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Der Brief des Apostels Paulus an die Kolosser ist ein kolossales Werk nicht nur hinsichtlich seiner Bedeutung für die Theologen und Bibelausleger. Es gibt außerhalb des Neuen Testaments kein literarisches Werk, welches so Großartiges zu sagen hat zur Stellung und Bestimmung des Menschen im Kosmos. Der Kolosserbrief offenbart, warum es die Schöpfung gibt, was der Mensch darin soll und wie es Gott schafft, die Menschheit zum großen Ziel zu bringen, wofür sie geschaffen worden ist. Im Kolosserbrief geht es um die ersten und letzten Wahrheiten, mehr noch, um den Zweck, den Sinn, das Ziel des Ganzen. Kosmologie bei Paulus ist das Wirkungsgebiet des Gottes, der Himmel und Erde erschaffen hat, um sie zur Vollendung zu bringen, nicht, um sie dahin zu geben. Daher spricht das Neue Testament von Jesus Christus als Menschensohn und Gottessohn, dem Alpha und Omega, der das, was Gott angefangen hat, zur Vollendung bringen wird. Der Kosmos wie er ist, wird aufgelöst, indem er seiner Erlösung zugeführt wird.
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Seitenzahl: 338
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Roman Nies
Auflösung und Erlösung des Kosmos
Der Brief an die Kolosser
© 2018 Roman Nies
Verlag und Druck: tredition GmbH, Hamburg
ISBN
Paperback:
978-3-7469-8324-0
Hardcover:
978-3-7469-8325-7
e-Book:
978-3-7469-8326-4
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Auflösung und Erlösung des Kosmos
Der Brief an die Kolosser
Eine heilsgeschichtliche Auslegung
von
Roman Nies
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Würdigkeit und Wandel Kol 1,5-11
Die Merkmale der Gemeinde Jesu Christi Kol 1,9-12
Vom finsteren Schein ins lichte Sein Kol 1,13-14
Der sichtbar werdende Gott Kol 1,15
Die Vollendung des Alls durch Christus Kol 1,16-17
Der unversöhnliche Mensch Kol 1,21-22
Sofern im rechten Glauben gegründet Kol 1,22-23
Verborgene Auftragslage Kol 1,24-29; 2,2-3
Der Kampf gegen Irrung und Verführung Kol 2,6-8
Die Fülle der Gottheit Kol 2,9-15
Gegen das Schattenhafte Kol 2,16-23
Der alte und der neue Mensch Kol 3,1-17
Ordnungen in Christus Kol 3,18-23; 4,1.10.11. 16-18
Anmerkungen
Literaturverzeichnis
Vorwort
Der Brief des Apostels Paulus an die Kolosser ist ein kolossales Werk nicht nur hinsichtlich seiner Bedeutung für die Theologen und Bibelausleger. Es gibt außerhalb des Neuen Testaments kein literarisches Werk, welches so Großartiges zu sagen hat zur Stellung des Menschen im Kosmos, seiner Beziehung zum Schöpfer des Kosmos und seiner Bestimmung im Kosmos. Der Kolosserbrief offenbart, warum es die Schöpfung gibt, was der Mensch darin soll und wie es Gott schafft, die Menschheit zum großen Ziel zu bringen, wofür sie geschaffen worden ist. Was für den Menschen kolossal im Anspruch erscheint und herausfordernd im Herandenken, ist für Gott nur fahrplanmäßige und exakte Durchordnung vom Groben bis zum Feinen.
Gerade im Kolosserbrief wird die Kosmologie besonders hervorgehoben. Dabei ist im Sinne von Paulus und den Verfassern des Neuen Testaments nicht an eine wissenschaftliche Beschreibung der sichtbaren Kräfte und physikalischen Gesetzmäßigkeiten des Universums zu denken,*1 ja, es geht noch nicht einmal um Ursachenforschung auf der metaphysischen Ebene, sondern es geht um die ersten und letzten Wahrheiten, mehr noch, um den Zweck, den Sinn, das Ziel des Ganzen.
Kosmologie bei Paulus ist nicht bloß ein Teilgebiet der Astronomie, das in enger Beziehung zur Astrophysik steht, sondern das Wirkungsgebiet des Gottes, der Himmel und Erde erschaffen hat. Er hat sie nicht einfach aufgeworfen, um sich irgendwie damit auseinanderzusetzen oder herabgeworfen, um sich an ihnen schadlos zu halten. Er hat sie in Gang gesetzt, um sie zu vollenden. Der Kosmos steht in einem engen Wirkzusammenhang mit dem Menschen, der geistigen Gesetzmäßigkeiten ausgesetzt, aber auch Freiheiten zugeführt werden soll, die weit über das bloß Physische und noch unfertig Geschaffene, das die Bibel auch das Sichtbare nennt, hinausgehen. Der Geist des Menschen ist ebenso wenig eine Funktion des Kosmos wie der Geist Gottes eine zwingende Erscheinung darin ist. Denn es kommt auf die Wahrnehmbarkeit an. Sie hat beim Menschen Grenzen, bei Gott nicht. Daher muss es klar sein, dass der Mensch im physischen Kosmos nicht alles Geschaffene finden oder erklären, viel weniger sehen kann. Was in einem nichtphysischen Teil des Kosmos stattfindet, in den Überhimmeln oder im Jenseits muss ihm offenbart werden, wenn er davon etwas wissen will. Und das tut niemand so sehr wie Paulus in seinen Briefen. Der weltliche Mensch weiß sehr wenig. Der Ausschnitt der Wirklichkeit, die ihm geläufig ist, ist vermutlich unter 1 %. Und trotzdem reißt er den Mund auf, als wüsste er wenig unter 99%.
Die Christologie, die Paulus im Kolosserbrief entbietet, ist deckungsgleich mit seiner Kosmologie. Das bedeutet, dass alles was ist, von Christus ausgeht und zu Christus hinführt und nur in Ihm überhaupt seine Bestimmung von Gott her erreichen kann. Geistige Wesen können sich andere Bestimmungen zum Ziel setzen. Sie bleiben jedoch nur von vorübergehender Relevanz, sind sie doch selber dazu bestimmt, das Ziel, das ihnen Gott gesetzt hat, zu erreichen. Die Freiheit von geistigen Wesen scheint darin zu bestehen, herumzuirren, bis sie auf die Weisheit Gottes gestoßen sind und sich endlich danach ausrichten dürfen. In Wirklichkeit besteht aber die Freiheit darin, der Bestimmung folgen zu dürfen, weil ja alles andere tatsächlich in eine Unfreiheit und Gebundenheit der einen oder anderen Art führt. Und Paulus verdeutlicht das auch im Kolosserbrief. Es gibt kein Ausweichen von der Realität Gottes. Zu dieser Realität gehört Sein Ratschluss und das Ziel, das Er sich gesetzt hat! Es gibt ein Zaudern in den gegebenen Freiheiten, ein noch so eifriges Drumherum, ein kleines menschliches Brausen und plumpes Dröhnen. Aber der Ton kommt nicht gegen den Töpfer an. Er wird so lange mit Wasser bearbeitet, bis die Form passt. Dann wird er dem Feuer ausgesetzt, damit er, nun formgerecht, gebrauchsfertig wird.
Wer von der kosmologischen Christologie, das heißt der uneingeschränkten Wirkweite des Heilandes und Weltenarchitekts, nichts weiß und glaubt, dass das Licht des Töpfers nicht die Dunkelheit auslöschen kann, weiß nicht, was die Welt und den Menschen im Innern bewegt. Er lebt im Grunde bewusstseinsmäßig an der höchsten Realität vorbei. Und dennoch kann er sich dem nicht entziehen, denn er ist Teil des Ganzen und das Ganze findet seine Ordnung und seinen Platz in Christus, bis zur Vollendung des Kosmos. Der ist eine ganze Ton-Welt, in der am Ende alles harmonisch seinen Platz gefunden haben wird, wie man es sich von einer Komposition nicht idealer wünschen kann.
Paulus lehrt also, dass der Kosmos nur dann seine Bestimmung einer verherrlichten Schöpfung erreichen wird, wenn sich alles, was geschaffen wurde, Christus unterordnet und von Ihm eingliedern lässt in die göttliche Ordnung, die von Anfang an die Verherrlichung Gottes zum Ziel hatte. Sie entfaltet zunächst noch weitgehend unsichtbar ihre Ordnungsmacht, läuft aber spurtreu immer erfahrbarer auf das Ziel zu. Das bedeutet aber unmissverständlich, dass der Heiland alles heil machen muss, wenn Er dieses Ziel verwirklichen will. Paulus lehrt nirgendwo einen Dualismus, der länger bestehen könnte als er dienlich ist, um aus zwei ungleichen Dingen endlich eine Vereinigung zu etwas Größerem und Herrlicherem werden zu lassen, als vorher war.
Was bei Menschen nicht möglich ist, ist bei Gott nicht nur nicht unmöglich, sondern Schöpfungsvorgabe: Er macht alles neu, nicht indem Er das, was alt ist, aufpoliert und frischen Glanz aufträgt, sondern indem Er das Schattenhafte benutzt, um es durchzulichten. Es ist wie bei einem Vater, der seinen Sohn einer Vielfalt von widrigen Umständen aussetzt, an denen er sich bewähren und seine Sinne schärfen kann. Das Heil durch Christus ist eine Durchlichtung, die auch bei der Finsternis – das heißt bei allen Menschen - das Programm auf Lichtwerdung stellt. Eine ganz neue Qualität entsteht, eine göttliche Qualität, eine göttliche Herrlichkeit, eine göttliche Freude, ein göttliches Wohlgefallen.
Die sehr früh gefallene, das heißt von Gott entfremdete Schöpfung wird in eine vergöttlichte, das heißt mit Gottes Willen und Wohlgefallen eins gemachte Schöpfung verwandelt. Aus dem Fernsein wird ein Nahesein, aus dem Zweisein wird ein Einssein. Aus Trennung und Tod wird Zusammenkunft und Leben nach göttlicher, gedeihlicher, wachstümlicher Art.
Und das alles geschieht durch und in und zu Christus (Röm 11,36). Warum? Weil Er der Vermittler ist zwischen dem Idealen und Göttlichen einerseits und dem Unheiligen und Unfertigen andererseits. Christus ist Mensch geworden und Mensch geblieben. Er war Gott und ist Gott geblieben. Und nur daher kann Er der ideale Vermittler sein. Ohne selbst geschaffen zu sein, ist Er doch ein vom Vater Gezeugter. Er wurde ins Menschliche hineingezeugt, um die Menschen aus dem bloß Menschlichen herauszeugen und ins Göttliche hinein zeugen zu können. Daher spricht das Neue Testament vom Christus als Menschensohn und Gottessohn, als dem Erstgeborenen oder Erstgezeugten (Kol 1,15) und vom Omega, dem Vollender der Schöpfer, nachdem Er als Alpha, dem Beginner der Schöpfung, angefangen hat. Es gibt kein Heil, kein Ganzwerden, kein Vollenden ohne Ihn, der alles angefangen hat (Joh 1,1ff), wie es auch hier im Kolosserbrief heißt (Kol 1,16), und der auch alles zur Vollendung bringen wird, so dass am Ende dieser Kosmos-Zeit alle Knie sich in Anbetung, Dankbarkeit und Lobpreis Ihm beugen werden.
Christus ist der König Israels, das Haupt der Gemeinde seines Leibes. Diese beiden Abteilungen darf man nicht durcheinander bringen. Beide, Israel und die Gemeinde haben eine wichtige Ordnungsfunktion, die Gott in Kraft setzt, wo und wann Er es in Seinem Heilsplan für die Schöpfung vorgesehen hat. Sie haben keinen Selbsterfüllungszweck wie sowohl von Vertretern des Volkes Israel, als auch von Vertretern derer, die sich als Zugehörige des Leibes Christi in den zahlreichen Kirchen verstehen möchten, behauptet wird. *2 Beide haben Gott sei Dank nicht Recht. Sie erkennen daher nur einen Ausschnitt des Heilsplanes Gottes und meinen, das Wichtigste schon erkannt zu haben.
In Israel meint man, Gott würde sich mit einem Bund, der im Idealfall wie ein Ehebund sei, zwischen Ihm und dem Volk Israel zufrieden geben. In den Kirchen meint man, Gott würde sich mit ihrer Kirche – und noch nicht einmal mit allen Kirchenmitgliedern – zufrieden geben, wenn Er sie dann in den Himmel verfrachtet hat. Das ist naiv und zu kurz gedacht. Vor allem ist es nicht biblisch und entspricht nicht der Wahrheit, für die Jesus Christus steht. Für die Wahrheit, die das ganze Heilsprogramm Gottes enthält, ist Er ans Kreuz gegangen. Er hat Sein Leben als Mensch hergegeben, damit die Menschen das Leben gewinnen können. So steht bei jedem Menschen am Anfang seines Erfolgsweges im Sinne des Wohlgefallen Gottes das Siegeszeichen des Kreuzes. Das ist seine Lebensversicherung. Das Kreuz hat Gott persönlich aufgepflanzt, um alle zu sich zu ziehen.
Der Kolosserbrief tut kund, was diese Wahrheit bedeutet: Gott wohnt mit Seiner ganzen Fülle in Christus, um durch Ihn alles zu versöhnen (Kol 1,19). Alles in den Himmeln und auf der Erde, und unter der Erde, alles im Kosmos führt Gott zu Christus, damit es von Christus den Frieden und die Freude erfährt, die sich nach der Versöhnung einstellen (Kol 1,20).
Man könnte auch sagen, die Bibel führt erzählerisch und berichtend das aus, was der Kolosserbrief zusammenfasst und auf die Kernaussage reduziert. Der Kolosserbrief ist auch eschatologisch. Er sagt an, was endgeschichtlich zu erwarten ist. Man muss aber schon die anderen Briefe von Paulus lesen, oder auch die Endzeitreden von Jesus in den Evangelien und die Offenbarung nach Johannes, um zu begreifen, dass die bisherige leidvolle Erfahrung der Menschheit mit dem schmerzhaften Dualismus zwischen Wollen und Nichtkönnen, zwischen höllischen und himmlischen Erfahrungen, zwischen dem Fernsein von Gott und dem Ruhen in Christus noch lange nicht überwunden ist.
Der Mensch muss durch große Tiefen gehen, damit er die Höhen als solche verstehen und erleben kann. Eine Alltagserfahrung, die sich ohne Widerspruch in das kosmologische Weltbild von der Allvollendung einfügen lässt. Das Universum ist ein kalter oder heißer Ort, wo nirgendwo das Leben wie es auf diesem blauen Planeten vorkommt, existieren kann. Man forscht ja nach Spuren von Planeten im Weltall, wo solches Leben möglich sein könnte. Aber auch dann, wenn es ähnliche Planeten wie die Erde gäbe, bliebe es bei dieser scheinbar unüberwindlichen Kluft zwischen der leeren Finsternis und dem Licht des Lebens, in welchem sich alles das entfalten kann, was die Menschen lieben und sie erfreut. Und sie verfügen über die Kunst, dass sie sich alles immer noch schöner ausmalen können, weil sie wissen, das Gute und Schöne lässt sich steigern und der Mensch wird unter irdischen Verhältnissen nie das Ende der Vorstellung oder das Optimum der Einbildungskraft erreichen.
Auch im mikrokosmischen Forschen sucht man nach dem Übergang zwischen Unbelebtem und Belebtem vergeblich. Man wird auch hier nichts finden, weil eine Grenzüberschreitung nötig wäre, die von der gleichen Qualität wäre, wie wenn ein Toter wieder lebendig würde.
Paulus vertritt die Lebensformel, dass Jesus den Tod besiegt hat. Jesus ist der Mensch, der auferstanden ist. Er hat die entscheidenden Lebensschritte für die Menschheit gemacht. Man muss Ihm nur noch nachfolgen. Die Bibel lehrt, dass der Mensch wegen seiner Sünden sterben muss. Aber es geht gar nicht ums Sterben. Es geht immer nur darum, wie nahe das, was von Gott getrennt ist und deshalb nicht im Strahlglanz seiner Heiligkeit und Vollkommenheit ist, zu Gott hingelangen kann. Der, der in unzugänglichem Licht wohnt, weil Er von unfassbarer Singularität ist, die alles, was jemals vollkommen sein kann, in Einzigartigkeit vereint, ist für jeden und jedes, welches daran mangelt, unerreichbar. Das nennt man Dualität.
Das Problem des Menschen ist, dass er von sich aus, seine Mängel nicht beheben kann. Er kann sich verbessern, aber da es immer etwas geben wird, wo er bemakelt ist, hat er bereits für immer das Wässerchen getrübt, das eigentlich ein reines Wasser sein soll. Und deshalb musste Gott persönlich dafür sorgen, dass reines Wasser fließt, in welchem sich die Menschen reinigen lassen können. Jesus sagte, dass Er dieses Wasser des Lebens darreichen würde (Of 21,6). Er hat die Vollmacht, weil Er die Wirksamkeit der Sünde mit sich ans Kreuz nageln ließ. Das gibt Gott die Rechtfertigung, den Menschen zu vergeben und sie nach dem nur rituellen Wasserbad, das Symbol ihres Einverständnisses zur Übergabe ihres Unvermögens, aus sich selber das Heil erwerben zu können, in ein geistiges Wasserbad zu bringen, das ihnen die Heiligkeit und Reinheit erstehen lässt, die alles Trennende, alles Dualistische aufhebt. Das nennt Paulus „in Christus sein“.
Aus diesem allem wird klar, warum Paulus so über die jüdische Torah redet, wie er das tut. Das krampfhafte Versuchen, die Gebote zu halten, hebt den Dualismus und die Trennung nicht auf und bringt niemand Gott auch nur einen Millimeter näher, weil so auf diesem Wege nie eine Grenzüberschreitung des Unheiligen zum Heiligen stattfinden kann. *3 Es ist aber umgekehrt so, dass ein Leben aus Christus heraus, im Geiste Gottes, also nach der Auslösung der Dualität im Einssein mit Christus, immer auch Werke des Geistes, somit gerechte Werke, somit Werke, die mit der göttlichen Torah, dem Gesetz Christi und welche Begriffe Paulus noch verwendet, um das Gleiche zu bezeichnen, übereinstimmen, vollbringen wird. „Ich halte nicht die Torah, um gerecht zu werden“, sagt Paulus, sondern, „Ich halte die Torah, nachdem ich gerecht geworden bin, aus meiner Gerechtigkeit heraus. Und meine Gerechtigkeit ist Christus.“ Aber er meint dabei nicht die Torah, wie sie aus den ersten fünf Büchern Mose wörtlich herausgelesen werden kann, sondern die Torah, die Gott gerade in jedem beliebigen Augenblick Seines Willens meint. Gottes Willen ist jederzeit in Christus präsent.
Taufe ist für Paulus also nur eine Bezeichnung, die man für Sichtbares symbolhaft und stellvertretend sehen kann, für etwas, was im Unsichtbaren eine großartige Realität anzeigt: der Mensch stirbt seinem alten Adam, der sündhaft immer nur sündhaft sein konnte, selbst wenn er es anders wollte und sich um Heiligkeit und Gerechtigkeit bemühte. Und dann steht der neue Mensch auf, um in Christus ein neues Leben anzufangen, das Leben Christi. Die Sünden bleiben im Wasserbad, sie tropfen immer weiter dahin zurück. Sterben bedeutet nun nicht mehr, den physischen Leib zu verlieren und als Seele im Ungewissen des Finsteren zu bleiben – warten auf bessere Zeiten, die dann vielleicht sogar noch schlechter werden. Sterben bedeutet auch nicht mehr, Angst haben zu müssen, vor dem Urteil eines Gottes, weil man ja immer nur der Gerechtigkeit mangeln kann, die man haben sollte. Sterben bedeutet auch nicht mehr, in ein Gericht zu gehen, in dem man die Versäumnisse des Lebens verflucht, weil sie einen einholen und der Tod nichts verbessert hat und keine Erleichterung gebracht hat. All dieses bedeutet Sterben nicht mehr. Sondern Sterben bedeutet jetzt, mit Christus, dem Erstauferstandenen, zu leben und nahtlos in ein neues Leben hinüberzugeben, wo der physische Leib nur ein Hindernis wäre. Er ist ja nur für den alten Äon geschaffen, der seine eigenen Lebensverhältnisse für das noch Unvollkommene hatte. Man muss nicht, sondern darf sich von ihm trennen. An ihm bleiben die Sünden und Fehler der Vergangenheit hängen, dazu die Versäumnisse und Unzulänglichkeiten, die Ärgernisse und Enttäuschungen, die Schmerzen, das Leid und die tiefen Sehnsüchte, die Verlassenheiten und die Vereinsamung. Statt Einsamkeit kommt die Gemeinsamkeit. Erbe Gottes! Das alles bedeutet Taufe für Paulus. Der alte Mensch, der frühere Sünder ist tot, es lebe der neue Mensch in Christus, für den das physische Ableben nur ein Übergang sein kann, wo die Nähe zu Gott vollendete Wirklichkeit wird!
Und was bedeutet für Paulus die „Kirche“? Paulus kennt sie nur als Leib des Hauptes Christi. Es ist die Gemeinschaft aller, die Christus angehören, weil sie Gott vor Grundlegung der Schöpfung dazu auserwählt hat (Eph 1,4). Paulus meint keineswegs, dass jeder, der für Christus die Lippen öffnet, dieser Gemeinschaft angehört. Es genügt nicht, sich nur äußerlich zu taufen, wenn keine Geistestaufe erfolgt. Nur wer den Geist Christi in sich hat, ist Glied am Leibe Christi. Wer andere Geister in sich hat, wer nur den Geist des Menschen hat, wer von anderen Geistern getrieben wird, wer vom anti-christlichen Geist erfasst ist, sie sind eines anderen Herren Diener aber keine freien Gefolgsleute in Christus. Nicht jede Kirche ist eine Geistesgemeinschaft Christi, aber jede sichtbare Kirche ist ein sichtbares Werk von Menschen, das von Gott benutzt werden kann. Dass Kirchen auch von anderen Geistern als dem Geist Gottes inspiriert und angeleitet werden können, scheint die Geschichte der Kirchenchristenheit nur zu deutlich zu zeigen. Hier unbedenklich auf eine ökumenische Vereinheitlichung der Kirchen hinzuwirken, ließe viele geistliche Grundsätze außer Acht und ist daher nicht ratsam.
Wenn vereinzelt von Theologen darauf hingewiesen wird, dass sich Paulus widersprechen würde, wenn er einerseits das Kreuz Christi als absolutes Vollendungszeichen des göttlichen Heilsvorhabens darstellt und andererseits im Kolosserbrief von einem noch zu vollendenden Leiden Christi spricht (Kol 1,24), zeigt das nur ihre theologische Voreingenommenheit, die aus ihrem traditionsverhafteten Denken herrührt. Paulus widerspricht sich nicht, denn das Kreuz Christi steht wie ein Garantiezeichen. Jesus sprach am Kreuz: „Es ist vollbracht!“ Es hing nie vom Menschen ab, dass Gott Seine Schöpfung erlöst und zum Ziel bringt. Der Mensch wirkt mit, aber er verwirkt es nicht. Daher können auch diejenigen, die Christus angehören, Glieder sein, die der Leib abwirft, denn der Leib baut sie, gesteuert vom Haupt her, auf. Dieser Aufbau ist aber mit der Kreuzigung Jesu nicht abgeschlossen, sondern er dauert an, bis zur Vereinigung mit Christus.
Christi Erlösungstat am Kreuz gilt universell. Was auf sie folgt, ist die fortschreitende Unterordnung unter Seine Heilsordnung. Dazu gehört auch der Aufbau einer Gemeinde, die ihrerseits noch das Universum weiter ausbauen wird, damit alles, was noch leer und finster wird, gefüllt und licht wird, zur Verherrlichung Gottes. Es ist am Kreuz vollbracht, der Weg ist frei zu Gott, nun wird er aber auch beschritten werden. Der Sieg ist errungen. Und er ist ein vollständiger, der sich nun vollständig vollzieht.
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Würdigkeit und Wandel
Kol 1,5-11
Paulus beginnt seinen Brief mit einem langen Grußwort, das Lob und Ermahnung, Rat und Aufforderung enthält. Beinahe das ganze Programm der christlichen Nachfolge wird angesprochen. Man kann sich des Eindrucks kaum erwehren, dass hier Paulus schon vorbeugend auf das, was er in dem Brief ansprechen will, den richtigen Grundton setzen will. Dennoch ist es vielen Auslegern entgangen, dass Paulus in seine Begrüßung bereits seine Botschaft an die Kolosser hineingelegt hat.
In dem Begrüßungswort an die Kolosser erwähnt Paulus in Bezug auf ihre Hoffnung Worte der „Wahrheit des Evangeliums, das zu euch gekommen ist“ (Kol 1,5-6), und zwar durch Paulus „so wie es auch in der ganzen Welt ist“ (Kol 1,6). Es ist kaum anzunehmen, dass Paulus der Meinung war, dass er sein Evangelium für die Nationen in der „ganzen Welt“ verkündet hat, zumal er selber ja noch nicht einmal in Spanien, einem wichtigen Teil des Römischen Reiches, der sogenannten „Ökumene“, gewesen war. Er nimmt von diesem Evangelium sicherlich nicht die Verkündigung all der anderen Evangelisten des Evangeliums aus, die er zum Teil selber beauftragt hatte – Paulus nennt hier Epaphras (Kol 1,6). Es ist naheliegend, anzunehmen, dass er hier unter „Evangelium“ die Verkündigung der Sündenvergebung und Erlösung durch Jesus Christus meint und keine damit verbundenen Besonderheiten, weil es auf die in der Frage der „Hoffnung“ zunächst nicht ankam. Die „Hoffnung“ ist die Rettung durch Christus, die Gemeinschaft mit Ihm, dann auch die Befreiung von diesem beschwerlichen und unvollkommenen Leben zu einem besseren Leben hin. Auch gehört die Naherwartung des Kommens Christi, des Messias, dazu. Allerdings trat diese verständlicherweise im Lauf der Zeit zurück.
Ob es sich bei der „Hoffnung“ auch um den Glauben an einen „Himmel auf Erden“ wie in einem messianischen Reich handelte, um ein „Paradies im Himmel“, das wollte Paulus bei diesem Grußwort schwerlich zur Debatte stellen. Paulus meint mit seiner Hoffnung die Erwartung des seligen Einsseins mit Jesus Christus. Dass diesem Einssein ein Einswerden vorausgehen muss, war ihm klar. Das zeigt sich auch darin, was er den Kolossern dazu in diesem Brief zu schreiben hatte.
Zur inhaltlichen Nähe von der Hoffnung zur Wahrheit in Kol 1,5 ist noch zu bemerken, dass jemand, der die Wahrheit kennt, weiß, dass er sie kennt. Dass andere es nur meinen und aus ihrer Überzeugung ebenfalls eine Hoffnung für berechtigt halten, bleibt davon unberührt und berührt umgekehrt diese Tatsache ebenso wenig. Da die Hoffnung auf Jesus Christus berechtigt ist, bekommt nur der die Sicherheit der Erlösung durch Jesus Christus, der um die Wahrheit weiß. Was andere erwarten, passt zu ihrem Irrtum um die Wahrheit, die sie nicht oder nur zum Teil kennen. Wer beispielsweise meint, dass man gute Taten vollbringen muss, um von Gott der Erlösung wert geachtet zu werden, hat die Erwartung, dass die Erlösung unter eine Bedingung gestellt ist, die von der Leistung abhängt, die man als Mensch einbringen kann. Dies ist eine unbewusste Erhöhung des Menschen in einer Schattenwelt, wo es, aus Sicht Gottes und Seiner Erlöster, unerheblich ist, ob man dort etwas höher oder niedriger sitzt. Es kann ja keine echte Erhöhung sein, denn es ist keine Welt, die von Gottes Licht durchstrahlt und verherrlicht wird.
Der so durch Fremd- und Selbstbetrug Getäuschte stellt sich Gott, die Welt, den Himmel so vor, wie sie alle gar nicht existieren, außer in seiner durchschatteten Vorstellungswelt. Dort denkt er sich als maßgebender Akteur, da es ja auf seine Werke und seine Entscheidungen ankommt. Die rechte Erhöhung, die Gott bereits durch Jesus Christus am Kreuz von Golgatha vorgenommen hat, betrifft sehr wohl jeden Menschen, aber solange er in seiner Schattenwelt lebt und sich dort gewissermaßen zu einer bedeutenden Person gemacht hat, begreift er diese von Gott vorgenommene und „abrufbare“ Erhöhung gar nicht. Er bleibt „alter Adam“.
Gott betrachtet jeden Menschen als überaus kostbar. Er will ja sagen können, „Geist von meinem Geist“ und Christus will sagen können, „Glied von meinem Leib“. Der Mensch kann nicht höher hinaus als da, wo er aus eigener Kraft nie hinkommt, nämlich zu Gott. Aber das ist das Entscheidende: nicht aus eigener Kraft! Nur in der Unterordnung unter Christus erreicht der Mensch den höchsten Gottesgnadenstand. Diese Unterordnung ist so gründlich, dass der Mensch sagen kann, er gibt mit Freuden sein altes Adamswesen her und bekommt von Gott das neue Adamswesen. Der Mensch gibt das alte Adamsleben her, um das Leben göttlicher Natur zu erwerben.
Das alles gehört zur Hoffnung. Das alles gehört zur Wahrheit. Und wie es in Kol 1,6 auch heißt: es soll Frucht bringen. Es kann aber erst recht Frucht bringen, wenn man diese Beziehung zwischen Hoffnung und Wahrheit lebt. Berechtigtes Hoffen kommt von wahrem Wissen. Manch einem scheint sein Weg recht, am Ende bringt er ihn zu Tode (Spr 16,25). Islamisten sprengen sich in die Luft, weil sie meinen, damit in den Himmel zu kommen. Sie stellen sich Gott nicht als fürsorglichen Vater, sondern als Sprengmeister vor, der gerne Menschen für Gewalttaten belohnen will. Nur Seelen, die zerbrochen sind, können so Schreckliches denken. Und auch Kirchenchristen verknüpfen mit ihrer Hoffnung eine grausige Gewaltanwendung. Sie meinen, dass sie alles tun müssen, um nicht in der Hölle fort und fort mit Gewalt konfrontiert zu werden, die sie zuerst in Stücke sägt oder sprengt, wieder zusammensetzt, um die Tortur zu wiederholen. Ihre Hoffnung ist weniger darauf gerichtet, eine fruchtbare Gemeinschaft mit Gott zu haben, einem Gott, der unnahbar bleibt wegen seiner unmenschlichen Eigenschaften, denn wer würde schon seine missratenen Kinder misshandeln? Ihre Hoffnung ist mehr darauf gerichtet, nicht in die Hände des Gottes zu fallen, der sich nicht scheut, Seine Schöpfung immerfort zu zermahlen. *4
Bei den Indianern gab es den Brauch, die Feinde möglichst langsam zu Tode zu quälen, weniger ging es darum, einen Spaß am Quälen zu haben, als darum dem Feind die Ehre zu gewähren, dass er lange genug demonstrieren konnte, was er als starker Krieger aushalten würde. Der Gott der Kirchenchristen hat im Unterschied zum Gott der Bibel nicht diese Eigenschaft, den Sterbenden ehren zu wollen.
Ein Vater will immer, dass seine Söhne ehrbar werden. Daher zeigt er ihnen, was Ehre bedeutet und wie sie Ehrbarkeit erwerben. In einem dunklen Verlies lernt niemand Ehre und auch derjenige, der andere wegsperrt, bekommt dadurch keine Ehre, sondern erst, wenn es ihm gelingt, die Ehrbarkeit wieder herzustellen. Sie muss auf beiden Seiten vorhanden sein. Ein unbarmherziger Richter ehrt sich ebenso wenig wie ein Mensch, der nie Barmherzigkeit lernt.
Ehrung entsteht durch Ehrbares,nicht durch fehlendes Erbarmen.
Meinte Paulus wirklich, dass die Kolosser „in Wahrheit die Gnade Gottes erkannt“ haben? Zum Teil und ansatzweise, denn die Wahrheit ist, dass sie keiner ganz richtig erkannt hat, auch Paulus nicht. *5 Aber Wissen macht verantwortlich. Wem viel gegeben ist, von dem wird auch Vieles verlangt. In erster Linie ist aber unter der angesprochenen Gnade Gottes die Heilsgnade gemeint. Paulus hat den Kolossern, wenn auch nicht in Kolossä, ein Evangelium gepredigt, wo die Erlösung und Gerechtsprechung des Menschen einem Gnadenakt Gottes zu verdanken ist und nicht einer gesteigerten Torahfrömmigkeit oder religiös korrekten Werken oder auch nur den Versuchen derselben. Wenn Paulus von Gnade spricht, meint er immer die Person Jesus Christus in vorderster Linie! „Ihr habt Christus erkennen dürfen“, hätte Paulus ebenso gut schreiben können.
Die Gnade Gottes wird in Wahrheit erkannt, heißt es in Kol 1,6. Wer die Wahrheit nicht kennt, kennt auch die Gnade Gottes nicht. Das erklärt, warum die Kirchen einen anderen als den biblischen Gott lehren. Sie haben nicht die ganze Wahrheit und daher kennen sie auch die Gnade Gottes nicht im Vollumfang. Sie brauchen die Begnadung Gottes, um Seine Begnadigung zu verstehen. Ein Defizit in der Wahrheit, die ebenfalls den Namen Jesus Christus trägt, hat ein Defizit im Gnadenverständnis zur Folge. Das öffnet die Tür, um andere Lehren in die eigene Religion aufzunehmen. Diese sind immer dem alten Adam angenehm, nie dem neuen Adam. Das Wahrheitsdefizit, das auch ein Gnadendefizit ist, muss gefüllt werden. Und so fand auch die Allverdammungslehre Eingang in die Kirche. Sie stieß auf offene Türen, weil der alte Adam dafür das Willkommen spricht.
Aber welche Hoffnung ist für die Kolosser im Himmel aufbewahrt? Geht es um die Rückkehr Jesu? Geht es ums Kommen ins Tausendjährige Reich (1 Thes 4,16-17). Geht es um die Hoffnung bald aus dieser eingeschränkten Existenz in eine viel bessere überwechseln zu können (1Kor 15,51ff)? Oder doch eher um himmlisches Hoffnungsgut nach Eph 1,11.14? Dort geht es um die Herrlichkeit, die im Lichtkreis der Göttlichkeit Gottes erstrahlt. Alles wird miteinander verbunden mit dem Dienst für Gott, um Seine Schöpfung der Verherrlichung zuzuführen. Darum geht es Paulus immer wieder, dem unermüdlichen Arbeiter für die Sache Gottes: Dienst für Gott, heute, morgen, diesseits, jenseits, in künftigen Äonen und künftigen Verwaltungsbereichen. Es gibt keinen Ruhestand im Himmel und auch keine wolkigen Ruhekissen. Wenn man bedenkt, dass von den ca. 100 Milliarden Menschen, die bisher gelebt haben, jedenfalls mehr als die Hälfte keine Christen waren und wenn man dazu bedenkt, wie stark das Defizit der Christen ist, als vorzeigbare Nachfolger Jesu Christi wahrgenommen werden zu können, dann bekommt man den Eindruck, dass die Schöpfung noch sehr weit davon entfernt ist, vollends ausgereift zu sein. *6
Man sollte bei Kol 1,5-6 auch beachten, dass Paulus nicht nur an ein Fruchtbringen des Evangeliums denkt, sondern auch an ein Wachstum. Es ist aber nicht nur ein Wachstum in dem Sinne, dass sich das Evangelium weiter unter den Menschen verbreitet. Vielmehr glaubt Paulus an ein individuelles Wachstum, denn das Evangelium ist ausbaufähig. Es enthält den Kern der Lehre, dass Jesus der Erlöser der Welt und der Messias des kommenden Reiches ist. Doch was bedeutet Erlösung? Was bedeutet das kommende Reich des Messias? Da kommt die ganze Prophetie des Alten Testaments zur Entfaltung und all das, was insbesondere Paulus in seinen Briefen thematisiert. In den kommenden Äonen vollzieht sich die Heilsgeschichte Gottes, Jesu erstes Kommen war nur der Akt der alles überragenden Mitte, das kommende Reich betrifft jedoch einen weiteren Heilsäon, an dessen Ende die Schöpfung noch lange nicht der Verherrlichung Gottes Genüge tut, denn dann wird noch einmal der Satan losgelassen, um die Völker in den Bann zu schlagen (Of 20,3). Paulus blickt noch darüber hinaus und blickt damit auch weiter als die anderen Apostel, z.B. in Röm 11,36, 1 Kor 15,22-28; Eph 1,9-10, Phil 2,10-11 und dann auch Kol 1,20. Das liegt daran, dass der Fokus von Israel auf das messianische Reich gerichtet sein muss, wo Israel die Nationen weiden wird. Deshalb verkündeten die zwölf Jünger Jesu die Botschaft vom Reich Gottes. Paulus hat zwar diese Botschaft ebenfalls verkündet. Daneben erkennt er aber, dass sich Jesus Christus eine Körperschaft heranbildet, die mehr als nur den irdischen Bereich der Heilsgeschichte zu betreuen hat. Die Gemeinde Jesu Christi ist das Ausführungsorgan des Christus der kommenden Äonen und Herrschaften. Das Wachstum des Evangeliums geht also auch in die Tiefe. Und weil die Gemeinde ihre Glieder hat, betrifft das Wachstum auch menschliche Individuen, die zugerüstet werden sollen, denn auf sie kommen noch weit größere Aufgaben zu, als in der Jetztzeit.
Nach Kol 1,8 gibt es eine „Liebe im Geist“, die von der Gnade Gottes kund tut. Die Nächstenliebe wirkt sich eben nicht nur in mildtätigen Werken aus. Manchmal ist den Menschen mehr geholfen, wenn man ihnen die Wahrheit sagt. Das können auch Dinge sein, die sich keiner bisher getraut hat, vorzubringen. Nur keinen Staub aufwirbeln! Nur keine Wellen hochpeitschen! Nur nicht mit dem Hauch einer Kritik blasen, vor allem weil das bei vielen bereits als lieblos bezeichnet wird. Aber was sind das für Freundschaften, die keine wohlmeinende Kritik vertragen? Wie soll man in Christus wachsen, wenn man für Kritik nicht empfänglich ist? Das kann auch ein Zeichen von Hochmut sein und weist auf einen wunden Punkt in der Seele hin. Wer liebt, deckt der Sünden viele zu.
Aber diese zudeckende Liebe und der Verzicht auf Kritik sollte nicht verwechselt werden. Denn ebenso wie die Liebe Gottes bedeckt, kann sie auch enthüllen. Und das tut sie zu Recht im Geiste Christi. Sogar Weltmenschen haben eine Ahnung von der benötigten Ausgewogenheit zwischen schweigsamer Rücksichtnahme und ausgesprochenem Zurechtbringen. So brauchen z.B. Eltern gegenüber ihren Kindern eine gewisse Strenge als Erziehungsmittel, aber ebenso eine Milde. Nicht immer, wenn das Kind eine Strafe verdient hat, bekommt es sie, denn das Kind muss vor allem auch lernen, was eine bedingungslose, unverdiente und unverdienbare Liebe ist. Dieserart Liebe mag es bald auch in Gott erkennen können. Und das kann nur der einzige wahre Gott sein, dem diese Liebe herkunftsgemäß zuzuordnen ist. Das ist das Beste, was Eltern tun können, dem Kind ein Vorbild dieser göttlichen Liebe geben. So werden schon im Kindesalter die Kinder evangelisiert durch die praktische Anwendung von Liebe, die immer mehr ist als nur die theoretische Unterweisung. Eines der sicheren Erkennungszeichen des wahren und einzigen Gottes ist, dass Er mehr Liebe hat, als jeder andere. Genau genommen muss Er sogar mehr Liebe haben als alle Geschöpfe zusammengenommen. Das ist leicht zu verstehen, denn da Er der Ursprung jeglicher Liebe ist, kann die Summe aller Lieben nie mehr ausmachen als die Liebe Gottes.
Die „Liebe im Geist“ führt auch bei den Lehrern der Gerechtigkeit und der Nachfolge Jesu Christi zur rechten Lehre, sowohl durch die Tat als auch durch das rechte Wort. Was die Menschen am meisten brauchen ist Jesus. In Ihm ist auch alle Liebe des Vaters. Also muss man ihnen die Wahrheit über Jesus erzählen und das ist die Wahrheit des Evangeliums. Man muss nicht mit der Tür ins Haus fallen, es reicht meist, anzuklopfen und auf das „Herein!“ zu lauschen. Wenn es nicht zu vernehmen ist, kann man weiterziehen.
Und dann fährt Paulus gleich mit einem anderen Aspekt fort, denn nach der Erlösung und Gerechtstellung, geht die Gnade Gottes nicht in den Ruhezustand über, sondern Gott hat die Gnade „überströmen lassen in aller Weisheit und Einsicht“bzw. „Weisheit und geistliches Verständnis“(Kol 1,9) *7 Für wen sind „Weisheit und Einsicht“? Natürlich für den, dem die Gnade zugewiesen ist, damit er sie auch erfassen kann. Und hier gibt es große Unterschiede, denn viele glauben, dass Jesus für ihre Sünden gestorben ist und sie vor dem Gerichtstod erlöst hat. Aber sonst fehlen oft noch Weisheit und Einsicht, sonst gäbe es nicht so viele Glaubensunterschiede.
Paulus war vielleicht selber damals noch optimistisch. Er konnte nicht vorausblicken in die Kirchengeschichte. Aber im Vordergrund war für ihn immer das Optimale, das es anzustreben galt. Was daneben noch dabei war, eine Christusbeziehung zu entwickeln, nahm er wahr, ohne es zur Norm zu erheben. Daher muss man bei Paulus, wenn er von Weisheit und Einsicht spricht, an Tiefgründiges denken, das zu einem christologischen Denken dazugehört, und das stand im Gegensatz zum griechischen Denken und Philosophieren.
Weisheit bei Gott beachtet Gottes Wesen und Gottes Wege mit der Schöpfung, denn darauf kommt es auch bei Christus an. Er setzt das um, was Gottes Ratschluss und Wille bewirken sollen. Weisheit bedeutet, Gott hinterher zu denken, wenn man nicht noch unmittelbarer mit Gott, in Seinem Takt, in Seiner Zielrichtung denken kann. Weise ist, wer christusgemäß denkt. Kirchengemäß reicht nicht! Weise ist, wer das, was Paulus offenbart wurde, richtig bedenkt und in das heilsgeschichtliche Handeln Gottes einzuordnen weiß. Das Verständnis, griechisch „synesis“ bezieht sich mehr auf die Umsetzung der weisheitlichen Erkenntnis in die Lebenspraxis. Das griechische Wort kommt von „syniemi“ und setzt sich zusammen aus „syn“ – zusammen und „hiemi“ – etwas setzen, stellen, eben auch gedanklich. Wenn man eins und eins zusammenzählt und dann auf ein Ergebnis kommt, hat man so eine Zusammensetzung von Gedanken zu einer Idee gemacht.
Wer nicht weiß, dass Gott Seine eigene Kirche baut, baut vielleicht eine eigene und die muss anders werden, weil sie bloß menschengemacht ist und nur noch darauf hoffen kann, dass Gott sie nicht ganz links liegen lässt. Es wäre also gut, wenn man nicht nur wüsste, was man braucht – Weisheit, sondern auch wie man es bekommt – Einsicht. Tatsächlich steht im Text „synesei pneumatike“, es ist also nicht nur eine menschliche Einsicht, sondern eine besondere, weil sie pneumatisch ist, also eine geistliche Einsicht. Sie kann der Mensch nur als Zustrom von Gott bekommen. Sie hängt nicht irgendwo in der Luft oder am Goldstaub. Der menschliche Wille oder Fleiß kann sie nicht fördern oder schürfen.
Und wozu dient das Ganze?
1. „damit ihr des Herrn würdig wandelt und ihm in allem wohlgefällig seid:
2. in jedem guten Werk fruchtbar und
3. in der Erkenntnis Gottes wachsend“ (Kol 1,10)
Was ist ein würdiger Wandel oder ein Wandel in Würde? Darüber sollte man nachdenken in einer Zeit, in der es in der Gesellschaft der Menschen immer würdeloser zugeht. Selbstverschuldet verliert der Mensch alle Anzeichen der Würde, denn wer Würde sich in seinem Leben äußern lässt, der macht es dadurch auch anderen erkennbar. Wer seine Würde nicht sich entfalten lässt, erweckt den Anschein, als hätte er keine. Das ist wie mit den Talenten. Man hat sie, aber man kann sie vergraben und eine Schicht Mist darüber ausbreiten, oder man bringt sie zur Geltung.
Das hebräische „Nedibah“ steht für Adel, kommt von „nadab“ ein Verb und zeigt Freigiebigkeit und Hingabebereitschaft an. Würde soll ja jeder Mensch haben. Aber eigentlich kann ein Mensch nur Würde von Gott verliehen bekommen haben, weil er ein Ebenbild Gottes ist. Genau darin liegt seine Würde. Würde der Mensch vom Affen abstammen, hätte er allenfalls äffische Würde. Dann wäre es passend, dass er kulturlos umherspringt und sich sprachlos mit verzerrten Gesichtszügen zurunzt. Es ist keine Ironie der Geschichte, dass viele Menschen sich dem immer weiter annähern. Das ist die Avantgarde des vollends verblödeten Atheismus.
In dem Maße, wie ein Mensch die Wesensmerkmale Gottes wiederspiegelt und verinnerlicht hat, in dem Maße steigt seine Würde. In der Sprache des Neuen Testaments kann man sagen, dass man Würdigkeit, der Glanz der Würde, erwerben kann, wenn man Jesus Christus nachfolgt. Und nur das kann auch der rechte Adel sein. Jesus war edelmütig, weil Er alle Dinge richtig beurteilte, den Wert der Dinge und ihren Platz in der göttlichen Ordnung kannte und danach handelte. Und natürlich zeigte sich Seine Hingabebereitschaft und Freigiebigkeit in Seinem Opfer. Er sagte selbst, dass Er Sein Leben von sich aus und für alle Menschen, die Kleinen und die Großen, die Geringen und die Verachteten ebenso gegeben hat. Wegen dem wurde Er sogar Mensch. Er hat mehr gegeben einem jeden Menschen als sonst irgendein Mensch zu irgendeinem Zeitpunkt einem anderen gegeben hat.
An Jesus sieht man, wie Würde, Adel, Freigiebigkeit und Hingabebereitschaft eine Einheit bilden. Wenn in Abhandlungen die Würde als Seinsbestimmung bezeichnet wird, muss klar sein, dass es irrelevant ist, welche Bestimmung sich der Mensch gibt, denn am Ende ist er tot und solange er lebt, besteht zumindest noch eine Hoffnung darauf, sein gegenwärtiges Sein zu verbessern. Wenn aber Gott die Bestimmung gibt, dann definiert sich die Seinsbestimmung, also auch die Herkunft und der Werdegang von Gott her. *8
Würdig wandeln ist das Gleiche wie „zu allem Wohlgefallen“ Gottes. Das griechische „areskia“ beschreibt ein Bemühen des völligen Gefallenwollens. So wie man sich der Würde Gottes nur annähern kann und in Christus vollständig erwirbt, so kann man Gott auch nur völlig gefallen, wenn man in Christus ganz und gar einverleibt ist. Wer „areskia“ seinem Herrn leistet, vollbringt einen tadellosen Dienst. Der wahre Gottesdienst ist ein areskia-Dienst. Das „Wandeln“ in Christus sollte eigentlich die Alltagsgeschäftigkeit eines jeden sein. Tatsächlich sind es nur Wenige, die in Christus wandeln, weil man dazu den Geist Christi haben muss. Der Geist Christi ist kein anderer Geist als der Geist Gottes oder der heilige Geist. Es ergibt keinen Sinn, zu denken, dass der Geist Christi nicht der heilige Geist sei. Daran ist auch nichts zu ändern, wenn man „heiliger Geist“ groß schreibt.
Leider findet man bei den Auslegern hier das Diktat der kirchlichen Dogmatik, die zu Ungenauigkeiten und Unschärfen in der Beurteilung geistlicher Gegenstände und der Angelegenheiten Gottes führt. Für Juden, die sich zum christlichen Glauben bekehrt haben, ist es unvermeidlich, dass sie sich mit den Lehren der Kirchen, die nichtjüdische Kirchen sind, befassen. Diese haben ja seit 2000 Jahren die Auslegung des von den Juden abgelehnten Neuen Testaments betrieben. Und so steht vor einen messianischen Juden ein riesiger Berg an „Theologie“, der unmöglich bewältigt werden kann, wenn man von einer dem allem gegenüber oppositionell eingestellten Richtung herkommt. Das Beispiel sei hier deshalb genannt, weil es gerade die messianischen Juden sind, die viele fruchtbare Anstöße zur herkömmlichen Überlieferung geben können und das auch tun. Umso unerfreulicher ist es, wenn messianische Juden die Irrtümer der nichtjüdischen Kirchentradition übernehmen. Immer wieder ist festzustellen, dass man eine vorgefertigte Meinung in die Bibel hineinliest. Das ist insbesondere aber dann unklug, wenn die Bibel an Ort und Stelle das nicht zulässt. So versucht ein jüdischer Ausleger im Alten Testament Nachweise neutestamentlicher Lehren zu finden und führt Jesaja 63, 7-14 an. *9 Dort ist von den Gnadenerweisen und Erbarmungen JHWHs die Rede. JHWH bezeichnet Israel als Sein Volk und „Nicht Bote noch Engel – er selbst hat sie gerettet…. Sie aber, sie sind widerspenstig gewesen und haben seinen heiligen Geist betrübt. Da wandelte er sich ihnen zum Feind.“ Ein unvoreingenommener Leser würde gar nicht auf die Idee kommen, dass zwischen „JHWH“ und „er“, welche vor und nach „seinen heiligen Geist“ stehen, eine andere Person als JHWH vorkommen würde oder dass sich das „sein“ in „seinen heiligen Geist“ nicht auf JHWH beziehen würde. Vielmehr würde man selbstverständlich den „heiligen Geist“ als den Geist JHWH verstehen. Es ist geradezu grotesk unter „heiliger Geist“ eine von JHWH zu unterscheidende Person zu sehen, weil man dann sich fragen müsste, was mit JHWHs Geist selbst ist. Hat JHWH Israel ohne Beteiligung Seines Geistes geholfen und ohne Beteiligung Seines Geistes sich zum Feind Israels gewandelt? Was macht ein Mensch, wenn er einen anderen Menschen rettet oder ihn als Feind behandelt. Macht er das ohne Beteiligung seines Geistes? Sind sein Geist und der Rest vom Menschen zwei verschiedene Personen? Dass Gott Geist ist, also auch JHWH, das dürfte klar sein, das sagt sogar das Neue Testament, als ob es notwendig wäre (Joh 4,24). *10