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Ist ein Sieg gegen die Römer in Germanien endlich in Sicht? Der Römer Germanicus zieht mit seinen Legionen gegen die Germanen und hält blutige Ernte unter den arglosen Marsern, die ihr heiliges Tamfana-Fest feiern. Der Cheruskerfürst Thorag muss Herzog Arminius aus den Händen ihrer Feinde befreien, erst dann können die beiden Blutsbrüder ihre Krieger zum Kampf gegen die Römer sammeln. Doch wechselndes Schlachtenglück rückt einen Sieg gegen die Römer in weite Ferne. Germanicus hat nicht nur eine hochgerüstete Armee unter seinem Befehl, ihm sind auch wertvolle Gefangene in die Hände gefallen: Thusnelda und Auja, die Frauen von Arminius und Thorag, sowie Thorags kleiner Sohn Ragnar … werden die Römer in Germanien immer siegen? Der sechste Band der zwölfteiligen Romanserie »Die Saga der Germanen« von Jörg Kastner.
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Seitenzahl: 218
Jörg Kastner
Folge 6 der 12-teiligen Romanserie Die Saga der Germanen
Historischer Roman
Die Frostriesen brachten einen kalten Winter, und ihre Mäntel, die das Land bedeckten, waren so dick wie schon lange nicht mehr. Die Riesin Hulda, die jeden Morgen die mit Eisfedern gepolsterten Betten der Ihren ausschüttelte, sorgte dafür, dass Löcher in der weißen Decke, die sich über das Land der Germanen zog, gestopft wurden. Dicht und groß fielen die Eisfedern zur Erde, und oft dauerte es bis tief in die Nacht. Das Leben fror ein und mit ihm der Krieg. Viermal hatte Mani den Mond zu- und wieder abnehmen lassen. Die Tage wurden allmählich länger, aber sie wurden nicht wärmer, und das Land lag weiß und still. Es gehörte nicht mehr den Menschen, sondern den Frostriesen.
Die Suppe, die Thidrik mit einer Holzkelle aus dem Bronzekessel über dem Feuer in der Mitte der kleinen Hütte schöpfte, floss dünn wie Wasser in Thorags tönerne Schale. Dann füllte Thidrik die Schalen der anderen Krieger, achtzehn an der Zahl, die in dieser Hütte eng beieinander schliefen und wachten, um sich gegenseitig mit ihrer Körperwärme vor dem Erfrieren zu bewahren. An ihren missmutigen Gesichtern erkannte der Donarfürst, dass auch in ihrer Suppe kaum ein Kraut und kaum ein Fettauge schwammen. Einige warfen Thidrik, der das Essen an diesem Morgen bereitet hatte, böse Blicke zu.
„Schaut mich nicht an, als sei ich Loki, der euch einen schlimmen Streich spielen will!“, brummte der bejahrte Cherusker. „Meine Suppe ist auch nicht reichhaltiger als eure. Ihr wisst, dass die Vorräte zur Neige gehen. Wir können froh sein, dass wir noch Holz fürs Feuer haben.“
„Wer kämpfen soll, muss auch essen!“, grunzte Ayko und starrte voller Abscheu in seine Suppenschale. „Das hier kann man kein Essen nennen, allenfalls ein Getränk, aber eins, dem ich auch das bitterste Bier vorziehen würde.“
„Kämpfen?“ Der Kriegerführer Argast lachte abgehackt, und es klang gequält. „Wenn dieser Verräter sich doch nur zum Kampf stellen würde, ich würde ihm zeigen, wie ein Donarsohn die Klinge führt! Aber der Feigling Segestes verschanzt sich hinter den Wällen seiner Burg und vertraut darauf, dass Eis und Schnee eine Erstürmung unmöglich machen.“ Die Züge in Argasts spitzem Gesicht verhärteten sich, die Lippen wurden dünn, und unregelmäßige Zähne, die scharf wie die eines Raubtieres wirkten, traten hervor. „Irgendwann schmelzen die Mäntel der Frostriesen, und dann wird der Sommer das Blut der Stiermänner trinken!“
„Aber nur, wenn wir erfolgreicher sind als vor dem großen Schneefall“, maulte Ayko und schlürfte mit angewiderter Miene seine Suppe.
Mehrere Donarsöhne warfen ihrem Fürsten vorwurfsvolle Blicke zu. Thorag verstand es und nahm es ihnen auch nicht übel. Er führte sie in den Kampf, also trug er auch die Verantwortung über Sieg oder Niederlage. Jeder Fürst und Kriegerführer war nur so viel wert wie sein Kampfheil. Verwandelte es sich nicht in ein Siegheil, würde er über kurz oder lang sein Ansehen und seine Gefolgschaft verlieren.
Cherusker waren keine Römer, die an jedem Neujahrstag ihren Diensteid bekräftigten und verpflichtet waren, ihr halbes Leben lang dem Legionsadler zu folgen, gleich unter wessen Befehl und mit welchem Kriegsglück. Cherusker waren freie Männer, sie dachten und fühlten jeder für sich, nicht als Teil einer riesigen Kriegsmaschine. Sie zogen mit dem in den Kampf, dessen Heil stark genug war, um auf sie überzugehen. Wen das Heil aber verließ, der wurde auch von seinen Männern verlassen, mochte es ein Kriegerführer, ein Gaufürst oder ein Herzog sein. Alle Anführer übten letztlich nur die Macht aus, die ihnen von den Frilingen gewährt wurde. Das war der Hauptgrund, weshalb es unter den germanischen Stämmen kaum Kuninge gab, denen eine ähnliche Machtbefugnis wie Augustus oder seinem Nachfolger Tiberius zukam. Marbod im Südosten war eine der wenigen Ausnahmen, und es hieß, er gehe nicht eben zimperlich mit seinen eigenen Männern um.
Thorag wurde schon seit damals, als sie gegen Varus kämpften, das Gefühl nicht los, dass Armin eine ähnliche Stellung anstrebte. Es passte zu dem Cheruskerherzog und seinem brennenden Ehrgeiz. Wohl wollte Segimars Sohn das Beste für sein Volk, wie Thorag ihn kannte und einschätzte, aber der Hirschfürst scheute sich nicht, daraus auch das Beste für sich zu machen. Thorag bezweifelte, dass sein Blutsbruder dieses Ziel jemals erreichen würde. Der Verrat Gerolfs und der des Segestes hatten gezeigt, wie groß die Zwietracht schon im Stamm der Cherusker war. Wenn Armin nicht unter seinen eigenen Leuten für Einigkeit sorgte, würde ihm dies niemals bei allen freien Stämmen gelingen.
Thorag wusste nicht, ob er Armins Machtbestrebungen gutheißen sollte. Gewiss vertrug es sich nicht mit der Ungebundenheit, die jeder freie Germane genoss. Aber vielleicht war eine starke, einende Faust nötig in Zeiten wie diesen, wo die Heimat von einem mächtigen Gegner bedroht wurde, dessen Herrschaft sich fast auf alle bekannten Länder erstreckte. Thorag hatte den Blutsbund mit Armin erneuert, weil die Ziele des Herzogs jetzt auch die des Donarsohnes waren. Segestes’ Überfall auf die Adlerburg und der tausendfache Mord an den Marsern, der auch Eibe, Tebbe und Amala das Leben gekostet hatte, ließen gar nichts anderes zu.
Noch immer spürte Thorag die Blicke seiner Männer auf sich. Sie erwarteten, dass ihr Fürst zu ihnen sprach, ihnen Mut machte und einen baldigen Sieg zusicherte. Ja, bestimmt hofften sie auf ermunternde Worte vom Abkömmling des mächtigen Donnergottes.
Aber wie sollte Thorag so etwas versprechen, waren doch alle Angriffe auf die Eisenburg von Segestes, der sich dort mit starken Kräften verschanzt hatte, blutig zurückgeschlagen worden! Nach jedem Angriff waren die Rauchsäulen etlicher Totenfeuer in den Himmel gestiegen, auf der Burg und mehr noch in den umliegenden Tälern, wo Armins und Thorags Krieger lagerten.
Auch Thorags Versuch, erneut durch den Geheimgang in die Burg einzudringen, war gescheitert. Segestes hatte den Gang verschütten lassen, der ihm jetzt, wo er bekannt geworden war, nichts mehr nutzte.
Dann kamen die Frostriesen und unterbanden jeden Kampf. Hirschkrieger und Donarsöhne zogen sich in die Lager zurück, die sie rings um den Eisenberg errichtet hatten. Sie wollten von hier aus einen Durchbruch der Stiermänner verhindern und mögliche Boten des Stierfürsten abfangen.
Immer wieder dachte Thorag daran, dass der doppelte Verrat durch Gerolf und Segestes kein Zufall sein mochte. Sein Verdacht verdichtete sich, dass Gerolf und Germar von Anfang an, schon als Germar Armins Hochzeitsboten abfing, mit dem Stierfürsten im Bunde standen. Jetzt ritt Gerolf mit den Römern, und Segestes wollte ihnen Thusnelda und Auja zum Geschenk machen. Wenn beide mit den Römern paktierten, lag der Schluss nahe, dass sie es auch miteinander taten.
Armin hatte den Eisenberg schon vor zwei Monden verlassen, um ebenfalls Bündnisse zu schließen. Er wollte die anderen Gaufürsten der Cherusker dafür gewinnen, sich dem Kampf gegen den Verräter Segestes anzuschließen. Mit ihrer geballten Macht musste die Erstürmung der Eisenburg einfach gelingen, sobald die Sommerwärme die Mäntel der Frostriesen schmelzen ließ. Befehlen konnte Armin den anderen Fürsten nichts, denn seine Macht als Herzog, den Cheruskerstamm gegen den Feind in die Schlacht zu führen, erstreckte sich nicht auf Zwistigkeiten innerhalb des Stammes, schon gar nicht auf solche, in die der Herzog selbst verwickelt war.
Armin hatte einen Teil der Hirschkrieger zurück zur Adlerburg geführt. So viele Männer, wie rund um die Eisenburg gelegen hatten, ließen sich nicht den ganzen Winter über versorgen.
Obwohl die Belagerer die umliegenden Siedlungen, deren Bewohner auf die Burg geflohen waren, bis auf den hintersten Winkel nach Nahrungsmitteln durchsucht hatten, gingen die Vorräte der Hiergebliebenen allmählich zur Neige, wie die dünne Suppe an diesem Morgen belegte. Die Jagdtrupps, die Thorag regelmäßig ausschickte, brachten kaum genug Beute für sich selbst mit. Das wusste der Donarfürst, aber er wollte seine Männer beschäftigen. Von den Römern hatte er gelernt, dass Müßiggang eine Armee ebenso besiegen konnte wie ein übermächtiger Feind. Germanicus hatte diese Erfahrung bereits gemacht. Die Kunde von der Meuterei, die der Caesar nur mit Mühe niedergeschlagen hatte, war rechts des Rheins begierig aufgenommen worden.
Nach Armins Abmarsch befehligte Thorag die Donarsöhne und Hirschkrieger rund um die Eisenburg, insgesamt etwa zweitausend Mann. Segestes hielt ungefähr ebenso viele Krieger unter Waffen, hatte aber den Vorteil der Hügelfestung und wahrscheinlich auch den gefüllter Vorratshütten auf seiner Seite. Jetzt sah es so aus, als würde Thorag nicht mehr lange an der Spitze einer kampffähigen Truppe stehen.
Er blickte in die Runde und sagte: „Die Nächte sind kalt ohne den wärmenden Leib einer Frau. Ich weiß, wie hart es für euch ist, so lange von euren Weibern getrennt zu sein. Für mich ist es fast noch härter, denn Auja und Ragnar sind dort oben auf der Eisenburg stets vor meinen Augen – und doch unerreichbar. Ich weiß auch, wie wenig unser Essen einem Krieger würdig ist und ihn sättigt, denn ich teile es jeden Morgen und jeden Abend mit euch. Meine Familie wird von Segestes ebenso festgehalten wie Thusnelda, die Frau unseres Herzogs und meines Blutsbruders Armin. Deshalb ist mein Platz hier und wird es bleiben, an der Spitze tapferer Krieger oder ganz allein. Ihr alle habt euren Mut bewiesen und mehr. Ich danke euch und entbinde jeden, der zu den Seinen zurückkehren will, von der Gefolgschaftstreue.“ Thorag zeigte dann auf die dicke Matte aus Flechtwerk, die den Hütteneingang verschloss und die Männer davor bewahrte, im Eisatem der Frostriesen zu erfrieren. „Jeder, den es auf seinen Hof oder in seine Siedlung zieht, ist frei darin, diesen Ort zu verlassen. Geht, wann es euch beliebt, und niemand wird Übles darüber sagen!“
Der Wind, der schon seit geraumer Weile mit dunklem, an- und abschwellendem Brausen über das Land der Frostriesen strich und die hölzernen Hütten erzittern ließ, blies in diesem Augenblick mit gesammelter Kraft, riss die Matte aus den Haken und wirbelte sie durch die Hütte ins Feuer. Funken stieben auf, um sich in Kleidung und Haut der Männer zu fressen. Heiß brannte das Feuer und kalt das Eis, das vom tosenden Wind in winzigen Körnern hereingepeitscht wurde. Wenn die Eiskörner die ungeschützte Haut trafen, waren sie fast noch schmerzhafter als die Glut. Die Männer sprangen auf oder warfen sich nach hinten und zur Seite, bedeckten ihre Gesichter mit den Armen oder ihren Umhängen. Thorag, Thidrik und Ayko schafften es unter einiger Anstrengung, die Matte wieder fest zu verhaken.
Argast stand auf und musste sich bücken, weil die Hütte so niedrig war. „Das war ein deutliches Zeichen. Unser Schutzgott Donar, der Beherrscher des Wetters, hat zu uns gesprochen. Jetzt weiß jeder, was Donar davon hält, wenn wir unseren Fürsten, den Abkömmling des Gottes, verlassen. Feuer und Eis werden den verbrennen, der Thorag allein vor der Eisenburg lässt. Ich kann nur für mich sprechen und deshalb sagen, dass wenigstens zwei Krieger hierbleiben, um den Verrat der Stiersippe zu bestrafen und die Ehre der Cherusker wiederherzustellen!“
„Du irrst, Argast“, sagte Thidrik. „Es sind drei.“
„Nein, vier“, meldete sich Ayko.
Einer nach dem anderen bekräftigten die Donarsöhne ihren Entschluss, nicht von der Seite ihres Fürsten zu weichen.
Argast nickte zufrieden. „Das sind die Donarsöhne, wie ich sie kenne. Du kannst es dir sparen, Fürst, von Hütte zu Hütte zu gehen. Überall wird die Entscheidung gleich ausfallen.“
Thorag fühlte sich erleichtert, die unverbrüchliche Treue seiner Krieger tat ihm gut. Er dankte Argast und den anderen.
Dann verließ er die Hütte, wie er es jeden Morgen tat, um zur Burg hinaufzuschauen. Er stellte sich vor, dass Auja und Ragnar auf den Wällen standen und zu ihm herabblickten. Natürlich standen sie dort nicht, aber allein der Gedanke half Thorag beim Kampf gegen den Schmerz in seiner Seele. Mit jeder Nacht, die verstrich, vermisste er seine Frau und seinen Sohn mehr, und mit jedem anbrechenden Tag wuchs die Sorge um die Seinen.
An diesem Morgen konnte Thorag die Burg nicht sehen. Hulda schickte mehr Eisfedern zur Menschenwelt herab als jemals zuvor. Der wild tobende Sturm riss die bereits zu Boden gefallenen Federn wieder hoch und wirbelte sie im unbändigen Tanz durch die Luft, so dicht, dass der Donarsohn selbst die Umrisse des nahen Berges nur schemenhaft wahrnahm, wie einen Schatten, der nicht am hellen Tag von Sunnas Strahlen, sondern nächtens vom bleichen Licht des Mondes erzeugt wurde. Auch die entfernteren Hütten des Wehrdorfes und die wintertoten Bäume mit den dicken, armlangen Eiszapfen, waren nur undeutlich zu sehen.
Thorag fror. Der Wind drang durch seinen Mantel aus Bärenfell und durch die Hosen aus dicker Wolle. Eine Kappe, ebenfalls aus dem Fell des Bären, saß auf seinem hellen Haar, und er hatte ein Tuch so vor das Gesicht gebunden, dass nur ein schmaler Schlitz für die Augen frei blieb. Ohne das Tuch hätte der Eissturm ihm den Atem verschlagen.
„O Donar“, flüsterte er. „Ahnherr meines Geschlechtes, Schutzgott meiner Sippe, du gabst meinen Kriegern Mut und Vertrauen, und dafür danke ich dir. Gib mir nun ein Zeichen, wie lange ich noch von Auja und Ragnar getrennt sein muss!“
Doch Donar schwieg, war genug damit beschäftigt, den Stiergau mit Sturmwinden zu überziehen. Als Thorag fühlte, dass seine Glieder steif wurden, wandte er sich enttäuscht ab und wollte in die Hütte zurückkehren.
Da sah er etwas, noch undeutlicher als den Eisenberg, einen vorbeihuschenden Schatten mit dem Aussehen eines Mannes. Es musste ein Geist sein, eine ruhelose Seele. Sie verschmolz fast mit dem weißen Land und bewegte sich seltsam gleitend und vollkommen lautlos. Der Schauer, der Thorag bei diesem Anblick überlief, rührte nicht von der Eiseskälte.
Die dünnen Zweige, viel zu wenige, verbrannten mit leisem Knacken. Das Herdfeuer, die einzige Lichtquelle in der kleinen Erdhütte, war so dürftig, dass der Haferbrei in dem Topf nicht richtig warm wurde, obwohl die Menge nicht groß war. Nicht groß genug, um die Mägen zweier Frauen und eines Kindes zu füllen.
Dreier Kinder, berichtigte sich die große, blonde Frau, die vor dem steinernen Herd kniete und sich durch das Verschieben der Kieferzweige bemühte, das Feuer irgendwie zu schüren. Der einzige Erfolg war aufsteigender Rauch, der in Thusneldas Augen biss und sie husten ließ.
Die ungeborenen Kinder wuchsen heran, wie die an Umfang zunehmenden Bäuche der beiden Frauen verrieten. Thusnelda war froh, dass wenigstens sie kaum Übelkeit und Schmerzen spürte. Auja dagegen litt mindestens für zwei.
Als Thusnelda das Klappern der Steingewichte hörte, wandte sie den Kopf um und sah Auja am Webstuhl. Thorags Gemahlin wollte der Schicksalsgefährtin zulächeln, aber der kaum zu unterdrückende Schmerz machte es zu einem ziemlich kläglichen Mienenspiel.
Ragnar hockte auf der Erdbank, die sich über drei Seiten der Hütte erstreckte und spielte mit den Holzstücken, aus denen er mit einem scharfen Steinsplitter die Umrisse von Kriegern geschnitzt hatte.
„Ich habe Hunger!“, jammerte der Junge, als er Thusneldas Blick bemerkte.
„Der Haferbrei ist gleich fertig“, beschied Thusnelda.
„Schon wieder Haferbrei?“ Der Unwille über das Essen verzog Ragnars Gesicht, sodass die Sommersprossen tanzten. „Warum gibt’s nicht mal was anderes?“
„Weil wir nichts anderes haben“, wiederholte Thusnelda den schon oft gesagten Satz.
Auja warf ihrem Sohn einen strengen Blick zu. „Du weißt doch, wie es um uns steht, Ragnar. Du bist doch schon fast ein Krieger. Also benimm dich auch danach und sei vernünftig!“
„Ein guter Rat“, meinte Thusnelda und füllte eine Holzschale fast bis zum Rand mit dem Brei; sie bemühte sich, alles aus dem Eisentopf herauszukratzen. „Du solltest ihn auch beherzigen und dich wieder hinlegen, Auja. Du siehst schlecht aus.“
Auja bückte sich mit verbissenem Gesicht, hob das eiserne Webschwert auf und erwiderte trotzig: „Beim Arbeiten vergesse ich den Schmerz ein wenig – und auch den Kummer. Außerdem friere ich nicht so sehr, wenn ich mich bewege.“
Thusnelda steckte zwei eiserne Löffel in den Brei und stellte die Schale auf die mit Fellen bedeckte Erdbank. „Esst erst einmal. Der Brei wird euch wärmen, wenn er euch schon nicht sättigt.“
Auja blickte auf die Schale hinab und runzelte die Stirn. „Warum nur zwei Löffel?“
„Ich habe schon aus dem Topf gegessen“, erklärte Thusnelda.
„Wir haben keine Freunde hier, nur uns“, sagte Auja ernst. „Da sollten wir uns nicht anlügen.“
„Und wenn ich dir sagte, dass ich keinen Hunger habe?“
„Das würde ich auch für eine Lüge halten. Bei der kargen Nahrung, die dein Vater uns gewährt, musst du einfach Hunger haben. Manchmal denke ich, Segestes will uns in dieser zugigen Hütte eingehen lassen, am Hunger oder an der Kälte. Er hätte uns besser gleich …“
Aujas Gesicht wurde schlagartig bleich. Mit einem Röcheln sank sie auf die Knie. Das Webschwert durchtrennte ein paar Kettfäden, bevor es aus ihrer Hand glitt. Auja klammerte sich an einen der beiden dicken Holzständer, in deren gegabelten oberen Enden der Tuchbaum lag.
Thusnelda sprang an ihre Seite und half ihr, sich auf die Erdbank zu legen. „Was ist mit dir?“
Auja konnte nicht antworten. Ein heftiges Zittern hatte ihren Körper überfallen, und ihre Zähne schlugen unentwegt aufeinander.
Ragnar starrte die Mutter erschrocken an, dann Thusnelda, und sein Blick wurde flehend. „Hilf Mutter doch!“
„Das werde ich!“
Thusnelda legte alle verfügbaren Felle und Decken über die zitternde Frau, ging dann die vier Stufen aus festgestampftem Lehm hoch und rüttelte an der verschlossenen Holzbohlentür. Sie wusste, dass zwei junge Stierkrieger dort draußen Wache hielten. Jedes Mal, wenn die Tür geöffnet wurde, um den Gefangenen Nahrung und Feuerholz zu bringen, um den Fortgang ihrer Webarbeit zu überprüfen und um die Eimer mit ihren Ausscheidungen zu entleeren, sah sie zwei Jungmänner vor dem Eingang stehen und neugierig zu den gefangenen Frauen hereinlinsen, von denen eine die Tochter ihres Fürsten war.
„Macht auf!“, schrie Thusnelda wütend, als sich nichts tat. „Öffnet endlich! Ich, Thusnelda, befehle es euch!“
Sie rief noch mehrmals und belegte die Wachtposten mit üblen Verwünschungen, bis endlich eine junge, kratzige Stimme antwortete: „Schrei nicht weiter, es hat keinen Sinn! Du weißt, dass wir dir nicht öffnen und auch nicht mit dir sprechen dürfen.“
Thusnelda rief weiter und riss an der Tür, bis ihre Finger blutig und mit Holzsplittern gespickt waren. Aber die Tür hielt, und die Wächter schwiegen. Sie fühlte sich plötzlich kraftlos und sank auf der Türschwelle zu Boden. Aus ihrem Schreien wurde ein Schluchzen, ganz leise: „Vater, warum tust du mir das an?“
Ihr Blick kreuzte den Ragnars. Eben noch hatte Hoffnung in dem Kindergesicht gelegen. Jetzt wurden die klaren Augen trüb und feucht, aber der Fürstensohn unterdrückte die Tränen.
„Du hast recht“, sagte Thusnelda leise und zog sich an der Tür hoch. „Armins Frau weint nicht, genauso wenig wie Thorags Sohn.“
Sie blickte sich suchend um, ging dann zum Webstuhl und hob das Webschwert auf. Wie vieles auf der Burg war es aus dem Eisen, das es hier so reichlich gab. Vielleicht hatte der für seine Kunst berühmte Frowin es selbst geschmiedet. Es lag schwer in der Hand, aber doch nicht zu schwer für eine Frau. Außerdem war Thusnelda, wie alle Mitglieder ihrer Familie, groß und stark; ihre hohe Gestalt überragte so manchen Krieger.
Mit dem Schwert in der Rechten kehrten sie zum Eingang zurück, fasste den hölzernen Griff mit beiden Händen und hieb auf die Tür ein, immer und immer wieder. Die Bohlen erzitterten. Das Eisenblatt des Webschwertes verbog sich zwar allmählich, aber mit jedem Schlag fielen dicke Holzspäne von der Tür.
„He, was soll das?“, fragte erschrocken der stimmbrüchige Jungkrieger, der eben schon mit Thusnelda gesprochen hatte. „Hör auf damit!“
Die junge Frau antwortete nicht und hörte nicht auf, die Tür mit dem Webschwert zu bearbeiten, dessen Blatt jetzt nicht mehr gerade, sondern wellenförmig verlief. Thusnelda hielt erst inne, als sie von draußen das Schaben des schweren Eisenriegels hörte.
Die Tür wurde aufgezogen. Starker Wind trieb kleine, beißende Eisfedern herein. Unwillkürlich schloss Thusnelda die Augen. Als sie sie wieder öffnete, sah sie die schmächtige Gestalt eines jungen, dick vermummten Mannes, der sie mit seiner Frame bedrohte.
„Leg das Schwert weg!“, krähte er. „Geh wieder nach unten und sei endlich still!“
Sein Gesicht war so mit wollenen Tüchern verhüllt, dass nur die Oberlippe, die Nase und die Augen frei blieben. Die Lider flatterten über unruhigen Augen, in denen Thusnelda Unsicherheit las. Unsicherheit war eine Schwäche, und eine Schwäche musste sie ausnutzen.
„Ich will mit meinem Vater sprechen!“, sagte sie mit fester Stimme und versenkte ihren Blick in den Augen des Jünglings.
Der junge Stiermann hielt dem Blick nicht lange stand und erwiderte stockend: „Ich … ich kann dich nicht zu ihm lassen. Du weißt doch, Thusnelda, dass du die Hütte nicht verlassen darfst!“
„Dann hole Segestes her!“
„Das darf ich auch nicht.“
„Wenn du nicht tust, was ich will, tu ich auch nicht, was du verlangst!“
Als Thusnelda das verbogene Webschwert hob, stieß die Framenklinge in ihre Richtung.
Die Frau wich keinen Schritt zurück, sondern fragte: „Hat mein Vater dich ermächtigt, mich zu töten?“
„Wenn du fliehen willst, ja!“
„Aber ich will doch gar nicht fliehen.“ Bewusst legte Thusnelda leichten Spott in ihre Stimme und in ihren Blick. „Oder hast du gesehen, dass ich auch nur einen Fuß über die Schwelle gesetzt habe?“
„N-Nein … aber du hast auf die Tür eingeschlagen!“
„Ich habe nicht versucht, die Hütte zu verlassen. Ich will nur mit meinem Vater sprechen.“
Thusnelda sah dem Jüngling an, wie schwer es ihm fiel, eine Entscheidung zu treffen. Schließlich senkte er die Frame und sagte zu dem anderen Wächter, der sich zum Schutz gegen den Eissturm so dicht an die Hütte gestellt hatte, dass die Frau nur den Arm mit der Frame sah: „Hol Segestes!“
„Aber …“ versuchte der andere, dessen Stimme noch heller war, zu widersprechen.
„Geh ihn holen, Ibbo! Eher haben wir keine Ruhe.“
Mit einem unzufriedenen Grunzen löste sich Ibbo von der Hütte und tauchte, ehe Thusnelda ihn noch richtig sehen konnte, in das Schneegestöber ein.
„Du solltest froh sein, dass du in der Hütte bist und nicht hier draußen stehen musst!“, sagte der Stimmbrüchige. „Ich wäre lieber da drin.“
„Dann lass uns tauschen“, sagte Thusnelda mit einem verschwörerischen Augenaufschlag, während sie das Frösteln unterdrückte, dass sie angesichts des eisigen Windes befallen wollte.
„Das geht doch nicht“, antwortete der Jungkrieger in einem Tonfall, als habe Thusnelda es ernst gemeint.
„Wenn euch beiden da draußen zu kalt ist, dürft ihr jederzeit hereinkommen“, fuhr Thusnelda im unbefangenen Plauderton fort. „Wir freuen uns immer über ein wenig Abwechslung. Wie heißt du eigentlich?“
„Eilmar.“
„Hast du dir schon eine Frau erkoren, Eilmar?“
Für einen Augenblick nahm das glatte Jünglingsgesicht einen verträumten Ausdruck an. Dann trat Argwohn in seinen Blick. „Warum fragst du mich das?“
„Ich möchte mich nur ein wenig mit dir unterhalten. Es ist so einsam in der Hütte.“
Und ich will ein wenig mehr über meine Bewacher erfahren, dachte Thusnelda. Es kann Auja und mir nur nützen.
Eilmar schüttelte den dick eingewickelten Kopf. „Ich darf mich nicht mit dir unterhalten, Thusnelda. Segestes hat es verboten.“
„Aber du tust es doch schon die ganze Zeit.“
Der Jungkrieger wirkte erschrocken. „Wirst du es Segestes verraten?“
„Nicht, wenn du mir einen Gefallen tust.“
„Welchen?“
„Sag mir den Namen des Mädchens, dem dein Herz gehört!“
„Es … es ist Wilka, die Tochter des Bauern Wilko. Warum willst du das wissen?“
„Wenn du das nächste Mal nicht auf unser Bitten hörst, Eilmar, denke an deine Wilka und daran, wie sie sich hier drinnen fühlen würde!“
Eilmars Züge offenbarten Betroffenheit, die sich in Erschrecken verwandelte, als ein großer Schatten über den Jüngling fiel. Der Schatten gehörte dem hünenhaften Stierfürsten, den Ibbo herbeigeführt hatte. Das Schneegestöber hatte die beiden verborgen, und das Brausen des Windes hatte ihre Schritte verschluckt.
Ein Bärenfell lag um die Schultern des Fürsten, doch trotz des Eissturms trug er keine Kopfbedeckung. Sein langes Blondhaar wehte wie ein römisches Feldzeichen im Wind, und glitzernde Kristalle klebten in den dünnen Strähnen. Sein Gesicht wirkte selbst wie Eis, als er in den Eingang der Webhütte trat. Und auch seine Stimme, als er fragte: „Du wolltest mich sprechen, warum?“
„Ich möchte dich fragen, was du mit uns vorhast, Vater. Seit vielen Monden hältst du uns hier gefangen.“ Thusnelda zeigte auf die Frau, die sich stöhnend auf der Erdbank hin und her wälzte. „Auja geht es sehr schlecht. Wir haben kaum genug Holz für das Feuer und sicher zu wenig Nahrung.“ Ihr Blick fiel auf den Webstuhl. „Und für das Wenige müssen wir auch noch schuften, als wären wir Schalke und nicht Tochter und Frauen von Fürsten.“
„Das seid ihr auch nicht.“ Die Stimme des Stierfürsten klang kalt, nur das Feuer in den dunklen Augen verriet seine Erregung. „Armin und Thorag sind Frauenräuber und Verräter, ich betrachte sie nicht mehr als Fürsten der Cherusker. Und dich betrachte ich nicht länger als meine Tochter!“
„Wie kannst du so etwas sagen?“
„Du hast geduldet, dass Armin mich gefangen hielt. Du hast an seiner Seite gelebt, ohne mit ihm verheiratet zu sein. Du hast gewusst, dass das gegen meinen Willen geschieht und dass du dadurch die Stiersippe entehrst. Brauchst du noch mehr Antworten?“ Seine erst ruhige Stimme war immer lauter geworden, zuletzt klang sie wie Donnerhall.
„Nicht, was das betrifft. Aber sag mir wenigstens, welches Schicksal du uns zugedacht hast.“
Die aufgewühlten Züge des Fürsten gefroren wieder. „Nicht ich werde über euer Schicksal entscheiden, sondern die Römer. Gibt es sonst noch was?“
„Ja, die Nahrung und das Feuerholz.“
„Armin und Thorag belagern die Eisenburg. Wir wissen nicht, wann die Frostriesen das Cheruskerland verlassen, und müssen mit den Vorräten haushalten. Überall knurren die Mägen und brennen die Feuer niedrig. Das Vieh frisst schon getrocknetes Laub. Ihr werdet genug erhalten, um zu überleben, solange genug für alle da ist. Und wie alle anderen werdet ihr dafür arbeiten.“
Thusnelda verbarg ihre Enttäuschung und hob das zerbogene Eisen. „Dann sorg dafür, dass wir ein neues Webschwert erhalten. Dies hier war von schlechter Güte.“
Segestes wandte sich an Eilmar und Ibbo: „Besorgt ein neues Schwert!“ Der Fürst blickte auf die beschädigte Tür. „Und haltet Frieden in der Hütte!“
Eilmar seufzte: „Aber wie sollen wir das machen?“
„Ihr wollt doch Krieger sein und gegen unsere Feinde kämpfen“, polterte Segestes. „Da werdet ihr doch wohl mit zwei Frauen und einem Kind fertig werden. Ich habe jetzt wirklich Wichtigeres zu tun!“
Er wandte sich ab und stapfte davon. Die kleine Erdhütte verschwand bald hinter einem wirbelnden Vorhang aus Eis und Schnee. Der Stierfürst stemmte sich gegen den Wind und ging zu den westlichen Wällen, wo die anderen schon auf ihn warteten. Alle waren dick vermummt.