Engelsfürst - Jörg Kastner - E-Book
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Engelsfürst E-Book

Jörg Kastner

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Beschreibung

Im Vatikan werden im großen Stil Gelder veruntreut. Diesem Skandal kommt ein hoher Kleriker auf die Spur – und wird ermordet, als er sich der Vatikanjournalistin Elena Vida anvertrauen will. Schlimm für Elena, aber noch schlimmer: Sie wird verdächtigt, seine Mörderin zu sein. Weitere hohe Geistliche sterben auf grausame Weise – sie verbrennen von innen heraus. Ist das Menschen- oder Teufelswerk? Alexander Rosin, der ehemalige Schweizergardist, findet heraus, dass es um viel mehr geht als um Geld. Der uralte Kampf zwischen Gut und Böse scheint ein neues Zeitalter erreicht zu haben: Werden die gefallenen Engel die Herrschaft über die Menschheit antreten? Im Tempel der Ahnen kommt es zur letzten Auseinandersetzung … Band 3 der Engel-Trilogie um Elena Vida und Alexander Rosin. »Hochspannung und Kribbeln im Bauch auf jeder Seite!« (WDR) Am Anfang stehen ein neuer Papst, dessen scheinbar übernatürliche Kräfte die Welt schockieren, und der Mord am Kommandanten der Schweizergarde. Der Gardist Alexander Rosin und die Vatikanjournalistin Elena Vida ermitteln in den belebten Straßen Roms und in abgelegenen Klöstern. Dabei geraten sie in einen Strudel ebenso gefährlicher wie mysteriöser Ereignisse. Uralte Geheimnisse und vatikanische Intrigen, Engel des Lichts und der Finsternis, sie alle nehmen Einfluss auf das Schicksal der Menschheit. Zur Engels-Trilogie gehören folgende Romane: • Engelspapst • Engelsfluch • Engelsfürst

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Jörg Kastner

Engelsfürst

Roman

Für meine Mutter Josefa Kastner (1933–2013)

Und ich sah einen Engel vom Himmel fahren, der hatte den Schlüssel zum Abgrund und eine große Kette in seiner Hand. Und er griff den Drachen, die alte Schlange, das ist der Teufel und Satan, und band ihn tausend Jahre und warf ihn in den Abgrund und verschloss ihn und tat ein Siegel oben darauf, dass er nicht mehr verführen sollte die Völker, bis dass vollendet würden die tausend Jahre. Danach muss er los werden eine kleine Zeit. Die Offenbarung des Johannes, 20.1-3

I. Tag Mittwoch, 12. Oktober

1 Rom

Der mit plötzlicher Wucht einsetzende Regen ließ Elena Vida zusammenzucken, und unwillkürlich umklammerte sie das Lenkrad fester. Ein heftiger Windstoß rüttelte an dem Fiat 500. Nur mit Mühe konnte sie den Wagen, einen wahren Oldtimer, für den mancher Autonarr ein kleines Vermögen hingelegt hätte, auf dem glitschigen Pflaster der Via Appia halten. Das schwarze Gummi der Scheibenwischer kämpfte tapfer gegen den Regen an, und die gelblichen Lichtfinger der Scheinwerfer zerfaserten vor ihr in der Abenddämmerung. Die Häuser und Bäume zu beiden Seiten der alten Ausfallstraße verschwammen zu schemenhaften Gestalten wie aus einer anderen Welt.

Hinter ihr, keinen Kilometer entfernt, lag Rom, aber im Rückspiegel war von der Ewigen Stadt nichts mehr zu sehen. Die Welt löste sich auf, und Elena fühlte sich wie eine Schiffbrüchige in einem Meer aus Regen, Sturm und Finsternis.

»Reiß dich zusammen!«, ermahnte sie sich. »Das ist nichts weiter als ein Herbststurm, und du könntest diese Straße auch mit geschlossenen Augen fahren.«

Sie schüttelte unwillig den Kopf. Wenn sie anfing, Selbstgespräche zu führen, war das kein gutes Zeichen. So etwas taten Leute, die nicht ganz richtig im Kopf waren – oder sich einsam fühlten. Obwohl sie genau das vermeiden wollte, tauchte das Bild eines Mannes vor ihrem inneren Auge auf: feste Züge, ein markantes Kinn und ausdrucksvolle Augen, umrahmt von rotbraunem, leicht gelocktem Haar. Ein Gesicht, in das eine Frau sich leicht verlieben konnte; ein Mann, den man nur schwer vergaß. Aber wollte sie das überhaupt, ihn vergessen?

Sie zuckte erneut zusammen und fluchte lautlos, als der Sturm einen abgerissenen Ast gegen die Windschutzscheibe schleuderte. Um ein Haar hätte sie das Steuer verrissen und wäre dann wohl gegen eine der alten Pinien geprallt. Sie atmete tief durch und versuchte, sich ganz auf die Straße zu konzentrieren – und auf das, was an diesem Abend vor ihr lag.

Eine Frage stellte sie sich wieder und wieder: Was in Gottes Namen hatte Monsignore Picardi bewogen, diesen abgelegenen Treffpunkt vorzuschlagen? War es nur der Wunsch nach Geheimhaltung? Das angesichts seiner Position verständliche Verlangen, als Informant der bekannten Vatikanjournalistin Elena Vida unerkannt zu bleiben? Oder steckte noch mehr dahinter, Angst, Todesangst vielleicht?

Er hatte nervös geklungen am Telefon; sie hatte eher das Flüstern eines in die Enge getriebenen Verfolgten gehört als den selbstbewussten Ton, den sie vom Stellvertretenden Direktor der Vatikanbank gewohnt war. Noch zwei Tage zuvor hatte sie im Vatikan einem Rosario Picardi gegenübergesessen, an dem all ihre Fragen zu möglichen Unregelmäßigkeiten in den Bilanzen der Vatikanbank einfach abgeprallt waren. Er hatte die Informationen, die ihr vorlagen, als haltlose Gerüchte abgetan und ihr zum Abschied auf fast gönnerhafte Weise geraten, ihre »zweifellos vorhandenen journalistischen Fähigkeiten«, wie er es mit einem kühlen Lächeln formulierte, an »lohnenswerteren Themen zu erproben«. Und Elena war kurz davor gewesen, dem selbstzufriedenen Monsignore eine Ohrfeige zu verpassen.

Umso überraschter war sie gewesen, als er sie am späten Abend noch anrief, und zwar nicht aus dem Vatikan. Jedenfalls hatte das Display ihres Telefons weder die Nummer der Vatikanbank noch eine andere angezeigt. Natürlich konnte Picardi die Rufnummerunterdrückung eingeschaltet haben, aber das erschien ihr widersinnig, hatte er sich doch mit seinem Namen gemeldet. Hastig hatte er um eine Unterredung noch am selben Abend gebeten – obwohl es schon auf Mitternacht zuging –, weil er wichtige Informationen für sie hätte. Er hatte ihr den seltsamen Treffpunkt genannt und beinahe flehend hinzugefügt: »Sagen Sie zu niemandem ein Wort darüber, Signorina Vida, und vergewissern Sie sich, dass Ihnen niemand folgt!« Bevor sie noch etwas erwidern und nach dem Grund für seine Erregung fragen konnte, hatte er das Gespräch unterbrochen.

Elena hatte in ihrem Job als Vatikanistin schon einiges erlebt, darunter etliche verängstigte Informanten, und doch fand sie es merkwürdig, dass ein so hohes Tier wie Picardi sich aufführte wie ein Kleinkrimineller auf der Flucht vor der Polizei. Sie nahm sein Verhalten als untrüglichen Hinweis darauf, dass der Stellvertretende Direktor des IOR, des Instituto per le Opere di Religione (Institut für die religiösen Werke), wie die Vatikanbank offiziell hieß, einer brisanten Sache auf die Spur gekommen war.

Die Scheinwerfer eines entgegenkommenden Lastwagens blendeten Elena, und fast hätte sie die schmale Einfahrt zur Linken übersehen. Hastig trat sie aufs Bremspedal und riss das Lenkrad herum. Sie spürte, wie ihr kleines Auto bei dieser Gewaltaktion für einen Augenblick die Bodenhaftung verlor. Doch schließlich rumpelte der Fiat über eine schmale, mit Schlaglöchern übersäte Straße. Zunächst versperrten hohe Hecken die Sicht auf die Häuser, dann machten die Gebäude unbebautem Gelände Platz.

So wird es hier nicht mehr lange aussehen, schoss es Elena durch den Kopf. So nahe an Rom war jeder Bauplatz wertvoll, und im 21. Jahrhundert spielten alte Legenden keine große Rolle mehr. Diese Gegend galt seit Jahrhunderten als verflucht, und deshalb hatte bisher niemand gewagt, sich hier anzusiedeln.

Im Jahr 1527, als die kaiserlichen Landsknechte Rom plünderten, hatten sich viele Frauen, Alte und Kinder in das Urbanistinnenkloster Sant’Anna geflüchtet, das hier draußen lag. Aber die Klostermauern boten keinen wirksamen Schutz gegen die wilde Horde, die seit Wochen ohne Sold und ausreichende Verpflegung war und sich endlich an den Schätzen Roms schadlos halten wollte. Enttäuscht mussten die Plünderer feststellen, dass bei den Urbanistinnen, die einem strengen Armutsgebot folgten, nichts zu holen war – und ließen ihre Wut an den Menschen aus, folterten, missbrauchten und mordeten, gleich, ob es sich um Frauen oder Kinder, um Flüchtlinge oder Nonnen handelte. Wenn man der Legende glauben konnte, hatte niemand im Kloster die Gewaltorgie überlebt. Nach dem Sacco di Roma, der Plünderung Roms, hatte es verschiedene Versuche gegeben, das Kloster und die Umgegend neu zu besiedeln. Unfälle und Seuchen, die sich in dieser Gegend häuften, hatten aber bald dazu geführt, dass von einem Fluch gemunkelt wurde, von den Geistern der Ermordeten, die jeden heimsuchten, der sich dem Kloster auch nur näherte. So lag das Umland von Sant’Anna brach, und das Kloster selbst war nur noch eine Ruine, die zusehends verfiel.

Als das Scheinwerferlicht über die maroden Klostermauern glitt, kroch Elena ein Schauer über den Rücken. Sie war erst einmal hier gewesen, vor eineinhalb Jahren, als sie an einem Artikel über verfallene Klöster und Kirchen rund um Rom arbeitete. Das war im Sommer gewesen, da hatte die hoch am Himmel stehende Sonne dem Ort alles Unheilvolle genommen. In dieser Sturmnacht jedoch verwünschte sie Picardi und seine Idee, sie ausgerechnet bei Sant’Anna zu treffen. Sie ließ den Fiat langsam über den unebenen, vom Regen aufgeweichten Boden auf das Kloster zurollen und versuchte auszumachen, ob Picardi schon da war. Als sie niemanden entdecken konnte, stellte sie den Motor ab und schaltete die Scheinwerfer aus. Zum Glück hatte sie einen Schirm mitgenommen, den sie aufspannte, sobald sie die Fahrertür aufgestoßen hatte.

Schirm oder nicht, der Sturm fegte ihr eine kleine Gischt ins Gesicht. Elena griff nach der großen Stablampe, die auf dem Beifahrersitz lag, stieg vollends aus, schloss die Tür und sah sich um. Mitternacht war längst vorbei, aber von Picardi keine Spur. Sie rief mehrmals laut nach ihm, ohne jedoch eine Antwort zu erhalten.

Um nicht restlos durchnässt zu werden, schritt sie auf die Ruinen zu. Vielleicht wartete Picardi in ihrem Schutz und hatte Elenas Rufe wegen des lauten Regens nicht gehört. Sie hatte das verwitterte Tor noch nicht ganz erreicht, als hinter ihr ein Motor aufheulte. Fast gleichzeitig flammten Scheinwerfer durch die Nacht.

Ein Wagen, der im Schatten eines Pinienhains gestanden hatte und dessen Umrisse sie nur undeutlich ausmachen konnte, setzte sich in Bewegung. Offenbar hatte Picardi dort gewartet und sich zunächst vergewissert, ob sie auch wirklich allein gekommen war. Ein typischer Fall von Verfolgungswahn, dachte Elena – oder Picardi hatte schwerwiegende Gründe für seine Angst.

Der Wagen kam langsam näher und blieb neben Elenas Fiat stehen. Der Motor wurde abgestellt, die Scheinwerfer blendeten weiter. Als Fahrer- und Beifahrertür geöffnet wurden, fragte Elena sich, ob sie einen Fehler begangen hatte. Wenn Picardi so sehr auf Geheimhaltung bedacht war, weshalb brachte er dann jemanden mit?

Oder war das gar nicht Picardis Wagen?

Schlagartig machte sich Angst in Elena breit. Doch es war nicht das erste Mal, dass sie sich in einer brenzligen Situation befand, und es gelang ihr, die aufsteigende Panik unter Kontrolle zu halten.

»Wer sind Sie?«, rief sie den Unbekannten entgegen und hoffte, dass das leichte Zittern ihrer Stimme nicht auffiel. »Nennen Sie bitte Ihre Namen!«

Keine Antwort. Stattdessen traten zwei nur schemenhaft erkennbare Gestalten auf sie zu, ohne jede Eile, wie Raubtiere, die sich ihrer Beute sicher sind.

Elena ließ den Schirm fallen, schaltete die Lampe aus, wandte sich in Richtung Kloster und lief los. Dass ihre Füße schnell durchnässt und ihre Jeans bis zu den Knien mit Schlamm bespritzt waren, machte ihr am wenigsten Sorgen. Denn auch die beiden Unbekannten begannen zu laufen. Ihre Schritte verursachten hässliche Schmatzer auf dem schlammigen Boden.

Elena erreichte das Kloster zuerst und zwängte sich durch die Überreste des Portals. Ohne sich groß aufzuhalten, rannte sie quer über den Innenhof und tauchte in den Schatten eines größeren Gebäudes ein. Die dumpfe Luft jahrhundertelanger Verlassenheit umfing Elena, und ihre Schritte hallten in dem langen Gang wider. Sie kannte sich hier nicht aus, also lief sie einfach drauflos in der Hoffnung, ihre Verfolger in der Dunkelheit abschütteln zu können.

Eine Abzweigung und noch eine, schließlich gelangte sie in einen großen Raum voller Schutt. Sie stolperte, fiel hin und prallte mit dem rechten Knie gegen einen scharfkantigen Stein. Sie schluckte den Schmerzensschrei hinunter und widerstand der Versuchung, die Stablampe einzuschalten, um sich zu orientieren.

Der blasse, durch die Wolken getrübte Schimmer des Mondlichts, der durch die scheibenlose Fensteröffnung hereinfiel, reichte nicht aus, um die Umrisse des Raums auszuleuchten. Elena hockte auf dem Boden, starrte in die Finsternis und lauschte ihrem rasselnden Atem, der ihr verräterisch laut erschien. Draußen auf dem Gang war alles ruhig, und mit einer Spur von Erleichterung fragte sie sich, ob sie die beiden Unbekannten tatsächlich abgehängt hatte.

Kaum hatte sie das gedacht, hörte sie vorsichtige, leise Schritte. Ihre Rechte umkrampfte den metallenen Stab der schweren Lampe – ihre einzige Waffe. Sie spannte sämtliche Muskeln an, bereit, jeden Augenblick aufzuspringen und aus dem Raum zu stürmen. Das Problem war nur, dass die einzige Türöffnung auf den Gang führte, durch den sie gekommen war und auf dem sich jetzt die Schritte näherten. Schon erschien eine schemenhafte Gestalt in der Türöffnung.

Elena hielt den Atem an und betete, dass der Unbekannte, dessen Gesicht im Dunkel verborgen war, sie nicht sehen konnte. Vielleicht verschmolz sie, so ihre vage Hoffnung, mit dem finsteren Raum.

Vergingen Sekunden oder Minuten? Elena konnte die Luft nicht länger anhalten. Also atmete sie so leise wie möglich und wartete darauf, dass ihr Verfolger endlich weiterging, um woanders nach ihr zu suchen. Aber nein, er trat näher, kam geradewegs auf sie zu!

»Ich habe dich entdeckt«, ertönte zufrieden eine raue Stimme und rief dann laut: »Hier ist sie, am Ende des Gangs!«

Es konnte nicht lange dauern, bis er Verstärkung erhielt. Wenn Elena etwas unternehmen wollte, musste sie es sofort tun. Sie schnellte hoch, dem Unbekannten entgegen, hieb mit der Stablampe nach seinem Kopf – und traf, begleitet von einem dumpfen Geräusch. Ein kehliges Aufstöhnen, und der Fremde taumelte zur Seite, stolperte über irgendwelchen Müll oder herausgebrochenes Mauerwerk und fiel zu Boden. Elena hastete hinaus auf den Gang – wo sie gegen jemanden prallte. Starke Hände packten sie und schleuderten sie gegen die Wand. Die Lampe entglitt ihr und fiel mit einem lauten Scheppern zu Boden.

Schnell bückte sie sich danach, aber noch bevor sie sich wieder aufrichten konnte, ging ein schwerer Schlag auf ihren Hinterkopf nieder. Ein stechender Schmerz durchfuhr sie, und mit dem Gefühl, in einen endlosen Schacht zu stürzen, versank sie in einer alles verschlingenden Dunkelheit.

2 Rom

Grauschwarze Wolken hingen über Rom, als Alexander Rosin in der Morgendämmerung seinen alten Peugeot den Quirinal hinauflenkte, den höchsten Hügel der Stadt, auf dem der Überlieferung zufolge die Sabiner gelebt hatten, bevor sie von den Römern unterworfen wurden. Ihrem Kriegsgott Quirinus, der dem römischen Gott Mars hatte weichen müssen, verdankte der Hügel seinen Namen, hieß es. Heute war der Quirinal Sitz des italienischen Staatspräsidenten – und der römischen Polizei.

Alexanders Unruhe wuchs, als das Polizeihauptquartier an der Via San Vitale vor ihm auftauch3te. Es war erst eine halbe Stunde her, dass Stelvio Donatis Anruf ihn aus dem Schlaf geschreckt hatte.

Donati hatte aufgeregt geklungen, war aber nicht recht mit der Sprache herausgerückt. Alexander hatte nur erfahren, dass es um Elena ging, die in irgendwelchen Schwierigkeiten steckte. Er hatte sich nicht einmal die Zeit genommen, sich zu rasieren.

Als er nach dem Einparken vor dem wuchtigen Polizeigebäude kurz in den Rückspiegel schaute, blickte ihm ein müdes, besorgtes Gesicht entgegen. Die uniformierte Wache am Eingang hatte ihn dank Donati auf der Besucherliste, und so erhielt er nach kurzer Passkontrolle einen Besucherausweis.

»Ich nehme an, ich finde Dirigente Donati in seinem Büro«, murmelte Alexander und wollte schon weitergehen.

»Nein, Signor Rosin«, erwiderte der Uniformierte. »Er erwartet Sie im Leichenkeller. Kennen Sie den Weg?«

Alexander nickte und spürte, wie er unter seinen Bartstoppeln blass wurde.

Im Leichenkeller!

Stelvio Donati war kein einfacher Commissario mehr und beschäftigte sich nicht länger mit der Aufklärung von Mordfällen, jedenfalls nicht persönlich. Er hatte jetzt den Rang eines Dirigente Superior inne, eines übergeordneten Direktors, und leitete die Fahndungs- und Koordinationsstelle für Kapitalverbrechen, eine neue Einrichtung der EU zur grenzüberschreitenden Verbrechensbekämpfung.

Während Alexander ungeduldig auf den Lift wartete, versuchte er sich auszumalen, was ihn in der gerichtsmedizinischen Abteilung erwartete. Eine tote Elena?

Sobald dieser Gedanke auftauchte, verdrängte er ihn. Die Vorstellung, Elena könnte nicht mehr am Leben sein, verursachte ihm fast körperliche Schmerzen. Ein Teil von ihm hätte am liebsten auf dem Absatz kehrtgemacht und wäre davongelaufen. Der andere Teil hielt es vor beinahe panischer Erregung kaum aus, und Alexander hämmerte entnervt auf den kleinen Knopf, der die Liftkabine herbeirufen sollte. Flackerndes Neonlicht empfing ihn im Keller des Polizeigebäudes. Alexander musste sich regelrecht zwingen, einen Fuß vor den anderen zu setzen, so sehr fürchtete er, was Donati ihm mitzuteilen hatte.

Der Dirigente erwartete ihn vor der schweren Stahltür, dem eigentlichen Eingang zur Gerichtsmedizin. Auch Donati wirkte alles andere als ausgeschlafen. Sein allmählich schütter werdendes Haar war nur unzureichend gekämmt, und seine dunkelblaue Krawatte saß schief. In dem braunen Trenchcoat, den er wohl wegen des anhaltend schlechten Wetters trug, erinnerte er Alexander an diesen Fernsehinspektor, Columbo.

Noch bevor sie einander die Hand reichten, fragte Alexander: »Was ist mit Elena?« Er zeigte auf die Stahltür. »Liegt sie da drin?«

Als Donati den Kopf schüttelte, fühlte er sich erleichtert, jedenfalls ein wenig.

»Aber da liegt jemand anders auf dem Leichentisch, jemand, der dich auch interessieren dürfte«, sagte der Polizeidirektor und führte Alexander in einen gekachelten Raum, der trotz der allgegenwärtigen Ausdünstung von Desinfektionsmitteln nach Tod und Verwesung zu riechen schien.

Vor dem Leichentisch stand eine kleine, ältliche Frau im grünen Kittel, die an ihrem heruntergezogenen Mundschutz herumzupfte, offenbar unschlüssig, ob sie sich der Leiche oder den beiden Männern zuwenden sollte. Dr. Gearroni blickte Alexander an wie einen Fremden; sie schien sich nicht daran zu erinnern, dass sie einander bereits kennengelernt hatten. Zweieinhalb Jahre zuvor, als Alexander bei dem Versuch, den Mord an seinem Onkel Heinrich aufzuklären, dem damaligen Kommandanten der päpstlichen Schweizergarde, selbst unter Mordverdacht geraten war.

Als Alexander sie darauf ansprach, erwiderte die Pathologin in einem Ton, der jede Spur von Humor vermissen ließ: »Ich kann mich nicht um die Toten kümmern und mir gleichzeitig die Gesichter der Lebenden merken. Wenn Sie einmal hier vor mir auf dem Tisch liegen sollten, Signore, dürfen Sie meiner ungeteilten Aufmerksamkeit gewiss sein.«

»Was können Sie uns über den Toten sagen, Dottoressa?«, schaltete Donati sich ein.

»Noch nicht viel. Ich komme ja kaum dazu, ihn mir richtig anzusehen.«

»Können Sie bestätigen, dass er gewaltsam zu Tode gekommen ist?«

»Hm, ja, vermutlich.«

»Geht es etwas genauer?«

Dr. Gearroni deutete auf eine große Wunde am Kopf der Leiche. »Heftiger Schlag auf den Schädel, mit einer Wahrscheinlichkeit von fünfundneunzig Prozent die Todesursache. Genau kann ich es aber erst sagen, wenn ich den Schädel geöffnet habe.«

»Also ist er erschlagen worden?«, hakte Donati nach.

»Die Kopfwunde allein beweist das nicht. Er könnte ebenso gut gestürzt sein.«

»Ein Unfall?«

»Könnte man meinen, wenn es nur die Kopfwunde gäbe. Aber sehen Sie hier, Druckspuren an den Oberarmen, was darauf schließen lässt, dass er gegen seinen Willen festgehalten wurde. Die Druckspuren sind noch nicht alt, müssen ungefähr zum Todeszeitpunkt entstanden sein.«

»Und der war wann?«

Die Pathologin reckte in einer Geste, die angesichts ihres sonst zur Schau gestellten Phlegmas geradezu theatralisch wirkte, die Arme in die Luft. »Dio mio, Dirigente, soll ich hellsehen?«

Donati bleckte die Zähne zu einem breiten, nicht ganz glaubwürdigen Lächeln. »Das wäre natürlich optimal, Dottoressa. Aber solange das nicht möglich ist, nehme ich mit Ihren diesseitigen Fähigkeiten vorlieb, die allseits zu Recht geschätzt werden.«

Einer so geballten Schmeichelei konnte sich selbst Dr. Gearroni nicht entziehen. Sie gestattete sich ein Zucken der Mundwinkel, das man mit einigem guten Willen als Lächeln auslegen konnte, und wandte sich wieder der Leiche zu. »Der Mann ist in der vergangenen Nacht zu Tode gekommen, eher nach Mitternacht als davor.«

»Lange nach Mitternacht?«

Mit einem gedehnten Seufzer deutete Dr. Gearroni an, dass ihre Geduld allmählich erschöpft war. »Vielleicht war es ziemlich genau Mitternacht, vielleicht eine halbe Stunde später, so genau kann ich das zu diesem Zeitpunkt unmöglich sagen.«

»Aber, aber, Dottoressa«, flötete Donati. »Sie haben bereits sehr viel gesagt.«

Währenddessen war Alexander an den Untersuchungstisch aus rostfreiem Edelstahl getreten und starrte ungläubig auf den Leichnam, der außergewöhnlich bleich wirkte. Der Mann, der bald für immer unter der Erde sein würde, schien sich auch zu Lebzeiten nur selten der Sonne ausgesetzt zu haben. Etwa fünfzig Jahre alt, dünnes graues Haar, Hohlkreuz und kaum Muskeln, ein typischer Schreibtischhengst. Alexander wusste auch, an welchem Schreibtisch er gesessen hatte. Allerdings hatte er ihn nicht sofort erkannt, so vollkommen nackt. Bislang hatte er ihn immer nur im dunklen Anzug und mit dem weißen Römerkragen eines Geistlichen gesehen.

»Das ist doch …«

»Rosario Picardi, Stellvertretender Direktor der Vatikanbank«, beendete Donati den Satz. »Vergangene Nacht tot aufgefunden in den Ruinen des Klosters Sant’Anna.«

»Sant’Anna bei der Via Appia?«, vergewisserte Alexander sich. »Im Kloster der Verdammten?«

»Genau dort. Ein interessanter Ort für einen hohen Geistlichen aus dem Vatikan, um sich ermorden zu lassen.«

»Ist denn der Fundort der Leiche mit dem Tatort identisch?«, fragte Alexander.

Dr. Gearroni ergriff das Wort: »Zumindest der Augenschein lässt darauf schließen. Nichts deutet darauf hin, dass der Tote noch transportiert worden ist.«

In Alexanders Kopf überschlugen sich die Gedanken. Er dachte an Picardi, den er vor etwa einem Jahr in seiner Funktion als Vatikanjournalist gemeinsam mit Elena interviewt hatte. Picardi war in der Tat ein Schreibtischhengst gewesen, ebenso humorlos wie Dr. Gearroni und, zumindest dem Anschein nach, mit nichts anderem beschäftigt als seiner Arbeit. Und Alexander dachte an Elena, die Frau, mit der er mehr als zwei Jahre lang glücklich gewesen war.

Er wandte sich wieder an Donati: »Du hast gesagt, Elena steckt in Schwierigkeiten. Hat das mit Picardi zu tun?«

»Allerdings«, antwortete Donati, und seine Züge verdüsterten sich.

»Was ist mit ihr? Sag’s mir endlich, Stelvio!«

»Elena wird verdächtigt«, sagte Donati leise und schien sich nicht überwinden zu können, mit der ganzen Wahrheit herauszurücken.

Alexander fixierte den Polizisten. »Wessen wird sie verdächtigt?«

Donati wich dem Blick aus und starrte auf den glänzenden Untersuchungstisch mit dem bleichen Leichnam.

»Es sieht so aus, als hätte Elena Monsignore Picardi ermordet.«

3 San Gervasio

Blasses Licht fiel durch die schmale Fensteröffnung und tauchte die winzige Zelle in eine diffuse Helligkeit. Enrico Schreiber lag auf der schmalen Pritsche und fühlte sich wie gerädert. In dem alten Gemäuer war es kalt, er aber war vom Kopf bis zu den Füßen nass. Schweißnass. Gepeinigt von einem Traum, den er als erschreckend real empfunden hatte. Er wollte sich aufsetzen, die Panik abschütteln, die der Traum in ihm entfacht hatte, aber er blieb, vollkommen erschöpft, lang ausgestreckt liegen.

Es war, als hätte die Nacht ihm nicht die geringste Erholung gebracht.

Die Traumbilder drängten sich in sein Bewusstsein zurück, schon nicht mehr ganz deutlich, aber noch immer mit dem Unterton der Bedrohung. Er sah die altertümliche Stadt vor sich, fremd und zugleich seltsam vertraut wie die Menschen, die sie bewohnten. Er hörte sie in einer ihm unbekannten Sprache reden. Im Traum hatte er die Sprache nicht nur verstanden, sondern auch benutzt wie seine Muttersprache.

Nein, nicht wie, im Traum war es seine Muttersprache gewesen.

Er schloss die müden Augen und sah sich wieder inmitten des Gedränges von Menschen, die einander anschrien und handgreiflich wurden. Hände, zu Fäusten geballt, reckten sich in die Luft, und lautstark forderten etliche Stimmen den Krieg. Andere versuchten, ihre Argumente dagegen vorzubringen, und mussten lauter und lauter werden, um nicht niedergebrüllt zu werden.

Eine junge Frau, die im Vergleich zu den übrigen ungewöhnlich helles Haar hatte, geriet zwischen die Fronten, wollte vermitteln, wurde aber von beiden Seiten angegriffen. Jemand stieß sie zur Seite, ein anderer griff nach ihrem Haar und zog daran, bis sie vor Schmerz aufschrie und in die Knie ging. Die aufgebrachte Menge drohte über sie herzufallen und sie in Stücke zu reißen.

Todesangst stieg in Enrico auf, Angst um die Frau, die er liebte. Mit Fäusten und Ellbogen bahnte er sich einen Weg, wobei er Mühe hatte, auf den Beinen zu bleiben. Nur der Umstand, dass in der zornigen Menge ein heilloses Durcheinander herrschte, gab ihm überhaupt die Möglichkeit, gegen sie zu bestehen.

Ein Hieb traf ihn am Kopf, ein anderer ließ seine Unterlippe aufplatzen, und er spürte das warme Blut an seinem Kinn hinunterrinnen. Aber er kämpfte sich voran, bis er endlich bei der hellhaarigen Frau war und sie vom Boden hochziehen konnte. Er begegnete ihrem Blick und sah Sorge darin – um ihn, nicht um sich selbst.

Eine Gruppe mit Knüppeln bewaffneter Männer trieb den wütenden Mob zurück. Ihr Anführer hatte ebenso helles Haar wie die Frau. Er sah ihr ähnlich, war ihr Bruder. Mit seinen Gefolgsleuten bildete er einen schützenden Schild um Enrico und die Frau, so dass sie den Platz, auf dem nach wie vor lauthals und handgreiflich über Krieg oder Frieden gestritten wurde, unbehelligt verlassen konnten.

Die Bilder verblassten, aber die Angst blieb. Vielleicht weil schon einmal – im richtigen Leben – die Frau, die er liebte, vor Enricos Augen in den Tod gegangen war. Damals im Innern des Monte Cervialto, als Vanessa Falk sich mit Kardinal Lavagnino in den unterirdischen See gestürzt hatte, um die Welt vor der bösen Macht der gefallenen Engel zu bewahren. Die Erinnerung lastete schwer auf Enrico, auch jetzt noch, zwei Jahre danach. Er gab sich einen Ruck und stemmte sich hoch. Dabei durchfuhr ein kurzer, scharfer Schmerz seinen Kopf, als wollten die düsteren Erinnerungen ihm bewusst machen, dass er sie nicht so einfach abschütteln konnte.

Ein zaghaftes Klopfen an der alten Holzbohlentür holte ihn in die Wirklichkeit zurück.

»Ja?« Seine Stimme klang wie ein heiseres Krächzen. »Bruder Enrico, das Frühstück wird aufgetischt. Hast du das Läuten nicht gehört?«

Das war Bruder Francesco, der Jüngste in dem kleinen Konvent, in dem Enrico Zuflucht gesucht hatte, um innere Einkehr zu halten und sich darüber klar zu werden, wie er sein künftiges Leben gestalten wollte.

»Komm rein, Francesco«, sagte Enrico. »Es wird mir guttun, das Gesicht eines lebendigen Menschen zu sehen.«

Die schlanke Gestalt des jungen Mönchs steckte in einer viel zu weit geschnittenen Kutte. Er wirkte geradezu verloren darin. In seinem schmalen Gesicht spiegelte sich Besorgnis, als er Enrico betrachtete.

»Du hast wieder geträumt.«

Das war keine Frage, sondern eine Feststellung. »Diesmal war es wohl besonders schlimm?«

»Sagen wir, es war ein sehr eindringlicher Traum. So als hätte ich das alles selbst erlebt.«

Francesco trat an die Pritsche und legte Enrico eine Hand auf die Schulter. »Vielleicht solltest du dich nicht gegen die Träume wehren. Wenn Gott sie dir schickt, haben sie etwas zu bedeuten.«

»So wird es wohl sein«, seufzte Enrico. »Ich frage mich nur, was.«

Fünf Minuten später betrat er den Speisesaal, der für die wenigen Mönche eindeutig zu groß war. Früher, bevor Francesco und seine Brüder hergekommen waren, hatten wohl um die fünfzig Mönche in dem abgelegenen Bergkloster gelebt. Jetzt war es nur noch ein Dutzend. Die meisten Plätze an der langen Tafel blieben leer, die Mönche von San Gervasio hatten sich an der Stirnseite versammelt.

Tommasio, der Abt, nickte ihm zu und deutete auf den Platz neben Francesco. Enrico setzte sich neben den Mönch, der ihm von allen am vertrautesten war, und der Abt sprach das Tischgebet. Anschließend trug Bruder Ambrosio Brot, etwas Käse und Hirsebrei auf. Zu trinken gab es Wasser und Ziegenmilch. Wenn Enrico hier etwas vermisste, dann war es ein heißer, starker Kaffee.

Das Frühstück wurde, wie alle Mahlzeiten, schweigend eingenommen. Enrico fühlte sich unbehaglich, nicht wegen seines Traums, sondern weil er sich von Tommasio beobachtet glaubte. Wiederholt warf der Abt ihm Blicke zu, die er einfach nicht zu deuten wusste.

Nach dem Frühstück begab Enrico sich in das kleine Büro, in dem Tommasio alle Unterlagen über das Kloster aufbewahrte. Als studierter Jurist, der bis vor zwei Jahren Rechtsanwalt gewesen war, hatte Enrico sich bereit erklärt, die rechtlichen und finanziellen Belange des Konvents zu ordnen. Quasi als Gegenleistung dafür, dass die Mönche ihn bei sich aufgenommen hatten. Kaum hatte er sich hinter den engen Schreibtisch gezwängt, klopfte es, und der Abt stand in der Tür.

»Darf ich eintreten?«

Enrico machte eine einladende Geste. »Das müssen Sie nicht fragen, Vater. Schließlich ist es Ihr Büro.«

Tommasio kam herein und ließ sich auf dem hölzernen Besucherstuhl nieder. Er legte die Ellbogen auf die Schreibtischplatte, stützte das markante Kinn auf seine gefalteten Hände und sah Enrico nachdenklich an. Es war derselbe Blick, der Enrico schon im Speisesaal aufgefallen war.

»Ist es wegen Francesco?«, fragte Enrico, einer Eingebung folgend. »Hat er Ihnen von meinen Träumen erzählt, Vater?«

Tommasio nickte kaum merklich. »Sie dürfen Francesco deshalb nicht böse sein, Enrico, oder das gar als Vertrauensbruch sehen. Ich weiß, dass zwischen Bruder Francesco und Ihnen so etwas wie Freundschaft besteht. Gerade deshalb hat er sich mir anvertraut. Er macht sich ernsthaft Sorgen um Sie, und er wusste sich nicht anders zu helfen. Gibt es etwas, über das Sie mit mir sprechen möchten?«

»Ich weiß nicht«, erwiderte Enrico. »Wahrscheinlich muss ich allein damit fertig werden. Gerade deshalb war ich froh, mich in die Einsamkeit von San Gervasio zurückziehen zu können.«

Seine Gedanken wanderten zurück zu den Ereignissen am Engelssee, zu Vanessas Opfertod und der Wiedervereinigung der katholischen Kirche, die sich aufgrund der reformerischen Bestrebungen von Papst Custos, den viele den Engelspapst nannten, gespalten hatte. Seit der Wiedervereinigung standen zwei Päpste an der Spitze der Kirche, Custos und Lucius, der eigentlich Tomás Salvati hieß und Enricos leiblicher Vater war – und ein Nachkomme des Erzengels Uriel.

Es waren verrückte, aufregende und schicksalsträchtige Tage gewesen, nicht nur für die katholische Christenheit, sondern auch für Enrico. Er brauchte Zeit, viel Zeit, um all das zu verarbeiten. Deshalb hatte er die Stelle in der neuen, von Stelvio Donati geleiteten EU-Polizeibehörde, die Donati selbst ihm angeboten hatte, abgelehnt.

Er hatte in seiner Zeit als Rechtsanwalt genug verdient, um sich eine Auszeit nehmen zu können. So hatte er angefangen, in Rom Vorlesungen über Theologie und alte Geschichte zu hören, und sich in einer Unmenge von Büchern vergraben. Er hatte über die Bibel gelesen, über die Geschichte des Christentums und über das geheimnisvolle Volk der Etrusker, mit dem sich jene uralten Wesen, die man gemeinhin als Engel bezeichnete, verbrüdert hatten. Die Suche nach Spuren der Etrusker hatte ihn auch hierher geführt, nach Umbrien. Er hatte Francesco, der im Vatikan ein paar Verwaltungsangelegenheiten für den Konvent geregelt hatte, schon in Rom kennengelernt, und sie waren einander sofort sympathisch gewesen. Deshalb hatte Enrico seine Einladung, im Kloster San Gervasio zu wohnen, gern angenommen.

»Viel Aufregung und viel Leid. Vielleicht zu viel für einen Menschen allein.«

»Wie?«, fragte Enrico verwirrt, denn die Worte des Abts drangen wie aus weiter Ferne zu ihm, so sehr war er in Gedanken versunken gewesen. »Was sagen Sie, Vater?«

»Sie haben viel durchgemacht, und es fällt Ihnen schwer, das alles einzuordnen, dem Ganzen einen Sinn zu geben, der Sie mit Gott versöhnen könnte.«

»Wieso glauben Sie das?«

»Ihr Blick spricht Bände, Enrico.«

Enrico hatte sich in den vier Wochen, die er mittlerweile hier war, niemandem im Kloster offenbart, auch nicht Tommasio oder Francesco, und keiner hatte so etwas auch nur ansatzweise von ihm verlangt. Alle, die hier in der Abgeschiedenheit der Berge lebten, hatten ein persönliches Schicksal, das sie zu Gott oder doch zumindest auf die Suche nach ihm gebracht hatte. Das hatte Enrico Andeutungen entnommen, die Francesco einmal gemacht hatte. Jeder versuchte, auf seine Weise seinen Frieden mit Gott zu finden. Aber vielleicht hatte der Abt recht, und nicht alle Menschen waren in der Lage, diesen Weg ohne Hilfe zu gehen. Zumal Enrico kein Mönch war, kein Kleriker, sondern ein Mann, der sich bis vor zwei Jahren nur für die weltlichen Dinge interessiert hatte.

»Wenn Sie mit mir reden möchten, können Sie das jederzeit tun«, fuhr Tommasio fort. »Ich kann Ihnen nicht versprechen, dass ich den richtigen Rat für Sie weiß, aber manchmal hilft es schon, die Last, die auf einem liegt, zu teilen.«

Enrico sah den Abt lange an. Schwer zu sagen, wie alt er war, vielleicht fünfzig, vielleicht auch sechzig. Er konnte nicht sein ganzes Leben hinter Klostermauern verbracht haben, das gebräunte, wettergegerbte Gesicht zeugte von etwas anderem. Ein Mann, der viel von der Welt gesehen und so manche Erfahrung mit den Menschen gemacht hat, bevor er sich entschloss, die Mönchskutte überzustreifen, dachte Enrico; vielleicht der richtige Mann, um ihm weiterzuhelfen.

»Was wissen Sie über Träume, Vater Tommasio? Ich meine Träume, die immer wiederkehren und einem manchmal wirklicher vorkommen als die Wirklichkeit.«

»Das ist ein großes Thema«, murmelte der Abt und lehnte sich zurück, so dass sein Stuhl gefährlich knarrte. »Haben Sie einen bestimmten Traum, der Sie plagt?«

»Ich hatte schon früher seltsame Träume, aber seit ich hier in den Bergen bin, ist es ein neuer, der mich heimsucht, wieder und wieder. Die Abstände werden kürzer, und der Traum wird eindringlicher, als würde er mich immer mehr in seine Welt hineinziehen.«

Tommasio bat ihn, den Traum zu erzählen, und Enrico berichtete in allen Einzelheiten von der antiken Stadt, von der Bedrohung durch einen Krieg, die über ihr schwebte, von der wütenden Menge und der hellhaarigen Frau, die in Gefahr geriet und um die er solche Angst ausstand.

»Dabei weiß ich nicht einmal, wer diese Frau ist«, schloss er. »Im Traum rufe ich laut ihren Namen, aber wenn ich aufwache, kann ich mich nicht erinnern. Er scheint mir auf der Zunge zu liegen, und doch will er mir nicht einfallen. Ich habe schon etliche Stunden gegrübelt, ohne Erfolg.«

Mit größter Aufmerksamkeit hatte der Abt ihm zugehört, ohne ihn auch nur einmal zu unterbrechen. Zu Enricos Verwunderung erhob er sich nun unvermittelt und bat Enrico, ihm zu folgen. Sie verließen das Hauptgebäude des Konvents und traten nach draußen, in die frische Morgenluft. Ein scharfer Wind wehte um die verwitterten Klostermauern, und bei besonders heftigen Böen erklang ein leises Heulen wie ein Klagelied. Enrico atmete tief durch, und das tat ihm gut.

Das Kloster stand auf dem höchsten Berg weit und breit;

Enrico war von der grandiosen Aussicht stets aufs Neue beeindruckt. In der Ferne zeichneten sich, teilweise noch vom Morgendunst umhüllt, einige kleine Orte ab, aber in der näheren Umgebung von San Gervasio gab es nur Wälder und zerklüftete Hügel, die sich trotzig aus dem Grün emporreckten, als strebten sie danach, die Höhe des Klosterbergs zu erreichen.

Tommasio führte ihn zu dem großen Tor, das die Abtei von der schmalen, gewundenen Bergstraße abgrenzte. Das Tor, nur angelehnt, protestierte mit einem langgezogenen Quietschen, als der Abt es aufzog. Enrico wunderte sich, denn außerhalb des Klosters gab es seines Wissens kilometerweit nichts als Felsen und Bäume. Dennoch folgte er dem Abt, der die Straße ein kurzes Stück hinunterging und dann am linken Rand stehenblieb, als wolle er sich in den Abgrund stürzen.

»Sind Sie schwindelfrei, Enrico?«

»Ich glaube schon«, lautete Enricos irritierte Antwort.

»Gut, dann folgen Sie mir, aber vorsichtig, bitte!«

Jetzt erst bemerkte Enrico die verwitterten Stufen, die irgendjemand vor langer, langer Zeit in den Fels gehauen hatte, vermutlich schon vor Jahrhunderten. Regen und Wind hatten an der schmalen Treppe genagt, ihre Kanten geglättet, und für einen unachtsamen Betrachter konnte sie leicht mit dem Berg verschmelzen.

Tommasio bewegte sich sicher auf der Treppe, während Enrico sorgsam darauf achtete, nicht durch einen falschen Schritt abzurutschen und in den Abgrund zu stürzen. Hier zerrte der Wind noch stärker an ihnen, und Enrico schätzte sich glücklich, normale Kleidung zu tragen. Die Kutte des Abts flatterte so wild im Wind, dass Enrico befürchtete, Tommasio könne der Naturgewalt nicht widerstehen. Aber der Abt gelangte unbehelligt auf ein winziges Plateau, von dem aus eine dunkle Öffnung in den Berg hineinzuführen schien.

»Eine Höhle?«, fragte Enrico, als auch er das Plateau erreichte.

»Ja«, sagte Tommasio nur und trat in das finstere Loch. Enrico folgte ihm und fragte sich, was der Abt hier wollte, wo doch keiner von ihnen eine Lampe dabeihatte.

Dass das allerdings kein Problem darstellte, erkannte er schon nach wenigen Schritten. Nach einer Biegung bemerkte er einen Lichtschein, der mit jedem Schritt heller wurde. In der Decke der Höhle klaffte eine große Öffnung, durch die das Licht des erwachenden Tages fiel. Es schien auf das Ende der Höhle, eine fast glatte Wand, auf die ein mannshohes Bild gemalt war. Ein altes Bild, sehr verblasst, aber noch immer deutlich zu erkennen. Enrico stockte der Atem. Es war eine antike Straßenszene, ein Menschenauflauf. Inmitten einer aufgebrachten Menge erwehrte sich eine auffällig hellhaarige Frau ihrer Haut.

Enrico war schockiert. Niemals zuvor war er in dieser Höhle gewesen, er hatte das Bild noch nie gesehen, und doch …

Leise sagte er: »Diese Szene stammt aus meinem Traum!«

4 Rom

Auf dem kleinen Gang der Polizeikrankenstation saß eine junge Beamtin in Uniform auf einem Stuhl und starrte Löcher in die Luft. Als sie Alexander und Donati bemerkte, zuckte sie zusammen, ihre Haltung straffte sich, und sie blickte Donati schüchtern an.

Der Dirigente blieb vor ihr stehen und deutete auf die Tür, neben der sie saß. »Liegt hier die inhaftierte Vida?«

Während die Polizistin noch eifrig nickte, spürte Alexander ein ungutes Gefühl in sich aufsteigen. Es gefiel ihm nicht, dass Donati von der Inhaftierten Vida sprach. Verzweifelt fragte er sich, was in der vergangenen Nacht vorgefallen sein mochte. Aber wenn er ehrlich war, musste er sich eingestehen, dass sein Unwohlsein auch aus der Vorstellung resultierte, Elena gleich gegenüberzustehen.

Laute, erregte Stimmen drangen auf den Gang, ein Mann und eine Frau. Alexander musste an seinen zwei Monate zurückliegenden Streit mit Elena denken.

»Wer ist noch da drin?«, fragte Donati.

»Commissario Bazzini.«

Bevor die Polizistin noch ganz ausgesprochen hatte, riss Donati schon die Tür auf.

Alexanders Blick fiel auf das Krankenbett, in dem Elena lag, einen Verband um den Kopf. Er las Verwirrung in Elenas Augen und, so glaubte er, Wut. Bazzini, der mit verschränkten Armen neben dem Bett stand, wirkte ebenfalls verwirrt und wütend.

Seine Verwirrung hatte mit Donatis Erscheinen zu tun – und seine Wut vielleicht ebenso. Auch er hatte sich Hoffnungen auf den Posten eines Dirigente Superior der neuen Dienststelle gemacht und war noch nicht darüber hinweg, dass Donati ihm vorgezogen worden war. Donati selbst hatte Alexander davon erzählt.

»Buon giorno, Signor Dirigente«, sagte Bazzini förmlich. »Was führt Sie in die Krankenstation?«

»Die Kranke«, erwiderte Donati knapp und wandte sich Elena zu. »Wie fühlst du dich?«

Alexander und Elena waren mit Donati befreundet; dass sie sich nun in Polizeihaft befand, brachte ihn in eine seltsame Lage.

Elena legte eine Hand an ihren verbundenen Kopf. »Da drin wütet noch ein Hornissenschwarm und will einfach keine Ruhe geben. Sonst ginge es mir ganz gut, wenn Commissario Bazzini mir nicht auf Teufel komm raus einen Mord anhängen wollte.«

»Ich will Ihnen nichts anhängen und muss das auch gar nicht, denn Ihre Täterschaft steht für mich außer Frage«, knurrte Bazzini. »Je eher Sie gestehen, desto milder wird Ihre Strafe ausfallen.«

»Aber warum sollte ich Monsignore Picardi ermorden?«

»Ja, warum?«, wiederholte Bazzini. »Sagen Sie es mir, Signorina Vida!«

Als sie schwieg, fragte Donati: »Was hat sich in der vergangenen Nacht zugetragen, Elena?«

»Picardi hat mich spätabends angerufen und zu einem Treffen am alten Annenkloster bestellt. Ich bin also hin durch das verfluchte Unwetter, aber bei Sant’Anna fand sich weit und breit keine Spur von Picardi. Zwei andere Typen waren da, die haben offensichtlich in ihrem Wagen auf mich gewartet. Sie sind auf mich los, und ich wollte mich im Kloster verstecken. Das war leider ein Schlag ins Wasser – beziehungsweise auf meinen Hinterkopf, als die beiden mich entdeckten. Mehr weiß ich nicht. Als ich wieder zu mir kam, waren die Carabinieri schon da.«

Donati sah Bazzini an. »Wer hat die Kollegen alarmiert?«

»Ein anonymer Anrufer, der verdächtige Gestalten am Kloster gesehen haben wollte. Daraufhin ist eine Streife ausgerückt und hat beide einträchtig nebeneinander gefunden, die Täterin und ihr Opfer.«

Elena funkelte den Commissario zornig an. »Glauben Sie, ich hätte erst den Monsignore umgebracht und dann mich selbst niedergeschlagen?«

Bazzini zuckte mit den Achseln. »Sie können in der Dunkelheit gestürzt sein und sich dabei verletzt haben. Oder Monsignore Picardi hat Ihnen die Kopfwunde kurz vor seinem Tod im Handgemenge zugefügt.«

Zum ersten Mal, seit er die Krankenstation betreten hatte, ergriff Alexander das Wort: »Wenn es so ein Handgemenge tatsächlich gegeben hat, könnte ebenso gut Picardi der Angreifer gewesen sein. Dann hätte Elena in Notwehr gehandelt.«

»Ein berechtigter Einwand«, sagte Donati.

»Unsinn!«, raunzte Bazzini. »Warum sollte ein hoher Kleriker aus dem Vatikan eine Journalistin tätlich angreifen?«

»Und warum sollte eine Journalistin einen hohen Kleriker aus dem Vatikan tätlich angreifen?«, entgegnete Alexander. Bazzini riss die Arme in die Luft. »Was weiß ich? Solange Ihre Freundin die Tat nicht gesteht, wird sie uns auch nichts über das Motiv verraten.«

»Ich bin nicht mehr seine Freundin!«, sagte Elena kühl.

Donati räusperte sich, was gekünstelt klang, und fragte: »Was wollte Picardi von dir, Elena?«

»Das hat er mir am Telefon nicht gesagt. Es muss schon etwas Wichtiges gewesen sein, sonst hätte er mich nicht an einen derart abgelegenen Ort bestellt. Ich habe auf heiße Insiderinformationen aus dem Vatikan gehofft. Tja, und jetzt sieht es so aus, als sei ich selbst die Schlagzeile.«

»Noch halten wir den Deckel auf der Geschichte«, sagte Bazzini und zeigte mit dem Daumen zur Decke. »Anweisung von ganz oben. Man will sich erst mit dem Vatikan besprechen.«

Donati versuchte es noch einmal: »Weißt du wirklich nicht, was Picardi von dir gewollt haben könnte? Hast du vielleicht in letzter Zeit mit ihm zu tun gehabt?«

»Nein.«

Bazzini musterte Donati mit unverhohlener Antipathie. »Wer führt die Vernehmung, Sie oder ich? Haben Sie den Fall etwa übernommen, Signor Dirigente?«

»Nein, Bazzini, es ist Ihr Fall. Aber ich habe, wie Sie wissen, ein persönliches Interesse an Elena.«

»Und ich habe ein ziemlich großes Interesse daran, dem Polizeigewahrsam endlich zu entkommen«, sagte Elena.

»Haben Sie denn keine Spuren von den beiden Männern gefunden, die mir aufgelauert haben? Sie sind es doch wahrscheinlich, die Picardi ermordet haben.«

Bazzini fuhr sich gelangweilt über sein grobporiges Gesicht. »Jaja, die großen Unbekannten, sie sterben niemals aus.«

»Gab es keine Spuren von diesen Männern?«, hakte Donati nach.

»Alle Spuren werden derzeit untersucht«, antwortete der Commissario.

»Es muss Reifenspuren von dem Wagen geben«, rief Elena. »Der Boden war ja total aufgeweicht vom Regen.«

»Das schon«, erwiderte Bazzini. »Aber später in der Nacht hat es so heftige Wolkenbrüche gegeben, dass vermutlich sämtliche Reifenspuren weggeschwemmt worden sind.«

Mutlos ließ Elena sich in ihr Kissen zurücksinken und schloss die Augen. Sie schien am Ende ihrer Kraft.

Alexander wandte sich an Donati: »Könnte ich mit Elena unter vier Augen sprechen?«

»Auf keinen Fall!«, fuhr Bazzini dazwischen. »Das ist gegen jede Vorschrift, wie übrigens überhaupt Ihre Anwesenheit hier, Signor Rosin.«

»Dann kommt es auf einen weiteren Verstoß gegen die Vorschriften doch nicht an, Commissario«, sagte Donati betont jovial. »Ich habe vollstes Vertrauen zu Signor Rosin.« Bazzini musste an sich halten, um nicht aus der Haut zu fahren. Nur äußerst widerwillig fügte er sich dem ranghöheren Donati und verließ mit ihm den Raum.

Alexanders Blick ruhte auf Elenas schönem Gesicht mit den hohen Wangenknochen und den grünen Augen. Das altvertraute Gefühl der Zuneigung stieg in ihm auf. Seine Beine wurden wacklig, und er wusste nicht, wo er beginnen sollte.

Elena machte es ihm leicht und fragte ungerührt: »Was willst du?«

»Dir helfen.«

»Warum?«

»Weil du mir immer noch viel bedeutest. Ich habe keine Sekunde geglaubt, dass du Picardi ermordet hast. Aber ich denke, dass du der Polizei etwas verschweigst. Ich kenne dich. Wenn du bei dem Unwetter zu Sant’Anna rausgefahren bist, musst du einen guten Grund gehabt haben, mehr als nur einen vagen Anruf. Um was geht es in dieser Sache, Elena?«

»Du irrst dich«, sagte sie ruhig. »Ich habe nichts verschwiegen.«

Er schüttelte den Kopf. »Das nehme ich dir nicht ab. Sag mir bitte die Wahrheit! Ich will dir doch helfen, vertrau mir!«

»Dir vertrauen? Kommst du dir nicht selbst komisch vor, wenn du so etwas sagst?«

Jetzt schwang Verbitterung in Elenas Stimme mit. Alexander konnte sie verstehen. Dass ausgerechnet er sie aufforderte, ihm zu vertrauen, musste ihr nicht nur seltsam, sondern wie Hohn vorkommen. Wortlos wandte er sich ab und verließ den Raum.

5 San Gervasio

Es sieht alt aus«, sagte Enrico andächtig, nachdem er das Felsbild wohl minutenlang angestarrt hatte. »Könnte es womöglich etruskischen Ursprungs sein?«

»Es ist etruskisch«, bestätigte Tommasio. »Mit hoher Wahrscheinlichkeit ist es zu Lebzeiten der abgebildeten Personen entstanden. Oder aber nur kurze Zeit später.«

»Zu Lebzeiten der abgebildeten Personen«, wiederholte Enrico so langsam, dass jede Silbe ein eigenes Wort zu bilden schien. »Das heißt – wann?«

»Vor mehr als zweitausend Jahren. Um das Jahr neunzig vor Christus, wenn man genau sein möchte.«

»So genau lässt sich das sagen?«

»Die dargestellte Szene gibt uns den Hinweis. Sie ist dem Bundesgenossenkrieg zuzuordnen. Haben Sie schon einmal davon gehört, Enrico?«

Natürlich hatte er das, schließlich hatte er mehrere Bücher über die Geschichte des etruskischen Volkes gelesen, und der Bundesgenossenkrieg war Teil dieser Geschichte.

»Im Jahre 91 vor Christus kam es zum Aufstand einiger bis dahin mit Rom verbündeter italischer Völker oder, sagen wir besser, von Rom unterworfener Völker, die zwar Truppen für die römischen Kriege und zur Grenzsicherung des Römischen Reiches stellen mussten, deren Angehörige aber nicht das römische Bürgerrecht besaßen. Dadurch waren sie der Willkür der Obrigkeit ausgesetzt, und das wollten sie nicht länger hinnehmen. Eine Vielzahl von Stämmen erhob sich gegen Rom. Letztlich endete der Aufstand für die Rebellen in einer militärischen Niederlage, aber die Italiker hatten sich das Bürgerrecht erkämpft.«

Der Abt nickte anerkennend. »Dafür, dass Sie aus Deutschland stammen, kennen Sie sich in unserer Geschichte erstaunlich gut aus.«

»Habe ich nicht erwähnt, dass meine Mutter Italienerin war?«

»Doch, das haben Sie. Sie stammte aus Rom, nicht wahr?«

»Nein, aus der Toskana«, berichtigte Enrico, machte jedoch keine Anstalten, nähere Auskünfte über seine Familie zu erteilen.

Dann hätte er erzählen müssen, dass seine Mutter von ihrer Familie nach Deutschland geschickt worden war, nachdem ein Geistlicher, in den sie sich verliebt hatte, sie geschwängert hatte. Dieser Geistliche hatte später Karriere gemacht, und es wäre Enrico alles andere als lieb gewesen, als Sohn von Papst Lucius erkannt zu werden.

»Der Bundesgenossenkrieg war eine blutige Angelegenheit«, sagte Tommasio. »Zwar wurde den Aufständischen damals das ersehnte Bürgerrecht zuerkannt, aber längst nicht alle haben das noch erlebt. In vielen Städten, die sich dem Aufstand angeschlossen hatten, hielten die Römer ein blutiges Strafgericht. Einigermaßen glimpflich davongekommen sind allerdings die Umbrer und die Etrusker, die auf der Seite Roms geblieben waren, vor allem deshalb, weil ihre mächtigen Großgrundbesitzer romtreu waren oder – wie manche schon damals sagten – romhörig. Natürlich gab es auch unter Umbrern und Etruskern Stimmen, die sich für den Krieg gegen Rom aussprachen. Das sorgte in vielen Städten für Aufruhr, und nicht selten standen Bruder und Bruder einander feindselig gegenüber.«

Was Tommasio erzählte, schien Enricos wiederkehrenden Traum erklären zu können. Endlich verstand er die wüsten Auseinandersetzungen um Frieden oder Krieg.

»Wenn das Bild tatsächlich so alt ist«, fragte er, »warum ist es dann so gut erhalten? Durch das Loch im Felsen dringen Wind, Sonnenlicht und Regen hier herein. Hätte das Bild dadurch im Lauf von über zweitausend Jahren nicht weggewaschen oder zumindest beschädigt werden müssen?«

»Vielleicht könnte eine wissenschaftliche Untersuchung der benutzten Farben und des Untergrunds darüber Aufschluss geben. Vielleicht ist diese Stelle aber auch nur mit großer Sorgfalt ausgewählt worden. Es fällt zwar Tageslicht herein, aber selbst bei grellem Sonnenschein wird das Bild nicht direkt angestrahlt. Ich weiß das, weil ich schon mehrmals hier gewesen bin, und zwar zu unterschiedlichen Tageszeiten. Und noch etwas: Draußen tobt ein heftiger Wind. Merken Sie hier etwas davon?«

»Nein«, antwortete Enrico, dem das erst jetzt auffiel. »Hier ist es völlig windstill.«

»Ähnliches lässt sich über den Regen sagen. Ich habe hier drinnen noch nie eine Pfütze gesehen.«

Enrico legte den Kopf in den Nacken und blickte zu der Öffnung hinauf. »Ist dieses Loch, oder wie man es bezeichnen soll, mutwillig in den Fels gehauen worden?«

»Das weiß ich nicht. Möglicherweise schon. Vielleicht haben die Etrusker die Höhle aber auch so vorgefunden und hielten sie für besonders geeignet für ihr heiliges Bild.«

»Wie haben Sie sie entdeckt, Vater Tommasio?«

»Das ist nicht mein Verdienst. Zwischen den Weltkriegen, als San Gervasio ein – jedenfalls im Vergleich zu heute – großes Kloster war, hat der damalige Abt das Bild, sagen wir, wiederentdeckt. Er hatte Hinweise aus dem Ort erhalten, die Leute erzählten sich alte Geschichten über das sogenannte heilige Bild. Und da der Abt einen Hang zum Bergsteigen hatte, kletterte er so lange hier oben herum, bis er an diese Stelle kam. Ironischerweise hatte er das Bild erst weiter unten gesucht – er war sehr erstaunt, es so nahe beim Kloster zu finden und dann auch noch festzustellen, dass eine Treppe hierherführt. Die war damals allerdings teilweise verschüttet und von der Straße aus nicht zu sehen. Der Abt hat sie freilegen lassen. Das alles weiß ich aus den Aufzeichnungen meines Vorgängers, die ich in der Abtei gefunden habe.«

»Verzeihen Sie, Vater, wenn ich Ihnen so viele Fragen stelle, aber dieses Bild beschäftigt mich sehr.«

Tommasio breitete seine kräftigen Hände aus. »Fragen Sie nur, deshalb habe ich Sie ja hergeführt. Was Sie von Ihrem Traum erzählten, hat mich sofort an das Bild denken lassen.«

»Sie haben es heilig genannt. Warum?«

»Die einfachen Menschen hier in der Gegend haben das Bild, über dessen wahren Ursprung sie nichts wussten, früher als christliches Werk verehrt. Die Frau in der Mitte hielten sie für jene Ehebrecherin, die durch Jesus vor der Steinigung bewahrt wurde. Aber bei genauem Hinsehen zeigt sich, dass niemand einen Stein in der Hand hat. Die Leute haben es eben nicht besser gewusst, und vielleicht gab es auch einen überfrommen Gottesmann, der das Bild für seine Predigten genutzt und so den Grundstein für den Irrglauben gelegt hat.«

»Aber Sie haben es ein heiliges Bild der Etrusker genannt, also muss es auch für seine Schöpfer eine besondere Bedeutung gehabt haben.«

Der Abt trat näher an das Bild heran und betrachtete es mit einer Andacht, die Enrico befremdlich erschien, handelte es sich doch um ein heidnisches Werk. Tommasio verlor sich regelrecht in den Anblick, und es dauerte eine kleine Ewigkeit, bis er zu sprechen begann.

»Wir kennen die Überlieferungen der Etrusker nur höchst lückenhaft, weil wir ihre Sprache bisher erst ansatzweise entschlüsseln konnten. Aber es gibt einen lateinischen Text, leider nur in Bruchstücken erhalten, der uns die Geschichte dieser Frau erzählt, der Tochter der Weißen Göttin.«

»Von der Weißen Göttin habe ich gelesen«, erinnerte Enrico sich. »Sie nahm bei den ansonsten eher patriarchalisch ausgerichteten Etruskern einen hohen Rang ein. Bei ihnen hieß sie …«

»Leukothea«, sagte der Abt, während Enrico noch nach dem Namen suchte. »Was übersetzt nichts anderes heißt als Weiße Göttin. Sie war die etruskische Muttergöttin, wohl ein Sinnbild für die lebenspendende Erde. Verehrt und gefürchtet zugleich, weil sie den Menschen reiche Ernten oder verdorrte Felder und große Hungersnöte brachte. Es gibt Hinweise darauf, dass die Etrusker Frauen mit ungewöhnlich heller Haut und hellem Haar als Nachfahrinnen der Weißen Göttin verehrten. Obwohl das politische Leben der Etrusker von den Männern bestimmt wurde, hörte man in wichtigen Fragen auf den Rat jener Frauen, die man Leukotheas Töchter nannte – wohl in der Hoffnung, sich das Wohlwollen der mächtigen Göttin zu sichern.«

»Und was ist mit dieser Frau?«, fragte Enrico ungeduldig und zeigte auf das Wandbild.

»Hier in der Gegend befand sich eine der nördlichsten Etruskerstädte; es ist kaum etwas von ihr überliefert, wir kennen nicht einmal den Namen. Vielleicht ist dies die einzige erhaltene bildliche Darstellung jener Stadt, und der eben erwähnte lateinische Text erzählt einen kleinen Teil ihrer Geschichte. Während des Bundesgenossenkriegs kam es auch in dieser Stadt zu heftigen Auseinandersetzungen darüber, ob man Rom treu bleiben oder in den Kampf eintreten sollte. Schließlich wurde die in der Stadt verehrte Tochter der Weißen Göttin angerufen, den Streit zu schlichten und im Namen der Muttergöttin zu entscheiden. Am Ende war die Partei, die nach ihrer Entscheidung klein beigeben musste, so erbost, dass die helle Frau, wie sie in der Überlieferung auch genannt wird, beinahe totgeschlagen worden wäre. Im letzten Augenblick konnten Freunde und Verwandte sie retten.«

»Wie hatte sie sich entschieden?«

»Da fragen Sie mich zu viel. Genau der Teil des Textes ist nicht erhalten.«

»Die helle Frau«, sagte Enrico leise und fügte lauter hinzu: »Ich nehme an, ihr richtiger Name ist nicht überliefert.«

»Doch«, erwiderte der Abt. »Sie hieß Larthi.«

Enrico war plötzlich, als schwanke der Boden unter ihm. Er musste sich an der Felswand abstützen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Hitzewellen überfluteten ihn, und er presste die Stirn gegen die kühle Felswand. Der Name hatte die unsichtbare Tür geöffnet, die seine Träume von der Wirklichkeit trennte. Jetzt musste er dagegen ankämpfen, dass der Traum in die Wirklichkeit überging, dass er den Namen laut und verzweifelt hinausschrie.

»Was ist mit Ihnen?«, fragte der Abt und legte ihm die Hände auf die Schultern.

»Ich habe mich erinnert«, flüsterte Enrico, die Stirn noch immer gegen den Fels gepresst. »Larthi – so heißt die Frau aus meinem Traum!«

6 Rom

Was ist eigentlich zwischen Elena und dir vorgefallen?«, fragte Stelvio Donati, der auf dem Beifahrersitz saß, während Alexander seinen Peugeot über das ruckelige Pflaster der Via Appia lenkte.

Leichter Regen hatte eingesetzt, harmlos gegen die Wolkenbrüche der vergangenen Nacht, und die Scheibenwischer, die sich in immer gleichen Abständen in Bewegung setzten, schoben die Tropfen mühelos von der Windschutzscheibe. Alexander hatte nicht richtig hingehört. Seine Gedanken kreisten um die Geschehnisse der Nacht, und er machte sich Vorwürfe, weil er nicht an Elenas Seite gewesen war. Wären sie noch ein Paar gewesen, privat wie beruflich, hätte er sie vielleicht davor bewahren können, unter Mordverdacht zu geraten und im Polizeigewahrsam zu landen.

Donati, der Alexanders Schweigen anders deutete, sagte: »Wir müssen nicht darüber reden. Du sollst nur wissen, dass ich jederzeit für ein Gespräch da bin. Ich hätte mich wohl früher um euch beide kümmern sollen, aber mein neuer Posten ist ein echter Zeitfresser. Im Vergleich dazu habe ich eine ruhige Kugel geschoben, als ich noch ein einfacher Commissario war.«

Diesmal hatte Alexander zugehört und erwiderte: »So ruhig waren die Zeiten damals auch nicht, Stelvio. Jedenfalls nicht, seit wir uns kennen.«

»Das ist wahr«, räumte der Polizeidirektor grinsend ein und klopfte gegen seine Beinprothese. »Gerade als ich dachte, wegen meines Beins sei die Zeit der Aufregungen vorbei und der Innendienst fortan meine Berufung, seid ihr in mein Leben getreten, du und Elena.«

»Tja, und jetzt willst du wissen, was aus der großen Liebe geworden ist.«

»Ihr beide liegt mir am Herzen, Alex. Ich möchte es gern verstehen.«

»Es war der Alltag«, sagte Alexander, als könne das alles erklären.

Donati schnaubte halb missbilligend, halb spöttisch. »Willst du mir erzählen, ihr hättet euch einfach so auseinandergelebt? Wie ein altes Ehepaar, das sich irgendwann nichts mehr zu sagen hat, weil jeder sein eigenes Leben führt und seine eigenen Gedanken und unerfüllten Träume hat? Das kaufe ich dir nicht ab, Alex, nicht ihr beide! Vergiss nicht, neben dir sitzt ein altgedienter Bulle, dem du nicht jede Geschichte auftischen kannst.«

»Bei uns war es eher das Gegenteil, wir haben zu viel zusammengehockt. Wir waren nicht nur privat zusammen, sondern auch im Job, rund um die Uhr quasi. Da fängt man an, den Stress mit nach Hause zu nehmen. Es kommen ungute Emotionen auf, nenn es Minderwertigkeitsgefühle, wenn du willst.«

Donati bedachte ihn mit einem zweifelnden Blick. »Du und Minderwertigkeitsgefühle? Seit wann das?«

»Seit ich nicht mehr Schweizergardist war, sondern ein unerfahrener Vatikanjournalist, der mit der sehr erfahrenen und allseits anerkannten Vatikanistin Elena Vida ein Team bildete. Wenn man ständig nur die Nummer zwei ist, kann einen das auf die Dauer ganz schön runterziehen.«

»Willst du damit sagen, Elena hätte dir gegenüber die Ich-bin-dir-in-allem-überlegen-Nummer durchgezogen?«

»Verdammt noch mal, nein, Elena war sehr fair und hat sich alle Mühe gegeben, aus mir einen guten Journalisten zu machen. Ich selbst habe mir den Versager-Hut aufgesetzt, weil ich es nicht ertragen konnte, ständig von ihr gesagt zu bekommen, was ich zu tun und zu lassen habe, jedenfalls soweit es den Job betrifft. Wie willst du vor deiner Frau selbstbewusst dastehen, wenn sie dir bei der Arbeit Tag für Tag über ist?«

»Hm.« Donati klang nicht recht überzeugt. »Und wie ging es weiter?«

»Mit Streit – mit ungerechtfertigten Vorwürfen meinerseits und schon eher gerechtfertigten Vorwürfen von Elenas Seite. Irgendwann haben wir kaum noch miteinander gesprochen, und wenn doch, dann haben wir uns angegiftet.« Alexander legte eine kurze Pause ein und holte tief Luft. »Und dann war da diese blonde Redaktionsassistentin, sehr hübsch und verständnisvoll. Keine Vorwürfe mehr, sondern liebevolle Umarmungen von einer Frau, die dich auffängt, wenn du mal nicht die Kraft hast, aufrecht zu stehen.«

»Wenn ein Mann nicht mehr die Kraft hat, aufrecht zu stehen, ist er entweder von fremder Hand umgestoßen worden oder er hat sich selbst fallen lassen. Ich weiß, wovon ich rede.« Donati klopfte abermals gegen seine Prothese. »Wie auch immer, du hast dich also auf eine Affäre eingelassen. Und? Hat es sich gelohnt?«

»Es gab neun oder zehn Tage der Euphorie, dann haben wir festgestellt, dass wir einfach nicht zueinander passen.«

»Zu wenig, um lohnend genannt zu werden.«

»Aber genug, um das Vertrauen und die Beziehung zwischen Elena und mir vollends zu zerstören«, sagte Alexander bitter.

»Das klingt, als würdest du es bereuen.«

»Ja.«

»Wie ist es jetzt, wenn ihr euch im Job begegnet; wie geht ihr miteinander um?«

»Wir begegnen uns nicht mehr. Ich habe beim Messagero gekündigt.«

»Und wovon lebst du?«

»Zurzeit versuche ich mich als journalistischer Freelancer. Das ist ja gerade der Mist: Wäre ich noch mit Elena zusammen, hätte ich letzte Nacht auf sie aufpassen können!«

»Oder Bazzini würde jetzt euch beide als mutmaßliche Mörder verhören.«

»Danke für die Blumen«, knurrte Alexander. »Dein Vertrauen in mich scheint wirklich grenzenlos.«

»Zumindest was Elena betrifft, hast du dich nicht gerade mit Ruhm bekleckert.«

Alexander warf ihm einen zornigen Blick zu, bevor er wieder auf die Straße sah.

»Meinst du, das weiß ich nicht, Stelvio? Wenn du den glühenden Spieß in meiner Wunde rumdrehst, machst du es mir nicht leichter.«

»Ich will es dir auch nicht leichter machen, du Blödmann.