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Wenig wissen wir heute über den Cherusker Arminius und jene berühmte Schlacht, in der er die Legionen des Varus vernichtete. In den Romanen von Jörg Kastners Germanen-Saga wird diese Zeit wieder lebendig. Im Mittelpunkt steht Thorag der Cherusker, der gemeinsam mit seinem Waffenbruder Arminius das Land der freien Germanen vor den Römern zu beschützen versucht. Von den Urwäldern Germaniens bis zu den römischen Stützpunkten am Rhein, von den sieben Hügeln Roms bis zur reichen Hafenstadt Ravenna entfaltet sich das dramatische Geschehen, in dem eine längst vergangene Zeit mitsamt ihren Bräuchen und Ansichten detailliert geschildert wird. Nicht minder wichtig als die großen politischen Fragen ist Jörg Kastner das persönliche Glück der Hauptfiguren – und mehr als einmal muss Thorag um seine große Liebe Auja kämpfen … Die Germanen-Saga besteht aus folgenden Bänden: 1. Thorag der Germane 2. Die Fenrisbrüder 3. Eine Falle für Varus 4. Aufstand der Legionäre 5. Die Schwerter des Germanicus 6. Im Schatten des Adlers 7. Arminius und der Berserker 8. Der Fluch des Riesen 9. Flavus der Einäugige 10. Die Verschwörer von Ravenna 11. Todesbringer 12. Herzog der Cherusker Thorag der Cherusker tritt in der großen Römerstadt am Rhein, dem Oppidum Ubiorum (Köln), in den Dienst des Statthalters Varus. Er rettet die schöne Römerin Flaminia vor den unheimlichen Fenrisbrüdern, die den Römern durch ihre Überfälle schwer zu schaffen machen. Flaminia wird Thorags Geliebte, aber ihr Bruder, der Präfekt Maximus, nimmt ihn unter der Beschuldigung fest, mit den Fenrisbrüdern unter einer Decke zu stecken. Varus stellt Thorag vor Gericht und verurteilt ihn zum Kampf auf Leben und Tod in der Arena …
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Seitenzahl: 260
Jörg Kastner
Folge 2 der 12-teiligen Romanserie Die Saga der Germanen
Historischer Roman
Flaminia war müde, aber sie konnte nicht einschlafen. Das eintönige Hufgetrappel der acht römischen Reiter, die ihre Carruca Dormitoria – den luxuriös ausgestatten Planwagen – eskortierten, ließ ihre mit Antimonpuder geschwärzten Lider immer wieder zufallen. Aber so sehr sich Flaminia auch in die weichen Kissen kuschelte, das heftige Ruckeln der Carruca auf dem unbefestigten Weg, der durch die großen germanischen Wälder von Marcellus’ Lager zum Oppidum Ubiorum führte, weckte sie immer wieder.
Da sie nicht schlafen konnte, aß und trank sie viel. Besonders Letzteres. Marcellus’ einfallsreicher Koch hatte eine Mischung aus germanischem Met und süditalischem Wein hergestellt, die einfach göttlich schmeckte. Flaminia hatte drei Weinschläuche mit diesem ebenso schmackhaften wie berauschenden Getränk mitgenommen, einen für sich selbst und zwei als Geschenke für Maximus und Varus. Einen dieser Schläuche hatte sie seit ihrem Aufbruch am frühen Morgen fast geleert. Vielleicht würde Maximus auf sein Geschenk verzichten müssen. Oder Varus.
Da Flaminia viel trank, musste ihr Saiwa, die rotblonde germanische Sklavin, immer wieder den Bronzetopf reichen, in den die Römerin ihre Notdurft verrichtete. So auch jetzt, und das Gluckern ihres Wassers war für Flaminia wenigstes eine Abwechslung in der Geräuschkulisse, wenn es auch das Hufgetrappel nicht übertönte. Sie war fast fertig, als Gerlef ruckartig den Wagen anhielt.
Flaminia reichte den ziemlich vollen Bronzetopf Saiwa, die den Deckel daraufsetzte, und fragte ärgerlich: „Warum hält dein Bruder an? Ich hätte fast etwas verschüttet!“
„Ich weiß nicht, Herrin“, antwortete Saiwa und stellte den Topf zurück in die Bronzehalterung, die ein Umfallen verhinderte.
„Dann frag ihn!“
„Ja, Herrin.“ Saiwa streckte ihr sommersprossiges Gesicht durch die Plane zum Fahrersitz hinaus und gab die Frage ihrer Herrin an ihren älteren Bruder weiter.
„Ein umgestürzter Baum versperrt uns den Weg“, antwortete Gerlef. „Die Soldaten sind schon dabei, ihn aus dem Weg zu räumen.“
„Ich könnte in der Zwischenzeit den Topf leeren“, schlug Saiwa vor.
Flaminia streifte den Unterrock, die Tunika und die goldbestickte Stola über ihre schlanken Beine und nickte müde. „Tu das, aber beeil dich. Ich möchte gern heute noch zu Hause sein. Dieser Wagen ist zwar zum Schlafen geschaffen, aber diese Straße mit Sicherheit nicht. Wenn man es überhaupt eine Straße nennen kann.“
Mit geschickten Griffen löste Saiwa den Topf aus der Halterung und kletterte an der rückwärtigen Seite des Wagens nach draußen.
Ihre Herrin änderte ihre Meinung über die Unterbrechung und empfand sie fast als angenehm. Endlich einmal hatten das monotone Klappern der Hufe und das Schaukeln des Wagens aufgehört. Flaminia drehte sich herum, beugte sich vor und spähte durch die auseinandergeschlagene Plane an Gerlefs breitem Rücken vorbei nach draußen, wo die Männer ihrer Eskorte damit beschäftigt waren, mit vereinten Kräften an dem schweren Baum zu ziehen. Der Waldweg war an dieser Stelle besonders eng und wurde von der schweren Buche vollends versperrt.
„Vielleicht solltet ihr die Pferde vor den Baum spannen, Soldaten“, schlug sie vor.
Der Gefreite, der den Trupp anführte, ein dünner Kerl namens Effetus, sah sie überrascht an und nickte dann. „Ein guter Vorschlag, edle Flaminia.“
„Dann führt ihn doch aus! Auch wenn ihr Soldaten seid, solltet ihr statt eurer Muskeln auch mal euer Hirn gebrauchen.“
Saiwa hörte die spöttischen Worte ihrer Herrin, während sie an den Waldrand trat, um den üppigen Farn mit dem Inhalt des Bronzetopfes zu begießen. Sie nahm den Deckel ab – und erschrak fast zu Tode, als sich dicht vor ihr der Farn teilte und sich der graubraune Kopf eines Wolfs daraus erhob. Sie ließ den Topf fallen, und der Inhalt spritzte über den Boden, benetzte Saiwas Lederschuhe.
Saiwa öffnete den Mund zu einem Schrei, aber etwas hielt sie davon ab. Vielleicht die Angst, vielleicht aber auch die Überraschung. Denn was sich vor ihr aus dem Farn erhob, war kein vierbeiniges Raubtier, sondern ein Mensch. Und weitere folgten, wuchsen aus dem Farn oder traten aus der ewigen Dämmerung, die in diesem Urwald herrschte. Es waren große, kräftig gebaute Männer – Germanen, alle schwer bewaffnet. Und alle trugen ein Wolfsfell in der Art um den Oberkörper gebunden, dass der Wolfsschädel ihren eigenen Kopf bedeckte. Sie sahen damit aus wie die Feldzeichenträger der Römer.
„Was …“, brachte Saiwa mit halb erstickter Stimme hervor, bevor sie der Mann, der zuerst aus dem Farn aufgetaucht war, mit einem Hieb seines Schwertknaufs gegen die Stirn zum Schweigen brachte. Die junge Sklavin stürzte mit dem Oberkörper voran in den weichen Farn.
Der Mann, der sie niedergeschlagen hatte, beachtete sie nicht weiter. Er und seine Gefährten stürmten mit erhobenen Waffen aus dem Wald hervor und griffen die römischen Reiter an.
Mit aufgestützten Ellbogen, das Kinn in die Hände gelegt, beobachtete Flaminia den Versuch der Kavalleristen, das Hindernis aus dem Weg zu räumen. Nicht gerade ein aufregendes Schauspiel, gemessen an dem, was der Circus Maximus in Rom zu bieten hatte. Noch nicht einmal mit den relativ bescheidenen Spielen im Oppidum war es zu vergleichen. Aber es war das aufregendste Erlebnis dieses langen Tages, den sie fast ausschließlich in ihrem Reisewagen verbracht hatte.
Effetus befahl seinen Männern gerade, die Pferde vor den umgestürzten Baum zu spannen, als sich Flaminia gezwungen sah, ihre Beurteilung dieses Ereignisses gründlich zu überdenken. Der Speer, der durch die Kehle des Gefreiten fuhr und seinen lauten Befehl in ein kaum wahrnehmbares Röcheln verwandelte, verhieß zwar nichts Gutes, aber auf jeden Fall ein unerwartetes Schauspiel. Effetus griff mit den Händen nach dem Holzschaft, der seinen Hals von schräg hinten durchbohrt hatte, als glaube er tatsächlich, ihn herausziehen und sein Leben retten zu können. Er sah fast aus wie ein Gekreuzigter, als er mit an den Speerschaft gelegten Händen auf die Knie sank. Er verdrehte die Augen und kippte auf die Seite. Als sie das sah, wusste Flaminia, dass der dürre Gefreite tot war.
Dann sah sie die seltsamen Männer in den Tierfellen, die von allen Seiten zu kommen schienen. Der Wald spuckte sie aus, und sie rannten auf die Soldaten zu.
Die Männer aus Varus’ Garde erholten sich schnell von der Überraschung. Aber die Angreifer – Germanen, wie Flaminia schnell erkannte – waren im Vorteil. Um besser arbeiten zu können, hatten die Römer ihre Helme, die Kettenpanzer, die Speere, die Schilde und die Wehrgehänge mit den Schwertern abgelegt. Als sie jetzt zu dem Haufen mit ihrer Ausrüstung rannten, fielen die meisten von ihnen unter den geschleuderten Speeren.
Einem Soldaten gelang es, einen Speer zu ergreifen und damit einen angreifenden Germanen zu durchbohren. Doch der Römer überlebte seinen Sieg nicht lange: Ein anderer der mit Wolfsfellen bekleideten Germanen spaltete den Kopf des Kavalleristen mit einem Schwerthieb und schlug in ungezügelter Raserei immer wieder auf den zu Boden gehenden Mann ein.
Zwei römische Soldaten blieben übrig und ergaben sich den Angreifern. Sie hatten gegen die Überzahl keine Aussicht auf Erfolg, zumal es ihnen nicht gelungen war, ihre Waffen zu ergreifen. Mit erhobenen Händen blieben sie vor den Germanen stehen und blickten ungläubig drein, als sie von mehreren Schwert- und Lanzenspitzen durchbohrt wurden. In wilder Wut, wie im Rausch, hackten die Germanen noch auf sie ein, als sie längst tot am Boden lagen.
„Barbaren!“, stieß Flaminia verächtlich hervor, als sich die Männer in den Wolfsfellen zu ihr und dem Wagen umdrehten. Dann schoss es ihr durch den Kopf: Fenrisbrüder!
Es waren, zählte man den getöteten Germanen mit, neun an der Zahl. Von einer Übermacht konnte also keine Rede sein. Doch die Angreifer hatten den Überraschungseffekt so geschickt zu nutzen gewusst, dass den kampferprobten Gardisten keine Möglichkeit zur erfolgreichen Gegenwehr geblieben war. Flaminia zweifelte nicht daran, dass der Baumstamm nicht zufällig den Weg versperrte. Es war eine einfache, aber wirkungsvolle Falle.
Was Maximus wohl dazu sagte, wenn sie ihm erzählte, wie seine Männer in so kurzer Zeit aufgerieben worden waren? Falls sie es ihm erzählte! Im Augenblick sah es nicht so aus, als würde sie ihren Bruder oder das Oppidum jemals wiedersehen. Die Fenrisbrüder genossen nicht den Ruf, bei ihren Überfällen Überlebende zurückzulassen.
Die blutbefleckten Barbaren kamen mit gezückten Waffen auf den Wagen zu. Zwischen Flaminia und ihnen stand – vielmehr saß – nur noch Gerlef, der auf dem Fahrersitz hockte, als sei nichts geschehen. Warum hätte er auch in den Kampf eingreifen sollen? Als Germane und Sklave der Römer hatte er keinen Grund, für sie zu kämpfen.
„Wo ist Saiwa?“, fragte Gerlef in der Sprache der Germanen, als ihn die Männer in den Wolfsfellen umringten.
„Zu welchem Stamm gehörst du?“, entgegnete einer der Angreifer, ein selbst für einen Germanen ungemein grobschlächtig wirkender Mann. Sein stoppeliges Gesicht unter dem Wolfskopf war so breit geschnitten, dass man zwei römische Gesichter daraus machen konnte.
„Ich bin ein Usipeter“, antwortete Gerlef.
„Warum dienst du den Römern, Usipeter?“
„Weil ich ihr Sklave bin.“
„Jetzt nicht mehr. Die Römer sind tot!“
„Wo ist Saiwa?“, wiederholte Gerlef seine Frage.
„Was geht sie dich an?“
„Sie ist meine Schwester.“
„Sie muss dort hinten liegen“, sagte der breitgesichtige Germane. „Geh sie holen, wenn du willst!“
Sofort sprang Gerlef vom Bock und rannte zu dem Farn.
Der Breitgesichtige, offensichtlich der Anführer der Fenrisbrüder, starrte Flaminia an und fragte in schlechtem, aber verständlichem Latein: „Du bist Flaminia, die Schwester des Präfekten Maximus?“
„Wenn du mich schon kennst, musst du nicht fragen, Germane. Und wer bist du?“
„Jedenfalls kein Germane! Diese Bezeichnung stammt von euch Römern. Ich bin ein freier Sugambrer. Und ich kämpfe dafür, dass alle Menschen, die ihr Germanen oder Barbaren nennt, wieder freie Menschen werden.“
Gerlef kehrte zurück. Seine Schwester lag in seinen Armen und stöhnte. Saiwas Stirn wies eine blutige Wunde auf.
„Ihr hättet Saiwa fast umgebracht!“, sagte Gerlef vorwurfsvoll, als er vor den Fenrisbrüdern stand.
„Kein unverdientes Schicksal für jemanden, der den Römern dient“, erwiderte der Breitgesichtige verächtlich. Er trat näher an Gerlef und Saiwa heran und ließ seine Hand über das Gesicht des Mädchens gleiten. „Obwohl es natürlich schade gewesen wäre. Mit der Römerhure lässt sich noch einiges anfangen.“
„Lasst Saiwa in Ruhe!“, schrie Gerlef und trat einen Schritt zurück, bis er mit dem Rücken am Wagen stand.
Der Breitgesichtige drückte seine blutige Schwertspitze gegen Gerlefs Hals. „Setz sie ab!“
Zögernd gehorchte Gerlef und stellte seine Schwester auf ihre noch wackligen Beine. Kaum hatte er den Befehl des Breitgesichtigen ausgeführt, als dieser ihm sein Schwert durch die Kehle rammte. Saiwa stieß einen schrillen Entsetzensschrei aus, und Gerlef fiel vor ihre Füße, versuchte sich noch einmal aufzurichten, sackte dann aber zu Boden. Die Lebenskraft verließ den kräftigen Mann noch schneller als das Blut, das aus der großen Halswunde sprudelte und innerhalb kurzer Zeit eine beachtliche Pfütze auf dem Lehmboden bildete.
Saiwa sank neben ihrem Bruder auf die Knie, aber der Breitgesichtige packte ihren Haarschopf und riss sie brutal wieder hoch. „Dem kannst du nicht mehr helfen. Kümmer dich lieber um uns!“
Die gewaltsam hochgezogene Frau wollte sich losreißen, aber zwei Fenrisbrüder packten ihre Arme und hielten sie fest. Ihr Anführer setzte sein Schwert so unter Saiwas Kinn, wie er es zuvor bei ihrem Bruder getan hatte.
„Ihr seid wirklich Barbaren!“, schnappte Flaminia, die Mitleid mit ihrer Sklavin empfand. „Ihr tötet Wehrlose, nur weil es euch gefällt!“
„Und ihr Römer unterwerft fremde Völker, nur weil es euch gefällt“, entgegnete der Anführer der Fenrisbrüder. „Halt bloß den Mund, Römerin, und sei froh, dass wir dich noch brauchen.“
„Brauchen? Wofür?“
„Wir werden dich eintauschen gegen die Germanen, um bei eurem Begriff zu bleiben, die ihr als Sklaven genommen habt, weil sie ihre Steuern nicht bezahlen konnten. Ich hoffe, das bist du deinem Bruder wert.“
„Nicht mein Bruder hat darüber zu entscheiden, sondern der Legat Varus.“
„Wie ich hörte, hat das Wort deines Bruders großes Gewicht bei Varus.“ Der Breitgesichtige grinste. „Und deines auch.“
Er führte sein Schwert an Saiwas Körper entlang und zerfetzte ihre Kleidung. Mit den bloßen Händen besorgte er den Rest und riss Saiwa den groben Wollstoff vom Leib, bis sie nichts mehr trug außer ihren Lederschuhen. Die nackte Frau begann zu zittern, vielleicht vor Kälte, bestimmt aber vor Angst.
Die raue Hand des Breitgesichtigen strich über ihren fülligen Körper und verharrte, als sie eine der schweren Brüste gepackt hielt. „An dir ist ordentlich was dran. Genug für uns alle!“
Saiwa wehrte sich noch stärker, aber die beiden Krieger hielten sie zu fest gepackt.
„Haltet sie gut fest!“, befahl der Anführer seinen Männern, während er die Hose herunterstreifte.
„Du willst es ihr im Stehen besorgen?“, fragte einer der Fenrisbrüder. „Wie ein Tier?“
Der Breitgesichtige lachte. „Ja, wie ein Tier.“ Er sah Flaminia an. „Für die Römer sind wir doch nichts anderes als Tiere. Also wollen wir uns auch so benehmen.“
Er hielt sein angeschwollenes Glied in der Hand und wollte in die zitternde Saiwa eindringen. Dann aber stürzte er ungelenk gegen sie, rutschte an ihr herunter und blieb neben Gerlef liegen. Ungläubig starrten seine Gefährten und auch die beiden Frauen ihn an. Zwischen seinen Schulterblättern steckte der Schaft eines Wurfspeers.
Einer der Männer, die Saiwa festhielten, stöhnte leise, als seine Brust von einem weiteren Wurfspeer durchbohrt wurde, der ihn an den hölzernen Wagenkasten nagelte.
Bei den übrigen Fenrisbrüdern brach Panik aus. Hastig griffen sie nach ihren Waffen, während ihre Augen den Wald zu beiden Seiten der Straße absuchten.
„Zum Angriff, Männer!“, ertönte ein markerschütternder Schrei. „Schlagt diese Hunde in die Flucht!“
Die Worte waren noch nicht verklungen, da brach ein großer Rapphengst aus dem Unterholz. Ein Römerpferd, aber es trug einen Germanen. Schon auf den ersten Blick gefiel er Flaminia: hünenhaft, breitschultrig, mit einem hart, aber gut geschnittenen Gesicht. Es kam bestens zur Geltung, weil er glattrasiert war. Und sein langes Blondhaar wehte hinter ihm her wie eine Fahne.
Der zweite Mann, der Saiwa gepackt hatte, ließ sie los, zog lieber sein Schwert und sprang dem Reiter entgegen. Das war seine letzte Tat, bevor ihn die scharfe Eisenspitze einer Frame in den Tod beförderte.
Der Reiter zog die Spitze aus dem zu Boden sinkenden Körper des Fenrisbruders heraus und ritt auf einen weiteren Mann zu, den er ebenfalls durchbohrte. Der Sterbende hielt den Schaft der Frame umklammert, und der Reiter musste sie loslassen, um nicht zu viel Zeit zu verlieren.
Den nächsten Mann tötete er, indem er ihn mit seinem Langschwert einen Kopf kürzer machte. Als ihnen der abgeschlagene Schädel ihres Gefährten vor die Füße sprang, wurden die drei übrig gebliebenen Fenrisbrüder von Panik erfasst. Sie drehten sich um und verschwanden mit langen Sätzen im Wald.
Der Reiter hielt den Rappen an und verharrte für einen Augenblick still in seinem Römersattel. Er lauschte, ob sich die Männer auch wirklich entfernten. Dann ritt er zurück zu dem Wagen, stieg dort ab, reinigte seine Schwertklinge an der Kleidung eines gefallenen Fenrisbruders, steckte das Schwert zurück in die mit bronzenen Zierblechen beschlagene Holzscheide an seinem Wehrgehänge, zog die Frame aus dem Toten und reinigte sie auf dieselbe Weise. Anschließend sammelte er seine beiden Wurfspieße ein, und der Körper des an den Wagen genagelten Fenrisbruders rutschte zu Boden wie ein schwerer Sack. Der blonde Hüne säuberte auch die Spieße vom Blut und steckte sie in die Halterung am Sattel.
Flaminia kletterte vom Wageninnern auf den Kutschbock und sagte streng: „Du solltest dich weniger um deine Waffen als um uns Frauen kümmern, Germane! Diese Barbaren hätten uns fast umgebracht.“
Der Angesprochene warf einen kurzen Blick auf die schlanke schwarzhaarige Römerin und dann auf die blonde, ihrer Kleider beraubten Germanin, die auf dem Boden hockte und den Kopf ihres toten Bruders weinend in ihrem Schoß hielt, bevor er antwortete: „Meine Waffen haben euch das Leben gerettet. Und falls die Kerle zurückkehren, ist es gut, wenn sie wieder einsatzbereit sind.“
„Ich glaube nicht, dass sie zurückkehren“, meinte Flaminia. „Du hast ihnen einen gehörigen Schreck eingejagt. Fünf von den gefürchteten Fenrisbrüdern hast du in weniger als zwei Minuten getötet. Den Rest werden deine Männer erledigen.“
„Welche Männer?“
„Na, deine Kampfgefährten. Du hast sie doch angefeuert, als du aus dem Wald geritten kamst.“
„Ich habe niemanden angefeuert.“
Flaminia schüttelte verwirrt den Kopf. „Was erzählst du da? Ich habe doch gehört, wie du nach deinen Männern gerufen hast!“
Der blonde Krieger lachte kurz und trocken. „Ich habe Männer gerufen, die es nicht gibt, um dem Gegner Furcht einzuflößen. Zum Glück ist es mir gelungen.“
Ein anerkennendes Lächeln glitt über Flaminias mit Kreide weiß geschminktes Gesicht, das einen starken Kontrast zu ihren dunklen Haaren und Lidern bot. „Eine Kriegslist also, Germane.“
Der Blonde nickte.
„Meine Anerkennung. Du hast gehandelt wie ein römischer Offizier.“
„Ich bin Offizier der Römer gewesen.“
„Das erklärt deine Klugheit.“
Wieder lachte der Hüne. „Wenn alle Römer so klug wären, wäret ihr nicht in diese plumpe Falle gegangen.“
Erst wollte ihm Flaminia eine scharfe Rüge zur Antwort geben, dann aber besann sie sich und lachte ebenfalls. „Du sprichst wahr, Germane. Sag mir deinen Namen, damit ich weiß, bei wem ich mich für meine Rettung bedanken muss.“
„Ich heiße Thorag.“
„Du bist im rechten Augenblick gekommen, Thorag. Was suchst du in dieser Gegend?“
„Ich denke, wir haben dasselbe Ziel. Ich will zur Ubierstadt, um wieder als Offizier in römische Dienste zu treten.“
„Das wirst du mit Sicherheit.“ Flaminia zeigte auf die getöteten Fenrisbrüder. „Wenn ich Maximus hiervon erzähle, wird er dich sofort in seine Dienste nehmen.“
„Maximus, der Präfekt der Legatengarde?“
„Ja, er ist mein Bruder. Deshalb wollten mich diese Strolche gefangen nehmen. Sie wollten mich gegen germanische Sklaven eintauschen.“
Thorag ging zu den Pferden der getöteten Römer und spannte sie vor den umgestürzten Baum.
„Was tust du?“, fragte Flaminia.
„Für eine kluge Römerin eine überflüssige Frage. Ich sehe zu, dass wir so schnell wie möglich weiterfahren können.“
Die Pferde zogen die Buche ohne große Mühe beiseite. Thorag befreite die Tiere vom Geschirr und scheuchte sie weg. Er konnte sie nicht mitnehmen. Seinen Rappen band er hinten an den Wagen. Dann versuchte er, Saiwa beim Aufstehen zu helfen. Aber sie weigerte sich, ihren Bruder zu verlassen.
„Gerlef ist tot“, sagte Flaminia hart. „Du kannst nichts mehr für ihn tun!“
„Gerlef hat immer auf mich aufgepasst“, sagte die junge Usipeterin wie geistesabwesend. „Jetzt muss ich auf ihn aufpassen.“
Erschrecken trat in Flaminias Gesichtsausdruck, als Thorag sein Schwert zog. Doch nur der stumpfe Griff traf Saiwas Kopf, und bewusstlos sackte die Sklavin neben der Leiche ihres Bruders zusammen. Thorag verfrachtete sie in den Wagen, kletterte neben Flaminia auf den Bock und trieb die beiden graubraunen Zugpferde an. Der Planwagen rollte weiter und ließ fünfzehn Tote zurück.
Fünf davon waren durch Thorag gestorben. Es war fast, als hätte Wodan nicht nur den Winter vertrieben, sondern auch den Frieden, der mit ihm über das Land der Cherusker und der anderen Stämme hereingebrochen war.
Thorag hatte die Zeit der langen Nächte und kurzen Tage in Wisars Dorf verbracht. Er und sein Vater hatten lange geschlafen, gut gegessen und getrunken und viel miteinander gesprochen. Viel mehr konnte man nicht tun, wenn Höder sogar die Tage verdunkelte, wenn Hulda das Land mit einer dicken Schneeschicht bedeckte und wenn Ullers kalter Atem das Wasser gefrieren ließ. Das war die Zeit, in der die Menschen zusammensaßen, sich Geschichten von ihren Vorfahren und den Göttern erzählten und Letzteren dankten, wenn es den Menschen gelungen war, genug Vorräte für die kalte Jahreszeit anzulegen. In Wisars Siedlung hatte niemand hungern müssen. Vorausschauend wie immer, hatte der Gaufürst für ausreichende Nahrungsvorräte gesorgt.
Aber als Eis und Schnee schmolzen und sich die Wälder mit dem Leben des beginnenden Sommers anzufüllen begannen, hatte auch Thorag dieses Leben in sich gespürt. Es war als innere Unruhe zu ihm gekommen, die ihn immer wieder zu Ritten in die Umgebung hinaustrieb. Manchmal endeten diese Ritte im Heiligen Hain, an den Gräbern seiner Familie, aber öfter noch auf der Lichtung, wo er erstmals Auja begegnet war.
Wisar hatte die Unruhe seines Sohnes gespürt und vorgeschlagen, Thorag solle für ein paar weitere Jahre in die Dienste der Römer treten. Wisar hoffte, Thorag würde die Enttäuschung mit Auja in der Fremde besser verwinden. Und er hoffte, die Zwistigkeiten zwischen Onsaker und Thorag würden sich in der Zwischenzeit legen. Da es Wisar wieder besser ging – er hustete nur noch ganz selten –, hatte Thorag den Vorschlag dankbar angenommen.
„Du bist kein sehr guter Gesellschafter, Thorag“, schreckte ihn Flaminia aus seinen Gedanken. „Du bist nicht beredter als die Bäume hier im Wald.“
„Kein Wunder“, meinte Thorag. „Schließlich bin auch ich ein Kind dieser Wälder.“
Flaminia öffnete ihre mittels Weinhefe geröteten Lippen zu einem Lachen. „Ich muss mein Urteil über dich berichtigen, Thorag. Du bist geistreich, für einen Germanen sogar außergewöhnlich geistreich.“
„Wir Germanen, wie ihr Römer uns nennt, scheinen in euren Augen dumme Klötze zu sein, die nichts anderes können als Wild zu jagen, Bier zu trinken und einander die Schädel einzuschlagen.“
„Zugegeben, so ungefähr ist das Bild, das ich von deinem Volk habe.“
„Und was ist mit euch Römern? Was könnt ihr mehr als Gladiatoren durch die Arena zu jagen, Wein zu trinken und anderen Völkern die Schädel einzuschlagen?“
Flaminia lachte wieder, diesmal richtig laut.
„Wenn du nicht leiser bist, lockst du die Männer in den Wolfsfellen auf unsere Spur!“
„Ich sagte doch, Thorag, dass du geistreich bist. Wenn ich nicht laut lachen soll, darfst du mich nicht so erheitern.“
Flaminias Blick ruhte wohlwollend auf dem muskulösen Hünen, der so dicht bei ihr saß, und mit halb geschlossenen Augen atmete sie den Duft seines Körpers ein. Dieser Thorag gefiel ihr immer besser. Er war groß und kräftig, sah gut aus mit seinem markanten Gesicht und dem langen Blondhaar und war zudem noch ein geistreicher Gesellschafter, auch wenn er das vielleicht selbst gar nicht wusste. Ja, er gefiel ihr wirklich. Sie beschloss, dass er sich im Oppidum nicht um eine Unterkunft würde bemühen müssen. Das Haus, das Flaminia mit Maximus bewohnte, war groß genug. Und es hatte viele Schlafzimmer.
„Die Männer in den Wolfsfellen“, griff Thorag das Gespräch wieder auf. „Du nanntest sie Fenrisbrüder. Was bedeutet das?“
Natürlich wusste er, wer die Fenrisbrüder waren. Schließlich war er damals, auf Thidriks Hof, selbst mit einigen von ihnen aneinandergeraten. Aber bei den Römern musste man vorsichtig sein. Ein Mann, der zu viel wusste, geriet bei ihnen leicht in Verdacht, in dunkle Machenschaften verstrickt zu sein. Die Römer waren geborene Ränkeschmiede und gingen deshalb wie selbstverständlich davon aus, dass alle Menschen so waren.
„So nennen sich diese Kerle mit den Wolfsfellen selbst. Es ist eine Art Geheimbund, deren Angehörige einen erbitterten Kleinkrieg gegen uns Römer führen.“
„Warum?“
Flaminia zuckte mit den Schultern. „Ich nehme an, sie mögen uns nicht. Du bist selbst ein Germane. Magst du uns?“
„Es gibt Menschen, die ich mag. Und es gibt Menschen, die ich nicht mag. Aber wie kann ich ein Volk mögen oder hassen, kann ich doch niemals alle Menschen kennen, die ihm angehören.“
Flaminia zog anerkennend eine ihrer scharf ausgezupften Brauen hoch. „Du bist nicht nur geistreich, sondern zudem ein Philosoph, Thorag.“ Sie seufzte. „Nun, die Fenrisbrüder jedenfalls lieben uns Römer nicht, eher das Gegenteil davon. Ihre Anschläge werden dreister und nähern sich immer mehr dem Rhenus.“
Thorag hätte nicht gedacht, dass der Geheimbund so mächtig war. Er hatte die Männer, die ihn und seine Gefährten auf Thidriks Hof überfallen hatten, für ein paar vereinzelte Irregeleitete gehalten.
„Wenn sie so gefährlich sind, weshalb durchquerst du dann mit schwacher Begleitung dieses Gebiet?“
„Ich dachte nicht, dass meine Begleitung schwach wäre. Maximus hat mir Reiter seiner Garde mit auf den Weg gegeben. Ich werde ihm sagen, dass die Kampfkraft seiner Männer sehr zu wünschen übrig lässt. Dass sie nicht vermögen, was ein einzelner Germane vermag.“ Anerkennend sah sie Thorag an und drückte einen seiner muskulösen Oberarme. „Außerdem haben sich die Fenrisbrüder noch nie so weit vorgewagt. Bis jetzt hielten wir das Gebiet zwischen dem Oppidum und den Kastellen, die eine Tagesreise vom Fluss entfernt liegen, für sicher. Deshalb hatte ich keine Bedenken, für einige Tage einen Freund zu besuchen. Er heißt Marcellus und ist Kommandant eines Kastells.“
Flaminia verschwieg Thorag, dass sie Marcellus weniger für einige Tage als für ein paar Nächte besucht hatte. Weshalb hätte sie es ihm auch sagen sollen? Es ging ihn nichts an. Nach dem Überfall durch die Fenrisbrüder war es zu unsicher für Flaminia geworden, ihre Liebesreisen zu Marcellus zu unternehmen. Aber mit Thorag bot sich, wie es aussah, ein mehr als vollwertiger Ersatz an. Diese Aussicht wollte sie sich nicht zerstörten, indem sie die Eifersucht des Germanen schürte.
Es dämmerte bereits, als Laute aus dem Wageninnern verkündeten, dass Saiwa erwacht war. Die Herrin kletterte nach hinten und kümmerte sich um die Sklavin.
Thorag gönnte den Tieren keine Rast und lenkte den Wagen immer weiter der Ubierstadt entgegen. Nicht nur wegen möglicher Verfolger hatte er es eilig, die Stadt zu erreichen. Ursprünglich war er hierhergekommen, um dem zu entfliehen, was er bei seiner Heimkehr ins Cheruskerland erlebt und erfahren hatte. Jetzt aber deutete sich eine andere Möglichkeit an. Wenn er hier auf die Fenrisbrüder stieß, konnte er vielleicht auch mehr über das Geheimnis erfahren, dass Auja, Onsaker und Thidrik umgab.
Auf eine Weise, die er noch nicht durchschaute, hing alles miteinander zusammen. Es war gewiss kein Zufall, dass Notker auf Thidriks Hof gekommen war und dass Thidriks Sohn Hasko zu den Fenrisbrüdern gehört hatte. Wenn er das Geheimnis der Fenrisbrüder lüftete, hatte er vielleicht auch das Geheimnis um die Mordanschuldigungen gelüftet, die Onsaker gegen ihn erhob.
Gewiss, das Gottesurteil auf dem Thing hatte Thorags Unschuld bewiesen. Aber was nutzte das, solange der wahre Mörder nicht überführt war? Solange das nicht geschah, würde der Schatten des Verdachts über Thorag liegen und ihn von Auja trennen.
Große Erregung ergriff von Thorag Besitz, als sich die Umrisse des auf dem rechten Rheinufer errichteten Brückenkopfes in der Ferne undeutlich aus dem immer dunkler werdenden Himmel herausschälten. Ihr Ziel lag greifbar nah.
Etwas schreckte Thorag aus dem Schlaf – das besondere Gefühl für Gefahr, dass ihn schon oft gewarnt hatte. Während sich sein Geist fast noch im Schlaf befand, tastete seine Hand nach dem Schwertgriff. Aber er fand die Waffe nicht, wie er sich überhaupt nicht zurechtfand.
Nur langsam wurde er sich bewusst, dass er nicht auf seinem angestammten Lager im Haus seines Vaters lag. Die Erinnerung kehrte in seinen schlaftrunkenen Geist zurück. Die Erinnerung an die schöne Römerin Flaminia, die ihm aus Dankbarkeit für ihre Rettung ein Zimmer in ihrem Haus angeboten hatte. Dort hatte sie ihn reichlich bewirtet. Müde von den Anstrengungen des Tages und von der reichlich genossenen Mixtur aus Met und Wein hatte er sich dann in das zugewiesene Schlafzimmer begeben, seine Sachen auf den Stuhl und sich selbst ins Bett gelegt.
Ja, das Wehrgehänge mit seinem Schwert lag auf dem Stuhl neben dem Bett, an dessen glatten Beinen seine Hand entlangstrich. Er musste nur höher greifen.
Die Erkenntnis kam zu spät, falls der nächtliche Besucher, dessen Eintreten Thorag geweckt hatte, vorhatte, den Cherusker zu töten. Während er endlich das tödliche Eisen aus der Scheide zog, verfestigte sich der Gedanke in Thorag, dass der Mann, dessen Umrisse er in dem schwachen, vom Peristylium einfallenden Licht sah, ihm gar nichts Böses wollte. Jedenfalls traf der Besucher, der seinen Umrissen nach zu urteilen von außergewöhnlicher Körpergröße war, keine Anstalten, Thorag anzugreifen.
„Du kannst dein Schwert ruhig wieder zurückstecken, Germane“, sagte eine tiefe Stimme auf lateinisch. „Ich pflege die Gäste meiner Schwester Flaminia nicht zu überfallen. Zumal es auch meines Gäste sind.“
„Maximus?“, fragte Thorag.
„So nennt man mich, denn man sagt, ich sei schon bei meiner Geburt außergewöhnlich groß gewesen.“
Fast ein wenig beschämt steckte Thorag das Schwert zurück in die hölzerne Scheide, schlug die dicke Wolldecke beiseite, stieg aus dem Bett und trat auf den anderen Mann zu.
„Wenn ich euch Germanen so ansehe, habe ich allerdings wenig Grund, mir auf meine Größe etwas einzubilden“, fuhr der Römer fort. Die beiden Männer waren fast gleich groß.
Thorags Augen hatten sich an das schwache Licht gewöhnt, das teils von den Gestirnen über dem Peristylium einfiel und teils von den Öllampen kam, die draußen den überdachten Säulengang erhellten. Er sah den Besucher jetzt deutlich vor sich und erkannte sofort die Ähnlichkeit seiner Züge mit denen Flaminias. Auch sein Haar war schwarz, wurde allerdings schon von einigen silbernen Fäden durchzogen. Thorag schätzte den Präfekten in der glänzenden Rüstung etwa zehn Jahre älter ein als die Frau, also auf Anfang vierzig. Er wirkte mit seinen breiten Schultern und in seiner kerzengeraden Haltung eines langgedienten Soldaten sehr beeindruckend.
„Ich freue mich, dich kennenzulernen, Präfekt Maximus, und ich danke dir für die Gastfreundschaft, die deine Familie mir gewährt. Aber gibt es einen Grund für deinen nächtlichen Besuch?“
„Lass den Präfekten ruhig beiseite, Maximus genügt. Nicht du hast mir zu danken, Thorag, sondern ich dir für die Rettung meiner Schwester. Nicht auszudenken, was diese verfluchten Fenrisbrüder mit ihr angestellt hätten! Ich konnte einfach nicht anders, als sofort zu dir zu eilen, nachdem mir Flaminia alles erzählt hatte. Ich musste mir den Mann unbedingt ansehen, der fünf Fenrisbrüder auf einen Streich getötet hat.“
„Nicht auf einen Streich, Maximus. Ich benötigte mein Schwert, meine Frame und zwei Wurfspieße dazu.“
„Gleichwohl ist es eine beeindruckende Leistung, wenn ein Mann ganz allein eine Horde wilder Barbaren tötet beziehungsweise in die Flucht schlägt. Barbaren, denen es zuvor gelungen ist, einen ganzen Trupp meiner Elitesoldaten niederzumetzeln. Einen solch außergewöhnlichen Mann musste ich auf der Stelle kennenlernen. Hätte Flaminia mir nicht selbst von deinen Taten erzählt, ich hätte es nicht geglaubt.“
Täuschte sich Thorag, oder hörte er zwischen den Worten des römischen Offiziers einen seltsamen Unterton heraus, eine Mischung aus Ironie und Ungläubigkeit? Und musterten ihn Maximus’ leicht schrägstehende Augen trotz der Dankbarkeit, die der Präfekt betonte, nicht kühl und abschätzend? Thorag wurde das Gefühl nicht los, dass der wahre Grund für den nächtlichen Besuch etwas anderes war als pure Dankbarkeit. Maximus traute dem Gast seiner Schwester nicht und wollte ihn daher persönlich in Augenschein nehmen.
„Ich kann dich verstehen, Maximus. Ich hätte es wohl auch nicht geglaubt.“
Der Römer seufzte und schlug für einen Augenblick die Augen nach oben, als wolle er seine Götter um Rat bitten. „Ja, es geschehen viele unglaubliche Dinge in letzter Zeit.“
„Wie meinst du das?“, fragte Thorag vorsichtig.
„Ich meine die Fenrisbrüder, die immer vorwitziger werden. Während die Fürsten der Germanen mit uns Bündnisverträge schließen, tun diese Verbrecher einfach so, als ginge sie das alles nichts an. Immer wieder überfallen sie unsere Vorposten, Meldereiter und Nachschubtransporte. Auch ihre eigenen Leute verschonen sie nicht, beschimpfen sie als Römlinge und vergießen ihr Blut.“
„Warum werdet ihr Römer der Plage nicht Herr? Varus hat schließlich allein hier im Oppidum zwei Legionen zur Verfügung, die Auxiliartruppen nicht mitgezählt.“
„Auch für einen Löwen ist es schwer, eine Mücke zu fangen.“
„Aber der Löwe muss vor der Mücke nicht wirklich Angst haben.“
Maximus legte den Kopf schief und musterte Thorag aus zusammengekniffenen Augen. „Wirklich nicht? Auch nicht, wenn sich die Mücke in seinem Fell einnistet?“
„Wie meinst du das?“, fragte Thorag, obwohl er die Antwort bereits kannte. Plötzlich wusste er, was der Besuch des Präfekten zu bedeuten hatte.
„Eine Erklärung für die kaum glaubliche Rettung meiner Schwester wäre, dass die Fenrisbrüder die Sache von vornherein so geplant haben.“
„Dann hätten sie ihre eigenen Männer geopfert.“
„Warum nicht? Sie sind Fanatiker, zu allem fähig.“
„Wenn das wahr wäre, wäre ich einer von ihnen. Wäre es nicht sehr kühn von mir, mich ganz allein in die Höhle des mächtigen Löwen zu begeben?“