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Unser Fjord soll sauber bleiben! – Eine Forderung, die angesichts der wunderschönen Küsten Norwegens nur allzu verständlich ist, jedoch nicht von jedem mitgetragen wird: Im Steinsundfjord schwimmt eine giftige Brühe. Die großen Umweltorganisationen aber tappen auf der Suche nach dem Verursacher im Dunkeln, und so werden Peter und der Prof in ihrem neuesten Abenteuer zu leidenschaftlichen Landschaftsschützern. Mutter sah mich über ihre Teetasse hinweg sauer an. »Ich will nicht, dass du so lange hier allein herumhängst. Ein Wochenende ab und zu, okay. Aber nicht so lange. Du bist trotz allem erst fünfzehn.« »Ja, ich seh’ ja ein, dass das eine Sauerei von mir ist, erst fünfzehn zu sein«, sagte ich. »Aber sogar Vater kann eine Woche lang allein zurechtkommen, wenn das sein muss. Und ich kann viel besser kochen, das musst du einfach zugeben. Ich brauch’ auch keine Hilfe mehr auf dem Klo.« Vater, der kein Wort gesagt hatte, stand auf und ging ins Wohnzimmer, schaltete sofort das Radio ein. Feiger Satan!, dachte ich. Freunde kann man sich aussuchen, seine Familie nicht! Das wird Peter bewusst, als er mit seiner Familie alte Hippiefreunde in Südnorwegen besuchen muss. Einziger Trost: Sein bester Freund Prof Erlandsen begleitet die chaotische Familie auf ihrem Ausflug in die Pampa. Kaum in Steinsund angekommen, wird Reisegruppe Pettersen Zeuge einer Kundgebung von Ökoaktivisten, die gegen den ortsansässigen Chemiekonzern protestieren – bis dessen Vorstand die Vorstellung mit eiserner Faust beendet. Schließlich ist er sich keiner Schuld bewusst: Seine Fabrik recycled sämtliche Abfallprodukte. Fragt sich nur, wie dann das Gift in den Fjord kommt … Die Umweltaktivisten verfolgen eine Theorie – und liegen komplett daneben. Also beschließen die beiden Hobbydetektive, den Umweltsünder auf eigene Faust zu überführen. »Giftige Lügen« ist der dritte Band der Jugendkrimi-Reihe Peter und der Prof – natürlich spannend! Aus dem Norwegischen übersetzt von Gabriele Haefs.
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Seitenzahl: 202
Copyright © 1989, Ingvar Ambjørnsen
Übersetzt von Gabriele Haefs
Copyright der überarbeiteten eBook-Ausgabe © 2013 bei Hey Publishing GmbH, München
Die Norwegische Originalausgabe erschien 1989 unter dem Titel »Giftige løgner« im J.W. Cappelens Forlag, Oslo
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Covergestaltung: Sarah Borchart, ZERO Werbeagentur, München
Coverabbildung: FinePic®, München
Autorenfoto: © Christine Poppe
ISBN: 978-3-942822-80-0
Endstation Hauptbahnhof ist der zweite Band der Jugendkrimi-Reihe Peter und der Prof. Eine Auflistung weiterer Titel finden Sie am Ende des Buches (bitte hier klicken).
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Unser Fjord soll sauber bleiben! – Eine Forderung, die angesichts der wunderschönen Küsten Norwegens nur allzu verständlich ist, jedoch nicht von jedem mitgetragen wird: Im Steinsundfjord schwimmt eine giftige Brühe. Die großen Umweltorganisationen aber tappen auf der Suche nach dem Verursacher im Dunkeln, und so werden Peter und der Prof in ihrem neuesten Abenteuer zu leidenschaftlichen Landschaftsschützern.
Mutter sah mich über ihre Teetasse hinweg sauer an. »Ich will nicht, dass du so lange hier allein herumhängst. Ein Wochenende ab und zu, okay. Aber nicht so lange. Du bist trotz allem erst fünfzehn.«
»Ja, ich seh’ ja ein, dass das eine Sauerei von mir ist, erst fünfzehn zu sein«, sagte ich. »Aber sogar Vater kann eine Woche lang allein zurechtkommen, wenn das sein muss. Und ich kann viel besser kochen, das musst du einfach zugeben. Ich brauch’ auch keine Hilfe mehr auf dem Klo.«
Vater, der kein Wort gesagt hatte, stand auf und ging ins Wohnzimmer, schaltete sofort das Radio ein.
Feiger Satan!, dachte ich.
Freunde kann man sich aussuchen, seine Familie nicht! Das wird Peter bewusst, als er mit seiner Familie alte Hippiefreunde in Südnorwegen besuchen muss. Einziger Trost: Sein bester Freund Prof Erlandsen begleitet die chaotische Familie auf ihrem Ausflug in die Pampa. Kaum in Steinsund angekommen, wird Reisegruppe Pettersen Zeuge einer Kundgebung von Ökoaktivisten, die gegen den ortsansässigen Chemiekonzern protestieren – bis dessen Vorstand die Vorstellung mit eiserner Faust beendet. Schließlich ist er sich keiner Schuld bewusst: Seine Fabrik recycled sämtliche Abfallprodukte. Fragt sich nur, wie dann das Gift in den Fjord kommt …
Die Umweltaktivisten verfolgen eine Theorie – und liegen komplett daneben. Also beschließen die beiden Hobbydetektive, den Umweltsünder auf eigene Faust zu überführen.
»Giftige Lügen« ist der dritte Band der Jugendkrimi-Reihe Peter und der Prof – natürlich spannend!
Erwachsene können sich wirklich überall rausreden. Deshalb kriegen sie auch fast immer ihren Willen. Jedenfalls, wenn ihr Diskussionspartner minderjährig ist. Wenn du unter achtzehn bist, hältst du lieber gleich die Klappe. Du kannst heulen und schreien, fluchen und die Türen knallen, aber die Alten sacken doch immer den letzten Stich ein.
Ich saß in meinem Zimmer im zweiten Stock, Bentsebrugata 12, Torshov, Oslo, Norwegen, und glotzte aus dem Fenster. Fünfzehn Jahre und kurz vorm Ziel geschlagen. Draußen hatten die großen Birken ihre Sommerklamotten angelegt, oder um es mal so zu sagen: Ein lindgrüner Schleier wehte sanft im Winde.
Ich find diese Birken toll. Hab ich immer schon getan. Hab irgendwie das Gefühl, sie zu kennen. Aber in diesem Moment sah ich durch Zweige und grüne Blätter einfach durch. Ich war nicht mehr so sauer gewesen, seit meine Schwester, die kleine My, auf die Briefe einer gewissen jungen Dame gepinkelt hatte. Fühlte mich von meiner Mutter im Stich gelassen. Von meinem Vater verraten. My konnte ich diesmal auslassen, sie war nicht alt genug, um die ganze Kiste zu kapieren. Sie hatte einfach bloß alle Sirenen voll aufgedreht, als ich mich am wüstesten mit den Alten herumnervte.
Es ging um Pfingsten. Ich hatte noch gar keine Pläne für die Feiertage gemacht. Und deshalb fand ich es logisch, dass die anderen das auch nicht taten. Für mich Pläne machen, meine ich.
Mutter, die in einem Theater unten in der Stadt Eintrittskarten verkauft, hatte ein paar Tage frei und nun hatte sie sich in den Kopf gesetzt, dass die ganze Familie nach Südnorwegen fahren und irgendwelche alten Freunde von ihr und Vater besuchen sollte. Vater hatte nämlich fast das ganze Jahr über frei, also nickte er nur und war mit allem einverstanden.
Aber ich stellte mich ordentlich auf die Hinterbeine.
»Freiheitsberaubung!«, sagte ich mit vollem Mund. »Du bist ja genauso schlimm wie der amerikanische Geheimdiest, CIA, oder FBI oder wie auch immer. Die entführen auch ständig Menschen. Dir fehlt bloß noch die Sonnenbrille und ein beknackter Schlapphut.«
Mutter sah mich über ihre Teetasse hinweg sauer an. »Ich will nicht, dass du so lange hier allein herumhängst. Ein Wochenende ab und zu, okay. Aber nicht so lange. Du bist trotz allem erst fünfzehn.«
»Ja, ich seh’ ja ein, dass das eine Sauerei von mir ist, erst fünfzehn zu sein«, sagte ich. »Aber sogar Vater kann eine Woche lang allein zurechtkommen, wenn das sein muss. Und ich kann viel besser kochen, das musst du einfach zugeben. Ich brauch’ auch keine Hilfe mehr auf dem Klo.«
Vater, der kein Wort gesagt hatte, stand auf und ging ins Wohnzimmer, schaltete sofort das Radio ein.
Feiger Satan!, dachte ich.
»Ich will nicht weiter diskutieren«, sagte Mutter. »Ich bin wirklich nicht oft so klein kariert wie jetzt, aber genau hier ziehe ich die Grenze.«
Sie fing an die kleine My auszuziehen, wie um zu unterstreichen, dass die Diskussion beendet war. Sie hatte fast eine Stunde gedauert und deshalb war es eine Erleichterung - auch wenn ich einsehen musste, dass ich verloren hatte.
Aber den Schlusspunkt wollte ich setzen. Und deshalb knallte ich meine Zimmertür so hart zu, dass die Fensterscheiben im ganzen Haus klirrten. Dann drehte ich Motörhead voll auf und begleitete sie auf der Schreibtischlampe als Becken. Ich konnte hören, dass Vater daraufhin im Wohnzimmer Jörn Hoel lauter als max. stellte, obwohl er wusste, dass ich diesen Heini und seine Lieder einfach nicht ertragen konnte. Und mitten in dieser Klanghölle hörte ich Mutter aus der Küche schreien, dass wir alle beide geisteskrank wären.
Nach und nach regte ich mich ab. Ich hatte den Krieg um meine Freizeit verloren, so einfach war das. Ich blieb am Fenster sitzen, während der Frühlingsabend sich langsam über die Stadt senkte und den hellgrünen Blättern der Birke eine dunklere Farbe verpasste.
Meine Eltern waren im Grunde nicht so schlimm. Und Mutter hatte Recht, sie war normalerweise nicht sehr streng. Sie sieht total irre aus, mit ihren mit Henna gefärbten Haaren und den irrsinnigen Kleidern, in denen sie herumtobt, aber meistens ist sie friedlich. Vater auch. Bei ihm habe ich oft den Eindruck, dass er sein eigenes Leben lebt - tief drinnen in seiner verwirrten Birne.
Außen an dieser Birne dagegen hängen etwa ein Meter Haare und ein wüster Struwwelbart und deshalb hab ich in der Schule im Laufe der Jahre natürlich eine Menge Mist zu hören gekriegt. Er ist felsenfest davon überzeugt, dass er ein großer Maler und ein großer Schriftsteller ist - überhaupt ein großer Künstler. Und deshalb hat er einfach keine Zeit, einen Job länger als einige Wochen am Stück zu behalten. Ich bin der Einzige in der Familie, der ihn ganz offen als faulen Sack bezeichnet hat, aber als ich danach sein Gesicht sah, habe ich diese Salve wirklich bitter bereut. Hab versucht alles wieder gutzumachen und ihm eine Tube zinkweiße Ölfarbe für über sechzig Eier gekauft. Danach taute er dann wieder auf und verzieh mir mein blödes Mundwerk. Trotzdem bin ich verdammt sicher, dass ich Recht hatte.
Meine Eltern sind alte Hippies. Vor Jahr und Tag sind sie mit Blumen in den Haaren und Gitarren auf dem Rücken durch den Park getobt.
Das ist lange her. Aber das kapieren sie einfach nicht.
Ich ging zum Wasserrohr in der Zimmerecke und versetzte ihm ein paar saftige Tritte. Heimliches Signal für den Prof im Zimmer unter meinem. Der Prof ist genauso alt wie ich und ich kenne ihn schon mein ganzes Leben lang. Wir gehen in dieselbe Klasse und der Prof ist einer von der Sorte, die kapieren, was die Lehrer erzählen. Das finden die natürlich Spitze. Sie bedanken sich für seine Aufmerksamkeit, wenn sie die Zeugnisse verteilen. Was meinen Einsatz angeht, sind sie etwas zurückhaltender.
Zehn Minuten später hörte ich den Prof klingeln und die Wohnung betreten. Er quatschte im Wohnzimmer ein bisschen mit My, dann stürzte er ohne anzuklopfen in mein Zimmer.
»Was ist denn jetzt los?«, fragte er abweisend, während er einen raschen Blick auf die Uhr warf. »Ist dir klar, dass in ein paar Minuten ein Film mit Greta Garbo in der Glotze läuft?«
»Nein«, antwortete ich. Greta Garbo! Schwedischer Filmstar aus dem letzten Jahrhundert. Sieht immer aus, als käme sie frisch von einer Beerdigung. Platt wie eine Startbahn. Aber das war ja ganz typisch, dass der Prof sie toll fand. Der Prof ist immer mit irgendwas beschäftigt, für das sich sonst kein Schwein interessiert. In letzter Zeit hatte er sogar angedeutet, dass er Lust hätte, einen Volkstanzkurs zu machen!
»Alles klar«, sagte ich. »Dann reden wir ein andermal. Wenn das mit dieser Garbofrau so verdammt wichtig ist, meine ich.«
»Klar ist das wichtig«, sagte er zögernd. »Aber wir können trotzdem jetzt quatschen, das geht schon in Ordnung. Meine Mutter zeichnet ihn eh auf. Und du siehst aus, als ob du ein Pfund Mehlwürmer gefressen hättest!«
Ich erzählte ihm von dem kleinen Familienausflug, den Mutter durchgedrückt hatte.
Er kratzte sich den Kopf, als ich alles losgeworden war; kratzte sich den Kopf und glotzte mich blöd an.
Schließlich sagte er: »Na und? Ist das nicht in Ordnung, aus der Stadt rauszukommen? Ich raff wirklich nicht, warum du keinen Bock hast, mal einen Blick auf Gottes freie Natur zu werfen. Superwetter ist im Moment doch auch!«
»Weil«, antwortete ich und stellte fest, dass ich mich schwer zusammenreißen musste, um ruhig sprechen zu können. »Weil wir total bescheuerte Leute besuchen werden! Schlimmer als mein Vater, falls du dir das vorstellen kannst. Himmel, Prof, die sind schon seit diesem Flower-Power-Quatsch mit meinen Eltern befreundet. Kapierst du? Ich kenn sie doch schon. Baden nackt und fressen bloß Karotten und Körner. Wohngemeinschaft und so. Eine ganze Bande.«
Der Prof runzelte die breite Stirn und stieß durch die Vorderzähne Luft aus. Das bedeutete, dass er die Sache endlich gerafft hatte. Hatte gerafft, dass ich nicht übertrieben hatte, als ich andeutete, dass Peter Pettersen ganz schön in der Tinte hockte.
Er griff nach einem Tim-und-Struppi-Heft, das auf dem Tisch lag, und blätterte vor und zurück ohne wirklich hineinzuschauen. Ich wusste, dass ich jetzt keine weiteren Informationen mehr liefern durfte. Er hatte sein cleveres Gehirn eingeschaltet. Die Kristallkugel, die ihm den Beinamen Prof eingebracht hatte. Ich konnte ihn bloß in Ruhe lassen und hoffen, dass er irgendeine Sorte von Plan aushecken würde. Total aus dem Sumpf konnte er mich ja nicht ziehen, aber es gehörte wirklich nicht sehr viel dazu, die Lage ein bisschen besser zu machen.
»Du hast Recht«, sagte er nach einigen Minuten. Er warf den Comic achtlos von sich, traf damit mein Sparschwein und beide gingen zu Boden. »Gelbe Rüben und FKK!« Er lachte. »Du sitzt ja echt ganz schön in der Tinte.«
»Ja, nicht wahr?«
Er zog ein riesiges Herrentaschentuch aus der Hose und schnauzte sich die Kartoffelnase. »Du kannst doch nicht ohne mich da runterfahren«, sagte er und stopfte den Rotzlappen grinsend wieder in die Tasche.
Am nächsten Tag ging's los. Ausnahmsweise standen meine Eltern einmal in aller Herrgottsfrühe auf und waren beide total hektisch. Fielen sich pausenlos ins Wort. Konnten sich nicht einigen, was sie mitnehmen und was sie nicht mitnehmen wollten, und benahmen sich überhaupt so, als wären sie nicht älter als My. My hatten sie natürlich auch in Hektik versetzen können, sie wuselte mit nacktem Hintern durch die Wohnung und heulte und stellte sich an. Ich konnte mir diese Ferien schon sehr gut vorstellen: Sie würden überhaupt keine Ferien sein. Mein einziger Trost war, dass meine Eltern und die vom Prof ihm erlaubt hatten, sich an dieser Schwachsinnsexpedition zu beteiligen. Ich würde also wenigstens nicht der einzige Cowboy in diesem Indianerlager da unten sein.
Schließlich waren sie dann doch fast fertig. Ich hatte schon am Vorabend gepackt, deshalb hatte ich die ganze Zeit alles unter Kontrolle. Meine Eltern dagegen waren einfach unfähig zu irgendwelchen Vorbereitungen. Wie üblich musste alles in aller Eile und in letzter Sekunde passieren. Und als My es dann noch schaffte, sich eine Sekunde vorm Abmarsch die Hosen voll zu machen, war uns allen klar, dass wir die Straßenbahn getrost vergessen konnten. Während Vater sich die junge Frau unter den Arm klemmte und im Badezimmer verschwand, bestellte Mutter ein Taxi und ich ging nach unten, um den Prof zu beruhigen.
Er stand schon mit seinem Rucksack in der Tür. Wenn ich ihn richtig kenne, und ich kenne ihn richtig, dann wartete er schon seit mehreren Minuten.
Ich erklärte, dass uns ein bisschen Kacke aufgehalten hätte und dass wir die Straßenbahn verpassen würden. »Mit ein bisschen Glück verpassen wir auch den Zug«, fügte ich hinzu.
»Ich hab das Gefühl, das wird alles tierisch komisch werden«, sagte er.
Oben warf Vater mit Getöse die Tür ins Schloss, dann kamen alle drei die Treppe heruntergetrabt.
Die Mutter vom Prof erschien im Türspalt, um Grüße und Ermahnungen loszuwerden, und dann ging es endlich los.
Der Taxifahrer war von der vergrätzten Sorte und im Grunde konnte ich ihn gut verstehen. Zum einen hatten wir ja einen Berg Gepäck, den er im Kofferraum verstauen musste, und dann waren wir auch noch fünf Fahrgäste. Er versuchte auf Vater einzureden, aber der war ausnahmsweise mal erstaunlich entschieden. »Stellen Sie sich einfach vor, die Kleine wäre ein Teddybär«, sagte er und stieg zusammen mit dem Prof und mir hinten ein. Der Teddybär My zappelte und schrie und damit unterhielt sie sich auf dem ganzen Weg zum Bahnhof.
Mutter, die vorn saß, versuchte den Fahrer milde zu stimmen und fragte, ob er viel zu tun hätte und anderen Quatsch, aber der Mann ließ keinen Mucks hören, bis wir angekommen waren. Dann sagte er: »Fünfundfünfzig fünfzig.«
Nachdem Mutter das Geld aus der Tasche gefischt hatte, verkündete der Prof, dass wir jetzt noch genau fünfundvierzig Sekunden hätten, um den Zug zu erwischen.
Wir schafften es in dreißig.
»Endlich!«, keuchte Vater, als wir uns schweißnass auf unsere Plätze im Abteil fallen ließen. »Unterwegs ins Paradies!«
Ich warf dem Prof einen verzweifelten Blick zu. Draußen erklang das Signal, ein Ruck lief durch den Wagen und die Lokomotive arbeitete sich langsam gen Süden vor.
Auf dieser Bahnstrecke werden heiße Würstchen verkauft. Das interessierte meine Eltern allerdings nicht. Krankhaft sparsam, wie sie ja ab und zu sein mussten, hatten sie einen Haufen Butterbrote und eine Thermoskanne mit Kaffee mitgenommen. Der bloße Anblick der Brote gab mir ein Gefühl von großer Pause. Aber jetzt waren doch Ferien! Ich lehnte glatt ab, als die Brote ausgepackt wurden. Der Prof hatte Kopfhörer auf den Ohren und sagte nicht einmal Nein. Schaute in die andere Richtung und hörte DumDum Boys.
»Sei doch mal nett«, sagte ich zu Vater. »Spendier mir und dem Prof eine Runde Würstchen.«
»Warum denn?«, fragte er uninteressiert und blättert weiter in seiner Zeitung, während er eine Kruste wiederkäute. »Null Nährwert. Und teuer ist es auch.«
Mutter sagte kein Wort. Ich hatte das Gefühl, dass es unter ihrer Würde war, etwas so Blödes wie Würstchen auch nur zu erwähnen. Vielleicht hielt sie auch bloß die Klappe, damit nicht auch noch My fixe Ideen über Nahrung ohne Nährwert bekam. Vorläufig hatten sie ihr ein paar Stückchen von einer Brotscheibe aufschwatzen können.
Na gut, da war nichts zu machen. Mir hatten sie nicht einmal fünf lausige Øre als Feriengeld gegeben und ich hatte auch nicht vor, mir meine Wurst zu erschleimen. Ich begnügte mich damit, Vater noch ein bisschen anzupöbeln.
Aber als die Frau die Minibar draußen auf dem Flur vorbeischieben wollte, erwachte der Prof zum Leben. Mit brutaler Gewalt riss er die Tür auf. Da er die Ohren voll Musik hatte, hatte er von dem üblen Dialog zwischen Vater und mir natürlich nichts mitbekommen. Nun fühlte er sich total ausgehungert, das konnte ich an seiner ganzen Haltung sehen. Und während die DumDum Boys immer noch volle Kanne losröhrten, brüllte er wie alle Leute mit Kopfhörern auf den Ohren, die sich immer einbilden, alle anderen hörten die Musik genauso laut: »Ja, wir brauchen unbedingt Würstchen, gute Frau! Mit Massenhaft Senf und Ketchup! Und eine für die junge Dame hinten in der Ecke. Drei insgesamt, mit Brot und Lompe!« (Anmerkung der Übers.: Lompe ist eine Art weiches Fladengebäck, das zum norwegischen Würstchengenuss einfach unerlässlich ist.) Elegant steckte er die Hand in die linke Hemdtasche und holte einen frisch gebügelten Hunderter hervor.
Vater starrte den Hunderter mit einem Gesichtsausdruck an, als ob der Prof gerade ein Porträt des amerikanischen Präsidenten aus dem Hut gezaubert hätte. Ich amüsierte mich, denn ich wusste genau, was in diesem Moment in seiner Birne ablief. Einerseits wollte er sich durchaus nicht in dieses Wurstgeschäft einmischen. Aber andererseits wollte er irgendwie gern in so einer Situation den Familienvater spielen. Und deshalb musste er ganz schnell seine Politik ändern.
Mutter hatte sich zum Fenster umgedreht. Ich sah nur ihren Rücken und ihre zuckenden Schultern. Sie gab sich schreckliche Mühe, damit wir anderen sie nicht kichern hörten. Vater sah sie genervt an, dann schob er den Hunderter des Profs beiseite und sagte zu der Verkäuferin, die gerade mit lauten Geräuschen Senf und Ketchup auf die Würstchen gespritzt hatte: »Ja, und dann noch drei Cola!« Er quetschte sich ein ausgefranstes Lächeln ab und fischte einen zerknüllten Fünfziger aus der Tasche seiner ausgewaschenen Jeans. Im Grunde tut er mir ja ein bisschen Leid, dachte ich und biss in meine Wurst. Wie immer war er wohl gerade so abgebrannt wie eine Kirchenmaus und wahrscheinlich hatte Mutter ihm nur ein kleines Taschengeld für Bier und Tabak gegeben.
»Danke!«, brüllte der Prof, der noch nicht gerafft hatte, dass Familie Pettersen gerade eine kleine Fehde durchlebt hatte. Vater reagierte überhaupt nicht. Schnappte sich nur noch ein Brot und vergrub sich in der Zeitung.
Auf der anderen Seite des Tisches hatte My herausgefunden, dass Senf und Ketchup eine wunderbare Schminke ergeben.
Es war natürlich ausgesprochen öde, die ganze Zeit auf unseren Hintern im Abteil zu sitzen, und deshalb beschlossen der Prof und ich uns ein bisschen die Füße zu vertreten, als wir Nordagutu erreicht hatten. Der Prof stürzte zum Klo am anderen Wagenende und ich öffnete das Fenster. »Hinauslehnen gefährlich!«, las ich unter mir auf dem Fensterrahmen, während ich mich so weit wie möglich hinauslehnte. Die frische Luft flog mir mit hundertzwanzig Stundenkilometern ins Gesicht und vertrieb den Gestank der selbst gedrehten Zigaretten meiner Eltern.
Als der Prof zurückkam, machte er ein seltsames Gesicht.
»Was ist los?«, fragte ich. »Gab's Gespenster auf dem Klo?«
Er stellte sich neben mich und schnappte ebenfalls frische Luft. »Im letzten Abteil sitzt ein komischer Vogel«, sagte er. Er trat zurück und warf seine ewigen Drops ein. »Trinkt Bier und quatscht wie ein besessener in sein Handy.«
»Himmel, immer diese irrsinnig wichtigen Geschäftsleute«
»Aber Geschäftsleute sitzen doch nicht hier in der Bahn und trinken Bier aus der Flasche, oder? Und im Nacken hat er ein grünes Zöpfchen.«
»Kommt doch drauf an, was der für Geschäfte macht«, sagte ich.
Der Prof sah mich lange an, dann sagte er: »Wir beide stolpern aber auch immer in irgendwelche Geheimnisse.«
Wir waren ja auch wirklich schon in reichlich unheimliche Geschichten hineingeschlittert, das konnte ich nicht abstreiten. Wir waren ja auch wirklich schon in reichlich unheimliche Geschichten hineingeschlittert, das konnte ich nicht abstreiten. Aber es war doch eigentlich nicht besonders geheimnisvoll, dass so ein Kerl im Zug saß und Bier trank, während er sich mit seinem Handy unterhielt - auch wenn er ein etwas gewöhnungsbedürftiges Äußeres hatte.
»Der ist bestimmt ein Spion«, sagte ich. »Russischer Spion, und jetzt berichtet er zu Hause, ob die norwegischen Würstchen was taugen.«
Der Prof gab keine Antwort.
Als die Neugier verteilt wurde, stand ich ganz vorn in der Schlange. Also musste ich einen Blick auf diesen Heini werfen. Ich glaubte zwar nicht, dass er Dreck am Stecken hätte, aber trotzdem. Ich schaute in sein Abteil, als ich auf dem Weg zum Klo daran vorbeikam.
Er hatte die Füße auf den Sitz gegenüber gelegt. War so Mitte zwanzig. Ich sah ihn nur einen Moment lang und stellte fest, dass er ganz normal angezogen war, das heißt, er trug Jeans. Halblange zerzauste Haare, die früher einmal blond gewesen waren, jetzt aber allerlei gedämpfte Schattierungen aufwiesen, weil er sie mehrmals gefärbt
hatte. Ein grünes Rattenschwänzchen fiel ihm in den Nacken. Auf dem Tisch stand eine Bierflasche und eine Zigarette hing in seinem Mundwinkel.
Als ich gleich darauf im Klo stand, ging mir auf, dass er seltsam bekannt ausgesehen hatte. Ich hatte das Gefühl, dass ich diesen Typen schon irgendwo gesehen hatte. Aber wo? In welchem Zusammenhang? Kam er aus meiner Gegend? Ich wusste es nicht, aber ich konnte ihn in Torshov oder Grünerløkka einfach nicht unterbringen.
Ich ging zum Prof zurück, mit dem irritierten Gefühl, das man immer bekommt, wenn einem ein Wort oder ein Name nicht einfällt und trotzdem auf der Zunge liegt. Diesmal war es zwar ein Gesicht, das ich nicht unterbringen konnte, aber das machte die Sache auch nicht angenehmer.
Das erzählte ich dem Prof, aber der hatte offenbar alles Interesse an der Sache verloren. »Kann ja wohl nicht so gefährlich sein«, meinte er. »Wenn das irgendeine Krimikiste gewesen wäre, könntest du dich bestimmt erinnern.«
»Vielleicht.«
Aber ich war alles andere als sicher. Schließlich war der Prof derjenige mit dem perfekten Gedächtnis.
»Ich setz mich wieder«, sagte er. »Will ein bisschen lesen.«
Ich ging mit.
Die Zugfahrt war genauso öde, wie ich mir das vorgestellt hatte. Und während die Meilen und die Stunden vergingen, wurde es immer nur noch schlimmer. Vater arbeitete sich systematisch durch seinen Zeitungsstapel. Mutter und My sangen, blätterten in Bilderbüchern, zeigten aus dem Fenster und riefen »Guck mal!« Der Prof las einen Krimi und war vollkommen unansprechbar. Wenn der Zug in einem Bahnhof hielt, ging ich auf den Flur und öffnete das Fenster. Dann beglotzte ich die Leute auf dem Bahnsteig und versuchte mir vorzustellen, wie sie wohl hießen, was sie machten und wohin sie unterwegs waren. In Neulaug stieg der Typ mit dem grünen Zöpfchen aus. Er trug in der linken Hand einen funkelnagelneuen Diplomatenkoffer und in der rechten eine Reisetasche. Er warf beides auf den Rücksitz eines Taxis, ehe er selber einstieg. Dann verschwand er in einer Staubwolke, während unser Zug sich in Richtung Kristiansand in Bewegung setzte, wo wir mit dem Bus weiterfahren sollten. Goodbye, Mister Nobody, dachte ich.
Steinsund sah genau so aus, wie sich das für eine kleine Stadt in Südnorwegen eben gehört. Ganz nach Schema F. Kleine schiefe Häuser, glänzend weiß gestrichen, und enge Gassen, die angelegt worden waren, lange bevor Henry Ford auf die Idee verfallen war, Autos am Fließband herstellen zu lassen. Als wir von der Bushaltestelle die steilen Straßen zum Zentrum und zum Hafen hinuntergingen, hatte ich das Gefühl, in eine ganz andere Zeit versetzt worden zu sein. Wenn der Fjord unter mir voller Segelschiffe gewesen wäre, hätte ich das wahrscheinlich nicht einmal seltsam gefunden.
Aber die Zeit der Segelschiffe war schon längst vorbei. Mitten auf dem blanken Fjord fuhren zwei Rennboote im Kreis und ein Frachter glitt langsam auf eine Landungsbrücke zu. Der Fjord spiegelte den blauen Himmel, und außer den klagenden Schreien einer Möwe, die mit dem Wind segelte, war fast kein Geräusch zu hören. So dazustehen und über Steinsund hinwegzublicken kam mir so vor wie außerhalb der Welt zu stehen. Außerhalb der Wirklichkeit jedenfalls, die ich aus Oslo kannte. Weit weg von Staub und Auspuffgasen, Lärm und Hektik. Das gefiel mir. Das muss ich zugeben.
»Das ist ja das reine Glanzbild«, sagte ich und drehte mich zum Prof um, der hinter mir hergekeucht kam.
»Stimmt.« Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Ist das noch weit? Dieser Rucksack bringt mich um. Sogar wenn's abwärts geht.«
»Mein Vater muss erst noch telefonieren«, sagte ich und setzte mich wieder in Bewegung. »Wir müssen diesen Leuten Bescheid sagen, dass wir hier sind. Dann kommen sie uns mit dem Auto holen.«
Er stöhnte. »Es wäre vielleicht eine Idee, so was vorher zu verabreden, sagen, mit welchem Bus man kommt, meine ich.«