenkt. Und im tiefsten Herzen verachte ich alles, was mit Essen zu tun hat. Nein, ganz ehrlich, Peter. Die Menschen wissen im Grunde nicht viel voneinander. Wir leben allesamt mehr oder weniger in unserem eigenen Universum. Und dieses Universum kann sich ändern. Ganz plötzlich. Deshalb nehme ich solche Beschreibungen wie die, die Gunnar von Anita geliefert hat, nicht so wichtig. Dass sie vor ein paar Wochen munter und zufrieden war - was zum Teufel spielt das denn für eine Rolle? Noch am selben Nachmittag kann ihr doch der Himmel auf den Kopf gefallen sein.«
»Der Himmel auf den Kopf?«
»Etwas kann passiert sein. Von dem vielleicht nur sie allein weiß. Etwas, das ihr den Boden unter dem Hintern ganz schön heiß gemacht haben kann.«
»Oder das sie dazu gebracht hat, ganz freiwillig den Löffel abzugeben«, sagte ich.
»Sicher. Natürlich. Aber das glaube ich nun mal nicht. Doch wechseln wir nun das Thema, wie sie im Radio immer sagen. Ich brauche zwei Postkarten.«
»Himmel«, sagte ich. »Du bist doch schneller wieder zu Hause bei Jorun als die Karte.«
»Von der Zukunft haben wir keine Ahnung. Und außerdem hat das nichts damit zu tun. Der Gedanke zählt. Das kleine Signal von mir, das ihr erzählt, dass ich an sie denke. Da spielt es keine Rolle, wann die Karte ankommt.«
»Und sie? Denkt sie an dich?«
»Wie meinst du das?«
»Ich meine - meinst du, morgen früh wird bei uns eine Eilkarte für dich abgegeben? Eine mit dem Bild vom Osloer Rathaus?«
»Jetzt redest du Müll, Pettersen. Ich glaube, du solltest dir wirklich eine Freundin zulegen. Du schwimmst irgendwie die ganze Zeit immer nur an der Oberfläche herum. Ein bisschen Liebe ist gar nicht schlecht, verstehst du. Liebe macht dir klar, dass nicht alles nur ein Witz, ein unverbindlicher Spaß ist.«
»Alles klar«, sagte ich. »Postkarten kaufen.«
Die Imbissbude entpuppte sich als Kombination von Imbiss und Zeitschriftenkiosk. Es roch nach Pommes und Druckerschwärze, und an einem Resopaltisch saß die obligatorische Freundinnenclique und kicherte über ihren Getränken. Ich fühlte mich sofort ganz unwohl in meiner Haut und wusste nicht, wohin mit meinen Händen, während der Prof gegen solche Situationen immun zu sein schien. Unangefochten spazierte er zum Postkartenständer und spitzte die Lippen, während er das Angebot mit kritischer Miene durchsah.
Berge, Fjorde, Berge, Fjorde. Gewaltige Berge. Blauer, blauer Fjord. Fischkutter, Kabeljauköpfe, Möwen und Eiderenten. Seeadler und noch mehr Berge und Fjorde. Greetings from Norway.
»Habt ihr sonst keine mehr?«, rief der Prof der Frau hinter dem Tresen zu.
»Himmel«, zischte ich. »Das muss doch reichen.«
Der Prof gab mir keine Antwort. Er ging zur Theke und tuschelte mit der Frau. Einige Sekunden darauf verschwand sie mit ungläubiger Miene im Hinterzimmer und kam dann mit einem Schuhkarton zurück, den sie dem Prof hinstellte. Ich hörte sie mit der Zunge schnalzen und vertiefte mich in den Klappentext eines Liebesromans.
Bald darauf saßen wir an einem Tisch und tranken Cola. Der Prof hatte diverse archäologische Funde gemacht und wollte das feiern. Das war übrigens typisch für ihn. Wenn er ins Kino ging, dann sah er sich Filme aus den vierziger Jahren an. Wenn er Bücher las, dann waren die von Schriftstellern, von denen sonst kein Mensch gehört hatte. Und da war es ja nur natürlich, wenn er seiner Freundin aus einer der schönsten Ecken Norwegens eine Postkarte schicken wollte, dass er sich eine schwarzweiße aussuchte, die den Supermarkt des Nachbarortes im Jahre 1963 zeigte. Außerdem hatte er sich eine Ansicht des Altersheimes zur selben Zeit und eine vergilbte Farbpostkarte gesichert, die die Polizeiwache von Harstad um die Mitte der fünfziger Jahre zeigte.
»Die sind Gold wert«, flüsterte er. »Jorun wird außer sich sein! Und die Alte hinter dem Tresen hat nur den halben Preis gefordert. Ich fass es nicht!«
»Ihr spinnt doch beide!« Ich lachte. »Aber ganz ehrlich - schick deiner Mutter eine andere! Wenn du ihr auch schreiben willst, meine ich.«
»Klar doch. Meine Mutter kriegt ein Möwenjunges im Abendrot. Karten wie diese hier gehen nur an Leute, die sie zu schätzen wissen. Man wirft doch keine Perlen vor … Nein, das sollte ich wohl nicht sagen. Mal sehen. Mein liebes Schnuffelchen! Nur ein paar Zeilen von mir aus dem hohen Norden. Hier gibt's spitzenmäßigen Kabeljau, das kann ich dir versichern. Hab sicher 15 Kilo vertilgt.«
Der Prof sprach beim Schreiben laut und langsam. Die Mädels am Nachbartisch kicherten nicht mehr. Sie lachten laut.
Der Prof machte weiter.