Der Fluch des Riesen - Jörg Kastner - E-Book
SONDERANGEBOT

Der Fluch des Riesen E-Book

Jörg Kastner

4,7
2,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 2,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die Saga der Germanen wird fortgesetzt. Die Germanen werden von zwei Seiten bedroht: Nicht nur die Römer lauern auf sie, sondern auch die übermächtigen Truppen des Markomannenkönigs Marbod. Außerdem stehen nicht mehr alle Cherusker den Germanen Arminius und Thorag im Kampf bei und ihre einstige Einheit ist zerschlagen. Doch eine weitere Bedrohung bahnt sich an: Die mysteriöse Jägerin Canis ist mit in das Gefecht gezogen, um Rache zu üben. Thorag ist wie gefesselt von der ebenso schönen wie exotischen Amazone. Er weiß aber auch, warum man sich im Kampf besser nicht von einer Frau ablenken lassen sollte … Der achte Band der zwölfteiligen Romanserie »Die Saga der Germanen« von Jörg Kastner.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 346

Bewertungen
4,7 (18 Bewertungen)
13
4
1
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Jörg Kastner

Der Fluch des Riesen

Folge 8 der 12-teiligen Romanserie Die Saga der Germanen

Historischer Roman

Kapitel 1 – Marbod kommt!

„Marbod kommt!“

Der Ruf, der am späten Nachmittag über die Cheruskerlager bei den Heiligen Steinen flog, brachte neues Leben in die niedergeschlagenen Frilinge. Seit Isberts Freveltat ruhten die Feierlichkeiten, verharrten die sonst so tatkräftigen Krieger in ihren Hütten und versanken in tiefes Brüten. Sie schienen das Ende der Zeiten zu erwarten – zumindest die Strafe der Götter. Nur zur Mittagsstunde, wenn der Lurenklang die Männer zusammenrief, um unter Anleitung der Priester die Götter um Gnade anzuflehen, kam für gewöhnlich Leben in die Krieger.

Die Rückkehr von Armins Kundschaftern hatte den Cheruskerstamm aus seiner Erstarrung gerissen. Ihre Botschaft war in der Tat beunruhigend: Der Markomannenkuning hatte mit einem großen Heer seine Nordgrenze überschritten und bewegte sich auf das Land der Cherusker zu. Armin hatte dafür gesorgt, dass sich die Nachricht rasch in den Lagern sämtlicher Sippen ausbreitete. Vielleicht richtete die Aussicht auf einen ruhmreichen Kampf die Männer wieder auf.

Jetzt konnte es Armin gelingen, das Heft wieder in die Hand zu nehmen. Im Kampf hatte er sich bewährt und seinen Ruhm gewonnen, damals gegen Varus und später gegen Tiberius und Germanicus. Wenn es zum Kampf gegen Marbod kam, konnte Armin zeigen, dass der Cheruskerstamm auf ihn angewiesen war. Ja, so konnte er dem Verhängnis entgehen!

In die neu aufkeimende Hoffnung mischten sich Zweifel, als Armin in die Gesichter der anderen Gaufürsten blickte, die auf sein Verlangen an Mimirs Quelle zusammengekommen waren. Frowin und Thimar sahen ihn ablehnend an, in Frowins Fall sogar feindselig. Sie würden seinem Plan zum raschen Kriegszug kaum zustimmen, selbst wenn sie erkannten, dass dies für den Cheruskerstamm das Beste war. Eher waren wohl Balder und Bror zu überzeugen. Aber auch die beiden alten Fürsten schienen an ihrem Herzog zu zweifeln. Ihre Gesichter waren verschlossen, ihre Äußerungen einsilbig. Isberts Bluttat und vielleicht noch mehr seine Anschuldigung hatten ihre Wirkung auch auf die alten Recken nicht verfehlt.

Sie warteten nur noch auf Inguiomar, den Undurchsichtigen. Der Donargau würde bei dieser Beratung nicht vertreten sein. Noch in der Nacht, als Gandulf die Entscheidung der Götter verkündet hatte, schickte Armin den Kriegerführer Argast aus, seinen Fürst Thorag zu suchen. Armin wusste, dass es jetzt auf jeden treuen Mann ankam, besonders auf einen so angesehenen, wie es der Donarfürst war. Hätte Armin geahnt, wie schnell es zu einer neuen Zusammenkunft an der Quelle der Weisheit kommen würde, hätte er nicht Thorags Stellvertreter Argast gebeten, den Suchtrupp anzuführen.

Fünf Nächte waren verstrichen, seit Gandulf im Namen der Götter Armins Bußtod befohlen hatte. Armin hatte nur noch drei Nächte Zeit, sein Leben zu retten – und sein Volk. Wenn es ihm nicht gelang, würde die vierte Nacht seinen Tod bringen.

Seit Isberts Berserkertat war der Himmel bedeckt, verhüllte Wodan vor Zorn sein Haupt. Priester, Edelinge und Frilinge nahmen dies als weiteren Hinweis, dass der Göttervater Buße forderte: das Vergießen von Blut für das vergossene Blut seiner Rosse. Armin sah über die hohen, dicht beieinanderstehenden Kronen von Tannen und Fichten hinweg zu den Häuptern der Steinriesen, die undeutlich hinter milchigen Nebelschwaden lagen. Auch sie schienen ihr Antlitz vor Armin zu verhüllen, und er fühlte sich schuldig, ohne dass er es wollte.

Er glaubte, ein paar winzige Punkte zu sehen, die um die Steinriesen flogen. Waren das die Elstern, oder erlag er nur einer Sinnestäuschung. Er dachte an die Sage vom Erwachen der Steinriesen, wenn die Elstern sie verließen. Erfüllte sich der alte Fluch? War die Zeit gekommen, die alle Zeiten beendete? Erwachten die Riesen und Ungeheuer, um die Götter und die Menschen zu vernichten? War Isberts Raserei nur der Beginn des großen Kampfes, in dem sich alle zerfleischten, Götter und Riesen, Germanen und Römer, Cherusker und Markomannen?

Schritte rissen Armin aus seiner Erstarrung. Durch den großen Bogen der beiden Eschen traten zwei Männer, deren unbeschwerte Jünglingszeit lange hinter ihnen lag. Der eine mit dem glatt rasierten Gesicht und dem allmählich ergrauenden Haar, das auf einen wollenen Umhang mit großen blau und rot leuchtenden Vierecken fiel, war Inguiomar. Neben ihm ging der graubärtige Gandulf im weißen Priestergewand und mit der goldenen Wodansfibel. Wie alle der hier versammelten Fürsten trugen auch die beiden Neuankömmlinge hohe Lederstiefel. Das häufige Weinen der Asen in den letzten Nächten und Tagen hatte den Waldboden zu Morast aufgeweicht. An der Quelle war es nicht ganz so schlimm: Der felsige Grund widerstand selbst den Tränen der Götter.

Armin sowie Balder und Bror sahen den obersten Priester der Heiligen Steine überrascht an. Der ganze Bezirk der Steinriesen unterstand der Priesterschaft, nicht aber Mimirs Quelle. Dies war schon seit den Zeiten der Urväter der Ort, an dem die Fürsten unter sich berieten, unbeeinflusst von Frilingen wie von Priestern.

„Ich wusste nicht, dass Thorag und Argast den Ewart Gandulf zum stellvertretenden Führer der Donarsöhne bestimmt haben“, bemerkte Armin in einer Mischung aus Verwunderung und leichtem Spott, während er Gandulf und Inguiomar fixierte. „Anders kann ich mir die Anwesenheit Gandulfs am Ratplatz der Gaufürsten nicht erklären.“

Balder und Bror äußerten Zustimmung, während Frowin und Thimar sich ruhig verhielten, abwartend.

„Ich vertrete nicht die Donarsöhne, sondern die Priesterschaft der Heiligen Steine“, erwiderte Gandulf, als er und Inguiomar die anderen erreichten.

„Und Gandulf hat das Recht, hier zu sein“, fügte der Ingfürst schnell hinzu. „Nicht minder, als es Argast hatte, der auch kein Gaufürst der Cherusker ist.“ Er blickte Armin an, und in seinen Worten schwang ein leiser, aber unverhohlener Vorwurf mit.

„Es ist alte Sitte, dass ein Gaufürst einen Vertreter bestellen darf“, sagte Armin. „Fürst Thorag hat seinen Kriegerführer Argast beauftragt, für die Donarsöhne zu sprechen. Daran ist nichts Unrechtes. Für wen aber spricht Gandulf in diesem Rat?“

Der Oberpriester reckte das bärtige Kinn vor. „Wie ich bereits bemerkte, ich spreche für die Priesterschaft.“

„Also für dich sellbst“, versetzte Armin und fuhr fort: „Natürlich schätzte ich Gandulfs weisen Rat, wie wir alle es tun. Aber es widerspricht jedem Brauch, dass die Priester ihre Stimmen an Mimirs Quelle erheben.“

Wieder stimmten Balder und Bror Armins Worten zu, und Ersterer meinte: „Wichtig und nötig ist der Rat der Priester, doch er soll nicht ungefragt erschallen!“

„Das tut er nicht“, erklärte Inguiomar. „Ich selbst habe Gandulf gebeten, mich zu begleiten.“ Er schwieg und blickte die anderen Gaufürsten an, wartete die Wirkung seiner Worte ab.

„Sprich weiter, Herzog“, verlangte Balder. „Erkläre deine Rede!“

Der Ingfürst nickte und sagte: „Wenn wir es so genau nehmen mit dem Brauch der Väter, dürfte auch mein Brudersohn Armin nicht hier sein, denn er steht im Verdacht, ein Götterfrevler zu sein. Ich aber bin der Meinung, dass ein Verdacht noch kein Urteil ist und dass ein trotz seiner Jugend erfahrener Herzog wie Armin gehört werden sollte.“

Jetzt war es Inguiomar, der die allgemeine Zustimmung erntete.

„Das berechtigt mich, am Rat der Fürsten teilzunehmen, vielen Dank, Oheim“, sagte Armin mit einem säuerlichen Lächeln. „Aber was hat das mit Gandulf zu tun?“

„Wenn er hier ist, werden die Götter über deine Teilnahme am Rat nicht erzürnt sein, Armin“, antwortete Inguiomar. „Der Priester Wodans wird für den Allvater sprechen und sicherstellen, dass deine Worte die eines Fürsten sind, nicht aber die eines Frevlers.“ Bevor Armin etwas erwidern konnte, blickte der Ingfürst in die Runde und fragte: „Findet diese Überlegung die Zustimmung der Gaufürsten?“

Balder, Bror, Thimar und Frowin bejahten das – und Armin saß in der Falle. Einmal mehr musste er Inguiomars Geschicklichkeit des Ränkeschmiedens bewundern. Ohne es wohl zu ahnen, jedenfalls was Balder und Bror betraf, hatten eben alle Gaufürsten dem älteren Herzog zugestimmt, seinen jüngeren Rivalen zu entmachten. Jedes Wort Armins, das Inguiomar nicht gefiel, konnte der Ingfürst durch Gandulf zum Frevel erklären lassen. Die Frage war: Hörte Gandulf auf Inguiomar? Seit damals, als Inguiomar sich zum zweiten Herzog aufschwang, hegte Armin den Verdacht einer düsteren, unheiligen Allianz zwischen Ingfürst und Oberpriester, ohne dass er etwas beweisen konnte.

Alle Hoffnung, die Armins Herz auf dem Ritt zu Mimirs Quelle erfüllt hatte, schwand dahin. Trotzdem erhob er seine Stimme, nachdem alle das Wasser der Weisheit aus dem silbernen Runenhorn getrunken hatten. Er nahm die Versammelten mit seinem festen Blick gefangen und versuchte, sie für einen sofortigen Kriegszug gegen Marbod zu gewinnen.

„Diese Worte hast du schon einmal gesprochen, Fürst Armin“, sagte Thimar, nachdem Armin geendet hatte. „Vor wenigen Nächten erst. Und wir haben entschieden, dass wir Marbod nicht zum Kriegszug herausfordern wollen.“

„Nach der Kunde, die meine Boten brachten, hat der Kuning der Markomannen den Krieg selbst begonnen“, fiel Armin in die Thimar zustimmenden Ausrufe der anderen Fürsten ein. „Marbod hat seine Grenzen überschritten und bewegt sich mit großem Heeresgefolge nordwärts, auf das Land der Cherusker zu.“

„Wer sagt, dass unser Land Marbods Ziel ist?“, fragte Frowin.

„Welches Ziel sonst sollte Marbod haben?“ Armin zeigte nach Süden. „Dort hat er ein großes Reich geschaffen. Ich habe schon lange geahnt, dass es ihn einst nach mehr Land, Untertanen und Ruhm gelüstet. Nun scheint die Zeit gekommen.“

Inguiomar ergriff das Wort: „Du vergisst, Armin, dass die Chatten und Marser zwischen uns und Marbods Grenzen siedeln. Sollte Marbod diese Grenzen tatsächlich überschritten haben, wäre ein Händel der Markomannen mit Chatten oder Marsern eine mögliche Erklärung.“

„Selbst dann wären unsere Schwerter, Framen und Gere gefordert“, sagte Armin. „Die Chatten und die Marser haben uns gegen Rom beigestanden. Da ist es nur billig, dass wir sie gegen einen möglichen Überfall der Markomannen verteidigen.“

„Das sehe ich anders“, erklärte der Ingfürst. „Bevor wir uns in einen Krieg einmischen, der uns nichts angeht, sollten wir die Gründe kennen. Falls Marbod tatsächlich einen Kriegszug gegen die südlich von uns siedelnden Stämme unternimmt, tut er das vielleicht mit gutem Recht.“

Armin hatte die unsichtbaren Schwerthiebe gespürt, die Inguiomar ihm mit seiner Wortwahl versetzte. „Du zweifelst daran, Inguiomar, dass Marbod mit seinem Heer gen Norden zieht?“, fragte der Hirschfürst.

„Allerdings. Wir haben nur das Wort deiner Boten dafür, Armin.“

„Hirschkrieger lügen nicht!“

„Jeder Mann ist zur Lüge fähig“, belehrte ihn Inguiomar. „Falls du, Armin, was ich weder hoffe noch glaube, wirklich ein Gottesfrevler bist, könntest du auch deine angeblichen Kundschafter zur Lüge angestiftet haben. Ein Kriegszug gegen Marbod käme dir jetzt sehr gelegen, würde er doch von Isberts Schandtat ablenken.“

Frowin und Thimar stimmten Inguiomar laut zu. Die argwöhnischen Blicke, die Bror und Balder dem Hirschfürst zuwarfen, verrieten, dass die Rede des Ingfürsten auch sie nicht unbeindruckt gelassen hatte.

Zorn übermannte Armin. Alle guten Worte, die Inguiomar zu ihm gesprochen hatten, schienen auf einmal wie weggewischt. Die verräterische Schlange hatte sich gehäutet und ihr wahres Gesicht gezeigt. Dass Inguiomar sagte, er glaube und hoffe an Armins Unschuld, waren nur leere Worte, süßer Honig, den Inguiomar auf seine in Wahrheit bittere Rede strich.

Der Ärger und die Verbitterung, die sich in den letzten Nächten und Tagen in Armin aufgestaut hatten, brach sich seine Bahn. Der Hirschfürst stieß eine Verwünschung aus, sprang auf Inguiomar zu und wollte sein Schwert aus der Scheide ziehen. Doch eine fremde Hand fasste Armins Handgelenk und hielt es fest. Wütend starrte Armin in das ernste Gesicht des Oberpriesters.

„Es war gut, dass Inguiomar mich mit zu Mimirs Quelle nahm“, sagte Gandulf. „So kann ich eine zweite Freveltat verhindern. Nachdem schon der Hain der heiligen Rosse und damit die gesamten heiligen Steine entweiht wurden, soll nicht auch noch Blut in die Quelle der Weisheit fließen. Besinne dich, Armin!“

Der Hirschfürst beugte sich nicht dem Druck der knochigen Priesterhand, sondern der Erkenntnis. Er ließ den Schwertgriff los und sagte: „Mein Handeln war falsch. An Mimirs Quelle sprechen Worte und Weisheit, nicht die Waffen.“

Gandulf nickte beifällig, ließ Armins Hand los und trat einen Schritt zurück. Dabei geriet er auf dem feuchten Fels ins Rutschen, verlor das Gleichgewicht und drohte, in den Teich zu stürzen, der den Wildbach speiste. Mehr in einer reflexartigen Bewegung als in überlegter Handlung sprang Armin hinzu und packte einen von Gandulfs hilflos in der Luft rudernden Armen. So konnte Armin verhindern, dass der Ewart ins Wasser stürzte. Er fiel nur auf die Knie und stieß ein leises Stöhnen aus.

„So etwas geschieht, wenn an Mimirs Quelle statt Weisheit die Wut regiert!“, verkündete Inguiomar laut und tadelnd.

Armin hätte seinen Oheim in diesem Augenblick am liebsten erwürgt. Aber er riss sich zusammen, wollte nicht noch einmal im Angesicht Gandulfs und der Gaufürsten die Geduld und damit sein Gesicht verlieren. Schon jetzt machte Inguiomar eindeutig die bessere Figur. Ohne auf die spitzen Worte des Oheims einzugehen, half Armin dem Priester auf die Beine und erkundigte sich nach seinem Wohlbefinden.

„Es geht schon, danke“, murmelte Gandulf, während er sich mit leisem Ächzen aufrichtete. „Meine Knochen sind nicht mehr die jüngsten und spüren jeden Stoß überdeutlich.“ Er blickte nacheinander in alle Gesichter und sagte laut: „Inguiomars Worte waren klug gewählt. Wir sollten uns nicht von Wut und Hast leiten lassen. Vielleicht brachten Armins Boten wahre Kunde, vielleicht auch nicht. Ich schlage vor, dass die anderen Stämme ebenfalls Kundschafter aussenden. Bis sie zurück sind, ist auch Armins Schicksal entschieden und damit die Frage, wer den Stamm der Cherusker in einem möglichen Krieg gegen die Markomannen anführt.“

Armins Gegenrede, dies verschaffe Marbod nur einen zeitlichen Vorteil, hatte keinen Erfolg. Die Gaufürsten nahmen Gandulfs Vorschlag an und lobten die Klugheit des Oberpriesters. Dann verließen sie Mimirs Quelle durch das Eschentor.

Armin ging nicht mit ihnen. Er konnte kaum verbergen, wie sehr die neuerliche Niederlage ihn erschüttert hatte. Alles schien sich gegen ihn verschworen zu haben. Im Spiegel der Quelle sah er sein Gesicht, von Wut und Enttäuschung gezeichnet. Heiße Wellen liefen über seinen Körper, Hitze stieg in seinen Kopf. Er kniete sich hin und schöpfte mit den hohlen Händen Wasser aus der Quelle, benetzte damit seine heiße Stirn und die glühenden Wangen. Wenn Mimirs Wasser den Fürsten der Cherusker schon keine Weisheit brachte, sollte es wenigstens ihm Kühlung verschaffen, dachte Armin bitter.

Als er sich wieder aufrichten wollte, verharrte er plötzlich. Das schwache Licht, das durch Wodans Wolkenmantel drang, fiel auf etwas Glitzerndes, das in einer kleinen Felsspalte lag, genau an der Stelle, wo Armin den stürzenden Oberpriester aufgefangen hatte. Es war ein handtellergroßer Gegenstand an einer Schnur – ein Amulett, das an einem geflochtenen Band hing. Das Band war gerissen. Gandulf musste es verloren haben. Armin fischte es aus der Ritze zwischen den Steinen und rechnete, als er das irdene Bildnis ansah, damit, auf ein Abbild Wodans zu blicken, ähnlich der Goldfibel an Gandulfs Schulter.

Aber es war ein Tier mit kräftigem Körper und großem Schädel, den es dem Betrachter zuwandte. Es starrte Armin an, mit glühend roten Augen, die den Hirschfürst in ihren Bann zu ziehen drohten. Er schüttelte den Kopf und machte sich klar, dass es nur toter Stein war, auf den er blickte. Die beiden Augenpunkte mussten mit Farbe behandelt sein, dass sie diesen rot leuchtenden Eindruck hervorriefen. Armin empfand Bewunderung für den Mann, der das Amulett gefertigt hatte. Der in Stein geritzte Bär schien zu leben. Das lag wohl auch an der Wärme, die der Stein ausstrahlte. Gandulf musste ihn direkt auf seiner Haut getragen haben. Nur bei den kurzen Beinen des Bären hatte der Schöpfer des Bildnisses unsauber gearbeitet. Jedes der vier Beine warf einen seltsamen Schatten, als hätte hier eine unsichere Hand das Gravurmesser geführt.

Das helle Flechtband, an dem das Amulett hing, bestand aus dünnen, seidigen und dennoch festen Strängen. Es sah aus wie Tierhaar, vielleicht vom Schweif eines Pferdes.

„Ein seltsames Amulett für einen Priester Wodans“, brummte Armin. Er hatte solch ein Zeichen noch bei keinem Priester und bei keiner Priesterin gesehen. Und er konnte sich auch nicht an eine besondere Beziehung Wodans zum Bären erinnern. Die Raben, die Gans und der Wolf waren die Tiere, die man gemeinhin mit dem Göttervater in Verbindung brachte, und natürlich Sleipnir, der Dahingleitende, Wodans achtbeiniges Ross. Aber ein Bär?

Kopfschüttelnd folgte Armin den Fürsten und Gandulf, um dem Ewart sein Amulett zurückzugeben. Aber er und Inguiomar hatten, wie auch die anderen Gaufürsten, die große Lichtung mit dem rauschenden Wildbach längst verlassen. Nur die Handvoll Hirschkrieger, die Armin begleitet hatte, wartete noch mit den Pferden. Armin zuckte mit den Schultern und steckte das Amulett in einen Ledersack an seinem breiten, mit Gold- und Silberbeschlägen verzierten Ledergürtel. Er würde Gandulf gewiss bald wiedertreffen – spätestens in der Nacht, die Armin das Leben rauben sollte.

Der Hirschfürst und sein Gefolge ritten langsam durch den dichten Wald. Er hatte es nicht eilig, zu den Heiligen Steinen zurückzukehren. Sie erinnerten ihn nur an das düstere Schicksal, das ihn erwartete, gelang ihm nicht der Nachweis seiner Unschuld. Er benutzte den Ritt, um sich über das Geschehen an der Quelle klar zu werden. Darüber, wer auf wessen Seite stand, wer mit wem ein geheimes Bündnis geschlossen haben mochte. Der einsetzende Regen störte ihn nicht. Noch waren die Tränen der Götter nicht stark genug, um den Schutz des Waldes zu durchdringen.

An Balders und Brors Aufrichtigkeit hegte er kaum Zweifel. Die beiden alten Fürsten waren schon einmal, bei Inguiomars Herzogswahl, von dem Ingfürst für seine Zwecke eingespannt worden. So leicht würden sie nicht noch einmal auf ihn hereinfallen.

Frowin und Thimar waren Armin nicht freundlich gesinnt, so viel stand fest. Aber vergeblich versuchte er zu durchschauen, ob sie einvernehmlich handelten. Hatten sich Stierfürst, Eberfürst und vielleicht auch der Ingfürst gemeinsam gegen ihn verschworen?

Kapitel 2 – Alrun

Der Regen klatschte schwer in Armins Gesicht und schaffte es doch nicht, die Sorgen wegzuwaschen. Die schützenden Bäume blieben hinter dem kleinen Reitertrupp zurück, machten Sträuchern und Farnen Platz. Bald schon tauchten die Hirschkrieger in das Hüttengewirr ihres Lagers ein. Der Himmel war düster von Wolken und der beginnenden Abenddämmerung. Je dunkler er wurde, desto mehr Wasser spuckte er aus. Trotzdem zogen sich die Männer im Hirschlager nicht in ihre Hütten und Unterstände zurück. Sie drängten sich auf dem Platz vor Armins großer Hütte zusammen – aber nicht um ihren Fürst und seine Begleiter, sondern um einen anderen, größeren Reitertrupp.

„Was ist da los?“, fragte Armin, doch keiner seiner Begleiter wusste eine Antwort.

Der Hirschfürst trieb seinen Rappen an und kniff die Augen zusammen, spähte über die Köpfe der Menge hinweg zu den Reitern, die augenscheinlich gerade erst im Hirschlager eingetroffen waren.

„Macht Platz für Armin, unseren Fürst!“, riefen seine Begleiter laut und drängten die Männer auseinander.

Durch die schmale Gasse lenkte Armin sein großes Römerpferd und spornte es zu größerer Eile an, als er zwei der berittenen Krieger im Mittelpunkt des Menschenauflaufs erkannte. Der Mann, dessen rötliches Haar, vom Regen platt gedrückt, rund um ein spitzes Fuchsgesicht klebte, war Argast. Und der blonde Hüne neben ihm war der Mann, auf den der Hirschfürst seit vielen Nächten sehnsüchtig wartete.

„Thorag, mein Bruder!“ Armin umarmte den Kampf- und Schicksalsgefährten so heftig, dass die beiden fast aus den Sätteln gerutscht und in den Schlamm gefallen wären. Als Thorag aufstöhnte, ließ Armin ihn los und sah ihn besorgt an. „Bist du verletzt, Thorag?“

„Zwei Römer haben mir gezeigt, wie gut sie die Peitsche zu führen verstehen.“

Armins eben noch heitere Züge verhärteten sich wieder. „Ich hoffe, die beiden sind zu ihren Göttern gegangen.“

Thorag nickte. „Einer von ihnen war der Prätorianerpräfekt Sejanus.“

Armin sandte einen suchenden Blick über die Köpfe der Reiter. „Ich sehe keine Gefangenen und nur wenige deiner Krieger. Bewachen die anderen Drusus Caesar an einem sicheren Ort?“

„Der Sohn des Tiberius ist an einem sicheren Ort, leider“, seufzte Thorag. „Wir hatten ihn und Sejanus schon gefangen, aber sie wurden befreit und erreichten sicher die Ubierstadt.“ Er berichete von der Gefangenschaft der Donarsöhne und von der nächtlichen Flucht. „Argast und seine Mannen erschienen im richtigen Augenblick. Mit ihrer Hilfe entkamen wir den römischen Häschern.“

„Dass Drusus nicht in unseren Händen ist, ist eine schlechte Nachricht“, seufzte Armin. „Aber dass du, Thorag, endlich hier bist, eine umso bessere!“

„Ich hörte schon, dass du in Schwierigkeiten steckst.“

„Und sie nehmen nicht ab, im Gegenteil. Aber lass uns in meiner Hütte weiterreden. Das Herdfeuer wird uns trocknen und wärmen. Es gibt eine Menge zu besprechen, denn große Gefahr droht aus dem Süden: Marbod kommt!“

Thorag und Argast folgten dem Herzog in die vom Feuerschein erleuchtete Hütte und nahmen auf einer groben Holzbank nahe dem Herdfeuer Platz. Sofort brachten Schalke Met und Bier, Haferbrei und Rauchfleisch heran. Die Blutsbrüder aßen, tranken und redeten, aber trotz der Wiedersehensfreude blieb die Stimmung gedrückt. Was Thorag und Armin einander zu berichten hatten, ließ keine Freude aufkommen.

„Wo steckt Ingwin?“, fragte Thorag mittendrin.

„Er hält noch bei Isbert Wache“, antwortete Armin.

„Wozu? Ich dachte, der Schmied hat seine Aussage bereits gemacht.“

Armin, der mit einem zähen Fleischstreifen beschäftigt war, hielt im Kauen inne. Das Fleisch hing ihm aus dem Mund, während er Thorag anstarrte. „Du glaubst doch nicht, dass ich mich mit Isberts Aussage zufriedengebe? Oder denkst du, ich hätte ihn angestiftet, die heiligen Rosse abzuschlachten?“

„Natürlich nicht“, versicherte Thorag und dachte insgeheim, dass Armin immer etwas Unberechenbares an sich hatte. Dies jetzt zu erwähnen, hätte ihnen aber nicht weitergeholfen. Sie hatten Feinde genug. Es wäre unklug gewesen, sich auch noch untereinander zu entzweien. Außerdem glaubte Thorag nicht wirklich an Armins Schuld, weil er darin keinen Sinn entdecken konnte. „Ich verstehe nur nicht, was du dir von Isbert erhoffst, Armin. Wenn er schon einmal seinen Fürst und Herzog fälschlicherweise angeschuldigt hat, wird er es auch wieder tun. Wer immer Isbert bestochen oder gezwungen hat, er muss den Schmied überzeugt haben, dass er von deinen Feinden mehr zu erwarten hat als von dir, seinem Gaufürst.“

„Das glaube ich nicht“, rief eine kreidige, durchdringende Stimme vom hellen Rechteck des Eingangs her. „Vielleicht hat Isbert seinen Fürst verraten, ohne es zu wollen.“

Thorag erkannte die grauhaarige Frau, die im Eingang stand und sich auf ihren knotigen Stock stützte, umspielt von den weiten Falten ihres weißen Kleides. „Alrun!“

Armin sah seinen Blutsbruder an. „Das ist die Seherin, von der du erzählt hast? Aber was macht sie hier?“

Alrun beantwortete die Frage: „Ich bitte um eure Hilfe, edle Fürsten, und biete euch dabei die Meinige an. Denn mein Schicksal und das eure sind eng miteinander verknüpft.“

Thorag warf ihr einen strengen, tadelnden Blick zu. „So eng, dass du dich heimlich davongestohlen hast, bevor uns die Flammenreiter überfielen!“

„Ich habe dich gewarnt, Donarsohn, aber du wolltest nicht auf mich hören. Sollte ich etwa mit dir ins Verderben laufen?“

„Wohl wahr“, seufzte Thorag und winkte die Frau an Armins Tafel. „Setz dich und erzähl, was dich zu uns führt!“

„Ja“, nickte Armin. „Erzähl uns vor allem, wie du in meine Hütte kommst und was du über Isbert weißt!“

„Ich kam schon gestern zu den Heiligen Steinen und hörte so einiges über den Blutfrevel des Eisenschmieds. In deine Hütte zu kommen, war nicht weiter schwer, Herzog Armin. Deine Wächter haben sich vor dem Regen so tief verkrochen, dass selbst ein Ur unbemerkt an ihnen vorbeigekommen wäre.“ Alrun ließ sich neben Argast auf die Holzbank sinken und warf gierige Blicke auf das Essen. „Bei diesem Wetter friert es einen doppelt schlimm, wenn auch noch der Magen knurrt.“

„Schon gut“, sagte Armin. „Bedien dich nur, solange das Rauchfleisch dir nicht den Mund verstopft. Ich möchte nämlich gern Antworten auf meine Fragen hören!“

„Das Fleisch brauchst du nicht zu fürchten“, kicherte die Alte. „Es sieht zäh aus, und die Zähne, die mir verblieben sind, sitzen locker. Ich halte mich lieber an den Haferbrei.“

Auf Armins Wink füllte der Schalk Omko eine irdene Schale mit dem braunschwarzen Brei, steckte einen klobigen Holzlöffel hinein und reichte die Schale der Seherin. Die begann sofort, gehäufte Löffel Brei in ihren Mund zu stopfen. Einiges von dem Brei rann an ihrem Gesicht hinunter, tropfte auf ihr Gewand und auf den Tisch. Armin, Thorag und Argast tauschten angewiderte Blicke aus.

„Wenn dieser Isbert die heiligen Rosse wirklich im Berserkerrausch getötet hat, muss es nicht in seiner Absicht liegen, dich zu verleumden, Fürst Armin“, sagte Alrun unvermittelt und kaute dann mit lautem, genüsslichem Schmatzen weiter.

„Ich mag keine Seher und auch keine Seherinnen.“ Argast verzog unwillig sein spitzes Gesicht. „Sie reden in einer Sprache, die einem den Kopf platzen lässt.“

„Argast hat recht“, sagte Armin. „Wenn du uns etwas zu sagen hast, Weib, dann so, dass wir es auch verstehen!“

Alrun schien ihn nicht gehört zu haben. Sie starrte mit über den Tisch gebeugtem Gesicht in die irdene Schale und sagte leise, fast ein wenig traurig: „Schon leer.“

„Kein Wunder bei der Geschwindigkeit, mit der du den Brei in dich reinschaufelst“, brummte Armin. „Du musst nicht fürchten, dass du nicht satt wirst, Weib. Du kannst so viel Haferbrei essen, wie du willst.“

„Gern!“ Alruns Augen leuchteten, und sie hielt die Schale einem kleinwüchsigen Schalk vor die Nase.

„Aber nicht jetzt“, fuhr Armin fort und verscheuchte den keltischen Diener mit einem knappen Wink. „Erst redest du, dann isst du!“

„Ganz, wie du befiehlst, Herzog.“ Alrun lächelte, was gar nicht zu ihrem sorgenfaltigen Gesicht passen wollte. „Wer sich in den Berserkerrausch versetzt, kann nicht nur Dinge tun, die über die übliche Kraft eines Mannes hinausgehen, er kann auch Dinge sagen, die er sonst nicht über seine Lippen gebracht hätte. Besonders dann, wenn nicht er selbst, sondern ein anderer für seine Wut verantwortlich ist.“

Thorag verstand und nickte. „Du meinst, jemand könnte Isbert gegen seinen Willen gezwungen haben, die heiligen Rosse zu schlachten. Und dieser Jemand könnte ihm auch eingetrichtert haben, Armin zu beschuldigen, obwohl Isbert es gar nicht will!“

„Ganz recht“, sagte Alrun. „Es hängt ganz von den Künsten desjenigen ab, der den Berserkertrank gebraut hat.“

„Das kann nicht sein!“ Armin schüttelte mit Entschiedenheit sein Haupt. „Isbert war doch schon aus dem Berserkerrausch erwacht, als er mich beschuldigte!“

„Aus dem Blutrausch schon.“ Alrun heftete ihre Augen auf Armin, sah ihn fragend an. „Aber auch aus dem Einfluss des Berserkertranks?“

„Du meinst, der Trank kann fortwirken, auch wenn die Raserei schon abgeklungen ist?“

„Zum einen das. Zum anderen könnte jemand Isbert durch die regelmäßige Verabreichung des Tranks auf unbegrenzte Zeit in seinem Bann halten. Ein Mann kann so zum lebenslangen Sklaven eines anderen werden, ohne es selbst zu bemerken. Der Trank raubt ihm den freien Willen und die Fähigkeit, dies zu erkennen.“

Armins Faust hieb auf die Tischplatte. „Das ist geradezu dämonisch!“

„Ja“, sagte Alrun ruhig. „Aber manchmal auch recht nützlich. Zumindest für den, der den Trank zu brauen versteht.“

„Da könnte etwas dran sein“, befand Argast. „Zwar gibt Ingwin auf Isbert acht, doch er prüft sicher nicht, was in Isberts Speise und seinen Getränken ist. Wer Isbert zum Berserker gemacht hat, kann so den Bann aufrechterhalten, direkt unter Ingwins Nase.“

„Ist das möglich?“, fragte Armin und sah die Seherin an.

Alrun nickte.

„Könntest du auch einen solchen Trank brauen?“, fragte der Hirschfürst weiter.

Wieder nickte Alrun. „Die Zutaten sind leicht besorgt. Wichtig ist vor allem der Saft des Fliegenpilzes. Aber nicht daran dürfte dir wirklich gelegen sein, Fürst Armin, sondern an einem Mittel, das dem Schmied Isbert seinen Willen zurückgibt.“

Gespannt beugte sich Armin vor. „Dieses Mittel könntest du mir beschaffen?“

„Ja, die nötigen Zutaten finde ich in dieser Gegend schnell. Morgen schon könnte es fertig sein.“

„Dann fang sofort an!“, rief Armin aus.

Alrun reckte ihr warziges Kinn vor und starrte den Herzog an. „Wir müssen erst über die Gegenleistung reden.“

„Und die wäre?“, knurrte Armin misstrauisch.

„Du suchst die verschwundene Priesterin Astrid. Ich suche sie auch. Du hilfst mir dabei, selbst wenn du sie nicht mehr benötigst, um deine Unschuld zu beweisen.“

„Natürlich werden wir Astrid suchen!“, antwortete Thorag an Armins Stelle. „Sie hat mir schon so oft geholfen, dass ich nicht ruhen werde, bis ich sie gefunden habe!“

„Das ist gut.“ Alrun wirkte erleichtert.

„Aber weshalb suchst du die Priesterin?“, fragte Armin die Seherin.

„Das ist meine Sache.“

Armin sprang auf, beugte sich über den Tisch und umfasste Alruns dürren Hals mit einer seiner großen Hände. Es sah aus, als bedürfe es nur einer Handbewegung des Herzogs, um der Seherin den Hals umzudrehen. Armins Augen flackerten.

„Genug der Geheimnistuerei!“, stieß er erregt hervor. „Ich bin in letzter Zeit oft genug in hinterlistig gestellte Fallen getappt. Diesmal will ich alles vorher wissen. Woher weiß ich, dass du nicht bloß vorgibst, mir helfen zu wollen, und in Wahrheit für ... für meine Feinde arbeitest.“ Er hatte absichtlich keinen Namen genannt, weil er der Seherin nicht mehr verraten wollte, als sie schon wusste.

„Ich habe deinen Blutsbruder Thorag vor den Flammenreitern gewarnt.“

„Ja, aber woher wusstest du davon?“ Armins feurige Augen durchbohrten Alrun. „Weil du wirklich eine heilige Frau bist? Oder weil du eine Spionin der Römer bist, eingeweiht in ihre Pläne?“

„Deine Seele ist von Misstrauen zerfressen.“ Alrun sagte es krächzend, so sehr lastete Armins Druck auf ihrer Kehle. „Ist das der Preis der Macht, Fürst Armin? Und ist sie es wert?“

Zögernd ließ Armin die Seherin los und wischte ihre Fragen mit einer heftigen Handbewegung beiseite. „Wenn du unser Vertrauen willst, musst du offen zu uns sprechen!“, schnarrte er. „Wenn du uns aber etwas verschweigst, ist unser Misstrauen wohl berechtigt!“

Alrun starrte ihn lange an und sagte dann mit einem kaum merklichen Zucken ihrer spitzen Schultern. „Männer wie du müssen wohl so denken. Auch wenn es dich nichts angeht, will ich dir meine Gründe nennen: Ich spüre Hels kalte Hand nach meinem Herzen greifen, viel fester als deinen Griff eben. Bevor ich der Totengöttin in ihr dunkles Reich folge, möchte ich noch einmal meine Tochter sehen.“

Armin sank langsam auf die Bank zurück und legte die Stirn in Falten. „Ich verstehe nicht, was das alles mit der Priesterin Astrid zu tun hat.“

Aber Thorag begriff es. Er hatte schon in jener Nacht, als Alrun ins Lager der Donarsöhne kam, eine seltsame, verstörende Vertrautheit gespürt, als sei er der Seherin schon einmal begegnet. Damals hatte er sich dieses Gefühl nicht erklären können, aber jetzt verstand er es. Auch wenn unzählige Winter, Fährnisse und Sorgen dazwischenlagen, hatte ihn das Gesicht Alruns an das Astrids erinnert. Aus beider Augen sprachen derselbe Ernst und derselbe Hauch des Unergründlichen, Geheimnisvollen.

„Du bist Astrids Mutter?“, fragte er zögernd, noch immer nicht ganz überzeugt. „Aber Astrid hat mir nur von ihrem Vater erzählt.“

Alrun bedachte ihn mit einem Blick, in dem sich Spott mit der tiefen Sehnsucht nach etwas Wertvollem, etwas Verlorenem mischte. „Meinst du nicht, Donarsohn, dass es bei jedem Menschen einen Vater und eine Mutter braucht, um ihn den Sorgen und Schrecken eines Erdenlebens auszusetzen?“

Thorag nickte. „Mich wundert nur, dass Astrid nie von dir erzählte.“

„Was sollte sie auch erzählen von einer Mutter, die ihre Tochter im Stich ließ? Ich verließ meinen Gemahl, als Astrid noch klein war und mein Sohn Eiliko gerade erst einen Namen erhalten hatte. Aber was sollte ich bei einem Mann, der sich mit Kebsen herumtrieb und für das eigene Weib nur Schimpf und Schläge übrig hatte? Obwohl ich mit der Hingabe an diesen Mann mein Leben als Priesterin der Langobarden zerstört hatte.“

„Astrid erzählte mir von einem anderen Ort, an dem sie aufwuchs“, sagte Thorag. „Der lag nicht im Land der Langobarden.“

„Als ich meine Familie verließ, lebte sie im Grenzland von Sugambrern, Tubanten und Usipetern“, bestätigte Alrun das, was Thorag von Astrid gehört hatte. „Aber bevor ich heiratete, war ich eine weise Frau vom Stamm der Langobarden. Dugal, mein Gemahl, war ein Kelte, der glaubte, beim Trinken von Met und Bier mit den Germanen mithalten zu müssen. Er versoff jeden Besitz und sank vom Freien zum Schalk herab. Da er ein Nichtsnutz war, wurde er schnell von seinem Herrn verkauft, und seine Familie mit ihm. Das geschah mehrmals, bis wir ins Grenzland der Sugambrar kamen, wo Eiliko geboren wurde. Dort hielt ich es nicht länger aus und verließ Dugal, um mein eigenes Leben zu suchen – und meine Bestimmung.“

„Du hast deinen Gemahl verlassen, aber auch deine Kinder!“

Alrun erwiderte Thorags Blick und nickte schwer. „Dein Vorwurf trifft tief in mein Herz, Donarsohn. Ich selbst habe diesen unsichtbaren, aber scharfen Ger schon oft in meinen Leib gebohrt und bereut, dass ich Astrid und Eiliko im Stich ließ. Aber Dugal hatte damals wieder eine Kebse ins Haus geholt. Eine, die wenigstens den Vorzug hatte, dass sie sich um die Kinder kümmerte wie um ihre eigenen. Sie hatte sogar ausreichend Milch für den kleinen Eiliko in ihren schweren Brüsten, da sie kurz zuvor ein eigenes Kind verloren hatte. Du siehst, Fürst Thorag, ich ließ meine Kinder nicht schlecht behütet zurück.“

„Aber auch nicht gut behütet“, sagte Thorag Hart. „Dugal verkaufte seine Kinder als Sklaven!“

„Du hast es mir schon einmal erzählt“, erwiderte die Seherin leise, mit brüchiger Stimme und niedergeschlagenem Blick. „Bereitet es dir Freude, den Ger wieder und wieder in mein Herz zu stoßen?“

Armin legte eine Hand auf Thorags Schulter. „Du glaubst der Seherin, Bruder?“

Thorag nickte. „Sie ist Astrids Mutter, ich fühle es.“

„Nun gut.“ Armin sah wieder die Seherin an. „Wir tun alles, was wir können, um Astrid zu finden. Jetzt hilf auch du uns!“

„Bald. Erst muss ich euch etwas zeigen.“

„Was?“, schnappte Armin.

„Es hängt mit Astrid zusammen. In der letzten Nacht hatte ich einen Traum. Und heute sah ich, wovon ich träumte. Jedenfalls etwas Ähnliches.“

„Sie spricht schon wieder in Rätseln“, maulte Argast und leerte mit vor Verzweiflung verdrehten Augen ein bronzebeschlagenes Methorn.

„Das Rätsel wird sich lösen, wenn ihr mich zu den Steinriesen begleitet“, sagte Alrun. „Nur mit wenigen Männern und zu Fuß, damit wir nicht auffallen.“

So geschah es. Thorag, Armin, Argast und sechs Hirschkrieger schritten mit Alrun durch den dämmrigen Regendunst, der die meisten Cherusker in ihren Hütten hielt. Niemand beachtete die kleine Gruppe. Nicht nur zum Schutz gegen den Regen hatten Armin und seine Begleiter Felle und dicke Wolltücher um die Köpfe geschlungen, sondern auch, um nicht erkannt zu werden. Der Regen fiel in schweren Tropfen, und der auffrischende Wind peitschte sie der kleinen Gruppe schmerzhaft entgegen. Als die Cherusker und Alrun die Steinreisen erreichten, war sonst kein Mensch zu sehen.

Armin, Thorag und Argast unterhielten sich stumm, durch Blicke. Jeder von ihnen dachte an die Möglichkeit eines Hinterhalts. Verbargen sich Meuchler im nahen Wald? Die Neugier war stärker als die Vorsicht, der Mut größer als die Furcht. Sie folgten Alrun, bis sie an der Westseite der Felsen standen und die Köpfe ins Genick legen mussten, um zu den Häuptern der Steinriesen aufzublicken.

Der Boden bestand entweder aus Morast oder aus rutschigem Fels. Doch Alrun ließ sich nicht aufhalten, auch wenn der Schlamm an ihren Füßen zerrte, wenn das glitschige Gestein sie wieder und wieder zu Fall brachte. Verbissen ging sie nach links bis zum letzten der hohen Felsen und deutete mit ausgestrecktem Arm hinauf.

„Seht ihr den steinernen Bären, der dort im Fels kauert, bereit zum Sprung, wie es scheint? Von ihm habe ich geträumt. Bloß war er noch viel größer und hielt Astrid, die verzweifelt nach mir schrie, in seinem Maul. In meinem Traum verfolgte ich den Bären, doch er war zu schnell, hatte acht Beine wie Wodans Ross Sleipnir.“

„Du schleppst uns durch den Regen, bloß weil dir ein Mahr den Traum von einem wilden Bären gesandt hat?“, fragte Argast und schickte einen saftigen Fluch hintendrein. „Bei Wodans Raben, das Alter scheint dich verwirrt zu haben, Weib!“

„Es war nicht nur irgendein Bär. Er sah aus wie dieser, aber er hielt sich nicht bei den heiligen Steinen auf. Ich fühlte ganz deutlich, dass Astrid nicht so nah ist.“

„Sie ist also bei dem anderen Bären?“, vergewisserte sich Thorag.

„Ja! Und zwischen beiden Bären besteht eine Verbindung.“

„Eine Verbindung“, murmelte Armin und starrte zu dem riesenhaften Bären hinauf, den die Urväter in den Fels des Steinriesen gehauen hatten. „Ja, das könnte sein!“

„Wovon sprichst du, Armin?“, fragte Thorag.

„Ich hätte gleich darauf kommen sollen“, fuhr der Hirschfürst fort, die Augen unverwandt zu dem Felsbären erhoben. „Das könnte die Verbindung sein!“

„Was?“, rief Thorag gegen das Trommeln des Regens.

Armin öffnete eines der Ledersäckchen an seinem Gürtel und zog das Amulett heraus, das er bei Mimirs Quelle gefunden hatte. Er hielt es an der geflochtenen Schnur hoch, damit alle es sehen konnten, und erzählte, wie er zu dem kleinen Steinbären gekommen war.

„Die Ähnlichkeit ist tatsächlich verblüffend“, stellte Thorag fest, während er abwechselnd das Amulett und den riesenhaften Bären hoch über ihren Köpfen ansah.

Alruns knochige Klaue griff nach dem Steinamulett, das an Armins Hand hin und her pendelte, und hielt es fest, betrachtete es mit Augen, die den Steinbären in sich aufzusaugen schienen. „Er ist es“, flüsterte sie andächtig, mehr zu sich selbst als zu den umstehenden Cheruskern. „Der Bär aus meinen Träumen. Der Bär des Bösen!“

„Des Bösen?“, wiederholte Armin. „Wie kommst du darauf?“

„Spürst du nicht die böse Ausstrahlung des Amuletts?“, fragte Alrun verwundert.

„Nein. Es ist doch nur ein Stein.“ Armin antwortete so, weil er keine Furcht vor einem Stein zeigen wollte. Aber tief in seinem Innern spürte er tatsächlich etwas Unheimliches, immer, wenn er das Amulett betrachtete. Vielleicht lag es an dem roten Stechen, das aus den Augen des Steinbären kam.

„Ein Stein mit verborgenen Kräften, ich spüre es ganz deutlich“, sagte Alrun. „Erlaube mir, den Stein an mich zu nehmen, Herzog!“

„Warum?“, fragte Armin skeptisch. „Was willst du damit, wenn doch das Böse von ihm ausstrahlt?“

„Vielleicht bringt er mich auf Astrids Spur. Dieser Steinbär ist achtbeinig, so wie der Bär aus meinem Traum.“

Achtbeinig! Armin nickte. Das Weib sprach wahr. Er betrachtete die Beine der kleinen Figur. Es war kein Fehler des Steinritzers, keine zittrige Hand, sondern Absicht. Ein achtbeiniger Bär!

Er entsann sich Astrids geheimnisvoller Warnung und wiederholte sie laut. Hüten sollten sich er und Thorag vor einer Wölfin, einem goldenen Eber, einem schwarzen Pferd, einem schwarzen Stier und einem schrecklichen Bären mit acht Pranken!

„Die Wölfin steht für Rom, so viel ist klar“, fuhr der Hirschfürst fort. „Der Stier könnte auf Frowin hinweisen, den Fürst des Stiergaus. Seit heute bin ich sicher, dass der Rappe für Marbod steht. Unklar war ich mir über Eber und Bär.“

„Der Eber weist auf Thimar hin, den neuen Eberfürst“, sagte Argast.

„Oder auf Inguiomar“, wandte Thorag ein. „Singen nicht die Skalden von einem goldenen Eber, der Ings Wagen zieht?“

„Ja, Goldborste“, stimmte ihm Armin zu. „Daran habe ich auch schon gedacht. Inguiomars Verhalten heute an Mimirs Quelle rechtferigt diesen Verdacht. Bleibt nur noch der achtprankige Bär ...“

„Gib mir das Amulett, Fürst!“ Alruns Worte klangen flehend. „Ich will dir helfen, den Bären aufzuspüren.“

„Gut.“ Armin reichte ihr das Amulett und sagte laut: „Wir alle müssen Stillschweigen bewahren über das, was wir hier gesehen und erörtert haben. Noch ist nicht die richtige Zeit, um Gandulf seinen Anhänger zurückzugeben.“

Alrun schloss ihre Hand um den kleinen Steinbären, und Armin fühlte sich erleichtert, nicht mehr in die winzigen glühenden Augen blicken zu müssen. Die Worte der Seherin klangen in ihm nach: ‚Der Bär des Bösen!‘

Kapitel 3 – Das Zauberkraut

Der Frühmet schien den Edelingen des Hirschstammes, die sich in Armins Hütte zum Morgenmahl versammelt hatten, schal zu schmecken, wie schon an den vorherigen Tagen. Kaum einer scherzte und lachte, und niemand ließ die Würfel rollen. Der Todesbann, der auf ihrem Herzog lag, lähmte die Hirschmänner. Sechs Nächte waren verstrichen, ohne dass Armin dem Nachweis seiner Unschuld auch nur einen Schritt nähergekommen war. Zwei Tage und Nächte des Lebens erwarteten den Hirschfürst noch, dann kam die Nacht des Todes.

Die Tränen der Götter klopften in trauriger Eintönigkeit auf das mit Reisig, Laub und Stroh gedeckte Dach, wie schon die ganze Nacht hindurch, und verstärkten die trübe Stimmung. Einige Stellen im Dach waren bereits durchweicht; Wasser tröpfelte auf Bänke und Boden oder rann am Flechtwerk der Wände entlang, das trotz der Abdichtung mit einer Mischung aus gehäckseltem Stroh, Lehm und Pferdemist über kurz oder lang der Göttertrauer nachgeben würde. Wenn nicht bald etwas geschah, das die Asen versöhnte und Armin wieder zum allseits anerkannten Herzog machte!

Doch was? Darüber sann Armin erfolglos nach, während er lustlos ranzigen Ziegenkäse und ofenfrische Gerstenfladen zerkaute. Sein Magen knurrte zwar, aber er musste sich bei jedem einzelnen Bissen zum Kauen und Schlucken zwingen. Der Met half ihm, das Essen hinunterzuspülen, vertrieb aber nicht die Sorgen. Zum Morgenmahl tischten die Schalke ein leichtes Gebräu auf, das nicht benebelnd in die Köpfe stieg.

Thorag, der zusammen mit Argast an Armins Tafel geladen war, betrachtete das sorgenvolle Gesicht seines Herzogs und Blutsbruders eine ganz Weile und sagte endlich: „Solange wir nicht im Sterben liegen, sollten wir uns mehr Gedanken um das Leben machen. Hab Vertrauen, Armin!“

„Vertrauen?“ Der Hirschfürst bedachte den Donarsohn mit einem gequälten Augenaufschlag. „Worauf? Auf wen?“

„Auf Alrun. Ich habe das Gefühl, dass Astrids Mutter uns nicht im Stich lassen wird. Sie hat mich vor den Flammenreitern gewarnt und recht behalten. Und auch auf Astrid konnte ich mich stets verlassen.“

„Gefühle sind eine unsichere Sache, Thorag. Sie können leicht täuschen, und niemand erkennt sie als Beweis an.“

Thorag wusste, worauf Armin anspielte, und erwiderte: „Wenn Isbert eine Aussage unter freiem Willen macht, müssen Gandulf und die Gaufürsten das als Beweis anerkennen. Und wenn wir erst Astrids Schicksal aufgeklärt haben, mag uns auch das weiterhelfen.“

„Das klingt sehr unbestimmt“, seufzte Armin. „Wieder so ein Gefühl.“

Thorag leerte ein Methorn, legte den Kopf schief und starrte Armin fragend an. „Du scheinst nicht viel von Alrun zu halten.“

„Diese ganze Bärengeschichte kommt mir höchst unglaubhaft vor“, bestätigte der Hirschfürst Thorags Verdacht. „Wer sagt uns, dass Alrun uns diesen Bären nicht nur aufgebunden hat, um uns zu täuschen, uns abzulenken?“

„Ich“, antwortete die schrille Stimme Alruns. Die Seherin schlurfte zwischen Bänken und Tafeln auf das wärmende Herdfeuer zu, in dessen Nähe die Tafel des Herzogs stand. Ihr Gewand war regennass und am Saum mit Schlammspritzern übersät. Auch am unteren Ende ihres Stocks klebte frischer Morast. Ihr Gesicht wirkte noch zerfurchter als sonst, durchzogen von großen Schatten und tiefen Ringen.