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Das große Finale von Jörg Kastners spannender Mittelalter-Saga: Köln im Jahre 1076. Der venezianische Kaufmann Alessandro Beltrami wird wegen Mordes verhaftet und vor Gericht gestellt. Die junge Ravena, die ihn liebt, sucht Hilfe bei den geheimnisvollen »Schatten von Köln«. Als deren Anführer entpuppt sich jener Georg Treuer, der damals den Aufstand gegen Erzbischof Anno angeführt hat. Georg ist auf der Suche nach dem Kelch des Herrn, dem Heiligen Gral, um Erlösung für die vielen bei dem Aufstand zu Tode Gekommenen zu erlangen. Und auch Graf Wolfram sucht den Gral im Auftrag des Königs. Aber wer das heilige Gefäß an sich bringen will, muss erst die Wächter des Grals überlisten. Köln im 11. Jahrhundert ist nicht nur eine aufstrebende Handelsstadt. Hier, im Schatten des alten Kölner Doms, greift Erzbischof Anno nach der Macht über das gesamte Reich. Der Kaufmannssohn Georg Treuer wehrt sich gegen die Ränkespiele des »dunklen Bischofs«. Die daraus entstehende Fehde schürt Verbitterung und Hass. Noch aus dem Grab heraus scheint der Kölner Bischof die Familie Treuer zu verfolgen. Jörg Kastners große Mittelalter-Saga »Der dunkle Bischof« zeichnet ein düsteres, aber zugleich farbenfrohes Bild der damaligen Ereignisse. Basierend auf alten Überlieferungen, erschafft Kastner ein bewegtes, lebendiges Abbild von Kaufleuten und »Schottenmönchen«, Dirnen und angeblichen Hexen, Bettlern und Königen – und gibt uns das Gefühl, mitten unter ihnen zu sein.
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Seitenzahl: 189
Jörg Kastner
Band 6: Wächter des Grals
Historischer Roman
Für meine guten Freunde, nicht in Köln, sondern in Hannover,die immer ein offenes Ohr und einen guten Rat haben:Bernd Frenz, Thomas Haufschild und Siegfried Tesche.
So sprach der Bischof, und in KnechtsgestaltGehorcht’ ihm Köln durch Furcht und durch Gewalt.
Doch als er siech ward und zu sterben kam,Ein heil’ger Engel seine Seele nahm,
Führt’ ihn in einen königlichen Saal,Von Perl und Gold die Wände nirgend kahl.
Da war Gesang und wonnigliches SpielUnd aller Himmelsfreuden überviel.
(Karl Simrock, Bischof Anno)
Anmerkung: Historische Personen sind hinter ihrem Namen mit einem (H) gekennzeichnet.
Adel und Klerus
Anno II. (H): ehemaliger Erzbischof von Köln, gestorben, aber für viele noch sehr lebendig
Gregor VII. (H): Papst »Höllenbrand«
Heinrich IV. (H): König des Deutschen Reiches
Hilarius: Klosterpförtner der Siegburger Abtei
Hildolf (H): neuer Erzbischof von Köln
Patrick: Abt von Groß Sankt Martin
Wolfram: Graf von Kaiserswerth
Kölner
Ansald: Fährmann
Baltram: Gefängniswärter mit fauligen Zähnen
Dankmar von Greven: Stadtvogt
Dela: junge Dienerin
Eigil Treuer: Kaufmann
Fulbert: Dieb
Genrich: Segelmacher
Heimar von Brosach: Präpositus von Köln
Hexenliese: Frau mit Visionen, auch Elisabeth geheißen
Lothar: Eigil Treuers Stiefsohn
Margarete: Eigil Treuers zweite Frau
Nelda: Witwe des Böttchers Eckart
Oda: Ravenas Amme und Vertraute
Ravena: Eigil Treuers Tochter
Rutger: Kanzlist im Dienst Eigil Treuers
Wignand: Gefängniswärter mit trockenem Mund
Sonstige
Alessandro Beltrami: Kaufmann aus Venedig
Anselm: Siegburger Kirchendiener
Broder: kräftiger Friese
Eleasar: Hüter des Grals
Georg: Ausgestoßener
Gudrun: Gefährtin Georgs
Ketil: junger Flussräuber
Rachel: Eleasars Tochter
Wernhard: Diener und Leibwächter König Heinrichs
Wigbrand: Schiffsführer
Die Schatten von Köln
Ein unheimlicher, düsterer Mann sucht das Kloster Siegburg auf, wo man Erzbischof Anno beigesetzt hat. Als er das Kloster wieder verlässt, atmen die Mönche erleichtert auf. Sie wissen nicht, dass sie Graf Wolfram vor sich hatten, der sich im Auftrag König Heinrichs von Annos Tod überzeugen soll. Wolfram setzt seinen Weg nach Köln fort, da wird sein Schiff von einer Bande überfallen, die man die »Schatten von Köln« nennt. Als in Köln die Hexenliese in den Tod gestürzt werden soll, greifen die Schatten erneut an, um sie zu retten. Mehr noch, gegen den Venezianer Alessandro Beltrami, der sich in Ravena Treuer verliebt hat, werden Vorwürfe laut, selbst hinter den Machenschaften der Hexenliese zu stecken.
Beim Frühmahl am nächsten Morgen war die allgemeine Stimmung im Hause Treuer ebenso gedrückt wie am Vortag. Als Ravena hinunterkam, saßen ihr Vater, ihre Stiefmutter, Lothar und Oda schon am Tisch. Oda aß häufig zusammen mit ihnen, obwohl sie zur Dienerschaft gehörte. Durch die langen Jahre treuer Dienste und die enge Verbundenheit mit Ravena war Oda gleichwohl ein Teil der Familie.
Auch gestern, nach der Auseinandersetzung mit Rutger, hatte sich Oda um Ravena gekümmert, hatte ihr Speisen aufs Zimmer gebracht und versucht, sie zu trösten. Irgendwann hatte es geklopft, und Alessandro war eingetreten. Oda hatte sich zurückziehen wollen, aber Alessandro bat sie zu bleiben. Oda kannte Eigil Treuer, und Alessandro hatte wissen wollen, was er von Ravenas Vater zu erwarten hatte. Aber weder Ravena noch Oda hatten eine Vorstellung, zu welchem Entschluss Eigil gelangen würde. Ravena hatte vorgeschlagen, unter vier Augen mit Rutger zu sprechen. Sie hoffte, ihn vielleicht dazu bewegen zu können, seine Lügen zurückzunehmen. Sowohl Alessandro als auch Oda rieten ihr ab. Rutger hatte sich in seine Sache verrannt, sagte Alessandro, und war schon viel zu weit gegangen, um jetzt noch kehrtzumachen. Und Oda meinte, Ravena könnte im unglücklichsten Fall Rutgers Verzweiflung und seinen Hass nur noch mehr anstacheln. Also blieb Ravena auf ihrem Zimmer und versuchte vergeblich, einen Ausweg aus der bedrückenden Lage zu finden. Sie selbst war der Stein, der den Weg versperrte. Sie träumte sehr schlecht, von Teufeln und Hexen, die sie heimsuchten und quälten. Als sie am Morgen durch die Weckrufe des Ausrufers erwachte, fühlte sie sich wie gerädert.
»Wo steckt Alessandro?«, fragte ihr Vater, noch bevor sie an der Tafel Platz genommen hatte.
»Er wird wohl noch auf seinem Zimmer sein«, antwortete Ravena, während sie sich setzte und ihren Blick über die Speisen gleiten ließ. Sie hatte gestern nach all der Aufregung kaum etwas zu sich genommen. Obwohl Ravena sich jetzt nicht wesentlich besser fühlte, spürte sie ihren leeren Magen. Sie tat sich Brot und Apfelmus auf und wollte gerade in das noch ofenwarme Brot beißen, als in der Halle Stimmen und Schritte ertönten.
Den Treuers blieb kaum Zeit, sich zum Eingang umzudrehen, da erschienen auch schon mehrere Männer mit blanken Waffen. Es waren Stadtwachen, angeführt von niemand Geringerem als Dankmar von Greven. Der Stadtvogt war der Einzige, der weder Schwert noch Speer in Händen hielt, aber seine Rechte lag auf dem Schwertknauf an seiner Seite, bereit, die Waffe jederzeit zu ziehen.
Dankmars Blick huschte durch den Raum, bevor er sich auf Eigil heftete. »Wo steckt er?«, schnarrte der Stadtvogt, als spreche er nicht zu einem angesehenen Kaufmann, sondern zu einem seiner Soldaten.
»Ich weiß nicht, wovon Ihr sprecht, Vogt«, sagte Eigil in einem Ton, der seine Verstimmung deutlich machte. »Über Euren Auftritt bin ich recht überrascht. Eine Erklärung wäre wohl angemessen.«
»Wir suchen Euren Gast, den Venezianer«, sagte Dankmar ohne jede Freundlichkeit. »Wo habt Ihr ihn versteckt?«
»Wir haben ihn gar nicht versteckt«, erwiderte Eigil. »Wozu auch?«
»Und wo ist er dann?«
»In seinem Zimmer, nehme ich an. Wir haben ihn heute noch nicht gesehen.«
»Oben?«, fragte Dankmar und zeigte die Stiege hinauf.
Eigil nickte und wollte etwas hinzufügen, kam aber nicht dazu. Auf Dankmars Wink trampelten die Wachen mit ihren schweren Lederstiefeln die Treppe hinauf, Dankmar mitten unter ihnen. Bevor sie oben ankamen, blieben sie unvermittelt stehen. Auf dem oberen Absatz der Stiege war Alessandro erschienen. Er war noch nicht ganz angezogen und wirkte, als habe der Lärm der Wachen ihn aus dem Schlaf gerissen.
»Was ist hier los?«, fragte er. »Was bedeutet dieser Aufruhr?«
Dankmar drängte sich an seinen Männern vorbei nach oben, zog dabei sein Schwert und drückte die Spitze gegen Alessandros Brust. »Alessandro Beltrami aus Venedig, ich nehme Euch in Gewahrsam, weil Ihr einen Bürger der Stadt Köln getötet habt!«
Die Wachen stürzten sich auf Alessandro, der sich nach Kräften gegen sie wehrte. Er trug keine Waffen bei sich, und seine bloßen Fäuste kamen nicht lange gegen die Schwerter und Speere der Soldaten an. Dankmars Männer überwältigten ihn, warfen ihn zu Boden und banden seine Hände auf den Rücken. Sie sprangen recht roh mit Alessandro um und Ravena hörte ihn zwei oder drei Mal schmerzerfüllt aufstöhnen. Sie zuckte dabei zusammen wie unter Peitschenhieben.
Dankmar aber sah sich das alles mit leuchtenden Augen an. Nach dem gestrigen Zwischenfall mit Alessandro musste es für ihn eine Genugtuung sein, den Venezianer gebunden und hilflos vor sich liegen zu sehen.
»Ein Mord?«, fragte Eigil fassungslos. »Wer ist getötet worden?«
»Euer Kanzlist«, antwortete Dankmar. »Ein gewisser Rutger.«
Ravena stöhnte laut auf, als der Name fiel. Sie konnte kaum glauben, dass Rutger wirklich tot war. Gestern hatte sich Rutger in einem hässlichen Licht gezeigt. Aber das war jetzt bedeutungslos. Sie dachte an den Rutger, den sie geliebt hatte. Tot! Das klang so endgültig, dass sie es einfach nicht wahrhaben wollte.
»Was hat Eure Tochter?«, fragte Dankmar. »Sie ist plötzlich so blass im Gesicht.«
Eigil warf Ravena einen besorgten Blick zu und sagte zu Dankmar: »Kein Wunder, wenn Eure Männer hier wie eine wilde Horde hereintrampeln und Ravenas zukünftigen Mann verhaften, während Ihr von Mord redet!«
»Bedankt Euch bei Eurem zukünftigen Schwiegersohn hier«, sagte Dankmar und deutete mit seiner Schwertspitze auf den am Boden liegenden Alessandro. »Er hat den Mord begangen, nicht ich.«
»Wann soll das gewesen sein?«, erkundigte sich Eigil.
»Nach Einbruch der Nacht, als die Plätze und Gassen längst leer waren und brave Bürger sich zur Ruhe begeben hatten.«
»Dann kann es unmöglich Alessandro gewesen sein«, sagte Eigil. »Er hat oben geschlafen.«
»Dafür solltet Ihr nicht Eure Hand ins Feuer legen, Eigil Treuer!« Dankmar gestattete sich ein Lächeln, aber darin lag nichts Freundliches; es war ein Ausdruck des Triumphs. Er wandte sich an diejenigen seiner Männer, die unten geblieben waren. »Holt den Zeugen herein!«
Zwei der Wachen gingen nach draußen und kehrten kurz darauf mit einem rothaarigen Mann mittleren Alters zurück. Es war ein Nachbar der Treuers, der Segelmacher Genrich. Er grüßte Eigil und die anderen, wirkte aber zu Ravenas Verwunderung sehr scheu. Das war sonst nicht seine Art. Genrich war meistens sehr fröhlich und erzählte gern eine Zote, wenn man sich mit ihm unterhielt.
»Ihr kennt Genrich wohl als zuverlässigen Mann hier im Wik«, sagte Dankmar, während er die Stiege hinabkam; seine Männer schleppten Alessandro hintendrein. »Oder zweifelt hier jemand an Genrichs Aufrichtigkeit?«
»Natürlich nicht«, sagte Eigil Treuer. »Genrich ist uns stets ein guter Nachbar gewesen.«
Ravena sah ihrem Vater an, dass er sich ebenso unwohl in seiner Haut fühlte wie der Segelmacher. Der Stadtvogt führte offensichtlich etwas im Schilde. Er wirkte wie ein Feldherr, der den Feind in die Falle gelockt hatte und, schon in der Vorfreude des Sieges, nur noch darauf wartete, dem Gegner den entscheidenden Stoß zu versetzen.
Dankmar nahm, ohne zu fragen, ein Stück Ziegenkäse von der Tafel und biss hinein. Kauend sagte er: »Genrich, erzählt doch noch einmal, was Ihr heute Morgen beobachtet habt!«
»Aber … Herr, Ihr wisst doch schon alles«, stammelte der Segelmacher mit einem ängstlichen Seitenblick auf Eigil.
»Ich schon, Euer Nachbar aber nicht«, erwiderte Dankmar mit nur aufgesetzter Freundlichkeit; das Lächeln, mit dem er Genrich bedachte, erinnerte an ein Raubtier, das die Zähne zeigte. »Vielleicht glaubt Eigil Treuer Euch eher als seinem Vogt.«
»Ich stand heute Morgen sehr früh auf«, begann Genrich zögernd. »Ich habe schon seit Tagen einen schlechten Schlaf. Meine Frau Hilma meint, das alles sei die Schuld der Hexenliese. Das Hexenweib will uns den Schlaf stehlen, sagt Hilma, damit wir müde und unaufmerksam werden und uns dann leichter vom Teufel einwickeln lassen, wenn der unsere Seelen …«
»Schon gut!«, unterbrach Dankmar den Segelmacher. »Erzählt nicht von Hexen und vom Teufel, sondern davon, was Ihr am frühen Morgen gesehen habt!«
»Eigentlich war es noch Nacht, vollkommen dunkel jedenfalls«, sagte Genrich. »Ich beschloss, die Zeit zu nutzen und etwas zu arbeiten. Hilma schlief noch fest und in der Werkstatt störe ich sie nicht. Als ich dann über den Hof zur Werkstatt ging, habe ich ihn gesehen.«
»Wen?«, hakte der Stadtvogt nach.
»Ihn!«, sagte Genrich und zeigte auf Alessandro, der, von Wachen umringt, mit auf den Rücken gefesselten Händen am unteren Treppenabsatz stand. »Der Italiener ging auf das Haus der Treuers zu, auf dieses Haus. Er wirkte sehr erschöpft.«
»Woran habt Ihr das erkannt, Genrich?«, fragte Dankmar.
»An seinem schleppenden Gang. Ich wunderte mich nur, habe mich aber nicht weiter darum gekümmert. Ich wollte ja arbeiten.«
»Natürlich«, sagte der Vogt, schien aber gar nicht richtig hingehört zu haben. Er wandte sich Eigil zu und sprach frohlockend: »Wollt Ihr noch immer behaupten, dass Euer Gast die ganze Nacht über unter Eurem Dach friedlich geschlafen hat?«
»Ich …«, brachte Eigil nur hervor, bevor seine Stimme mit einem kläglichen Ton abbrach. Er sah Dankmar an, dann Genrich und schließlich Alessandro.
»Bemüht Euch nicht, Eigil«, ergriff der Venezianer das Wort. »Euer Nachbar spricht die Wahrheit. Auch ich konnte nämlich nicht schlafen. Nachdem ich mich lange im Bett herumwälzte, hoffte ich, dass die frische Nachtluft mir guttun würde. Deshalb unternahm ich einen Spaziergang.«
»Und bei der Gelegenheit habt Ihr gleich den Kanzlisten Rutger umgebracht«, sagte der Vogt.
»Das ist nicht wahr! Weshalb hätte ich das tun sollen?«
Die Antwort kam aus dem Eingang, wo unvermutet Nelda erschienen war: »Der Italiener wollte seinen Nebenbuhler beseitigen. So ist es bestimmt gewesen. Sollte mich nicht wundern, wenn ihm das Hexenweib dabei geholfen hat. Er hat nämlich für ihre Befreiung gesorgt!«
»Was?«, rief Dankmar und starrte die Frau an. »Wer bist du, Weib?«
Nelda ging nicht darauf ein, sondern zeigte auf Alessandro. »Ihn müsst Ihr fragen! Er ist der Mörder. Erst hat er Frau und Kind getötet und jetzt den jungen Rutger. Man sollte ihn so behandeln wie die Hexe und ihn von der Stadtmauer stürzen!«
Ravena hatte gehofft, dass der verwirrte Geist der Böttcherswitwe sich wieder klären würde. Aber das Gegenteil schien der Fall zu sein, wenn Nelda jetzt sogar den Mann beschuldigte, der ihr Leben und das ihrer Tochter unter größter Gefahr gerettet hatte. Das Feuer, das ihr Mann und Sohn geraubt hatte, schien ihr auch den klaren Verstand genommen zu haben. Geblieben war nur der Hass auf die Hexenliese und grenzenlose Rachsucht.
Dankmar ließ sich von Eigil erklären, wer Nelda war. Dann bot er ihr einen Stuhl an und fragte sie: »Ihr habt eben sehr viele Dinge über Alessandro Beltrami gesagt. Rutger war also sein Nebenbuhler? Alessandro hat Weib und Kind umgebracht und für die Rettung der Hexe gesorgt? Erklärt Euch doch näher, Nelda!«
»Ich habe es gestern mit angehört, als Rutger ins Haus ging. Ich stand bei der Tür und hörte zu, ohne dass die anderen es bemerkten. Versteht Ihr?«
»Gewiss«, versicherte Dankmar und zeigte sein Raubtierlächeln. »Und nun sagt mir, was Ihr gehört habt – bitte!«
Nelda erzählte zwar häufig zusammenhanglos, aber durch einiges Nachfragen erfuhr Dankmar von dem gesamten Streit, den es gestern durch Rutger gegeben hatte.
»Ich danke Euch, Nelda«, sagte der Vogt schließlich und wandte sich wieder den anderen zu. »Jetzt haben wir aber gleich zwei gute Gründe für Alessandro, den Kanzlisten umzubringen. Rutger war auch in Ravena verliebt, und er wusste um die Schandtaten aus Alessandros Vergangenheit. Im Verein mit Genrichs Aussage und dem Dolch ist das wohl Beweis genug für die Schuld Eures Gastes, Eigil Treuer.« Dankmar beugte sich zu Ravenas Vater vor. »Und Ihr solltet Euch in Zukunft besser vorsehen! Was Rutger Euch gestern zugetragen hat, hättet Ihr mir auf der Stelle melden müssen!«
»Was ist das mit dem Dolch?«, fragte Alessandro.
»Rutger wurde mit einem venezianischen Dolch getötet. Ihr tragt doch auch so einen – oder habt ihn zumindest gestern noch getragen. Ich selbst hatte Gelegenheit, mich aus nächster Nähe davon zu überzeugen.«
»Habt Ihr die Mordwaffe, den Dolch, bei Rutgers Leichnam gefunden?«
Der Vogt nickte. »In seinem Leichnam, um genau zu sein.«
»Dann kann es nicht mein Dolch sein. Der liegt oben in meinem Zimmer.«
Dankmar schickte einen Mann hinauf, das nachzuprüfen. Der Soldat kehrte bald mit der Waffe zurück. Es war eindeutig der Dolch mit den in Richtung der langen, schmalen Klinge gebogenen Parierstangen und den im Griff eingefassten Rubinen, mit dem Alessandro gestern den Vogt entwaffnet hatte.
»Na bitte«, sagte Dankmar zufrieden und nahm die Waffe an sich. »Da ist ja der Beweis für Eure Schuld.«
»Was sagt Ihr?«, entfuhr es Alessandro. »Das ist doch wohl eher der Beweis meiner Unschuld!«
»Keineswegs«, erwiderte der Stadtvogt kühl. »Die Mordwaffe ist sehr ähnlich gefertigt, eindeutig eine venezianische Arbeit. Ich kenn mich mit Waffen gut aus, müsst Ihr wissen. Und ich wüsste zurzeit niemanden in Köln, der einen Dolch aus Venedig trägt. Ist es in Italien nicht üblich, mit zwei Waffen zu kämpfen, eine in jeder Hand?«
»Wer sich auf eine Waffe nicht verlassen will, tut das«, antwortete Alessandro. »Ich aber habe nur diesen einen Dolch und hatte auch keinen anderen.«
Eigil fragte: »Sind sich die beiden Dolche wirklich so ähnlich?«
»Überzeugt Euch selbst«, schlug Dankmar vor. »Begleitet mich zur Leiche. Sie müsste noch dort liegen, wo sie aufgefunden wurde.«
Kurz darauf verließ eine bunte Schar das Anwesen der Treuers. Dankmar von Greven ritt auf seinem Rappen voran. Ihm folgten zu Fuß seine Wachen, in ihrer Mitte der noch immer gefesselte Alessandro. Ihnen hatten sich Eigil Treuer, Lothar, Ravena und Oda angeschlossen. Erst wollte Eigil seiner Tochter verbieten mitzukommen. Dann aber hatte er eingesehen, dass sie vielleicht von allen hier, ausgenommen Alessandro, diejenige war, die das Ganze am meisten anging.
Ravena versuchte, in Alessandros Nähe zu kommen. Sie sah ihn an und hätte gern gewusst, wie es jetzt in ihm aussehen mochte. Seine Fahrt nach Köln hatte ihm wahrhaftig kein Glück gebracht.
Alessandro wandte den Kopf zu ihr um und lächelte tapfer. »Ich bin unschuldig, Ravena!«
»Das musst du mir nicht sagen, Alessandro. Das weiß ich.«
Die Dächer von Groß Sankt Martin wuchsen vor ihnen in die Höhe. Dankmar lenkte den Rappen zu einer schmalen Gasse zwischen Kirche und Altem Markt. Eine Menge Volk hatte sich dort versammelt und wurde nur von einigen Wachen des Stadtvogts davon abgehalten, die Gasse zu überströmen. Dankmar stieg aus dem Sattel, um mit seinem Gefangenen und den Mitgliedern der Familie Treuer die Gasse zu betreten.
»Ein Mönch von Groß Sankt Martin, der eine frühe Erledigung zu besorgen hatte, stieß hier auf den Toten«, erklärte der Vogt. »Er lag genauso da, wie er noch jetzt zu sehen ist.«
Dankmar trat zur Seite und gab den Blick auf den Leichnam frei. Der Leib eines Mannes lag in seitlicher, verkrümmter Haltung auf dem schmutzigen Boden. Im ersten Augenblick hoffte Ravena, es möge ein anderer sein, nicht Rutger. Dieses Gesicht wirkte so fremd. Überraschung und Schrecken waren tief in die verzerrten Züge gegraben, und das war es, was das Antlitz so veränderte und Ravena fremd erscheinen ließ, was ihr doch so vertraut gewesen war.
Ja, es war Rutger, und der Anblick tat ihr in der Seele weh. Sie sah den Rutger vor sich, an den sie ihr Herz verloren hatte. Sie hörte seine Stimme lachen, wenn sie einen Scherz machte, hörte ihn große Pläne für ihre gemeinsame Zukunft schmieden. Auch wenn Rutger sich in den letzten Tagen verändert hatte, der alte Rutger war doch in ihm gewesen. Und den mit einem Dolchstoß ausgelöscht zu sehen, traf Ravena, als hätte sie und nicht Rutger die Klinge ins Herz bekommen.
Die Waffe ähnelte tatsächlich dem Dolch Alessandros. Die Parierstangen waren in ähnlicher Weise umgebogen. Auch die Mordwaffe hatte einen kunstvoll gearbeiteten Griff mit eingelassenen Edelsteinen. Nur handelte es sich in diesem Fall nicht um Rubine, sondern um Smaragde.
»Sind sich die Waffen nicht erstaunlich ähnlich?«, fragte da auch schon der Stadtvogt.
»In Venedig gibt es viele Waffen, die so aussehen«, sagte Alessandro.
»Mag sein«, brummte Dankmar. »Aber hier ist nicht Venedig. Wer sonst außer Euch sollte hier in Köln so eine Waffe führen?«
»Die Besatzung!«, rief Ravena, einer Eingebung folgend. »Auch die Männer von Alessandros Schiff kommen aus Venedig.«
»Die Seeleute werden sich wohl kaum mit Edelsteinen geschmückte Waffen leisten können«, wehrte der Vogt lachend ab. »Man kann es drehen und wenden, wie man will. Der Verdacht fällt nur auf einen einzigen Mann, auf Alessandro. Und da es ein schwerwiegender Verdacht ist, bringe ich ihn jetzt in den Kerker!«
Als Ravena wieder zu Hause war, grübelte sie in ihrem Zimmer. Zwei Bilder hatten sich in ihrem Kopf festgesetzt und beschäftigten sie unablässig. Zum einen war da Rutgers Leiche. Der kümmerliche Rest eines Menschen, der einmal voller Leben gewesen war. Und dann Alessandro, sein angeblicher Mörder. Als die Wachen ihn zum Kerker geführt hatten, hatte er sich noch einmal zu Ravena umgesehen. Für einen langen, leider nicht unendlichen Augenblick hatten ihre Blicke einander getroffen. Deutlich hatte sie in Alessandros Blick die Bitte gelesen, ihm zu vertrauen. Aber warum bat er sie überhaupt darum? Er musste doch wissen, dass Ravena ihn nicht für einen Mörder hielt.
Leider genügte es bei Weitem nicht, dass Ravena ihn für unschuldig hielt. Zu viele Verdachtsmomente sprachen gegen Alessandro. Da war die Mordwaffe, der venezianische Dolch. Und da war der Grund, Rutger zu töten. Alessandro hatte wohl gleich mehrere Gründe gehabt, und da schien er der Einzige zu sein. Aber konnte ein Mann wie Alessandro so dumm sein, seinen leicht zu erkennenden Dolch in der Leiche zurückzulassen? Oder hatte jemand gewollt, dass man Alessandro für den Mörder hielt?
Unablässig dachte sie darüber nach, wer einen Grund gehabt haben könnte, Rutger zu töten und die Tat Alessandro anzuhängen. Schließlich, als ihr bereits der Kopf schmerzte, kam sie darauf. Sofort stürzte sie aus ihrem Zimmer, eilte die Stiege hinab und lief über den Hof zur Kanzlei.
Nur ein einziger Mann hielt sich in der Kanzlei auf. Er stand am Pult und nahm mit einem Federkiel Eintragungen in ein großes, ledergebundenes Buch vor. Immer wieder verglich er Angaben aus zwei anderen Listen miteinander, bevor er die nächste Eintragung vornahm. Er war so in seine Arbeit versunken, dass er Ravena nicht einmal bemerkte, als sie dicht neben ihm stand.
»Du hast es getan, nicht wahr?«
Lothar zuckte zusammen, als er Ravenas Stimme hörte. Vor Schreck zog er mit dem Federkiel eine dunkle Tintenlinie quer über eine Buchseite.
»Mein Gott, hast du mich erschreckt! Ich war so in der Arbeit versunken. Vater hat mich beauftragt, Rutgers Arbeit fortzuführen, bis wir einen neuen Kanzlisten haben. Es ist wirklich nicht leicht, sich in all das innerhalb kürzester Zeit einzuarbeiten.«
»Wenn dir das zu viel ist, hättest du Rutger nicht töten dürfen!«
Lothar trat einen Schritt zurück und starrte Ravena an wie eine Geistererscheinung. »Du meinst hoffentlich nicht ernst, was du da sagst!«
»Ich meine es sogar sehr ernst damit«, entgegnete Ravena. »Ich habe lange nachgedacht, wer ein Interesse daran haben könnte, Rutger und Alessandro aus dem Weg zu schaffen. Die Antwort darauf bist du.«
»Ach ja? Kannst du mir das genauer erklären?«
»Du bist begierig darauf, mehr Verantwortung in Vaters Geschäft zu übernehmen. Denn du möchtest zum Oberhaupt des Handelshauses Treuer aufsteigen. Meine Heirat mit Alessandro hätte dich weit zurückgeworfen. Es ist kein Geheimnis, dass mein Vater Alessandro gern an seiner Seite im Geschäft gesehen hätte.«
»Und um Alessandro aus dem Weg zu räumen, bringe ich erst einmal Rutger um, ja?«
»Du wolltest auch Rutger los sein, zu deiner eigenen Absicherung. Wenn aus ihm und mir doch noch ein Paar geworden wäre, hättest du als Stiefsohn Eigils abermals abseitsgestanden. Rutger war ein guter Kanzlist und wäre sicher auch ein guter Kaufherr gewesen. Da kam dir der Einfall, beide Hindernisse auf einen Schlag aus der Welt zu schaffen.«
»Und der Dolch? Wie habe ich das hinbekommen?«
»Als Mitglied der Familie Treuer hast du vielfältige Kontakte. Irgendwo ließ sich ein ähnlicher Dolch wie der Alessandros gewiss auftreiben. Alles deutet auf dich, Lothar!«
»Vor allem du deutest auf mich. Du hast es nie verwinden können, dass du deinen Vater mit meiner Mutter und mit mir teilen musstest. Stimmt das nicht?«
»Du lenkst vom Thema ab.«
»Wirklich? Ich dachte, unser Thema ist die Suche nach Gründen. Ich suche gerade einen Grund, warum du mir die schreckliche Tat anhängen willst.«
»Du gibst es also nicht zu?«, hakte Ravena nach.
»Den Teufel werde ich tun!«, schnaubte Lothar und wies mit dem Federkiel zur Tür. »Und jetzt scher dich hinaus!«
Als Ravena die Kanzlei verließ, wusste sie nicht mehr, was sie glauben sollte. War Lothars Empörung echt gewesen, oder konnte er sich einfach nur ziemlich gut verstellen?