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Der ehemalige Jesuitenbruder Paul Kadrell hält sich für den Erben Satans, eine Bürde, die ihn fast in den Selbstmord treibt. Doch dann erfährt er, dass seine Geliebte Claudia Bianchi schwanger ist – was, wenn auch das Kind das Böse in sich trägt? Die beiden müssen schnell handeln, um das Kind vielleicht doch noch zu retten. Doch dann stoßen sie in Rom auf eine jahrhundertealte Schrift, die die Rückkehr eines dunklen Gottes prophezeit. Nach »Teufelszahl« ist »Teufelssohn« der nächste beklemmende Teufelsroman um den Jesuiten Paul Kadrell und die Kommissarin Claudia Bianchi.
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Seitenzahl: 473
Jörg Kastner
Roman
Für Diavolino und seinen besten Freund Karlchen und für alle besten Freunde. JK
»Ich habe für dich gebeten, dass dein Glaube nicht aufhöre.« (Jesus Christus nach Lukas 22,32)
Rom, Forum Romanum
Das Forum Romanum strahlte trotz der Unruhe, die von den vielen Menschen ausging, etwas Erhabenes aus. Die Mauern und Säulen wirkten im Licht der Scheinwerfer wie eben erst entstanden, als hätte die Helligkeit, die den Ort dem Abenddunkel entriss, die Spuren ihrer weit mehr als tausend Jahre währenden Geschichte getilgt. Stromgeneratoren summten. Techniker, Journalisten und Helfer riefen einander Anweisungen zu. Fernsehkameras und Mikrofone wurden ausgerichtet. Immer wieder zuckten Blitze durch die Nacht, wenn Fotografen auf den Auslöser drückten. Die geladenen Gäste, mehr als dreihundert, unterhielten sich munter wie auf einer Cocktailparty. Doch Lärm und Gewimmel konnten die weihevolle Atmosphäre nicht zerstören, jedenfalls nicht für Claudia Bianchi. Vielleicht war sie aber auch besonders empfänglich dafür, gehörte sie doch unter den Anwesenden zu den Wenigen, für die dieser Abend nicht nur ein kulturelles Ereignis bedeutete – womöglich begegnete sie hier dem Tod.
Nein, davon ahnte kaum einer hier etwas, und den Überresten der Bauwerke, die einst das Zentrum des Römischen Weltreiches gewesen waren, konnte es gleichgültig sein. Hier hatte das Herz jenes Giganten geschlagen, der Rom einmal gewesen war. Das Blut, das dieses Herz durch die Adern gepumpt hatte, waren die römischen Legionen gewesen, unter deren Marschtritt ein beträchtlicher Teil der damals bekannten Welt erbebte. Und es waren die Ströme von Waren und Sklaven gewesen, die aus den eroberten Provinzen zurück nach Rom flossen und es dem einst mächtigen Reich erst ermöglichten, sich weiter und weiter auszudehnen.
Einst hatte sich hier, zwischen Palatin und Kapitol, nur eine sumpfige Ebene erstreckt, die trockengelegt wurde und den Bürgern der ältesten römischen Gemeinden, in deren Mitte sie lag, als Marktplatz diente. Nach den Bauern und Händlern zogen die Götter ein, als die Römer fünfhundert Jahre vor Christi Geburt an diesem Ort Tempel errichteten. Für Saturn, den Gott des Ackerbaus, und für die Dioskuren Castor und Pollux, die den Römern der Sage nach bei der Entscheidungsschlacht gegen die Latiner beigestanden hatten. Bald kamen Bauwerke zur Verehrung weiterer Gottheiten hinzu. Der Tempel der Vesta, der keuschen Hüterin des heiligen Feuers, der nur von den jungfräulichen Vestalinnen und vom Pontifex maximus, dem obersten Wächter des Götterkults, betreten werden durfte. Der Tempel der Concordia, Göttin der Eintracht. Der Tempel des Feuergottes Vulcanus und der Tempel der Nymphe Juturna; Wasser aus den ihr geweihten Quellen galt als heilend. Der Tempel des Janus, Gott des Anfangs und des Endes, der Ein- und Ausgänge, der Türen und Tore. Von dem Tempel war nichts geblieben, aber für die Römer der Antike hatte er eine besondere Bedeutung gehabt: Standen seine Türen offen, hieß das, Rom befand sich im Krieg; waren sie geschlossen, bedeutete das Frieden im Reich und an den Grenzen.
Nicht nur die Götter hatte man im Forum Romanum verehrt, auch die wichtigen Entscheidungen über Politik und Wirtschaft waren hier getroffen worden. Das Comitium am Rande des Forums war bis in die Zeit der späten Republik der Ort der gesetzgebenden Versammlung gewesen, und daneben, in der Curia Hostilia und später in der von Caesar begonnenen und von Augustus beendeten Curia Julia, hatte der römische Senat getagt. Dazu hatte hier in einer immer wieder vergrößerten Wandelhalle, die mit ihren Läden, Kontoren und Wechselbanken einer modernen Einkaufspassage nicht unähnlich gewesen war, ein pulsierendes Geschäftsleben geherrscht.
Auch in der Gegenwart war das Forum Romanum von regem Treiben erfüllt, nur kamen heute die Touristen aus aller Herren Länder, um sich und ihre Lieben auf Schnappschüssen vor den Resten alter Pracht zu verewigen und den Hauch der Weltgeschichte zu spüren.
Eine Ironie ebendieser Weltgeschichte, dachte Claudia: Rom hatte seine Legionen in die Welt hinausgesandt, um sie zu unterwerfen, jetzt kam die ganze Welt nach Rom, um die Überbleibsel einstiger Macht zu bewundern.
An diesem Abend im Mai aber waren keine Touristen in Jeans und Freizeithemden, in Outdoorwesten und mit buntbedruckten Schirmmützen zu sehen, wie schon den ganzen Tag über nicht. Das Gelände war seit dem frühen Morgen abgesperrt gewesen, damit Vorkehrungen für den abendlichen Festakt getroffen werden konnten.
Unerwartet und von den meisten unbemerkt war aus der Absperrung zu logistischen Zwecken auch eine sicherheitstechnische geworden. Die Zahl der sichtbaren Uniformierten war kaum erhöht worden, um Gäste und Öffentlichkeit nicht zu beunruhigen. Aber draußen an den Straßen standen mehrere scheinbar zivile Lieferwagen und Busse, in denen eine Hundertschaft der Carabinieri und eine der Staatspolizei sich für einen Einsatz bereithielten, der hoffentlich nicht kam. Polizisten in Zivil hatten sich unter die Gäste gemischt; um nicht aufzufallen, trugen sie dem festlichen Anlass angemessene Kleidung.
Claudia hatte sich für einen dunklen Hosenanzug entschieden, schlicht, aber elegant. Ihr Kollege Aldo Rossi, der neben ihr stand und die Szenerie zu genießen schien, hatte es ihrer Ansicht nach mit seinem Dreiteiler, zu dem eine weinrote Weste, eine weinrote Krawatte und ein weinrotes Einstecktuch gehörten, etwas übertrieben. Er allerdings schien sich zu gefallen, und nicht wenigen der geladenen Damen erging es offenbar ähnlich. Immer wieder zog Aldo Blicke auf sich, in denen die Frage lag, wer der gut aussehende, schlanke Mann mit dem dunklen Teint und den schwarzen Locken war und warum man ihn noch nie auf einem gesellschaftlichen Anlass gesehen hatte.
Aldo wusste Claudias amüsierte Miene nicht zu deuten und fragte: »Hast du etwas Lustiges gesehen?«
»Nein, ich habe mir nur selber einen Witz erzählt.«
»Na immerhin«, brummte Aldo.
Claudia war irritiert. »Was soll das denn heißen?«
»Du wirst zugeben, dass du in letzter Zeit nicht gerade ein Quell sprudelnder Lebensfreude warst. Es wird Zeit, dass du mal wieder ein paar positive Gedanken in deinen Kopf lässt. Und wenn du dir selbst einen Witz erzählst, ist das doch ein guter Anfang. Darf ich fragen, wie der Witz geht?«
»Es war der Witz von dem vorlauten Vice Commissario, der von seiner Vorgesetzten eine gute Beurteilung haben will«, erwiderte Claudia mit gespielter Strenge, konnte sich aber ein Lächeln nicht verkneifen.
Aldo hatte ja recht. In den vergangenen zwei Monaten hatte sie sich vermutlich ein Anrecht auf den Titel der verdrießlichsten Polizistin von Rom erworben. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal richtig gelacht hatte. Sie war gewiss nicht grundlos deprimiert gewesen, aber wie hieß es doch in rührseligen Filmen und Romanen: Das Leben geht weiter! Das mochte eine Plattitüde sein, aber es war doch etwas Wahres daran, das war ihr in den vergangenen Wochen mit jedem Tag stärker bewusst geworden.
Eine männliche Stimme hinter ihr beanspruchte ihre Aufmerksamkeit: »Ist alles im grünen Bereich?«
Sie drehte sich um und sah sich ihrem obersten Vorgesetzten gegenüber, Cesare Compagni, Polizeipräsident von Rom. Ein großer, wuchtiger Mittfünfziger, dessen stets gepflegte Erscheinung dafür sorgte, dass er trotz der imposanten Statur nicht grobschlächtig wirkte. Sein Charakter entsprach seinem Äußeren. In der Regel hatte er einen ruhigen, höflichen Umgangston; nur höchst selten hatte man ihn gegenüber Untergebenen laut werden hören. Wenn es aber dazu kam, glich er einem Vulkan, dessen Eruption längst überfällig war, und wehe dem, über den sich der Lavastrom seiner Wut ergoss!
Jetzt lächelte er unverbindlich, wie fast alle anderen geladenen Gäste auch. In seinem schwarzen Dreiteiler mit den feinen grauen Streifen, gekrönt durch die im selben Muster gehaltene Fliege, wirkte er ganz wie einer von ihnen, von Roms oberen Zehntausend. Was er ja auch war.
Niemand, der nicht eingeweiht war, wäre darauf gekommen, dass Compagni sich nicht nur aus privaten Gründen hier aufhielt. Er hatte sogar seine Frau mitgebracht, eine dem Anlass entsprechend herausgeputzte Endvierzigerin, die ihre matronenhafte Figur in ein etwas zu enges grünes Abendkleid gezwängt hatte. Claudia wusste nur, dass sie Antonella hieß und einen hohen Posten in der Schulbehörde innehatte.
Aldo hatte offenbar eine weitere Eroberung gemacht; wann immer die Frau des Polizeipräsidenten sich unbeobachtet glaubte, warf sie ihm sehnsüchtige Blicke zu, doch er schien es gar nicht zu bemerken.
»Bis jetzt haben wir keinen Hinweis darauf, dass an der mysteriösen Drohung etwas dran sein könnte«, sagte Claudia schließlich. »Gut möglich, dass sich jemand einen Spaß mit uns erlaubt und sich in diesem Augenblick königlich amüsiert.«
»Meinetwegen«, brummte Compagni. »Lieber das, als uns hinterher vorwerfen lassen zu müssen, wir hätten eine Drohung nicht ernst genommen. Schließlich sind eine Menge wichtiger Leute hier.« Mit einer ausladenden Geste schien er das ganze Forum umfassen zu wollen. »Künstler, Medienleute, Wissenschaftler, wichtige Repräsentanten der Stadtverwaltung und natürlich unsere Freunde aus dem Vatikan.«
Sein Blick blieb an einer Gruppe hängen, deren weitgehend schlichte schwarze Kleidung nicht zur Aufmachung der übrigen Gäste passen wollte. An die zwanzig Vertreter des Vatikans waren gekommen, um dem Ereignis beizuwohnen, darunter einige Kardinäle, deren rote und purpurne Gewänder immerhin angemessen feierlich wirkten. Claudia entdeckte unter den Klerikern die schlanke, kaum mittelgroße und in unauffälliges Schwarz gekleidete Gestalt von Monsignore Eiji Uehara, dem stellvertretenden Leiter des vatikanischen Büros für Gräberarchäologie. Unvermittelt musste sie an die ebenso gefährlichen wie geheimnisvollen Geschehnisse rund um das sogenannte Wahre Grab Petri denken, die sie – und nicht nur sie – etwa zwei Monate zuvor in Atem gehalten hatten.
Der aus Japan stammende Jesuitenzögling hatte ihren Blick bemerkt und erwiderte ihn. In den schmalen Augen hinter seiner randlosen, kaum sichtbaren Brille las sie Verwunderung darüber, dass sie hier war. Dann aber lächelte er und nickte ihr zu.
Sie erwiderte die Geste und war froh, dass er nicht zu ihr herüberkam und fragte, was sie hier tat. Ein großer, knochiger Mann, der Uehara offenbar eine Frage stellte, beanspruchte seine Aufmerksamkeit. Das war Ueharas neuer Vorgesetzter, ein Franzose, wie sie sich erinnerte, wenngleich ihr der Name nicht einfallen wollte.
Compagni seufzte tief, aber es wirkte eher entspannt als besorgt: »Nun ja, hoffen wir, dass alles glatt über die Bühne geht und wir tatsächlich nur einem Spaßvogel aufgesessen sind. Allerdings würde ich diesem Vogel dann gern ein paar Federn ausrupfen. Aber sehen Sie doch, es scheint zu beginnen!«
Begleitet von einem Trommelwirbel, der aus den zahlreich aufgestellten Verstärkerboxen dröhnte, flammte ein Scheinwerfer auf und beleuchtete eine Bühne hoch über den Köpfen der Gäste. Auf der mindestens zehn Meter hohen, halbmondförmigen Plattform aus Leichtmetall stand ein junger Star-Tenor, der seit drei, vier Jahren mit verpoppten Arien und klassisch verbrämten Popballaden von sich reden machte. Beifall brandete auf und ebbte erst ab, als er seinen jüngsten Hit anstimmte, eine Ode an die Schutzengel, die über jeden Menschen wachen. Die Menge lauschte dem a cappella vorgetragenen Lied so andächtig, dass nach dem Verhallen des letzten Tons eine kleine Ewigkeit verging, bevor der Künstler im rauschenden Applaus baden konnte. Er verneigte sich einige Male zu viel und zog sich dann in den hinteren Bereich der Bühne zurück, der unbeleuchtet war und wo sich, wie Claudia von einer zwei Stunden zuvor durchgeführten Inspektion wusste, der Treppenaufgang befand.
Ein junger Mann in einem glitzernden Anzug, der eher nach Las Vegas gepasst hätte, trat ins Licht und konnte nur einen Bruchteil jenes Applauses auf sich ziehen, den eben der Tenor eingeheimst hatte. Der Mann in dem Glitzer-Outfit sollte durch die Veranstaltung führen. Seinen Namen hatte Claudia vergessen. Er begrüßte die Gäste, lobte den Tenor überschwänglich und wies zweimal darauf hin, dass dieser später weitere Lieder zum Besten geben werde.
»Jetzt aber kommen wir zu dem eigentlichen Grund unseres heutigen Beisammenseins«, fuhr er in jenem Tonfall fort, der jeden einzelnen Satz zur Ankündigung einer kleinen Sensation machte. »Wie Sie wissen, haben die Vatikanischen Museen und das Forum Romanum eine einzigartige Zusammenarbeit vereinbart, die sowohl der Forschung zugutekommen soll als auch dem Publikum, das jetzt noch mehr jener prächtigen Schätze zu sehen bekommen wird, an denen unser schönes, ehrwürdiges Rom so reich ist. Aber warum erzähle ich Ihnen das eigentlich, meine Damen und Herren? Lassen wir doch die Verantwortlichen selbst zu Wort kommen. Begrüßen Sie mit mir die Direktorin des Forum Romanum, Dottoressa Arietta Calvi, und den Direktor der Vatikanischen Museen, Dottore Giuseppe Pignato!«
Unter deutlich mehr Applaus, als dem Conférencier zuteil geworden war, betraten die beiden die Bühne. Falls ihm das etwas ausmachte, ließ er es sich nicht anmerken. Mit einem breiten Lächeln zog er sich zurück, bis die Bühne den beiden Hauptakteuren allein gehörte. Zunächst sprach die Direktorin des Forum Romanum ein paar einleitende Worte, mit denen sie ihren Kollegen von den Vatikanischen Museen vorstellte.
Arietta Calvi war eine großgewachsene Frau in den Fünfzigern, schlank und sehr elegant in ihrem langen schwarzen Kleid. Giuseppe Pignato war einen ganzen Kopf kleiner als sie, dafür aber von beträchtlichem Leibesumfang, den selbst der maßgeschneiderte Abendanzug nur notdürftig kaschieren konnte.
Seine Begeisterung für die neuen Möglichkeiten, die sich aus der engen Zusammenarbeit der beiden Museen für die Wissenschaft ergeben würden, war aber derart mitreißend, dass Claudia bald nicht mehr auf sein Äußeres achtete. Der Enthusiasmus sprang auf die Gäste über, und neuer Applaus rollte durch das Forum, als Pignato das Wort wieder an Arietta Calvi gab, die das Publikum mit den Details der neuen Zusammenarbeit vertraut machen sollte.
Sie hatte noch nicht lange gesprochen, da glaubte Claudia, eine seltsame Veränderung an Giuseppe Pignato wahrzunehmen. Sein eben noch entspanntes Gesicht, das mit seinem seligen Lächeln an einen Pfannkuchen denken ließ, wurde schlagartig ernst und starr. Maskenhaft. Ein Zittern schien durch seinen ganzen Leib zu wandern, als bäume er sich innerlich gegen etwas auf.
Dann ging alles sehr schnell. Er schlang die Arme um seine Kollegin, tat ein paar ungelenke Schritte nach vorn und stürzte, die blonde Frau noch immer in den Armen, von der Bühne in die Tiefe. Pignato war vollkommen still, Arietta Calvi aber stieß einen schrillen Schrei aus, der bis in den hintersten Winkel des Forum Romanum zu dringen schien. Er erstarb jäh, als die beiden Körper mit einem dumpfen Knall aufschlugen.
Wie alle anderen auch verharrte Claudia in einer Art Schockstarre. Wahrscheinlich nur für Sekunden, aber ihr erschien es wie eine kleine Ewigkeit, bis sie sich endlich in Bewegung setzte und sich einen Weg durch die Menge bahnte, die von einem Augenblick auf den anderen zum Leben erwachte. Die Menschen rannten und schrien durcheinander wie eine von Blitz und Donner aufgescheuchte Viehherde. Claudia setzte ihre Ellbogen ein, um vorwärts zu kommen, und schließlich stand sie zu Füßen der Bühne, vor den beiden Leibern, die reglos und in grotesker Verrenkung am Boden lagen.
Zu spät!, durchfuhr es sie. Ich komme zu spät! Hatte sie die Drohung vom Nachmittag doch nicht ernst genug genommen?
Rom, Questura Centrale
(Polizeipräsidium), sieben Stunden zuvor
Mit müden Augen starrte Claudia Bianchi auf den Flachbildschirm vor ihr auf dem Schreibtisch und wünschte sich nichts sehnlicher, als dass dieser Arbeitstag ein Ende finden möge. Quälend langsam verstrich die Zeit, Minuten dehnten sich zu Ewigkeiten, und sie spürte mehr und mehr, dass sie eine unruhige Nacht hinter sich hatte. Eine? Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal durchgeschlafen hatte. Albträume quälten sie und eine innere Unruhe, deren Ursache sie nur zu genau kannte und gegen die sie machtlos war. Ihr blieb nichts übrig, als zu hoffen, dass sie irgendwann von selbst Ruhe fand. Die Zeit heilte angeblich alle Wunden, warum also nicht auch die ihren?
Sie nippte an ihrem Tee, der längst kalt war, und versuchte, sich auf das Protokoll zu konzentrieren, das sie halb fertig auf dem Schirm hatte. Ein Routinefall, aber ein unappetitlicher, der ihr gerade jetzt mehr zu schaffen machte, als sie sich eingestehen wollte. Etwas in ihr sträubte sich dagegen, sich noch einmal mit dem Fall zu befassen, den Aldo Rossi und sie tags zuvor abgeschlossen hatten. Vielleicht war dieser innere Widerstand der Grund, warum sie mit ihrer Arbeit nicht vorankam.
Sie dachte an die traurigen, leeren Augen von Pietro Mantelli, als er sein Geständnis abgelegt hatte. Ein einfacher Mann, dessen Lebensinhalt es einmal gewesen war, seine Familie zu ernähren, seiner Frau ein guter Ehemann und seinen drei Kindern ein guter Vater zu sein. Er hatte einen ordentlichen Beruf erlernt, Metallfacharbeiter, und jahrelang hart gearbeitet, um genug Geld für seine Frau Gianna und die Kinder zu verdienen. Bis sein Arbeitgeber Konkurs angemeldet hatte, wie es so viele in den Zeiten von globalisierter Wirtschaft und globaler Wirtschaftskrise taten.
Pietro Mantelli hatte auf der Straße gestanden und sich um einen neuen Job bemüht – ohne Erfolg, weil es so viele andere wie ihn gab, darunter etliche jüngere, flexiblere. Das Geld war knapp geworden, Mantelli hatte begonnen zu trinken, hatte die Kontrolle über sich und sein Leben verloren, die Selbstachtung und schließlich die Achtung vor allem, was ihm je etwas bedeutet hatte. Innerhalb weniger Minuten hatte er die Familie, die ihn nicht länger als Versager erleben sollte, ausgelöscht.
Claudia erschauerte, als sie an die blutverschmierte Wohnung dachte, in einem gesichtslosen Hochhaus draußen in einem der Randbezirke der Stadt, wo Rom nichts Malerisches mehr hatte, schon gar kein geschichtsträchtiges Antlitz. Da, wo die Touristen nur auf der Fahrt vom oder zum Flughafen durchkamen und gar nicht so genau hinschauten, weil es nicht das war, was sie sehen wollten in der Ewigen Stadt. Für Pietro Mantelli und seine Familie aber war es ein Zuhause gewesen, und selbst das galt jetzt nicht mehr.
Gianna und die Kinder hatten schon geschlafen, als es geschah, und das war vielleicht der einzige, wenn auch äußerst schwache Trost in dieser ansonsten trostlosen Geschichte. Mantelli hatte sich eines Brotmessers und eines großen Hammers bedient; nach wenigen Minuten hatte er keine Familie mehr gehabt.
Es war ihm wohl erst hinterher bewusst geworden, was er angerichtet hatte. Der Polizei hatte er etwas von maskierten Einbrechern erzählt, gegen die er sich verzweifelt gewehrt habe. Daher das viele Blut an seinen Kleidern. Aber sie hatten kein fremdes Blut gefunden, nur das seiner Frau und seiner Kinder. Diese Tatsache und die zahlreichen kleinen Widersprüche, in die Mantelli sich im Laufe des Verhörs verstrickte, hatten sein Lügengebäude in sich zusammenbrechen lassen.
Claudia glaubte nicht, dass er gelogen hatte, um sich der Strafe zu entziehen. Aus ihrer Sicht handelte es sich um einen verzweifelten Versuch, das Geschehene ungeschehen zu machen, wenn nicht in der Realität, dann wenigstens in seinen Gedanken, vor seinem Gewissen. Aber auf ihre Sicht kam es nicht an. Das Gericht würde über Mantellis weiteres Schicksal befinden, und sie hatte nicht die geringste Ahnung, was sie ihm wünschen sollte. Vielleicht, dass er vergessen konnte. Ja, vergessen …
Zum x-ten Mal schweifte ihr Blick vom Bildschirm zum Fenster hinaus, und sie schaute auf die Dächer Roms, die in der warmen Maisonne badeten. Ein Bild wie von einer jener Postkarten, die an jeder Straßenecke feilgeboten wurden. Ein wahres Bild, im Gegensatz zu den retuschierten Postkartenabbildungen, und doch eines, das ihr unecht erschien. Vielleicht, weil es nicht zu ihrer düsteren Stimmung passte.
Sie wollte vergessen und konnte es nicht. An jedem Tag, zu jeder wachen Stunde und auch nachts im Traum, sah sie Pauls Gesicht. Die markanten, offenen Züge und das dunkle, leicht gewellte Haar. Erst lächelte er sie an, aber dann wurde sein Antlitz plötzlich starr, und seine Augen sahen aus wie Glaskugeln, die Augen eines Toten.
Auch jetzt erblickte sie in der sonnengetränkten Fensterscheibe sein Gesicht und hätte fast losgeschrien, er solle sie endlich in Ruhe lassen. Aber war es wirklich Paul, der sie quälte, oder war sie es selbst?
Von einer Sekunde zur anderen veränderte sich das Gesicht im Fenster. Es wurde etwas schmaler, der Teint dunkler, das Haar lockiger. Jetzt war es das Spiegelbild von Aldo Rossi, der ihr Büro betreten hatte. Dankbar für die Ablenkung von ihren trüben Gedanken und dem Mantelli-Protokoll, schwang sie auf dem Drehstuhl zu ihm herum.
Er blickte auf ihren Bildschirm. »Noch immer nicht fertig damit? Vielleicht hättest du mich das schreiben lassen sollen. Irgendwie habe ich den Eindruck, die Sache nimmt dich zu sehr mit.«
»Vielleicht werde ich weich auf meine alten Tage.«
»Nicht doch, ›alt‹ ist kein Wort, das man im Zusammenhang mit dir benutzen sollte.«
»Zweite Hälfte der Dreißiger«, seufzte sie. »Langsam sollte ich meine Pensionierung ins Auge fassen.«
Aldo setzte sein charmantes Lächeln auf. »Mit jedem neuen Tag wirst du nur attraktiver.«
Vielleicht meinte er das sogar ernst. Schließlich hatten sie zwei Monate zuvor eine kurze, aber heftige Affäre gehabt. Vor Paul. Schon wieder er.
Irgendwie kehrten ihre Gedanken immer zu ihm zurück, und sie fragte sich, ob das eine Form dessen war, was die Katholiken, zumindest die gläubigen unter ihnen, Besessenheit nannten.
»Gute Nachrichten für deine mitleidige Seele, du kannst deinem Schreibtisch und damit dem Protokoll den Rücken kehren, wenigstens vorerst«, fuhr Aldo mit einem Anflug von Ironie fort. »Der Chef will uns beide sprechen.«
»Weshalb?«
»Das hat die schöne Cilia mir nicht verraten.«
Die schöne Cilia, so wurde hier im Präsidium hinter vorgehaltener Hand Cilia De Luna genannt, die Vorzimmerdame des Polizeipräsidenten. Immer eine Spur zu aufgedonnert für ihre weit über fünfzig Jahre, die Haare immer ein wenig zu rot gefärbt, immer ein wenig zu manieriert in Sprache und Gestik. Den Titel hat sie sich ehrlich verdient, dachte Claudia, als sie Aldo auf den Flur folgte.
Kurz bevor sie den Fahrstuhl erreichten, schien von einer Sekunde auf die andere der Boden unter ihr zu schwanken. Wie ein Erdbeben, das Rom unerwartet erschütterte. Aber Claudia wusste, dass das kein Erdbeben war. Die Ursache lag allein bei ihr.
Sie blieb stehen und konzentrierte sich darauf, ruhig und gleichmäßig zu atmen, während sie sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn wischte. Jetzt bloß nicht schlappmachen!
Sie kämpfte gegen die Übelkeit an, die ihr inzwischen vertraut war und die leicht in einen Brechreiz münden konnte. Das nicht, nicht jetzt und nicht vor Aldo, hämmerte sie sich ein.
Der war ebenfalls stehengeblieben und blickte sie besorgt an. »Was ist mit dir?«
»Ach, nichts weiter.« Sie zwang sich zu lächeln. »Das muss an der Hitze liegen. Letzte Woche war es viel kälter. Der Umschwung ist mir wohl nicht bekommen. Und dann die viele Stubenhockerei hier im Büro. Ein bisschen frische Luft täte mir sicher gut.«
»Und sonst ist nichts?«, fragte er unsicher.
Sie straffte ihre Haltung, um fit und selbstsicher zu wirken. »Nein, natürlich nicht. Was soll schon sein? Komm jetzt, die schöne Cilia hat es nicht gern, wenn man den Chef warten lässt!«
Claudia marschierte an Aldo vorbei und presste ihre Hand ein wenig zu energisch auf den Fahrstuhlknopf. Sie sah sich nicht nach Aldo um, aber sie meinte seinen bohrenden Blick zu spüren. Hartnäckig ignorierte sie das unangenehme Gefühl, von ihm wie mit Röntgenstrahlen durchleuchtet zu werden; und die ganze Zeit rang sie mit dem in ihr aufsteigenden Unwohlsein.
In Compagnis Vorzimmer, in dem alles peinlich sauber und geordnet wirkte, thronte Cilia De Luna kerzengerade hinter ihrem Schreibtisch. Ihre Finger tanzten über die ergonomisch geformte Computertastatur, auch dann noch, als sie den Blick vom Bildschirm löste und auf die beiden Eintretenden heftete. Einen Blick, in dem sich ihre übliche Strenge mit einem leichten Tadel darüber mischte, dass Claudia und Aldo sich so viel Zeit gelassen hatten.
»Signor Compagni erwartet Sie bereits«, verkündete sie, ohne auch nur eine Sekunde in ihrer Schreiberei innezuhalten. Damit war alles gesagt, und sie wandte sich wieder ihrem Bildschirm zu.
Compagnis Büro bot einen atemberaubenden Ausblick auf den Quirinal, den höchsten unter den legendären sieben Hügeln Roms. Gut zu sehen war der Palazzo del Quirinale, der vor Jahrhunderten als päpstliche Residenz gebaut worden war, damit der Heilige Vater der sommerlichen Malaria in der Tiberstadt entfliehen konnte. Als Rom im neunzehnten Jahrhundert die Hauptstadt des neugegründeten Königreiches Italien wurde, zog der König in den Quirinalspalast, und heute befand sich hier der Amtssitz des italienischen Staatspräsidenten. Aber nicht der grandiose Ausblick fesselte Claudias Aufmerksamkeit, sondern ihr Chef, der sichtlich angespannt hinter dem großen Schreibtisch saß und auf das Blatt Papier in seiner Rechten starrte. Eines seiner Lider zuckte nervös.
Mit einer knappen Handbewegung bedeutete er Claudia und Aldo, sie sollten sich setzen. »Schön, dass Sie beide da sind. Ich habe Sie hoffentlich nicht von wichtigen Dingen weggeholt.«
»Mich vom Protokoll in der Sache Mantelli«, sagte Claudia zögernd, hätte sie es doch schon längst fertig haben müssen. »Ich habe mir damit etwas Zeit gelassen, weil Mantelli ein schwierig einzuordnender …«
»Mantelli ist jetzt nicht wichtig«, platzte der sonst so gelassene und in sich ruhende Polizeipräsident ungeduldig heraus. »Die Staatsanwaltschaft kann ruhig noch ein, zwei Tage auf das endgültige Protokoll warten. Sagen Sie mir lieber, was Sie über den Abend des Alten Roms wissen.«
Verwirrt sah Claudia erst Compagni und dann Aldo an.
»Sie werden doch davon gehört oder gelesen haben«, fuhr Compagni fort.
»Ja, natürlich«, sagte Claudia. »Aber ich verstehe nicht, was daran wichtig sein soll.«
»Das werden Sie gleich erfahren, Commissario Bianchi. Also?«
Claudia fühlte sich wie einst in der Klosterschule, wenn die strenge Nonne Alberta eine ihrer berüchtigten Fragen gestellt hatte und niemand wusste, worauf genau sie hinauswollte. Die scheinbar auf der Hand liegende Antwort hatte einen schnell in Teufels Küche bringen können, weil Schwester Alberta es liebte, dann mit einer Anschlussfrage zu reagieren – oder auch mit mehreren. Bis man plötzlich in eine Diskussion verwickelt war, die Alberta von vornherein beabsichtigt hatte und mit der sie ihren Schülerinnen klarmachen konnte, dass sie allesamt kleine, unwissende Sünderinnen vor dem Herrn waren. So wie damals Schwester Alberta, erwartungsvoll und undurchschaubar zugleich, erschien ihr jetzt Cesare Compagni.
»Der Abend des Alten Roms findet heute statt, im Forum Romanum«, sagte Claudia, ihre Erinnerung an das zusammenkramend, was sie in der Zeitung über die Veranstaltung gelesen hatte. »Die Direktion des Forums und die der Vatikanischen Museen wollen in einem feierlichen Akt, zu dem zahlreiche Honoratioren geladen sind, ihre neue Zusammenarbeit verkünden. Das Forum ist wegen der Vorbereitungen heute für den Besucherverkehr geschlossen.«
»Ja, soll wohl eine richtig große Show werden«, ergänzte Aldo. »Mit Live-Übertragung im Fernsehen und allem Drum und Dran. Ehrlich gesagt wundert es mich etwas, dass der Vatikan da mitspielt.«
Claudia sah ihn von der Seite an. »Wieso wundert dich das? Große Shows mit allem Drum und Dran sind doch seit ihrer Gründung das Geschäft der katholischen Kirche.«
Aldo grinste. »Da hast du auch wieder recht.«
Mit einem energischen Räuspern erinnerte Compagni die beiden daran, dass sie in seinem Büro saßen. »Leider hat es sich in der heutigen Zeit eingebürgert, dass große öffentliche Veranstaltungen Spinner, Neider und vermeintliche Spaßvögel auf den Plan rufen. Diese E-Mail ist vor einer knappen Stunde in unserer Zentrale eingegangen.« Er las von dem Zettel ab: Der Abend des Alten Roms wird ein Abend des Todes werden. Zwei Menschen werden sterben, vor laufenden Kameras.
Aldo seufzte schwer. »Das Übliche also. Irgendein Wichtigtuer lacht sich ins Fäustchen, weil er mit seiner E-Mail die Polizei rotieren lässt. Wahrscheinlich beruht das Ganze auf einer Wette, die ein paar Betrunkene gestern Nacht nach ihrer letzten Flasche Rotwein abgeschlossen haben. Lässt sich der Absender der Mail nicht ausfindig machen?«
»Ja und nein«, antwortete Compagni. »Abgeschickt wurde sie aus einem Internetcafé am Corso Vittorio Emanuele. Die haben dort viele Stammkunden mit eigenem Konto und einer Kundenkarte, aber – natürlich – war es keiner von denen. Und wenn doch, war er nicht so blöd, sein Kundenkonto zu benutzen. Der Absender hat bar bezahlt, und niemand in dem Laden kann sich an ihn erinnern. Die Kollegen, die vor Ort ermittelt haben, sagen, es geht dort zu wie in einem Taubenschlag.«
»Ich verstehe nicht, warum Sie dieser E-Mail so großes Gewicht beimessen«, sagte Claudia. »Anonyme Bomben- und Morddrohungen bei Großveranstaltungen sind doch an der Tagesordnung. Sicher müssen wir dem nachgehen, aber wenn die Spur, wie hier, im Sande verläuft, können wir schließlich nichts weiter tun. Weshalb haben Sie uns also rufen lassen, Herr Polizeipräsident?«
»Wenn Sie sich den Text dieser Mail genau durchlesen, erkennen Sie, dass es sich eben nicht um eine der üblichen anonymen Drohungen handelt.«
»Sie meinen die präzise Aussage, dass zwei Menschen vor laufenden Kameras sterben sollen.«
»Richtig, Commissario Bianchi. Üblicherweise ist in solchen Schreiben von vielen Toten und Verletzten die Rede, aber gerade zwei Menschen? Und vor laufenden Kameras? Das heißt doch, der Verfasser hat einen konkreten Zeitpunkt im Sinn.«
»So konkret auch wieder nicht«, wandte Aldo ein. »Die Veranstaltung soll zwei Stunden dauern, wenn ich mich recht entsinne.«
»Das stimmt«, sagte Compagni. »Trotzdem ist es eine recht konkrete Angabe, zumal die Wendung ›vor laufenden Kameras‹ besagt, dass die Opfer nicht irgendwelche Personen im Hintergrund sein werden, sondern …«
Claudia beugte sich vor und führte seinen Satz zu Ende: »Solche, die im Fokus der Kameras stehen. Also Künstler, Moderatoren oder die Festredner.«
»Sie nehmen mir das Wort aus dem Mund, Commissario Bianchi.«
»Also erhöhte Sicherheitsstufe?«, fragte Claudia. »Oder wollen Sie die Veranstaltung abblasen lassen?«
»Am liebsten Letzteres, aber dazu ist die Drohung wiederum nicht genau genug. Ich habe bereits mit der Direktorin des Forum Romanum telefoniert, die heute Abend auch eine Rede halten wird. Dr. Calvi hat nur gelacht, als ich ihr vorschlug, die Veranstaltung auf einen anderen Termin zu verlegen. Sie meinte, ich könne ja zu Hause bleiben, wenn ich Angst hätte.«
»Oh, Sie sind also auch eingeladen«, warf Aldo ein.
»Ja, und Sie beide auch.«
Aldo starrte Compagni mit großen Augen an. »Ich habe keine Einladung erhalten, Herr Polizeipräsident, und ich bin dafür auch ganz sicher nicht wichtig genug.«
»Doch, das sind Sie, Vice Commissario Rossi. Sie und Commissario Bianchi, weil ich Ihnen beiden die Verantwortung für die Sicherheit heute Abend übertrage. Es handelt sich also um eine dienstliche Einladung, aber ich darf Sie dennoch bitten, in angemessener Garderobe zu erscheinen. Wir werden die Sicherheitsvorkehrungen zwar verschärfen, aber das muss unauffällig vonstattengehen. Vermutlich ist es doch nur ein schlechter Scherz, und in dem Fall wollen wir nicht unnötig Aufsehen erregen.«
Claudia hatte ihren Vorgesetzten genau beobachtet und bei seinem letzten Satz eine kleine Unsicherheit in seiner Stimme bemerkt. »Sie glauben nicht, dass es nur ein dummer Scherz ist, Herr Polizeipräsident. Da ist noch mehr, etwas, das Sie uns bislang vorenthalten haben, oder?«
Compagni lächelte dünn, fast gequält. »Sie sind eine gute Beobachterin, Claudia, und ich komme mir fast vor wie im Verhör. Ja, es gibt einen besonderen Grund, warum ich gerade Sie und Aldo mit dieser Aufgabe betraue, abgesehen davon natürlich, dass Sie beide zu meinen besten Leuten gehören. Ich habe Ihnen nicht den ganzen Text der E-Mail vorgelesen. Da ist nämlich noch ein Satz, der lautet: Es sei denn, Commissario Claudia Bianchi kann es verhindern.«
Vielleicht lag es daran, dass Claudia sich ohnehin nicht gut fühlte, aber es schien ihr selbst eine Ewigkeit zu dauern, bis sie die letzten Worte des Polizeipräsidenten realisiert hatte. Schließlich bemerkte sie, dass Compagni sie ebenso fixierte wie Aldo.
Beide schienen auf eine Einlassung von ihr zu warten, und sie fühlte sich regelrecht bedrängt. Sie war genauso ratlos wie die beiden auch; beim besten Willen konnte sie sich nicht erklären, weshalb der Verfasser der anonymen Drohung ausgerechnet sie namentlich erwähnte.
Compagni begann unruhig auf seinem schweren Lederstuhl hin und her zu rutschen. Schließlich fragte er: »Haben Sie eine Erklärung dafür, Commissario Bianchi?«
»Absolut keine.«
»Keine Ahnung, wer diese E-Mail geschrieben haben könnte?«
»Ich war es bestimmt nicht.«
»Aber offenkundig jemand, der Sie kennt.«
»Und?« Claudia zuckte ratlos die Achseln. »Vielleicht ist es ein ehemaliger Kunde, der mir eins auswischen will.«
»Möglich«, brummte Compagni und griff nach einem vergoldeten Kugelschreiber, um sich eine Notiz zu machen. »Ich werde überprüfen lassen, wer von Ihren Kunden kürzlich aus der Haft entlassen worden ist. Vielleicht haben wir Glück und finden tatsächlich einen Spinner, der es nicht erwarten kann, sich an Ihnen zu rächen – und sei es, wie ich hoffe, durch eine leere Drohung. Trotzdem laufen die Sicherheitsvorkehrungen für den heutigen Abend auf Hochtouren. Irgendetwas an dieser Sache ist faul. Bianchi, Rossi, ich verlasse mich auf Sie beide. Die Veranstaltung im Forum Romanum muss ohne Zwischenfall über die Bühne gehen!«
Rom, Forum Romanum,
fast sieben Stunden später
Er stand inmitten der Überreste des mächtigen, längst untergegangenen Roms, unbeweglich und starr wie einer der alten Felsen, während sich rings um ihn her vergnügte Menschen bei Prosecco und Horsd’œuvres unterhielten. Sie ahnten nicht, was auf sie zukam. Es würde ein Schock sein, und diese Vorstellung genoss er außerordentlich. Nicht, weil er ihnen Böses wollte, sondern weil es ein Beweis seiner Fähigkeiten sein würde, seiner Macht. Ein Beweis für andere, aber auch für ihn selbst.
Die Menschen hier wussten von nichts, hatten nichts von den verschärften Sicherheitsvorkehrungen bemerkt, die ihm keineswegs entgangen waren. Die Polizisten hatten sich geschickt getarnt, die Hundertschaften draußen auf der Straße in ihren zivilen Fahrzeugen und die Beamten hier im Forum Romanum in teurer Abendgarderobe, die wohl in den meisten Fällen für diesen Anlass ausgeliehen worden war. Bei dem Gedanken daran, wie die Kriminalbeamten sich unter die High Society mischten und sich alle Mühe gaben, nicht aufzufallen, kicherte er lautlos in sich hinein. Ob der Polizeipräsident ihnen einen Crashkurs in gutem Benehmen verordnet hatte?
Sein Blick fiel auf einen Mann Anfang dreißig, der mit seiner weinroten Weste, dem Einstecktuch und der Fliege in derselben Farbe ein etwas zu auffälliges Outfit gewählt hatte. Wohl doch kein Crashkurs, dachte er, zumindest nicht, was angemessene Kleidung angeht.
Die Frau an seiner Seite, ein paar Jahre älter, hatte sich mit ihrem schlichten schwarzen Hosenanzug dagegen fürs Understatement entschieden, in seinen Augen die bessere Wahl. Claudia Bianchi hatte noch nie zum Aufschneiden geneigt, jedenfalls nicht, soweit er es beurteilen konnte.
Die Erheiterung, die ihn kurz zuvor bei dem Gedanken an das Bevorstehende erfasst hatte, legte sich, während sein Blick auf Claudia ruhte, so fest und unbeirrt, als seien sie beide an diesem Abend ganz allein im Forum Romanum. Sie war eine gestandene Frau, sehr weiblich, durchaus attraktiv, mit einem entschlossenen Gesichtsausdruck, der in seltsamem Kontrast zu der sonst eher weichen Erscheinung stand. Ihr halblanges Haar erschien ihm etwas heller als früher, aber das mochte an dem Scheinwerferlicht liegen.
Während er sie betrachtete, fühlte er eine große Vertrautheit und paradoxerweise zugleich so etwas wie eine unsichtbare Trennwand zwischen ihr und sich. Wie zwei Menschen, die in verschiedenen Welten lebten, die einander zwar durch ein Fenster, das diese Welten auf magische Weise verband, sehen, aber keinen Kontakt zueinander aufnehmen, einander nicht berühren konnten.
Er musste an eine Kurzgeschichte von Philip José Farmer denken, in der die Überbevölkerung der Welt dazu geführt hatte, dass jeder Mensch nur an einem bestimmten Wochentag lebte und die restlichen sechs Tage in einem künstlichen Tiefschlaf verbrachte. Ein Mann und eine Frau hatten sich ineinander verliebt, kannten sich aber nur vom Ansehen in den Schlaftanks, weil sie an verschiedenen Tagen lebten. Schließlich war es ihnen gelungen, ihre Tage zu wechseln, aber da sie beide auf dieselbe Idee gekommen waren, lebten sie danach wiederum an verschiedenen Wochentagen und konnten nicht zueinanderfinden.
Die Melancholie, die ihn beim Lesen dieser Geschichte befallen hatte, wollte ihn auch jetzt wieder erfassen, aber er ließ es nicht zu. Gewiss hätte er Claudia schon früher nahe sein können, wenn er es nur gewollt hätte, aber es hatte Wichtigeres gegeben, Dinge, die von höherem Rang waren als Sentimentalitäten. Weder ergab es einen Sinn, noch hatte es eine Berechtigung, um die verlorene Zeit zu trauern. In Wahrheit war sie nicht verloren, im Gegenteil, er hatte sie gut genutzt.
Ein zweiter Mann, groß und von kräftiger Statur, trat zu Claudia und verwickelte sie und ihren Begleiter in ein Gespräch. Cesare Compagni, der Polizeipräsident von Rom. Er konnte sich ungefähr vorstellen, worüber die drei sich austauschten, und neue Heiterkeit stieg in ihm auf. Er fühlte sich wie ein Marionettenspieler, der die drei Polizisten an unsichtbaren Fäden führte. Sie aber waren ahnungslos, Marionetten mit eigenem Denken, die doch nicht wussten, dass ein anderer ihre Schritte lenkte.
Während der Unterredung sah Claudia einmal in seine Richtung, und Anspannung bemächtigte sich seiner. Er glaubte nicht, dass sie ihn erkennen würde. Der Vollbart und die große Brille, die er zur Tarnung trug, veränderten sein Gesicht vollständig, und in dem Abendanzug fühlte er sich wie in einer Uniform, die ihn mit den vielen anderen Anzugträgern ringsumher verschmelzen ließ. Und doch bestand die Möglichkeit, dass Claudia auf ihn aufmerksam wurde.
Warum hatte er sich so nahe an sie herangewagt? Aus Gefühlsduselei? Hatte er den Nervenkitzel gesucht? Wollte er sich etwas beweisen? Fast wartete er darauf, dass Claudias Blick sich mit dem seinen kreuzte, aber sie wandte sich wieder dem Polizeipräsidenten zu, und der magische Moment war vorüber.
Ein Trommelwirbel aus den Verstärkerboxen und ein aufflammender Scheinwerfer beanspruchten die allgemeine Aufmerksamkeit, nicht aber die seine. Er schenkte der Pop-Arie des bekannten Sängers ebenso wenig Beachtung wie den gestelzten Worten des Conférenciers, der in seinem Glitzeranzug aussah wie eine schlechte Elvis-Kopie. Nein, er wartete auf die beiden Redner, die Gastgeber des Abends, die Doktoren Arietta Calvi und Giuseppe Pignato.
Aber es waren auch nicht die Worte der zuerst sprechenden Frau, die ihn interessierten. Ihm ging es nur um Pignato, seinen Verstand, seine Gedanken, sein Ich. Er drang in diese Gedanken ein wie ein Messer in weiche Butter und ließ seine eigenen Gedanken mit denen Pignatos verschmelzen.
Zu einem einzigen, und das war der Gedanke an den Tod.
Das Forum Romanum hatte sich in einen Hexenkessel verwandelt. Mit einem Mal war es viel zu klein für die Menschen, die nicht wussten, wohin sie sich wenden sollten. Etliche drängten zu dem Platz vor der Bühne, wo Arietta Calvi und Giuseppe Pignato in die Tiefe gestürzt waren. Andere wurden von Panik erfasst, von der unbestimmten Furcht, dass es nicht bei diesem einen Unglück bleiben könnte, und strebten den Ausgängen zu. Die unterschiedlichen Gruppen verhedderten sich zu einem scheinbar unauflöslichen Gewirr menschlicher Leiber, aus dem eine nicht enden wollende Kakophonie ängstlicher Rufe und panischer Schreie aufstieg. Nur die steinernen Überreste des antiken Roms zeigten sich unbeeindruckt, hatten sie doch schon weitaus Schicksalträchtigeres geschehen sehen als den Tod zweier Menschen.
Dass sie tot waren, daran bestand für Claudia kein Zweifel. Sie stand vor den beiden reglosen Leibern und musste sie nicht eingehender untersuchen, um zu wissen, dass in ihnen kein Leben mehr war. Sie hatte während ihrer Berufsjahre schon viele Leichen gesehen, vielleicht, schoss es ihr durch den Kopf, zu viele.
Noch im Tod hielt Pignato die Frau, die er mit sich in die Tiefe gerissen hatte, umklammert, als wolle er sicherstellen, dass sie ihrem Schicksal nicht entging. Er lag halb auf ihr, und die Augen in seinem zur Seite gedrehten Kopf waren glasig, leer, starr. Calvis Genick war gebrochen, das verriet der unnatürliche Winkel, in dem Kopf und Oberkörper zueinander standen.
All das erfasste Claudia binnen weniger Sekunden, während sie das kleine Funkgerät aus ihrer schwarzen Umhängetasche zog und den Alarmcode durchgab, der alle Einheiten innerhalb und außerhalb des Forum Romanum darüber informierte, dass der Ernstfall eingetreten war.
»Sollen wir das Gelände abriegeln?«, fragte ruhig und sachlich der Einsatzleiter der beiden Hundertschaften draußen. »Nein«, entschied Claudia angesichts der sich ausbreitenden Panik. »Lasst alle raus, damit nicht noch Schlimmeres passiert!«
Aldo, der neben sie getreten war, fragte: »Ist das wirklich klug, Claudia? Vielleicht lassen wir den Mörder entkommen – falls das hier nicht ein Selbstmord war.«
»Im Fall von Arietta Calvi war es ganz sicher kein Selbstmord«, erwiderte Claudia. »Was Giuseppe Pignato angeht, bin ich mir da nicht so sicher. Wie auch immer, wir müssen die Leute rauslassen, sonst haben wir statt zweier Toter nachher zwanzig, wenn sie sich in der Enge hier gegenseitig tottrampeln.«
»Sie hat recht«, verkündete hinter ihnen mit Stentorstimme der Polizeipräsident. »Sonst sehe ich schon die Schlagzeile vor mir: Roms Polizeipräsident sieht zu, wie die angesehensten Bürger der Stadt in den Tod laufen!« Er starrte auf die beiden Toten und stieß einen Fluch aus, der an Unflätigkeit und Gotteslästerlichkeit kaum zu überbieten war und Claudia aus dem Mund eines Jesuitenzöglings umso befremdlicher vorkam. »Jetzt ist doch genau das eingetreten, was in der ominösen E-Mail angekündigt wurde: »Der Abend des Alten Roms wird ein Abend des Todes werden. Zwei Menschen werden sterben, vor laufenden Kameras. Woher hat der Kerl das gewusst?«
»Welcher Kerl?«, fragte Aldo.
»Der Verfasser der E-Mail. Wer sonst?«
»Vielleicht war er derjenige«, sagte Aldo und zeigte auf den Toten vor ihnen.
»Pignato?«, fragte Compagni zögernd nach.
»Nur er konnte wissen, was geschehen würde«, präzisierte Aldo seinen Verdacht. »Je länger ich darüber nachdenke, desto sicherer bin ich mir, dass hier kein Dritter die Hand im Spiel gehabt hat. Wie auch? Wir alle haben doch mit eigenen Augen gesehen, dass die beiden allein auf der Bühne da oben standen, als das Unglück geschah – oder der Selbstmord oder Mord, was auch immer. Wir haben gesehen, dass Pignato die arme Frau gepackt und in die Tiefe gerissen hat. Und die Kameras haben es aufgezeichnet.«
»Ja«, sagte der Polizeipräsident verdrießlich. »Nicht nur wir und die geladenen Gäste hier haben es gesehen, sondern Hunderttausende oder gar Millionen im ganzen Land. Und noch mehr werden es sehen, wenn die Bilder zur Hauptattraktion sämtlicher Nachrichtensendungen geworden sind. Die Medien werden uns schlachten, wenn sie erst erfahren, dass wir von dem Anschlag unterrichtet waren.« Claudia nahm an, dass er zwar »uns« sagte, dabei aber hauptsächlich an seine Person dachte, und sie verstand ihn gut. Tatsächlich würde er derjenige sein, auf dessen glücklicherweise breite Brust das mediale Trommelfeuer niedergehen würde. Aber das erleichterte sie nicht. Ein dumpfes Schuldgefühl hatte von ihr Besitz ergriffen. Sie hatte die beiden Menschenleben nicht retten können, obwohl die Tat angekündigt gewesen war. Und nicht nur das, der mysteriöse Urheber der E-Mail hatte sich quasi direkt an sie gewandt: Es sei denn, Commissario Claudia Bianchi kann es verhindern.
Dieser Satz hallte in ihr nach wie ein endloses Echo, so laut und durchdringend, dass es ihr Kopfschmerzen bereitete und sie sich zu dem klaren, strukturierten Denken, das ihr Job erforderte, zwingen musste. Vielleicht hatte sie auch Mühe, sich zu konzentrieren, weil sie insgesamt in keiner guten Verfassung war. Gerade jetzt konnte sie weitere Komplikationen in ihrem Leben so gut gebrauchen wie der Teufel eine Flasche Weihwasser.
Warum hätte sie verhindern sollen, was da geschehen war? Warum ausgerechnet sie?
»Sie sehen aber skeptisch aus, Commissario Bianchi«, stellte ihr Vorgesetzter fest. »Was geht Ihnen denn durch den Kopf?«
Claudia hatte nicht die Absicht, ihm ihr Innerstes zu offenbaren, deshalb sagte sie nur: »Ich glaube nicht, dass Pignato die E-Mail geschickt hat. Ich kannte ihn überhaupt nicht.«
»Vielleicht hat er Sie gekannt.«
»Möglich, aber nicht wahrscheinlich. Ein Mann wie Pignato verkehrt nicht in den Kreisen, mit denen wir beruflich in Berührung kommen. Wir müssen natürlich alle Eventualitäten gründlich überprüfen, aber ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass Pignato aufgrund irgendwelcher Vorfälle in der Vergangenheit einen Groll gegen mich gehegt haben soll.«
»Man weiß nie«, orakelte Aldo. »In so mancher angesehenen Familie gibt es schwarze Schafe, warum nicht auch in der von Pignato? Vielleicht hast du seinen Lieblingsschwager hinter Gitter gebracht oder seinen besten Freund aus Jugendtagen?«
»Das wäre kaum ein Grund für eine Tat wie diese«, widersprach Claudia. »Außerdem – wenn Pignato die Mail geschickt hätte und es sich tatsächlich um Rache handeln würde, dann hätte er doch gar nichts mehr davon.«
»Das alles bringt uns jetzt nicht weiter«, sagte Compagni. »Wir sollten keine wilden Theorien aufstellen, solange wir uns nicht mit allen Fakten vertraut gemacht haben. Wie Sie schon sagten, Commissario Bianchi, jetzt ist eine genaue Überprüfung der beiden Toten sowie ihres privaten und beruflichen Umfeldes angesagt. Außerdem sollten wir morgen als Erstes …«
Den Rest verstand Claudia nicht. Wieder war dieser laute Hall in ihrem Kopf, der alle anderen Geräusche übertönte. Als säße jemand darin und spräche zu ihr. Der Kopfschmerz wurde schier unerträglich.
Als wäre das nicht genug, konnte sie nicht anders, als immer wieder in die Augen der beiden Toten zu blicken. Oder war es umgekehrt? Blickten Giuseppe Pignato und Arietta Calvi sie an, herausfordernd, vorwurfsvoll, anklagend, weil sie ihren Tod nicht verhindert hatte?
So schien es ihr, und je länger sie den Toten in die Augen sah, desto unwohler wurde ihr. Übelkeit stieg in ihr hoch, so heftig, dass sie sie nicht zu unterdrücken vermochte. Sie wandte sich ab und schaffte es gerade noch ein paar Schritte zur Seite, bevor sie in die Knie ging und sich übergab.
Rom, Via Flaminia
Es war fast zwei Uhr morgens, als Aldo mit dem Fiat Bravo in der kleinen Straße nahe der Via Flaminia an den Straßenrand fuhr und sich Claudia zuwandte.
»Da sind wir. Wie fühlst du dich?«
In seiner Stimme schwang echte Besorgnis mit, aber sie tat, als würde sie ihn nicht verstehen. »Wie soll ich mich schon fühlen? Müde, wie wir alle. Und frustriert. Vor Ort zu sein und den Tod zweier Menschen nicht verhindern zu können baut einen nicht gerade auf, oder?«
»Wohl wahr.« Er seufzte und fuhr sich mit der Hand über die Augen, als könne er die eigene Müdigkeit damit wegwischen. »Aber das meine ich nicht. Ich habe den Eindruck, dir geht es nicht gut.«
Claudia versteifte sich. »Ich weiß nicht, wovon du sprichst.«
»Ich meine deinen Übelkeitsanfall im Forum Romanum.«
»Ach das. Tut mir leid, falls du erschrocken sein solltest. Ich gebe zu, so was erwartet man, wenn es zwei Leichen gibt, vielleicht von Angehörigen oder auch von unbeteiligten Zeugen, aber sicher nicht von einer leitenden Beamtin der Mordkommission. Ich kann mir auch nicht erklären, woher es kam.«
Aldo musterte sie wie eine Verdächtige im Verhör. »Wirklich nicht?«
»Sag mal, was soll das? Jedem kann einmal schlecht werden, auch einer Polizistin. Vielleicht hat mir der enorme Druck zu schaffen gemacht. Schließlich hat der Absender dieser E-Mail mich herausgefordert, den Tod der beiden zu verhindern. Und ich habe versagt. Willst du mir daraus einen Vorwurf machen, Aldo? Was hätte ich denn tun können?«
»Gar nichts. Du hast getan, was in deiner Macht stand. Ich hätte dieselben Entscheidungen getroffen wie du.«
»Na also.«
Claudia wollte aussteigen, aber ehe sie auch nur die Tür öffnen konnte, sagte Aldo: »Ich habe schon seit einiger Zeit den Eindruck, dass es dir nicht gutgeht. Gesundheitlich, meine ich. Dir ist in letzter Zeit oft übel.«
Sie bemühte sich, seinem forschenden Blick standzuhalten und dabei nicht preiszugeben, dass er einen wunden Punkt getroffen hatte. »Und wenn es so wäre? Jeder hat mal eine schlechte Phase.«
»Ich frage mich, ob es statt einer schlechten Phase vielleicht eher eine gute Hoffnung ist.«
»Wie bitte?«
Er seufzte abermals und wirkte jetzt nicht weniger müde und frustriert als sie selbst. »Lassen wir doch die Spielchen, dafür sind wir beide zu erledigt. Ich müsste ein verdammt lausiger Polizist sein, wenn ich nicht gemerkt hätte, was mit dir los ist. Wenn ich so schlecht wäre, hätte Compagni mich schon längst gefeuert. Sag mir einfach, wie es ist, Claudia! Bist du schwanger? Ja oder nein!«
Stille trat ein; nur das Hupen der Autos auf der vielbefahrenen Via Flaminia war zu hören. Und Musik, die irgendwo aus einem offenen Fenster drang, ein alter Hit von Eros Ramazzotti. Claudia kannte das Lied, aber der Titel wollte ihr nicht einfallen. Zu sehr war sie mit Aldos Frage beschäftigt, und das eine Wort verdrängte jeden anderen Gedanken: schwanger!
Gewiss, Aldo schien ehrlich besorgt um sie. Und doch ärgerte sie sich über ihn, seine Penetranz, diese direkte Frage. Sie wollte nicht darüber sprechen, nicht jetzt, nicht mit ihm! Mit einem Ruck stieß sie die Beifahrertür auf und stieg aus. »Sei mir nicht böse, aber für so intime Gespräche bin ich jetzt nicht in Stimmung. Wir sehen uns morgen im Büro. Gute Nacht!«
Sie ging zur Haustür, schloss auf und ging hinein, ohne sich noch einmal umzusehen. Aber sie hörte, wie Aldo wegfuhr, und war erleichtert.
Auf halbem Weg die Treppe in den dritten Stock hinauf meldete sich ihr Gewissen. Wenn Aldo tatsächlich so besorgt um sie war, hatte sie ihn sehr schlecht behandelt. Sie schob den Gedanken beiseite. Jetzt war sie einfach zu müde und zu erschöpft, um sich auch noch über Aldos Seelenlage den Kopf zu zerbrechen. Vielleicht, versuchte sie sich einzureden, hatte er morgen schon alles vergessen. Und wenn nicht, dann stand so viel Arbeit an, dass für persönliche Gespräche keine Zeit bleiben würde. Das hoffte sie zumindest.
Vor ihrer Wohnungstür blieb sie ein paar Sekunden stehen und schnappte nach Luft. Sie musste unbedingt etwas für ihre Kondition tun. Aber das allein war es nicht. Hätte Aldo sie jetzt gesehen, es wäre Wasser auf seine Mühlen gewesen. Sie versuchte sich abzulenken, indem sie an das Lied von Eros Ramazzotti dachte, während sie ihren Schlüsselbund hervorkramte. Wie hieß es noch? Ach ja, Un’ altra te. Die Tür schwang auf, und sie tastete nach dem Lichtschalter. Bevor sie ihn gefunden hatte, wurde sie am rechten Arm gepackt und in die Wohnung gerissen. Hinter ihr fiel die Tür mit einem für die Uhrzeit unanständig lauten Krachen zu.
Der Eingangsbereich ihrer Zweizimmerwohnung war klein, und Claudia stieß mit der Stirn gegen eine Wand. Ein kurzer, stechender Kopfschmerz war die Folge. Unwillkürlich tastete sie nach der verletzten Stelle, während sie begann, ihre Gedanken zu ordnen.
Sie war nicht allein, so viel war trotz der Dunkelheit klar. Und sie befand sich in Gefahr. In Lebensgefahr? Das war nicht auszuschließen, wenn sie an die mysteriöse E-Mail dachte und daran, wie Pignato und Calvi gestorben waren. Jetzt hörte sie auch den fremden Atem. Sie streckte die Hand nach der Dienstwaffe in ihrem Hüftholster aus, doch noch bevor sie den Kolben der 9-mm-Beretta berühren konnte, wurde sie erneut gepackt, und jemand riss ihre Arme nach hinten, so brutal, als wolle er sie ihr ausreißen. Einen Augenblick lang glaubte sie, der Schmerz würde sie töten. Sie wollte schreien, aber ihr Schrei wurde von etwas erstickt, das auf ihren Mund gepresst wurde. Der Geschmack von Plastik und Klebstoff ließ sie würgen. Ein Klebeband verschloss ihren Mund, und ein weiteres wurde um ihre Hände gewickelt, sodass sie auf ihrem Rücken zusammengebunden waren. Fremde Hände tasteten roh ihren Körper ab und zogen die Beretta aus dem Holster.
»Ich habe ihre Waffe«, sagte ein Mann mit dunkler, rauer Stimme.
»Dann lass uns verschwinden, bevor die Nachbarn aufmerksam werden«, erwiderte ein zweiter Mann in einer etwas höheren Stimmlage.
Claudias Hoffnung, die Unbekannten würden sie zurücklassen, erfüllte sich nicht. Einer öffnete die Tür, der andere schob sie unsanft hinaus ins Treppenhaus. Sie spürte die Mündung einer Schusswaffe im Rücken.
»Wenn du Lärm schlägst oder abhauen willst, bist du tot!« Das war der mit der tieferen Stimme.
Das Licht im Treppenhaus war inzwischen erloschen, aber durch die kleinen Fenster auf den einzelnen Etagen fiel wenigstens ein Hauch von Helligkeit herein. Genug, um die Umrisse der Unbekannten zu sehen, aber nicht, um ihre Gesichter zu erkennen. Es waren zwei Männer, nicht mehr, aber im Augenblick waren es zwei zu viel.
Der eine ging voran, der andere blieb hinter Claudia und ließ sie den Stahl in ihrem Rücken spüren. So wurde sie nach unten geführt, und die ganze Zeit sann sie verzweifelt auf einen Ausweg.
Tausend Fragen schossen ihr durch den Kopf. Wer waren die beiden? Wie waren sie unbemerkt in ihre Wohnung gelangt? Was wollten sie von ihr? Aber das alles war im Augenblick unwichtig. Jetzt zählte nur, dass sie ihnen entkam.
Sie spannte ihre aneinandergefesselten Handgelenke, soweit das Klebeband es zuließ. Wieder und wieder.
Im Erdgeschoss öffnete der vordere Mann vorsichtig die Haustür und lugte nach draußen.
»Alles in Butter, auf der Straße ist keine Menschenseele. Los, schnell zum Wagen!«
»Beweg dich!«, sagte der Mann hinter ihr und verschaffte der Forderung mit erneutem harten Druck der Schusswaffe Nachdruck.
Claudia gehorchte. Auf der Türschwelle spürte sie, dass das Klebeband sich lockerte. Aber würde die Zeit reichen? Auf der gegenüberliegenden Straßenseite zeichneten sich die Umrisse eines Lieferwagens ab, so geschickt geparkt, dass von den Straßenlaternen kaum Licht auf ihn fiel. Als sie mit Aldo vorgefahren war, hatte sie ihn gar nicht wahrgenommen. Als sie jetzt auf den Wagen zugingen, bemerkte sie das Logo einer Firma, einer Wäscherei.
Ein kurzer Rundumblick zeigte ihr, dass sich außer ihnen dreien tatsächlich niemand auf der Straße aufhielt. Was in tiefster Nacht auch kein Wunder war. Noch immer plärrte Musik von irgendwo, nur war Eros Ramazzotti inzwischen von Alice abgelöst worden. Una notte speciale – wie passend.
Ein weiteres Anspannen ihrer Muskeln, und das Klebeband löste sich. Claudia konnte nur hoffen, dass der Mann in ihrem Rücken das nicht mitbekam.
Der Mann vor ihr war jetzt, im Licht der Laternen, deutlicher zu sehen. Er war mittelgroß und hatte ein sehr breites Kreuz. Bei jeder Bewegung spannte sich sein Lederblouson über den offenbar gut trainierten Muskeln. Sein Kopf war fast kahl, das spärliche Resthaar sehr kurz geschnitten. Claudia war sicher, dass dies für ihn nicht der erste Job dieser Art war. Das ganze Verhalten der beiden ließ darauf schließen, dass es sich um Profis handelte.
Trotzdem musste sie einen Fluchtversuch wagen, bevor sie in den Lieferwagen gesperrt wurde. Danach gab es vielleicht keine Chance mehr. Und wenn die beiden erst merkten, dass sie das Band um ihre Handgelenke gelockert hatte, würden sie sie erst recht nicht aus den Augen lassen.
Sie tat, als stolpere sie über den Bordstein, und ließ sich fallen. Der Aufprall war hart und schmerzhaft, weil sie sich nicht mit den Händen abfangen durfte. Sie musste sich verhalten, als sei sie gefesselt, bis der richtige Augenblick gekommen war. Sie wusste, dass sie nur eine Chance hatte.
Der Mann vor ihr fuhr herum und zischte: »Was ist da los?«
»Der Trampel ist hingefallen«, knurrte der andere und beugte sich über Claudia. »Steh schon auf, los!«
Sie sah in das Gesicht eines Mannes in ihrem Alter, zerfurcht und mit zwei kleinen Narben auf der rechten Wange. Die Nase war so schief und krumm, die war wohl schon mehr als einmal gebrochen gewesen. Wäre der Mann nicht offenkundig ein Verbrecher gewesen, mit dieser Visage hätte er sich ohne Schwierigkeiten als Gangsterdarsteller beim Film verdingen können.
Wichtiger als sein Gesicht war allerdings die 9-mm-Beretta in seiner Hand, Claudias Dienstwaffe. Die Mündung war nicht auf Claudia, sondern zur Seite gerichtet. Der andere Mann hatte keine Waffe in der Hand, wenn Claudia auch nicht daran zweifelte, dass er eine bei sich trug. Sie musste schnell sein, sehr schnell – und zwar jetzt!
Scherenartig schlossen sich ihre Beine um die Unterschenkel des Mannes über ihr und brachten ihn zu Fall. Gleichzeitig packte Claudia mit beiden Händen den rechten Arm ihres Gegners und entwand ihm die Waffe.
Sie rollte über den Boden, um Abstand zu gewinnen, und erhob sich auf die Knie. Mit der linken Hand riss sie sich das Klebeband vom Mund, während sie mit der rechten ihre Beretta hielt.
Der Mann mit dem kantigen Kreuz handelte augenblicklich. Er riss eine Waffe unter dem Lederblouson hervor, einen kurzläufigen Revolver, so dass Claudia weder Zeit hatte, sich Deckung zu suchen, noch, ihn zu warnen. Sie musste schießen, jetzt!
Zum Glück hatte der andere Mann ihre Automatik durchgeladen und entsichert. Zweimal kurz hintereinander zog sie den Abzug durch. Als die Detonationen zu hören waren, lag der Mann schon rücklings am Boden. Der Revolver war ihm aus der Hand gefallen. Sein Körper bäumte sich noch einmal auf, nur um einen Augenblick später schlaff in sich zusammenzufallen.
Claudia achtete nicht länger auf ihn. Sie wollte ihre Waffe auf den anderen Mann richten, aber der war verschwunden!
Hastig drehte sie den Kopf – und sah ihn. Der Mann mit der schiefen Nase hatte sich, ähnlich wie sie selbst kurz zuvor, weggerollt und war jetzt, ungefähr zwölf bis fünfzehn Meter von ihr entfernt, dabei, sich zu erheben. Zeitgleich zog er eine Waffe, offenbar eine schwere Automatik, aus dem Hüftholster. Claudia wirbelte zu ihm herum. Es schien eine Frage von Sekundenbruchteilen, wer zuerst den Abzug durchzog.
Da heulte hinter Claudia ein Motor auf, und grelles Scheinwerferlicht blendete ihren Gegner. Der riss die linke Hand hoch, um seine Augen zu schützen.
Ein Auto raste an Claudia vorbei, direkt auf den Mann zu. Der feuerte auf den Wagen. Glas klirrte. Dann erfasste das Fahrzeug ihn mit einem dumpfen Aufprall und schleuderte ihn hoch. Er sah aus wie ein Crashtest-Dummy in einem Werbefilm der Autoindustrie, als er mit seltsam verrenkten Gliedern fünf, sechs Meter durch die Luft flog und schließlich am Straßenrand landete.
Der Wagen hatte angehalten, es war ein weinroter Fiat Bravo. Aldo Rossi stieß die Fahrertür auf und sprang heraus. Die Beretta im Beidhandanschlag, lief er zu dem Mann, der soeben unfreiwillig Bekanntschaft mit dem Kühlergrill seines Fiats gemacht hatte.
Offensichtlich hatte Aldo die Situation unter Kontrolle. Claudia wandte sich zu dem anderen Mann um, der in unveränderter Position auf dem Rücken lag, den Kopf zur Seite gedreht, Arme und Beine von sich gestreckt. Sie erhob sich und bemerkte ein leichtes Schwanken, als sie auf die Füße kam.
Jetzt nur nicht schlappmachen, hämmerte sie sich ein. Keine neue Übelkeit, nicht jetzt!
Die Waffe im Anschlag, näherte sie sich dem Mann vorsichtig. Der Revolver lag etwa einen Meter neben seiner rechten Hand. Zu weit weg für eine Falle – falls der Mann nicht außergewöhnlich schnell und geschickt war.
Als sie fast über ihm stand, sah sie, dass es keine Falle war. Dieser Mann würde niemandem mehr eine Falle stellen. Claudia hatte ihn in die Brust getroffen, nahe dem Herzen. Unter den gegebenen Umständen ein Schuss, auf den sie stolz sein konnte. Auf der Schießanlage der Polizei hätte sie dafür einiges Schulterklopfen geerntet.
Aber das hier war keine Schießanlage, und der Körper vor ihr war keine Trainingsfigur aus Kunststoff. Er war aus Fleisch und Blut. Leblos. Eine sich ständig vergrößernde Blutlache breitete sich um ihn herum aus, als sei in ihm ein Staudamm gebrochen.