2,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 2,99 €
Germanicus wird von einer geheimnisvollen Seherin bedroht. Seit der siegreichen Varusschlacht der Germanen sind fünf Jahre vergangen. Doch Rom hat die Schmach von Varus‘ Niederlage nicht vergessen. Neue Legionen marschieren gegen den Cherusker Thorag und sein Volk ein. Den Oberbefehl über den Rachefeldzug hat Germanicus, der Adoptivsohn von Kaiser Tiberius. Germanicus hat jedoch mit Meuterern in den eigenen Reihen zu kämpfen. Auch im Lager von Thorag stehen die Krieger nicht geschlossen gegen die Römer. Während Germanicus noch sein Heer zu einen versucht, droht ihn eine geheimnisvolle Seherin mit einem Fluch zu belegen... Der vierte Band der zwölfteiligen Romanserie »Die Saga der Germanen« von Jörg Kastner.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 211
Jörg Kastner
Folge 4 der 12-teiligen Romanserie Die Saga der Germanen
Historischer Roman
‚Er liegt im Sterben. Komm zurück mein Sohn, rasch!‘
Diese Worte trieben den Reitertrupp an, Soldaten, Diener und den großen, kräftigen Mann an der Spitze, der längst jenseits seiner besten Jahre stand. Trotzdem zeigte er am wenigsten Erschöpfung von allen. Leicht nach vorn gebeugt saß er auf dem makellosen Schimmel und achtete nicht auf die Schaumflocken, die der Wind vom Maul des Tieres riss und gegen die Begleiter des Anführers wirbelte. Die großen, tiefen Augen unter seiner breiten Stirn waren nach vorn gerichtet, jenseits des aus einer Hügelkette bestehenden Horizonts, als könnten sie erkennen, ob noch Leben in dem Mann war, der dort in Nola in dem Haus seiner Geburt auf dem Sterbebett lag. Es war wichtig, dass er bei Eintreffen des Reitertrupps noch lebte, für den Mann auf dem Schimmel und für die ganze Welt. Dann davon konnte es abhängen, wer das Weltreich beherrschte, dass die Söhne der Wölfin errichtet hatten.
Der Reiter eines Rappen spornte sein erschöpftes Tier an und drängte es an die Seite des Schimmels. Auch der Rappe spuckte Schaum, kleine, weiße Flecken auf seinem glänzenden schwarzen Fell. Der drahtige Mann in der Uniform eines Dekurios beugte sich zu dem Anführer und rief, den gleichmäßigen Donner des vielfachen Hufschlages übertönend: „Menschen und Tiere sind erschöpft, Herr. Meine Männer sagen mir, nach zwei oder drei Meilen stoßen wir auf einen kleinen Ort, an dem wir rasten können.“
Der markante Kopf des Anführers ruckte herum. Der Blick, den die Augen in dem von Ausschlag entstellten Gesicht dem anderen zuwarfen, erschreckte den Dekurio, mehr als es das unerwartete Auftauchen einer feindlichen Übermacht im Schlachtgetümmel getan hätte. Es war ein düsterer, störrischer, rechthaberischer Blick, der ganz dem Wesen des Mannes entsprach.
Man sagte Tiberius nach, er könne sehr empfindlich auf Beleidigungen seiner Person reagieren. Und man sagte auch, er könne sich sehr schnell beleidigt fühlen. Vielleicht lag das an den vielen Enttäuschungen und Zurückweisungen, die das Leben dem Stiefsohn des Augustus bereitet hatte.
„Ich sitze ebenso lange im Sattel wie alle anderen“, sagte Tiberius nach nur wenige Augenblicke dauerndem, dem Dekurio aber wie eine Ewigkeit erscheinendem Schweigen in der langsamen und täuschend ruhigen Sprechweise, für die er bekannt war. „Und ich fühle mich keineswegs erschöpft.“
So ruhig vorgetragen, klang es wie eine bloße, fast belanglose Mitteilung. Aber der Dekurio hörte daraus den Vorwurf und vielleicht sogar eine Drohung. Zögernd blickte er sich zu seinen Soldaten und den wenigen Dienern um, die Tiberius zu diesem Eilritt mitgenommen hatte. Fast aller Augen hingen an dem Reiteroffizier, mit einem flehenden Schimmer in den ansonsten vor Anstrengung und Müdigkeit matten Blicken.
Der Dekurio verstand nur zu gut, dass die Männer nicht von demselben Schwung erfüllt waren wie ihr Anführer. Für sie gab es nur wenig zu gewinnen, für Tiberius dagegen alles. Aber würde auch der Mitregent des Augustus das verstehen? Und wenn er es verstand, kümmerte es ihn überhaupt, der als verschlossen und den Menschen wenig zugetan galt?
Der Dekurio suchte noch fieberhaft nach den richtigen, wohlausgewogenen Worten für eine Erwiderung, als ihm der Zufall in Gestalt eines erschöpften Pferdes zu Hilfe kam. Es war ein massiger Brauner, dessen kräftiges Äußeres offensichtlich eine Ausdauer vortäuschte, die nicht vorhanden war. Fast handgroße Schaumflocken flogen aus seinem Maul als Reaktion auf die heftigen Tritte, mit denen sein Reiter immer wieder die Sporen in den schon blutigen Pferdeleib trieb. Der Braune hatte sein Letztes gegeben, und seine Vorderläufe knickten ein. Der Reiter wurde aus dem Sattel katapultiert und schlug ungelenk auf dem unebenen, harten Boden auf, über den der Trupp galoppierte, seitdem er die Straße zur Abkürzung des Weges verlassen hatte.
Der gestürzte Reiter rollte zweimal um seine Achse. Kaum lag er still, da traf ihn das nächste Verhängnis: Sein stürzendes Pferd fiel mit vollem Gewicht auf ihn und begrub ihn unter sich. Aus dem erschrockenen Aufschrei des Soldaten wurde ein schmerzerfülltes Geheul. Das steigerte die Panik des Pferdes, das sich augenscheinlich an den Vorderläufen verletzt hatte. Es stand nicht auf, sondern wälzte sich unter lautem Schnauben hin und her, auf dem Boden und auf seinem Reiter. Tiberius, der Dekurio und die übrigen, die ihre Pferde angehalten hatten, hörten das Knacken der berstenden Knochen im Leib des Verunglückten.
„Unternehmt endlich etwas!“, durchschnitt Tiberius’ Stimme in ungewöhnlich scharfer Weise den allgemeinen Lärm. Das blatternarbige Gesicht war dabei auf den eingeknickten Braunen und seinen unglücklichen Reiter gerichtet, aber der Dekurio fühlte sich persönlich angesprochen.
Er trieb seinen Rappen zur Unglücksstelle, beugte sich vor, griff in das Zaumzeug des Braunen und schaffte es unter gewaltiger Anstrengung, das Tier von dem jetzt nur noch leise wimmernden Soldaten wegzuzerren. Fast schien es, als wolle sich das Pferd bei dem Reiter für seine blutigen Flanken rächen, so störrisch stellte es sich an. Als es endlich auf die Beine kam, geschah das nur für die Zeit eines Augenaufschlags. Dann knickten die Vorderläufe wieder ein, der Braune wieherte laut auf und wälzte sich erneut am Boden hin und her.
Doch sein Reiter war frei. Er lag auf der Seite und sah mit starrem Blick auf das panisch schreiende Pferd. Ein beständiges rotes Rinnsal floss aus einem Mundwinkel des Gestürzten und bildete eine kleine Pfütze unter seinem Gesicht. Man hätte ihn für tot halten können, hätte sich der Brustkasten mit dem Schuppenpanzer nicht kaum merklich gehoben und gesenkt. Ein paar seiner Kameraden stiegen aus den Sätteln und kümmerten sich um den Mann.
„Und?“, fragte Tiberius, der das Geschehen mit einer Ungeduld verfolgte, die nicht recht zu einem Mann passte, der sein ganzes Leben mit Warten verbracht hatte.
„Rufus lebt, edler Tiberius“, antwortete einer der Soldaten. „Aber seine Verletzungen sind sehr schwer.“
„Wie schwer?“
„Das kann ich nicht sagen. Sie sind innerlich. Er braucht einen Arzt.“ Der Soldat zögerte und blickte furchtsam in die Runde, bevor er fortfuhr: „Und Rufus benötigt Ruhe.“
„Ruhe?“, schnaubte Tiberius verächtlich. „Er hätte besser aufpassen sollen! Es ist seine eigene Schuld, dass sein Pferd ...“
Seine Stimme wurde leiser und brach ganz ab, als der versteinerte, ablehnende Ausdruck in den Gesichtern der Soldaten immer deutlicher wurde. Tiberius mochte starrsinnig sein, aber er war nicht dumm. Er sah ein, dass er es übertrieb, wenn er von seinen Männern erst das Letzte verlangte und dann noch darüber spottete, dass sie Opfer ihrer oder ihrer Tiere Erschöpfung wurden. Noch war nicht sicher, wer die Nachfolge des Sterbenden von Nola antrat, noch kam es auf jeden Mann an, der sich im Zweifelsfall hinter den Mitregenten des Augustus stellte.
„Baut eine Trage aus Geäst und Gras!“, befahl er nach kurzem Nachdenken, jetzt mit der kühlen Stimme des durch viele Kriegszüge erfahrenen Feldherrn. „Darauf bringen wir ihn ins nächste Dorf. Dort werden wir übernachten.“
Erleichterung zeichnete sich auf den Gesichtern ab, als sich die Männer an die Arbeit begaben. Sie waren froh für ihren Kameraden und auch froh für sich selbst, weil die Anstrengungen dieses langen Tages bald ein Ende haben würden. Wie jeden Tag, seit Livias Eilbote ihren Sohn kurz vor Brundisium erreicht hatte, war Tiberius mit seinem Trupp schon bei Sonnenaufgang aufgebrochen. Die Mittagspause war nur kurz gewesen, dann ging es weiter unter den sengenden Strahlen der heißen Augustsonne, die an einem wolkenlosen Himmel über Kampanien leuchtete. Zusätzlich zur Anstrengung des langen Tages saugte die Sonne die Kraft aus den Leibern von Männern und Pferden.
Auch Tiberius spürte das jetzt, als der verletzte Soldat auf die behelfsmäßige Trage gelegt worden war und der Trupp im langsamen Schritt zu dem Dorf zog, das der Dekurio bezeichnet hatte. Das Pferd des Verunglückten blieb tot zurück. Die Soldaten hatte die Halsschlagader aufgeschnitten und das Tier ausbluten lassen.
Tiberius fragte sich, ob sich das Schicksal gegen ihn verschworen hatte. Warum nur war er nach Brundisium aufgebrochen, während Augustus krank daniederlag? Gewiss, die Schiffsreise von Brundisium, die Tiberius ins Illyricum führen sollte, hatte einen guten Grund: die Durchführung des Zensus. Aber es war kein eiliger Anlass. Und doch hatte Tiberius nicht auf seine Mutter gehört und hatte den kränkelnden Stiefvater verlassen. Die langen Jahre des Wartens hatten die Hoffnung, einmal die Nachfolge des Princeps anzutreten, gering werden lassen. Manchmal erschien Tiberius diese Hoffnung so sinnlos wie seine nie erlöschende Sehnsucht nach der geliebten Vipsania. Augustus kränkelte, seit Tiberius ihn kannte, doch allen Todesvoraussagen zum Trotz hatte sich der alte Imperator so zäh erwiesen wie das Leder, aus denen hohe Offiziere ihre Panzer schneiden ließen. Auch beim Sterben schien er seinen griechischen Wahlspruch zu befolgen: ‚Speude bradeos. – Eile mit Weile.‘
Daran hatte Tiberius gedacht, als er sich auf den Weg nach Brundisium begab. Warum Zeit mit dem Warten auf einen Tod vertrödeln, der noch längst nicht eintreten musste? Zwar war Augustus alt, schon weit über Siebzig, aber nichts sprach dagegen, dass er auch noch weit über Achtzig wurde. Auch die eindringlichen Reden seiner Mutter konnten Tiberius nicht zurückhalten. Als er sich trotz allem verabschiedete, zischte sie ihm zu: „Dann reise wenigstens so langsam wie möglich!“
Er hatte nur kaum merklich genickt und innerlich über Livia gelacht, die ihrem Gatten folgte und auch schon Alterswunderlichkeiten zeigte. Doch sie schien mehr gewusst, zumindest geahnt zu haben, und Tiberius’ unhörbares Lachen erstarb, als ihr Kurier ihm die Nachricht brachte: ‚Er liegt im Sterben. Komm zurück mein Sohn, rasch!‘
Er.
Augustus, der Erhabene.
Der Princeps. Der Imperator. Der Pontifex maximus. Der Pater patriae.
Der Mann mit den vielen Titeln und den vielen Verehrern. Der Nachfolger des berühmten Julius Cäsar. Der Beherrscher des römischen Reiches.
Und seine Nachfolge sollte Tiberius antreten? Lange Zeit hatte es nicht so ausgesehen, als hätte der Stiefsohn des Herrschers eine begründete Aussicht darauf. Es war offensichtlich, dass Augustus ihn nicht mochte, dafür aber Tiberius’ Bruder Drusus umso mehr. Doch Drusus war gestorben wie die meisten anderen, denen Augustus sein Reich übergeben konnte. Deshalb durfte Tiberius vor zwölf Jahren von Rhodos zurückkehren, das offiziell ein selbst gewähltes Refugium, in Wahrheit aber eine milde Art der Verbannung gewesen war. Deshalb adoptierte Augustus den Stiefsohn vor zehn Jahren und erhob ihn zum Mitregenten. Deshalb verstärkte Augustus erst im letzten Jahr die Stellung des Tiberius, indem der Herrscher dem Adoptivsohn das Prokonsulat über das Imperium übertrug und die bereits übertragene tribunizische Gewalt um zehn Jahre verlängerte.
Ja, Tiberius’ Stellung als Nachfolger des Augustus schien gefestigt. Aber das konnte sich schnell ändern, wenn der Herrscher starb und Tiberius weit fort von ihm und Rom weilte. Dann würde ein anderer die Gelegenheit ergreifen. Germanicus vielleicht? Zum Glück war Tiberius’ Neffe, den er auf Geheiß des Augustus adoptiert hatte, noch viel weiter entfernt und vertrat die Sache Roms in Gallien und Germanien. Doch die Ungewissheit blieb, und sie trieb Tiberius zu dem Gewaltritt an.
Die Sonne stand niedrig und hatte eine rötliche Farbe angenommen, als die Reiter endlich das kleine Dorf erreichten. Sie waren sehr langsam geritten, um den Verletzten zu schonen, vergeblich. Der gestürzte Reiter war innerlich verblutet, und nur sein Leichnam erreichte das Dorf. Tiberius sagte und aß kaum etwas an diesem Abend. Für ihn war es ein böses Omen, umso mehr, als ihm in den Träumen des unruhigen Schlafes sein Bruder Drusus, sein leibhaftiger Vater Tiberius und die geliebte Vipsania erschienen – sämtlich Tote. Vipsania, Tiberius’ erste Frau, lebte zwar noch, aber für ihn war sie so gut wie tot, seit er sich auf Befehl des Augustus von ihr scheiden lassen musste, um dessen herumhurende Tochter Julia zu heiraten.
Am Morgen stand Tiberius nicht mit dem ersten zaghaften Rot des Himmels auf. Die Vorzeichen ließen alles sinnlos erscheinen. Er war sich sicher, dass Augustus tot war und ein anderer bereits die Nachfolge an sich gerissen hatte. Was sonst sollten der Tod des Reiters und die seltsamen Träume bedeuten? Wahrscheinlich feierte man schon in ganz Italia den neuen Herrscher, nur bis in dieses abgelegene Dorf war die Kunde noch nicht gedrungen.
Der Dekurio, der gestern noch um Rast für seine Männer gebeten hatte, trat heute in das Zimmer seines Herrn und ermahnte ihn zum Aufstehen. „Bald geht die Sonne über den samnischen Bergen auf, Caesar, wir sollten uns beeilen!“
In Tiberius’ Gedanken wurde die Stimme des Offiziers zu der von Livia: ‚Er liegt im Sterben. Komm zurück mein Sohn, rasch!‘
Seine Mutter hätte kein Verständnis für sein Zaudern gehabt. Sie hätte alles getan, um die Macht in ihren Händen und denen ihrer Familie zu halten. Was gab es auch zu verlieren für Tiberius, der auf die Sechzig zuging und sein halbes Leben damit verbracht hatte, ein unsicherer Thronfolger zu sein?
Tiberius gab sich einen Ruck und wälzte sich aus dem Bett. Nach einem kurzen, kargen Frühstück saß er wieder im Sattel. Den Toten ließ er in dem Dorf zurück. Die Mitnahme des Leichnams hätte den Ritt zu sehr verlangsamt. Außerdem wollte er kein schlechtes Omen mit sich führen. Er konnte sich das Spottgeschrei der Menge vorstellen, wenn er mit einem Leichnam in Nola eintraf: ‚Seht her, Tiberius will sichergehen. Für den Fall, dass sein Vater noch lebt, bringt er einen eigenen Toten mit!‘
Aber lebte Augustus noch?
Antwort versprachen die Dächer von Nola, die um die siebte Stunde im flirrenden Sonnenlicht auftauchten. Noch einmal trieben die Reiter ihre Tiere an und hielten im verschärften Galopp auf die alte Kolonie zu, auf die zwischen Capua und Nuceria an der Via Popilia gelegene Vaterstadt des Augustus, die dem Herrscher stets eine Stütze seiner Macht gewesen war. War es seine Art von Dankbarkeit, hier sein Leben auszuhauchen?
Waren die Menschen, die in Massen die Straßen verstopften, aus Sorge um das Leben ihres Herrschers erschienen, oder um den toten Imperator zu betrauern?
Die Menge gab keine vernünftige Antwort, nur Gerüchte, Spekulationen und Gegenfragen. Augustus war tot. Augustus ging es schon wieder viel besser, und er war unterwegs nach Rom. Augustus war kürzlich erst hier und dort gesehen worden oder schon seit Tagen nicht mehr. Konnte Augustus überhaupt sterben, war er denn nicht ein Gott?
Mit lauten Worten und manchmal auch starken Hieben bahnten sich die Reiter einen Weg durch die Menge, bis ihnen die Prätorianer zu Hilfe kamen, die das Landhaus des Augustus bewachten. Ihr Sperrriegel schottete das erregte Volk ab und ließ die Reiter aufatmen. Als ein Zenturio vor Tiberius Aufstellung nahm, wartete dieser Gruß und Meldung nicht ab, sondern fragte nach dem Befinden des Augustus.
„Man sagt, der Erhabene sei ganz gut bei Kräften“, antwortete der Prätorianer zu Tiberius’ großer Erleichterung. „Die edle Livia Drusilla wird dir sicher genauer Auskunft geben können, Caesar. Sie befahl, dich zugleich zu ihr zu bringen.“
Sie befahl!
Für einen Moment stutzte Tiberius, als er diese Wendung vernahm. Das klang fast, als hätte sie die Macht ihres Mannes übernommen, als sei dieser doch gestorben.
Tiberius stieg aus dem Sattel und beruhigte sich mit dem Gedanken, dass seine Mutter ihrem zweiten Mann schon immer mehr gewesen war als eine bloße Bettwärmerin. Sie war die Gefährtin an seiner Seite, die ihm Kraft gab und Rat, die ihn in den Orient und nach Gallien begleitete, die von ihm großen Dank und viele Auszeichnungen erhielt – wie das Alexandrinische Münzrecht, das Bildnisrecht und die Sacrosanctitas – und die ihm später, als ihr Körper verwelkte und sein welker Körper nach straffem, warmem Fleisch verlangte, mit eigener Hand immer jüngere und jüngere Mädchen zuführte. Vielleicht tat Livia das nicht ohne Widerwillen, doch sie überwand sich bei allem, was ihr half, die Kontrolle über Augustus zu behalten. Da schien es nur natürlich, dass sie jetzt, wo er schwer erkrankt war, den Prätorianern befahl.
Um die achte Stunde betrat Tiberius das große, weiß leuchtende Haus. Schon im Vestibulum traf er auf eine Unzahl von Menschen: Dienerschaft, Soldaten, Ärzte, aus Rom herbeigeeilte Freunde des Kranken und solche, die sich dafür ausgaben. Viele stürmten auf den Neuankömmling, um ihn ihres Mitgefühls für den Vater und gleichzeitig ihrer unverbrüchlichen Freundschaft zu dem Sohn zu versichern.
Tiberius’ erster Gedanke, über eine erfreulich große Zahl von Freunden zu verfügen, verflog schnell und machte der Erkenntnis Platz, dass die meisten von ihnen es sich nur nicht mit dem möglichen neuen Herrscher verderben wollten, dass sie aber kaum bereit wären, für ihn etwas, vielleicht sogar ihr Leben zu wagen.
Seine Antwort war meistens nur ein knappes Nicken. Das genügte, seine Wortkargheit war bekannt. Er kämpfte sich zu einem griechischen Freigelassenen durch, einem engen Vertrauten des Augustus und noch mehr einer der Livia. „Wo ist mein Vater, Hippias, wo meine Mutter?“
„Livia ist bei dem Erhabenen und sorgt dafür, dass er ordentlich isst. Er liegt in dem Zimmer, in dem ...“ Der Grieche brach mitten im Satz ab, und im Gesicht wurde seine sonst bronzene Haut plötzlich blass.
„Was ist?“, schnarrte Tiberius, ungeduldig und auch ein wenig erschrocken. „In welchem Zimmer sind sie?“
„Ich ... ich führe dich hin“, stammelte Hippias in einer unsicheren Art, die gar nicht zu ihm passte.
Tiberius folgte ihm durch das Peristylium, ohne einen tieferen Blick an den hellblau im Sonnenlicht schimmernden Teich mit den graziösen Schwänen und die ihn umgebenden Wasserspiele zu verschwenden. Stattdessen fragte er noch einmal: „Hippias, was ist mit dem Zimmer, in dem mein Vater liegt?“
Hippias blieb nicht stehen und sah Tiberius nicht an, als er antwortete: „Es ist das Zimmer, in dem der Vater deines Vaters sein Leben aushauchte.“
Kurz dachte Tiberius an Gaius Octavius, dessen ruhmreiche Taten seinem Sohn einen glanzvollen Weg vorgezeichnet hatten. Der Vater des Augustus überwältigte die letzten der von Spartacus und Catilina zur Rebellion aufgestachelten Sklaven, verwaltete die Provinz Mazedonien mit sicherer Hand und besiegte in einer großen Schlacht die Bresser und Thrakier. Doch als er aus Mazedonien zurückkam, hatte er kaum Zeit, seinen Ruhm zu genießen. Der Tod kehrte mit ihm heim und ereilte ihn in Nola, hier in diesem Haus, in ...
„In diesem Zimmer?“, vergewisserte sich Tiberius ungläubig. „Warum?“
„Ich weiß es nicht. Vielleicht ...“
Wieder sprach der Freigelassene einen Satz nicht zu Ende. Aber das war auch nicht nötig. In Gedanken beendete Tiberius ihn: Vielleicht war es eine Vorahnung des Augustus.
Vor dem Cubiculum, dem Sterbezimmer des Gaius Octavius – und des Augustus? – hielten zwei Prätorianer mit eiserner Miene Wache. Als Tiberius zwischen ihnen hindurchgehen wollte, verschränkten sie die Pilen vor seinem Kopf. Er zuckte zurück und starrte die Soldaten entgeistert an.
Hippias wurde noch blasser und rief: „Seid ihr von allen Göttern verlassen, dass ihr nicht den Sohn des Augustus erkennt?“
„Wir erkennen Tiberius Julius Caesar, Sohn des Erhabenen“, erwiderte einer der Prätorianer, ohne sein Pilum zurückzunehmen.
„Warum verwehrt ihr ihm dann den Eintritt?“, wunderte sich der Grieche.
„Die edle Livia hat befohlen, dass niemand ohne ihre Erlaubnis das Zimmer betreten darf. ‚Wirklich niemand?‘, wollte unser Zenturio wissen. ‚Wirklich niemand‘, lautete die Antwort.“
„Aber das gilt doch nicht für den Sohn und Mitregenten des Augustus!“, empörte sich der Freigelassene.
„Uns sind keine Ausnahmen bekannt“, blieb der Prätorianer unnachgiebig.
„Dann, zum Jupiter, meldet den Sohn des Erhabenen an!“, verlangte Hippias.
In diesem Augenblick wurde die Tür geöffnet, und eine leise, aber deutlich vernehmbare Frauenstimme fragte: „Was ist das für ein Geschrei? Ihr weckt noch meinen Mann, der gerade gegessen und sich zu einem erholsamen Schlaf niedergelegt hat.“
Eine dunkelhäutige Sklavin schlüpfte an der Sprecherin vorbei nach draußen, in den Händen eine Silberschale und einen goldenen Löffel. Der Geruch von Honig und Pfeffer begleitete sie. Die Schale war zu drei Vierteln geleert und enthielt die Reste einer Honigsuppe.
Als Livia Drusilla ihren Sohn erkannte, hellte sich ihre strenge Miene auf, und die steile Falte, die sich in der Mitte der Stirn direkt über der Nase gebildet hatte, glättete sich. „Endlich bist du da, mein Sohn!“ Die einstmals schöne, jetzt alte und vom ereignisreichen Leben gezeichnete Frau in der angesichts ihres Standes einfach wirkenden Stola gab den Eingang frei und bedeutete Tiberius mit einladender Geste, das Cubiculum zu betreten. Sobald dieser der Aufforderung nachgekommen war, verschloss Livia die Tür wieder, nicht ohne vorher die Prätorianer scharf zu ermahnen: „Sorgt für Ruhe! Und denkt an meinen Befehl, niemanden hereinzulassen!“ Ein wenig leiser und weniger streng fügte sie hinzu: „Der Erhabene braucht viel Ruhe.“
Livia begrüßte Tiberius mit einer seltenen mütterlichen Umarmung. Dabei umhüllte sie ihn mit der eindringlichen Süßlichkeit kampanischer Rosen, ein Parfüm, das Augustus sehr schätzte, vielleicht als Erinnerung an die Gefilde seines Vaterhauses.
Während Tiberius in den Armen der Frau lag, die ihn vor fünfeinhalb Jahrzehnten geboren hatte, streiften seine Augen durch das Zimmer, das für die Ruhestatt des Imperators äußerst bescheiden wirkte. Zu dem geringen Luxus zählten die Mosaike an den Wänden und auf dem Fußboden, die Szenen des kampanischen Landlebens zeigten. Tiberius verschwendete daran nur einen flüchtigen Blick und starrte dann auf das stabile Bett, das mit dem Kopfende an einer Wand stand. Er musste die mit den Jahren schwach gewordenen Augen zusammenkneifen, um den Mann zu erkennen, der dort ruhig auf der linken Seite lag und mit dem angewinkelten Arm aussah wie ein schlafendes Kind. Die schweren Fenstervorhänge aus dunkelblauem Samt waren zugezogen, um dem Augustus den Schlaf zu erleichtern, und nur die bescheidene Flamme einer silbernen Öllampe, die in einer vom Bett weit entfernten Ecke auf einem dünnen, vierfüßigen Ständer saß, erhellte den Raum.
Livia löste sich von ihrem Sohn. Ihre eben noch von mütterlicher Zuneigung erfüllten Züge drückten jetzt Verärgerung aus. „Warum hast du nicht auf mich gehört und bist bei deinem Vater geblieben?“
Das war mehr Vorwurf als Frage und löste bei Tiberius Trotz aus. Leise, damit der Schlafende es nicht hörte, sagte er: „Mein Vater ist tot, schon seit fast fünfzig Jahren!“
Auch das war ein Vorwurf, gerichtet an seine Mutter, die sich von ihrem Gatten Tiberius Claudius Nero getrennt hatte, um sich in die Arme des Augustus zu werfen. Fünf Jahre nach der Hochzeit von Augustus und Livia war ihr erster Mann gestorben, manche sagten, an gebrochenem Herzen. Der nach seinem Vater benannte Sohn Tiberius war damals erst Neun gewesen, und die Erinnerung an seinen leiblichen Vater war verblasst. Nicht aber der Schmerz des gebrochenen Herzens, den Tiberius schon bei der Trennung von seinem richtigen Vater verspürt hatte und noch mehr bei der Trennung von Vipsania.
Livias faltiges Gesicht verhärtete sich, und die rissigen Lippen öffneten sich zu einer Erwiderung. Aber Tiberius ließ seine Mutter einfach stehen und ging an ihr vorbei auf das Bett zu.
Etwas verunsicherte ihn: Seitdem er das Cubiculum betreten hatte, hatte der Schlafende sich nicht bewegt. Weder hörte Tiberius seinen Atem, noch konnte er ein Heben und Senken der dünnen Decke feststellen, unter der Augustus lag. Als er die gesunde Rötung der eingefallenen Wangen feststellte, beruhigte sich Tiberius wieder.
Gleichzeitig wunderte er sich über den strengen süßlichen Duft, der seine Nase kitzelte, obwohl doch Livia nicht mehr neben ihm stand. Der Geruch hatte sich verändert, Rosenduft war das nicht mehr. Sofort war seine Unruhe wieder da, und ein Gedanke beherrschte Tiberius: War es der Leichengeruch?
Zögernd streckte der große Mann die kräftige Rechte aus, bis sie dicht vor dem Gesicht des Stiefvaters schwebte, ganz nah an Mund und Nase, aber nicht der leiseste Atemhauch streifte seine Hand. Er berührte die Wange des alten Mannes, doch der Schlafende rührte sich nicht. Als Tiberius die Hand zurückzog, waren die Fingerspitzen gerötet, und die eben noch gesunde Rötung auf der rechten Wange des Augustus wies nun einen verwischten Streifen auf.
Livia trat neben den Sohn und sagte leise: „Du hast keinen Vater mehr, weder den einen noch den anderen.“
Tiberius starrte auf seine geröteten Finger und fragte verwirrt: „Was ...?“
„Es ist Fucus.“ Livia tippte an eine ihrer runzligen Wangen. „Ich selbst benutze es, um die Welkheit des Alters mit dem Anschein der Jugendlichkeit zu übertünchen. Omnia vanitas? – Ist nicht alles eitel?“ Sie seufzte und ging zu einem hölzernen, mit filigranen Schnitzereien verzierten Wandschrein, dem sie ein Bronzekästchen entnahm. Damit kehrte sie zum Bett zurück, wo sie es öffnete und auf den Boden stellte. Der Schminkkasten enthielt mehrere Dosen und Pinsel sowie einen Spiegel, der in die Innenseite des Deckels eingelassen war. Livia wählte eine Bronzedose mit rotem Deckel, nahm sie aus der Halterung und öffnete den Deckel. Sie tauchte einen der schlanken Pinsel mit der Spitze vorsichtig in die Dose und strich eine neue Schicht Fucus auf das Gesicht ihres Gatten. Dann verschloss sie den Bronzekasten wieder und brachte ihn zurück in den Schrein. „Falls doch unversehens jemand hereinkommt, soll er nicht das Gesicht eines Toten sehen.“
Allmählich begriff Tiberius, und er sagte stockend zu seiner Mutter: „Du spielst hier eine schauerliche Komödie. Warum?“
„Um Vater und Sohn ein letztes Gespräch zu ermöglichen.“ Sie blickte den Toten an. „Er soll dir selbst in der Stunde seines Todes die Nachfolge übertragen. Das wird dich besser legitimieren als alles andere.“
„Aber das Testament ...“
„Das Testament ernennt dich zu seinem Nachfolger, das stimmt.“ Livia nickte schwer und verzog ihr Gesicht. „Aber danach kommt auch schon Germanicus und dann erst dein Sohn Drusus.“
„Du scheinst sein Vermächtnis gut zu kennen“, äußerte Tiberius mit Blick auf den Toten seine Verwunderung. „Liegt das Testament des Augustus nicht versiegelt in Rom, im Tempel der Vesta?“
„Da liegt es, und da liegt es gut.“ Livia tippte mit dem Zeigefinger gegen ihre Stirn. „Den Inhalt kann ich hier lesen.“
„Wie ...?“