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AVERAGE ANGEL: Ein gewöhnliches Mädchen - mit dem Job eines Engels.
Stella Martens ist ein gefallener Engel. Nur wusste sie ganze 17 Jahre nichts davon - bis Zack, ein sexy Engel der Apokalypse, auftaucht und sie aufklärt.
Jetzt soll sie den Job des Engels übernehmen und Wünsche erfüllen. Allerdings ganz ohne magische Engel-Superpower. Ach ja, und wenn sie ihre Aufgaben nicht erfüllt, droht eine Katastrophe apokalyptischen Ausmaßes.
Es kommt aber alles noch schlimmer: Stella muss ihre Familie vor einem bösen Dämon beschützen, einen Nephilim auf den rechten Weg bringen und in die Hölle reisen, um Luzifer eine wichtige Nachricht zu überbringen und die Welt zu retten. Kein Druck also!
Wie soll Stella das nur anstellen, wo sie doch bloß ein ganz gewöhnliches Menschenmädchen ist?
Drei AVERAGE-ANGEL-Geschichten, STERNSCHNUPPENWUNSCH, WEIHNACHTSWUNSCH und WUNSCHBRUNNEN, in einem Band.
»Die Idee, die Geschichte von einem Engel zu erzählen, der ohne seine Kräfte Wünsche erfüllen soll, ist einfach genial. (...) Fazit: Geniale Mischung von Spannung, Humor und einer Prise Gänsehaut.« Amazon-Rezensentin
»Eine wunderschöne Geschichte, die mich begeistern konnte (...) Von mir gibt es die volle Punktzahl.« Letannas Bücherblog
»Wie gewohnt hat es Felicity Green geschafft, mich mit (...) einer außergewöhnlichen Geschichte zu fesseln.« Amazon-Rezensentin
»Vorstellbar gezeichnete sympathische Charaktere, ein leicht und flüssig lesbarer Stil der Autorin sowie eine Handlung, die spannend gehalten ist und in der man als Leser vielerlei Details über Engel und Dämonen erfährt, haben mir hier unterhaltsame Lesestunden beschert und machen Lust auf mehr.« Manjas Bücherregal
Fans von Lauren Kate (Fallen), Becca Fitzpatrick (Engel der Nacht) und Laini Taylor (Daughter of Smoke and Bone) werden AVERAGE ANGEL lieben – jetzt kaufen!
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2018
Felicity Green
AVERAGE ANGEL
Drei Novellen in einem Sammelband
Sternschnuppenwunsch
Weihnachtswunsch
Wunschbrunnen
© Felicity Green, 1. Auflage 2017
www.felicitygreen.com
Veröffentlicht durch:
A. Papenburg-Frey
Schlossbergstr. 1
79798 Jestetten
Umschlaggestaltung: Carolina Fiandra, CirceCorp design
Korrektorat: Wolma Krefting, bueropia.de
Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder teilweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden und verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
www.felicitygreen.com
Sternschnuppenwunsch
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Weihnachtswunsch
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Wunschbrunnen
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Epilog
Anmerkung Der Autorin
Connemara-Saga
Für Taya, my angel
Ich kenne mich mit Engeln nicht besonders gut aus. Was blöd ist, weil ich anscheinend wohl mal einer war.
Es fing alles an wie ein schlechter Witz. Ein sexy Engel kommt in einen Diner und fragt die Kellnerin …
Und wenn ich sage sexy, dann meine ich wow. Die müssen da oben ein Fitnesscenter haben. Wie sonst ließen sich die breiten Schultern, der definierte Oberkörper und die perfekten Bizepse, die unter den T-Shirt-Ärmeln hervorschauen, erklären? Ich bin mir sicher, dass Speichelfäden aus meinem offenen Mund bis hinunter auf mein Stück Pecan Pie hingen, als er in meiner Mittagspause zu mir rüberkam und mich fragte, ob ich Stella Martens sei.
Ich hatte ihn erst gar nicht gesehen, weil ich an einem kleinen Tisch hinten im Diner saß, wo ich normalerwiese meine Pause verbrachte, mein Mittagessen genoss und eine Zeitung las.
Aber ich hatte schon gespürt, dass eine Art magnetische Energie in den Diner gekommen war, die den Blick eines jeden magisch anzog. Sogar die drei alten Frauen, die Klatschtanten der Stadt, die immer ein Gesprächsthema hatten, waren auf einmal still. Das laute Geplapper im Raum war zu Geflüster verstummt. Es schien sogar so, als ob jemand die Lautstärke der Jukebox heruntergedreht hätte.
Ich wandte mich mitten im Kauen um und erstarrte, als ich ihn sah. Zuerst dachte ich, er wäre der umwerfendste Mann, den ich je erblickt hatte. Aber es war nicht, dass er so umwerfend schön aussah. Er hatte diese sonderbare, kaum greifbare Aura, die man »das gewisse Etwas« nennt. Er schien irgendwie von innen heraus zu leuchten. Natürlich tat er das, er war ja auch ein verdammter Engel, was kann man schon anderes von denen erwarten? Aber zu dem Zeitpunkt wusste ich das ja nicht und als er zu meiner Tante hinter den Tresen ging und unüberhörbar nach mir fragte, dachte ich einfach, dass er das schönste Wesen war, das mir je unter die Augen gekommen war. Also starrte ich ihn an, mein offener Mund voll mit Pecan Pie, als meine Tante auf mich zeigte und er zu mir kam.
Er war muskulös, wie ich schon erwähnte, aber auf attraktive, schlanke Art und Weise, bei der man einfach wusste, dass er diese Kuhlen über den Hüftknochen hatte, wo die Bauchmuskeln trichterförmig zusammenlaufen und wie ein großer Pfeil auf du weißt schon was zeigen – ich wurde rot, als mir der Gedanke kam. Seine Haare waren schulterlang und dunkel. Seine Augen waren ebenfalls braun und wirkten etwas exotisch. Genauer gesagt sah er aus wie ein Indianer, was mir hinterher komisch vorkam. Ich dachte nicht, dass Engel in der Mythologie der Ureinwohner vorkamen, aber ich musste zugeben, dass ich nicht besonders viel darüber wusste. Was ganz schön traurig war, besonders weil es eine Ausgrabungsstätte und ein Besucherzentrum in der Nähe von Average gab, wo die Penacook gelebt hatten. Unsere einzige Touristenattraktion, abgesehen von Antiquitätenläden, und wir hatten einige Schulausflüge dahin unternommen.
Wie dem auch sei, er zog auf jeden Fall alle Blicke auf sich. Er hätte es auch getan, wenn er kein Engel gewesen wäre. Dazu kam noch die Art und Weise, wie er sich fortbewegte – geschmeidig und agil, wie ein Panther, der sich an sein Opfer anschleicht. All das ließ ihn gefährlich sexy aussehen.
Und seine Stimme. Wieder wow. Tief. Süß. Leicht träge. So wie der Karamell auf meinem Pecan Pie, dachte ich, den ich immer noch im Mund hatte.
»Ja«, spuckte ich, um zu bestätigen, dass ich in der Tat Stella Martens war, und verschluckte mich dabei. Mit Tränen in den Augen schnappte ich mir mein Glas Wasser und trank es gierig aus. Er nahm mir gegenüber Platz. Die Leute hatten uns angestarrt, aber Tante Jeannie hatte sich bemerkbar gemacht und plauderte laut mit den Gästen, damit sich wieder alle ihren eigenen Angelegenheiten zuwenden konnten. Das übliche Dinergeplapper stellte sich erneut ein, und auch wenn uns der eine oder andere weiterhin einen verstohlenen Blick zuwarf, war ich mir sicher, dass niemand den Mann verstand, als er langsam erklärte, was er von mir wollte. Und ich war froh darüber. Die Leute hätten sich vielleicht sonst gewundert, warum ich ihm weiterhin zuhörte.
Aber für eine ganze Weile kam es mir gar nicht so weit hergeholt vor; vielleicht, weil er nie auch nur annähernd so tat, als seien seine Behauptungen weit hergeholt. Er entschuldigte sich nicht, schenkte mir kein zerknirschtes Lächeln oder stellte so etwas voran wie »Ich weiß, es hört sich lächerlich an, aber hör mir erst mal zu, okay?«.
Stattdessen erklärte er direkt und in sehr nüchternem Tonfall, dass er Zachriel hieß, dass er ein Engel war und ich ein wiedergeborener gefallener Engel namens Vitrella, dessen Aufgabe es gewesen war, Wünsche zu erfüllen. Diese Vitrella hatte auf sehr clevere Weise dafür gesorgt, dass sie selber fiel – von der Erde aus sieht man gefallene Engel übrigens als Sternschnuppen –, indem sie meiner Mutter den Wunsch erfüllte, ein Baby zu bekommen. Mich.
Vitrella hatte wohl irgendwie ein himmlisches Schlupfloch gefunden. Normalerweise werden Engel zur Strafe auf die Erde geschickt. Sie hatte den Wunsch meiner Mutter für ihre Zwecke benutzt und war durch die Wunscherfüllung selber zum gefallen Engel geworden. Obwohl mir überhaupt nicht klar war, warum Vitrella sich solch ein Schicksal selber ausgesucht hatte. Zachriel kehrte das Thema unter den Teppich, so als ob er die Frage erwartet hätte und die Antwort aus dem Weg haben wollte, bevor ich ihm zu bohrende Fragen stellen konnte. Es hörte sich ein bisschen einstudiert an – schließlich bohrte ich überhaupt nicht, sondern starrte ihn nur mit großen Augen an.
Vitrellas Verstoß gegen die Regeln hatte für eine Art Ungleichgewicht gesorgt. Sie musste ihr Schicksal weiterleben und Wünsche erfüllen, obwohl sie irgendwie arbeitsunfähig war, wo sie doch in einem menschlichen Körper steckte, der von der Sache nichts wusste. Das Gleichgewicht musste wieder hergestellt werden, sonst würde das schlimme Folgen haben. Zachriel erklärte mir ziemlich unverblümt, dass ich eine bevorstehende apokalyptische Katastrophe sei. Ich wollte doch nicht für das Ende der Welt verantwortlich sein, oder?
Zachriel anzuschauen und ihm zuzuhören hatte mein Hirn wohl anscheinend in süßen, warmen Sirup verwandelt. Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen. Bis mir aufging, dass das hier ja wohl ein Witz sein musste. Es gab keine andere Erklärung dafür, oder? Aber wer spielte mir denn so einen Streich?
Mein Blick schoss im Diner umher. Tante Jeannie? Sie redete immer davon, einen netten Freund für mich zu finden. Ich würde mich nicht wundern, wenn sie mich mit jemandem verkuppeln wollte. Aber sie war eine gradlinige Person. Diese Geschichte passte nicht zu ihr. Ja, sie würde es vielleicht organisieren, dass ein junger Mann hier herkäme und mich in meiner Mittagspause abfing. Aber sie würde ihm nicht vorschlagen, so eine aberwitzige Geschichte zu erfinden.
Wer denn sonst? Meine beste – und um ehrlich zu sein, einzig richtige – Freundin Sarah verbrachte den gesamten Sommer mit ihrer Familie in Europa. Aber das hier war genau die Art von Sache, die sie witzig finden würde. Ich meine, ich, ein Engel? Das musste die am weitesten hergeholte geheime Identität sein, die es je gegeben hatte.
Ich bin weder ätherisch noch anmutig. Wenn man mir Flügel aufsetzen würde, sähe ich wirklich lächerlich aus. Höhnische Kommentare darüber, dass die Flügel mich nicht in die Lüfte heben könnten, wären gerechtfertigt. Ich bin groß und kurvig auf eine Art und Weise, die vielleicht eines Tages mal sexy sein könnte, wenn ich aufhören würde, Burger und Schokoladenkuchen zu essen. Im Moment habe ich einfach nicht die Absicht, das zu unterlassen. Und wenn ich sage Absicht, dann meine ich Selbstbeherrschung. Ich habe auch keine blonden langen Haare und weiße, strahlende Haut. Ich habe diese undefinierbare Haarfarbe, die man dunkelblond oder hellbraun nennen könnte. Die die Haare immer leicht fettig aussehen lässt. Nicht zu vergessen, ist mein Gesicht mit ungefähr so vielen Sommersprossen übersät, wie es Sterne am Himmel gibt. Doch ganz grundsätzlich würde man niemals eine engelhafte Gelassenheit und Ruhe mit mir in Verbindung bringen.
Aber wer auch immer sich das hier für mich ausgedacht hatte, war nur ein kleines bisschen gemein. Derjenige war auch irgendwie süß. Denn diese erfundene Geschichte sagte ja, dass meine Mutter mich so sehr gewünscht hatte, dass ein Engel sich opferte, um den Wunsch wahr werden zu lassen. Vielleicht hatte meine Mutter mich tatsächlich für einen Engel gehalten. Keine Ahnung, denn meine Mutter lebte nicht mehr.
Nein, nein, das ist schon okay, ich war damals vier und obwohl es mich manchmal traurig machte, hatte ich immerhin dreizehn Jahre, um mich daran zu gewöhnen. Außerdem hatte ich eine Stiefmutter, die mein Vater ein paar Jahre nach dem Tod meiner Mutter geheiratet hatte, also sehe ich sie irgendwie schon als Mutter an. Ich besaß nicht besonders viele Erinnerungen an meine echte Mutter. Und Allison war überhaupt nicht der Typ böse Stiefmutter. Sie war toll und liebte mich wirklich. Aber sie war eine sehr pragmatische Frau und auch sie würde niemals auf die Idee kommen, mich einen Engel zu nennen. Doch der Grund, warum es sein konnte, dass meine Mutter eine klitzekleine Ahnung gehabt hatte, war, dass sie mich Stella genannt hatte, was das lateinische Wort für Stern ist. Mein Vater hatte mir erzählt, warum. Ich war ein Sternenguckerbaby gewesen, das bei der Geburt hoch in den Himmel geschaut hatte, statt nach unten, das Kinn eingezogen, wie die meisten braven Neugeborenen, die es ihrer Mutter einfacher machen wollen. Ich hingegen musste Komplikationen machen, was wiederum nicht gerade für einen Engelscharakter sprach. Aber der Gedanke, dass meine Mutter für mich gebetet hatte und mich vielleicht für einen Engel hielt, verschaffte mir ein wohlig warmes Gefühl im Herzen.
Wer auch immer diese Geschichte erfunden hatte, musste einen komischen Sinn für Humor haben, aber eine Freundin sein, die mich gut kannte. Natürlich, es musste Sarah sein. Ich wusste nicht, wie sie das von so weit weg eingefädelt hatte, und es überraschte mich, dass sie einen Mann wie diesen hier kannte, aber sie musste es sein. Ich atmete erleichtert aus.
»Also, Zack … darf ich dich Zack nennen?« Ich versuchte, mich ganz cool anzuhören, aber meine Stimme klang quietschig. »Woher kennst du Sarah?«
Zachriel sah verwirrt aus. Entweder kannte er meine Freundin tatsächlich nicht oder er war ein richtig guter Schauspieler. Er machte eine ungeduldige Handbewegung und beugte sich vor. »Hast du mir zugehört?«, fragte er ernst. »Das hier ist wirklich wichtig. Ich erkläre es noch einmal. Ich bin ein Engel. Du bist ein wiedergeborener Engel namens Vitrella …«
Mir wurde jetzt noch wohliger und wärmer, wo er mir so nahe war, und ich war von seinem Blick hypnotisiert wie ein Hase im Scheinwerferlicht. Ich war mir auf einmal hundertprozentig sicher, dass, wer auch immer oder was auch immer Zachriel war, er glaubte, was er sagte. Dann gab es nur eine Erklärung. Ich wusste nicht, woher er meinen Namen und meine Lebensgeschichte kennen konnte und warum er mich aufgesucht hatte, aber er musste psychisch krank sein. Schizophren. Psychotisch. Wie auch immer man das nannte. Diese Einsicht stimmte mich traurig. Ich versuchte ganz sanft mit ihm umzugehen und sagte. »Das ist schön. Aber meine Mittagspause ist jetzt vorbei und ich muss gehen.«
Ich stand auf. »Schön dich kennengelernt zu haben, Zack. Man sieht sich, okay?«
Er sah entnervt aus. »Du glaubst mir nicht.« Es war keine Frage. Er erzählte die Geschichte wahrscheinlich dauernd und war diese Reaktion gewohnt.
»Doch, doch, klar tue ich das. Ich muss einfach wieder zurück zur Arbeit.« Ich lächelte und nahm Teller, Besteck, Glas und Zeitung und brachte alles in die Küche. Als ich zurückkam, meine Schürze umband und hinter den Tresen trat, überfiel mich Tante Jeannie sofort. »Wer war dein Freund?«, fragte sie.
»Äh. Zack. Ich kenne ihn nicht wirklich.« Ich schaute in Richtung des Tisches, den ich gerade verlassen hatte. Zack war weg. Ich hätte erleichtert sein sollen, fühlte aber stattdessen Enttäuschung.
Als ich nach Ende meiner Schicht aus dem Diner kam, wartete der »Engel« schon auf mich. Ich würde gerne behaupten, dass es mich genervt hätte, aber ich war auch ein kleines bisschen geschmeichelt. Ich meine, er sah so gut aus. Und mir war noch nie ein Kerl hinterher gewesen. Obwohl das hier ja schon an Stalken grenzte. Und nicht zu vergessen, er war nicht ganz richtig im Oberstübchen. Also lächelte ich insgeheim, als ich nach Hause ging und er mir folge, aber nach einer Weile bekam ich doch ein wenig Angst.
Average ist nicht gerade bekannt für eine hohe Kriminalitätsrate, aber es war Abend und die Straßen ziemlich leer um die Uhrzeit. Es war ein Dienstag, späte Abendessenszeit und die meisten Leute hier waren daheim mit ihren Familien. Also beschloss ich, ihn lieber anzusprechen, solange wir noch im Zentrum waren, wo Geschäfte und Restaurants aufhatten und noch was los war. Wenn ich um Hilfe rufen müsste, würde mich hier wenigstens jemand hören.
»Hör zu«, sagte ich, nachdem ich mich so abrupt umgedreht hatte, dass er verdutzt stehen blieb. »Kannst du mir irgendwie beweisen, dass das, was du mir erzählt hast, der Wahrheit entspricht? Ansonsten vergiss es, okay? Ich werde dir nicht glauben. Zeig mir Beweise oder lass mich in Ruhe.«
Ich dachte, damit wäre die Sache gegessen. Da er seine Geschichte über Engel und so ja eindeutig erfunden hatte – ich hatte schon gehört, wie überzeugend psychisch Kranke sein konnten – konnte er auf keinen Fall Nachweise erbringen.
Als er einfach nur dastand und mich gedankenverloren anstarrte, sagte ich noch: »Sonst werde ich die Polizei rufen und die sperren dich dann wieder in die Anstalt ein, aus der du abgehauen bist.«
Er seufzte. »Ich soll das eigentlich nicht tun, aber ich sollte dir ja auch nicht sagen, was ich dir erzählt habe, also liegt es sowieso an mir, wo ich die Grenzen setze. Und ich sehe, dass ich dich auf keine andere Art und Weise überzeugen kann.«
Das verwirrte mich. »Was?«
Er seufzte wieder. Als er mich anfasste, war ich viel zu aufgeregt, um seine Hand rechtzeitig abzuschütteln. Es fühlte sich gut an. Kleine Blitze zuckten über meine Haut und verursachten Gänsehaut. Bevor ich michs versah, übergab ich mich.
Ja, genau. Auf einmal wurde mir ganz schwindlig, so wie wenn man sich zu lange auf einem Bürostuhl dreht, und ich musste einfach kotzen. Gott sei Dank gelang es mir noch, mich von ihm wegzudrehen.
Als ich da so stand, vornübergebeugt, die Hände auf den Oberschenkeln, schwer atmend, fiel mir auf, dass ich mich über irgendeinem schwarzen Zeug auf einem Busch übergeben hatte. Es saß wie geschmolzener Asphalt aus. Und der Busch kränkelte sowieso schon sehr. Nur ein paar trockene Zweige, die aus der verdorrten Erde ragten.
Ich schüttelte verdutzt den Kopf. Ich war mir ziemlich sicher, dass dieser Busch mit tropfendem schwarzem Zeug vorhin nicht dort gewesen war, neben dem Bürgersteig. Das Verschönerungskomitee der Stadt Average würde das einfach nicht erlauben.
Aber das schien sowieso keine Rolle zu spielen, denn als ich aufsah, war ich nicht in Average. Zumindest dachte ich das zuerst. Es war auf jeden Fall nicht das Average, in dem ich noch vor ein paar Sekunden gestanden hatte. Um uns herum befanden sich ein paar heruntergekommene Gebäude und alles andere sah so aus, als ob es plattgewalzt worden war. Und auf allem klebte dieses schwarze Zeugs.
Mein Verstand kam nicht hinterher mit dem, was mir passiert war. Mit großen Augen schaute ich den Engel an.
»Die Zukunft. Ich habe dich in die Zukunft mitgenommen.«
Mein Mund stand ungefähr eine Minute lang offen und da ich immer noch diesen ekligen Geschmack im Mund hatte, vom Kotzen, half es wirklich nicht, als mir auch noch die Spucke trocknete.
Ich versuchte zu schlucken, aber das machte es auch nicht besser. »Es ist die Luft«, sagte Zack. »Wir sollten nicht zu lange hierbleiben. Es ist nicht gut für dich.«
»Warte mal«, krächzte ich. »Was soll das heißen, die Zukunft?«
»Ich bin ein Engel der Apokalypse. Ich kann die Vergangenheit und die Zukunft sehen und dort hinreisen, um ein solches apokalyptisches Szenario zu verhindern. Es ist meine Gabe. Ich dachte mir, wenn ich dir zeige, was ich kann, was ein psychisch kranker Mensch sicher nicht kann, dann glaubst du mir.«
Verstört schaute ich mich wieder um. Ich sah keine Farbe. Es war alles … grau. »Das hier ist die Zukunft? Wann? Wann wird das passieren? Und was ist dieses schwarze klebrige Zeug?«
»Spielt das eine Rolle? Wir haben sowieso keine Zeit für diese Fragen«, wurde er etwas ungeduldig. »Das Wichtige ist doch, ich kann es sehen und ich kann dich dorthin bringen.«
Ich nickte langsam. Es fühlte sich so an, als ob der Sauerstoff langsam, aber sicher aus meinen Lungen gezogen wurde und ich war recht erleichtert, als er mich wieder berührte und dieses schwindlige Gefühl wiederkam, was uns dann zurück in das Average der Gegenwart transportierte. Ein wenig erleichtert, weil ich mich wieder übergeben musste. Diesmal in einen schönen Blumenkübel, den ich auch an einer Straße in Average erwartet hätte.
»Also, glaubst du mir jetzt?«, fragte Zack.
Ich zwickte mich tatsächlich selber, nur um sicherzugehen, dass ich nicht träumte. Vielleicht war ich auf meinem Weg von der Arbeit nach Hause ohnmächtig geworden … Vielleicht hatte er mir irgendein Mittel gespritzt, das Halluzinationen hervorrief. Vielleicht … meine Gedanken überschlugen sich. Was, wenn ich psychotisch war und sich das alles nur in meinem Kopf abspielte? Bei dieser Vorstellung bekam ich eine Riesenpanik, bis mir einfiel, dass Tante Jeannie Zack im Diner gesehen und mich auf ihn angesprochen hatte.
Ich überquerte die Straße zum Stadtplatz und setzte mich auf eine Bank. Zack folgte mir und wartete auf meine Reaktion. Er drängte mich nicht, das musste ich ihm lassen.
»Nun, das beweist, dass du … irgendwas bist«, sagte ich schließlich. »Aber es hat überhaupt nichts mit dem zu tun, das du mir erzählt hast. Vitrella, diese Wunschsache, meine Mutter …«
Ich schaute ihn an, und zum ersten Mal konnte ich in seinem Blick etwas anderes sehen als mäßiges Interesse und verzweifelte Ernsthaftigkeit. Ich hätte schwören können, es war Neugierde. Zumindest funkelten seine Augen. Aber das konnte auch von dem sich darin widerspiegelnden Licht der Straßenlampe kommen, die gerade angegangen war.
»Du hast recht«, sagte er. »Es gibt einen viel besseren Ort und eine viel bessere Zeit, in die ich dich mitnehmen kann.«
Bevor ich protestieren konnte, berührte er meinen Arm und ich übergab mich wieder. Diesmal über meine Schuhe. Toll. Es tröstete mich ein wenig, dass ein paar Brocken auf seinen Schuhen landeten. Aber es schien ihm gar nichts auszumachen. Mir war kalt und ich zitterte. Es kam mir auch viel dunkler vor als vorher.
»Steh auf.« Er zog mich hoch, bevor ich mir den Mund abwischen konnte. Alles um mich herum sah noch genau gleich aus. Vielleicht hatte es diesmal nicht funktioniert. Aber als er mich die Straße entlangzog, fielen mir doch Unterschiede auf. Dieses Average wirkte … frischer. Die Gebäude kamen mir neuer vor und die Pflanzen, die Dekorationen, alles war farbiger. Manchmal hatte man allerdings Farben miteinander kombiniert, die schlecht zusammen passten. Ich musste einem Wagen hinterherschauen, der an uns vorbeifuhr. Dann fielen mir die geparkten Autos auf. Es waren alles alte Modelle. Das ergab keinen Sinn für mich.
Der Groschen fiel – es mag langsam wirken, aber es ging alles so schnell – als ich sah, dass Petrelli’s fehlte. Es war nicht mehr da. Nicht, dass das ganze Restaurant einfach fehlte. Da war einfach kein Restaurant, wo sich normalerweise Petrelli’s befindet, sondern nur ein Wohnhaus. Und der Blumenladen an der Ecke war ein Schlachter. Das hier war Average in der Vergangenheit. Musste es sein. Und eine nicht ganz so ferne Vergangenheit.
»Es ist vor achtzehn Jahren«, sagte der Engel, so als ob er meine Gedanken lesen könnte. Er zog mich immer noch im Affentempo durch die Straßen und das Schwindelgefühl wollte nicht nachlassen. Ich schüttelte seine Hand ab. »Wo gehen wir hin?«, fragte ich, als ich versuchte, mit seinen riesigen Schritten mitzuhalten.
»Das wirst du gleich sehen.«
Obwohl ich hauptsächlich damit beschäftigt war, regelmäßig zu atmen, damit der Engel nicht bemerkte, wie unsportlich ich war, erkannte ich ziemlich schnell, dass wir auf dem Weg zu mir nach Hause waren. Da wir so schnell gingen, kamen wir sehr bald an.
»Was machen wir denn hier?«, keuchte ich. Wenigstens war mir nicht mehr so kalt.
»Das siehst du gleich«, drängte Zack mich. »Beeil dich, wir wollen es nicht verpassen.« Wir standen vor einem Baum, der in der Zukunft nicht dort gewesen war. Nicht dort sein würde? Wie auch immer, du weißt, was ich meine. Jemand muss ihn vor meiner Geburt abgeholzt haben. Jetzt begriff ich auch, dass wir nicht Spätsommer hatten – und der Grund, warum es kalt und dunkel war. Es lag kein Schnee, aber die Bäume waren kahl. Bevor ich mich an den komischen Baum in meinem ansonsten so vertrauten Garten gewöhnen konnte, war Zack schon hochgeklettert und hielt mir die Hand hin, um mir hinaufzuhelfen.
»Ich weiß nicht, ob ich da hochkomme«, sagte ich skeptisch.
»Versuch es wenigstens, sonst wirst du es nicht sehen«, beharrte er etwas entnervt. Die Neugierde siegte, also nahm ich seine Hand, die sich überraschend warm anfühlte, und er zog mich hinauf, während ich meinen Fuß in ein Baumloch stellte und den niedrigsten Ast mit der anderen Hand erwischte. Als ich es auf den Ast geschafft hatte, war es nicht mehr schwer. Wir kletterten höher und obwohl ich mir etwas Sorgen machte, dass das Gezweig mein Gewicht nicht halten würde, war ich doch etwas stolz auf mich.
Ich hatte fast vergessen, dass wir in der Vergangenheit waren, als Zack auf ein Fenster im oberen Stockwerk zeigte – das Schlafzimmer meiner Eltern –, dem wir uns direkt gegenüber befanden. Ich fiel fast vom Baum.
Die Vorhänge waren offen, das Licht war an und ich sah eine jüngere Version meines Vaters ins Zimmer kommen. Er sah eigentlich gar nicht so anders aus. In meiner gegenwärtigen Zeit waren seine Haare fast komplett grau und das war der größte Unterschied, der mir auffiel. Aber was mich schockte, war, meine Mutter zu sehen. Sie sah genauso aus wie auf den Fotos, die ich von ihr habe, aber gleichzeitig auch ganz anders. Ich war völlig gefangen genommen von ihrem Anblick, und für einen Moment vergaß ich alles um mich herum, den Baum, die Kälte, den Engel. Aber dann merkte ich, was meine Eltern gerade vorhatten. Da musste ich mich fast wieder übergeben.
»Ihhh«, sagte ich und hielt mir die Augen zu, als sie sich gegenseitig auszogen. »Das will ich echt nicht sehen. Was für ein Perversling bist du eigentlich, der wie ein Spanner im Baum sitzt?«
Zack, der etwas versetzt unter mir hockte, streckte den Arm hoch und zog mir die Hand von den Augen weg. »Jetzt stell dich nicht so an, darum geht es doch hier nicht. Ich möchte, dass du den Moment siehst, in dem es passiert. Deine Empfängnis.«
Ich blickte ihn entsetzt an. »Wieso würde ich das denn sehen wollen?«
»Weil du dann siehst, wie es passiert. Wie Vitrella wiedergeboren wird. Das würde alles beweisen, was ich dir erzählt habe, nicht wahr?«
»Ja, schon.« Es war alles ein bisschen viel für mich. Ich konnte nicht klar denken.
»Also los, schau zu«, ermutigte er mich. Ich warf einen Blick in Richtung Schlafzimmer und glücklicherweise waren meine Eltern so prüde, dass sie es unter der Bettdecke taten. Trotzdem war es mir immer noch unangenehm, hier zu sitzen, mit Zack, und sie dabei zu beobachten.
»Schau durch die Äste hindurch in den Himmel«, sagte er nach einer Weile. »Gleich wirst du die Sternschnuppe sehen. Und dann musst du ganz schnell wieder ins Fenster gucken. Verstanden?«
Ich nickte, wandte meinen Blick von Moms schönen, glänzenden dunklen Haaren ab – und konnte nicht anders, als mir zu wünschen, dass ich die geerbt hätte – und legte den Kopf in den Nacken. So in den Nachthimmel zu blicken, wo die ganzen Sterne leuchteten, hatte etwas Magisches. Bald bemerkte ich die Sternschnuppe, die direkt auf uns zukam. »Ich sehe sie«, rief ich aufgeregt.
»Psst.«
Ich starrte ins Schlafzimmerfenster, wo meine Mutter auf meinem Vater saß. Sie hatten die Decke abgeworfen und Moms nackter Rücken war uns zugewandt. Ich war eher fasziniert von meiner Mutter als verstört über das, was sie taten, muss ich zugeben. Auf einmal sah es so aus, als ob im Kreuz meiner Mutter ein Licht explodierte und dann ausglühte. Schnell war alles wieder normal.
Okay, das war sonderbar. »War das … die Sternschnuppe?«, flüsterte ich ungläubig. »Vitrella?«
Zack nickte.
»Aber … wie kann es denn sein, dass sie es nicht bemerkt haben? Wie kriegen die Leute denn so etwas nicht mit?«
Zack schaute zu mir hoch und seine Augen glitzerten belustigt im Dunkeln. »Hast du schon mal Sex gehabt?«
Ich war mir sicher, dass ich hochrot im Gesicht wurde und hoffte, dass Engel nicht im Dunkeln sehen konnten.
»Hast du?«, gab ich zurück. Ich war wirklich neugierig. Hatten Engel Sex? Was für eine Verschwendung, wenn nicht, ging mir durch den Kopf.
»Um mich geht es jetzt nicht. Wenn du jemals einen Orgasmus mit oder ohne Partner gehabt hast, dann würdest du wissen, dass es sich sowieso wie eine Lichtexplosion anfühlt. Du würdest nicht merken, dass sich die Energie eines Sterns in dir entlädt, denn genauso würde es dir vorkommen.«
»Okay.« Mir fiel nichts Besseres ein, weil ich gedanklich immer noch bei Zack und Engelsex war.
Normalerweise wäre mir ein solches Gespräch überpeinlich gewesen … aber ich saß gerade mit einem Engel in einem Baum und schaute mir meine eigene Empfängnis an. Das ist ganz schön viel, was man da verarbeiten muss, also blieb nicht so viel Hirnmasse übrig, um sich verlegen zu fühlen.
»So ist es also passiert«, sagte Zack. »Du hast es selber gesehen. Sternschnuppe, gefallener Engel.«
»Aber … aber …« Ich hatte so viele Fragen, dass ich gar nicht wusste, wo ich anfangen sollte. Außerdem tat mir langsam mein Hintern weh davon, auf einem hubbeligen Ast zu sitzen. »Wie … ich meine, ich habe im Sexualkundeunterricht aufgepasst. Ich weiß, wo Babys herkommen. Was biologisch so passiert. Man wird ja nicht schwanger in dem Augenblick, in dem man Sex hat.« Ich war immer noch etwas zu schüchtern, um so etwas mit einem süßen Typen zu diskutieren, aber ich fasste mir ein Herz. »Es dauert eine Weile, bis Sperma zum Ei gelangt und so. Und es hat überhaupt gar nichts mit einem Orgasmus zu tun.« Ich merkte, wie mir schon wieder die Hitze ins Gesicht stieg. »Man kann schwanger werden, ohne einen Orgasmus zu haben.«
»Das hier hat mit Biologie gar nichts zu tun«, erklärte Zack. »Alles, was du gelernt hast, ist bestimmt richtig. Wie ein neues Leben beginnt. So ist das zumindest bei euch Säugetieren. Aber mit jeder Schöpfung passiert auch noch etwas anderes, etwas, dass eure Wissenschaften wie Biologie nicht mal annähernd erklären können.«
»Häh?« Das hörte sich ziemlich esoterisch an.
»Dem Lebewesen, das geschaffen wird, wird etwas eingegeben – man kann es eine Seele nennen. Obwohl ich immer etwas vorsichtig mit diesem Wort bin, weil das, was ich meine, etwas viel Vageres ist, als das, was Menschen normalerweise damit in Verbindung bringen.«
Ja, tatsächlich sehr vage. Aber ich beschloss, das erst mal so zu akzeptieren und weiterzufragen.
»Also bekommt es diese … Seele oder so, sobald es geschaffen wird? Das Baby, meine ich? Im Moment der Empfängnis? Vor der ersten … was weiß ich … Zellteilung?«
»Ja, und das ist bei jeder Schöpfung so.«
Gut, das würde ja die Debatte beenden, ob ein Embryo eine Seele hatte oder nicht. Diese Info war Dynamit in den Händen von Abtreibungsgegnern. Ich würde es ihnen aber nicht erzählen, weil ich mir selber noch nicht so sicher war, wie ich zu dem Thema stand.
»Aber es ist kein … fertiges Ding«, fühlte sich Zack genötigt, zu erklären. »Es ist eine Energie und jede Energie verändert sich, passt sich an. Sie ist nicht statisch.«
»Okay, also ist es nicht so wie: Das ist die Seele der Person von der Empfängnis bis zum Tod? Also ist meine Seele nicht mehr wirklich Vitrella?« Komisch. Komisch, komisch, komisch. Auf einmal fühlte ich mich so an, als ob ich einen Eindringling in mir beherbergte. Ein Engel aus dem Weltraum. Das war doch ein bisschen wie ein Alien, oder? Hätte Vitrella nicht aus dem Bauch meiner Mutter herausbrechen sollen, wie in dem Film? Statt eines hässlichen Außerirdischen, der rauskommt, wurde ich geboren. Ich war das hässliche außerirdische Ding. Ein Schauder lief mir über den Rücken.
»Nein.« Ich konnte sein Gesicht nicht sehen, weil er angefangen hatte, hinunterzuklettern, aber es hörte sich so an, als ob er lächelte. Und dann sagte er etwas, das hätte sein können: »Es ist überhaupt nicht wie Vitrellas« oder »Du bist überhaupt nicht wie Vitrella.« Er war schon auf dem niedrigsten Ast und sprang auf den Boden, also war ich mir nicht sicher.
»Komm schon«, sagte er von unten. »Wir müssen los.«
»Warte. Gib mir noch einen Augenblick.« Ich schaute in das Fenster, wo meine Eltern gerade mit dem undenkbaren Akt des Mich-Machens fertig waren und sich wieder angezogen hatten. Meine Mutter stand in der Mitte des Zimmers, redete mit Dad und lächelte. Ich hatte den perfekten Ausblick auf ihr Gesicht.
Ich hatte ja gesagt, dass ich nicht so traurig darüber war, dass meine Mutter gestorben ist, als ich ganz klein war, weil ich eine nette Stiefmutter hatte und eine ganz tolle Familie, aber um ehrlich zu sein: Ich habe ein kleines bisschen gelogen. Manchmal machte es mich schrecklich traurig.
Ich hatte nicht besonders viele Erinnerungen an meine Mutter. Nur Fragmente, das, woran man sich so erinnert aus der Zeit, als man drei oder vier war. Schnappschüsse, bei denen man sich nicht richtig sicher war, ob es ein Foto des Moments war oder der Moment selber, an den man sich erinnert. Oder Gerüche und Geräusche, so flüchtig, dass man sie kaum festhalten konnte, die aber trotzdem für alle Ewigkeit ins Gehirn gebrannt waren. Mandarine. Ich war mir sicher, dass meine Mutter ein Shampoo, eine Bodylotion oder ein Parfum mit Mandarinenduft benutzt haben musste, denn ich brachte ihn mit ihr in Verbindung und liebte den Geruch immer noch. Manchmal, wenn ich allein war, dann pellte ich eine Mandarine. Nicht, um die Frucht zu essen, sondern um meine Nase in der Schale zu vergraben.
Ab und zu bekam ich richtig Panik, weil ich mir Sorgen machte, dass ich sie vergessen würde. Dann nahm ich die Fotos meiner Mutter heraus, um ihr Gesicht zu studieren und es mir einzuprägen.
Jetzt hatte ich eine neue Erinnerung von ihr. Ich würde niemals das glänzende braune Haar, das glückliche Lächeln vergessen. Sie war so hübsch in dem großen grauen T-Shirt, das sie sich über den Kopf gezogen hatte, dass sie fast leuchtete. Ich konnte die Liebe sehen, die sie meinem Vater entgegenbrachte, und sie wirkten beide so … unbeschwert.
Ich starrte sie so intensiv an, dass meine Augen anfingen zu brennen, aber ich wollte mich an jedes kleine Detail erinnern. Sie ging zum Fenster und schaute hinaus, immer noch ein Lächeln auf den Lippen, und ich war völlig verzaubert. Ich war so hin und weg, dass ich vergaß, dass ich ihr direkt gegenübersaß. Ihr Gesichtsausdruck änderte sich, sie zog die Brauen zusammen, und sagte etwas über die Schulter zu meinem Vater, der noch im Bett lag. Er sprang auf und kam auch zum Fenster, und dann merkte ich, dass sie zu mir rüberschauten. Sie sahen mich. Oder, besser gesagt, sie sahen jemanden, der im Baum saß und sie ausspionierte.
Als mein Vater sich umdrehte und aus dem Zimmer lief, wahrscheinlich um entweder nach draußen zu kommen oder die Polizei anzurufen, kletterte ich so schnell wie ich konnte vom Baum. »Wir wurden erwischt«, rief ich Zack zu, der unter dem Baum auf mich wartete. In meiner Eile rutschte ich aus und fiel runter – direkt in Zacks Arme. Er fing mich auf wie ein Bräutigam, der seine Braut über die Schwelle trägt. Seine muskulösen Arme schienen kein Problem damit zu haben, meine 75 Kilo zu halten. Es fühlte sich gut an. Dann fiel mir mein Vater wieder ein. »Wir müssen weglaufen«, sagte ich. Aber Zack setzte mich nicht ab, sondern trug mich stattdessen zur Hecke, die unseren Garten von dem des Nachbarn trennte. Bevor ich mich fragen konnte, was er da tat, fing alles an, sich zu drehen und ich kotzte wieder – diesmal in die hohe grüne Hecke meiner Gegenwart.
Bevor ich wieder ganz zu mir gekommen war, hatte Zack mir Instruktionen gegeben, was ich als Nächstes machen sollte. Ich hatte wie eine Idiotin einfach nur genickt, und dann war er verschwunden.
Ich holte ein paarmal tief Luft und ging zu meinem Haus rüber. Ganz automatisch drehte ich den Schlüssel im Schlüsselloch, grüßte meine Familie, ging auf mein Zimmer und klappte meinen iPad auf. Wie gewöhnlich nach der Arbeit checkte ich meine E-Mails und so. Aber ich war nicht so richtig bei der Sache, weil ich die ganze Zeit über den sexy Engel und seine unglaublichen Behauptungen nachdachte. Ich hatte zugestimmt, über einen Weg nachzudenken, wie ich herausfinden konnte, was sich die Bevölkerung von Average wünschte, aber eigentlich bloß, um ihn wiederzusehen. Ich meine, im Ernst, wie sollte ich das überhaupt anstellen? Von Tür zu Tür gehen und so tun, als ob ich eine Meinungsumfrage machen würde? Die Leute in der Nachbarschaft kannten mich ja eh.
Während ich meine Facebook-Nachrichten durchlas, hatte ich eine Idee. Ich sah einen Post von der Seite der Gemeinde Average, den jemand geteilt hatte. Ich könnte doch die Bewohner von Average im Internet befragen und so anonym bleiben. Blitzschnell hatte ich ein falsches Facebook-Profil unter dem Namen Angel Average erstellt. Ich wusste, dass das nicht mehr erlaubt war, aber ich dachte mir, bis Facebook das auffiele und versuchte, meine Identität zu überprüfen, hätte ich das Profil sowieso wieder gelöscht. Es sollte ja bloß ein Experiment sein. Ich suchte auf Flickr nach einem Profilbild und nahm eins der ersten, das die Silhouette einer Frau vor der Sonne zeigte. Ich fand, es sah ein bisschen so aus wie das Foto eines Engels, mit dem blendenden Licht im Hintergrund, also hielt ich es für passend.
Ich zuckte zusammen, als es an der Tür klopfte. Allison steckte ihren Kopf ins Zimmer. »In fünf Minuten gibt es Essen«, sagte sie.
»Hab schon bei Jeannie gegessen«, antwortete ich, den Blick auf den Bildschirm gerichtet.
»Du musst nichts essen, aber du kommst und setzt dich zu uns an den Tisch. Dinnerzeit ist Familienzeit und wir haben extra auf dich gewartet.«
Bevor ich irgendetwas entgegnen konnte, hatte Allison schon die Tür zugemacht. Ich seufzte. Dienstagabends gab es Macaroni & Cheese. Wenn ich mit am Tisch saß, dann würde ich definitiv was davon nehmen. Ich hatte doch schon erwähnt, dass ich vielleicht sexy-kurvig sein könnte, wenn ich weniger essen würde. Nun, das hier war der Grund, warum ich eher Rettungsring-und-Speckröllchen-kurvig in weniger schmeichelnden Klamotten war.
Ich wechselte schnell von meinem falschen Profil auf die Seite der Gemeinde Average und schrieb, ohne darüber nachzudenken: »Wünsch dir was … wenn du eine Sternschnuppe siehst und dir was wünschen könntest, was wäre es?«
Ich zögerte, aber als Allison rief: »Stella! Abendessen!«, klickte ich schnell auf Senden.
Ich ging nach unten, wo mein Vater und meine zwei jüngeren Schwestern schon am Tisch saßen. Als ich sie anschaute – Anna, zehn, und Marie, sechs –, kam mir kurz der Gedanke, dass Zack die falsche Schwester angesprochen haben könnte, denn sie sahen beide wirklich wie Engel aus. Blonde Haare, große blaue Augen und das alles. Das war es wahrscheinlich, was mich von einer ganz gewöhnlichen älteren Teenager-Schwester unterschied, denn ich liebte meine kleinen Schwestern über alles. Sie waren einfach solch süße Mäuse und das Herz ging mir jedes Mal auf, wenn ich sie sah, besonders Marie, an die ich mich noch sehr gut als winziges Baby erinnern konnte. Ich zerzauste ihr das Haar, als ich an ihr vorbeiging, und sie zuckte zusammen. Das war ungewöhnlich. Normalerweise war sie sehr verschmust.
»Was gibt’s, Pumpkin?«, fragte mein Vater, bevor ich länger über Maries Reaktion nachdenken konnte.
Er wollte damit sicher nicht sagen, dass ich rund und weich wie ein Kürbis war, schon deshalb, weil mein Vater wirklich der netteste Kerl auf Erden war und niemals auch nur etwas Gemeines dachte. Trotzdem erinnerte es mich daran, mir mehr Salat aufzutun und nur einen oder zwei Löffel Mac & Cheese, um zu probieren. Schließlich würde ich morgen meinen sexy Engel wiedertreffen. Nicht, dass es einen Unterschied für meine Figur machen würde, wenn ich ein Mal, an einem Abend, etwas weniger aß, aber hey. Zumindest hatte ich mal einen Grund.
»Nichts Neues«, antwortete ich wie immer.
»Die Bewerbungsfrist läuft diese Woche ab, nicht wahr?«, kam Allison zur Sache. Ich wusste doch, dass es einen Anlass gab, auf die Familienzeit zu bestehen.
»Hmmm«, antwortete ich, den Mund voll mit geschmolzenem Käse und Pasta.
»Da bist du ganz schön knapp dran, Schatz«, schaltete sich Dad ein.
»Ich glaube nicht, dass ich es schaffe, mich rechtzeitig zu bewerben«, sagte ich, nachdem ich heruntergeschluckt hatte.
»Stella«, sagte Allison in scharfem Ton und legte das Besteck hin. »Du hattest den ganzen Sommer, um dich zu bewerben.«
»Ich weiß. Aber ihr habt gesagt, ich kann in Jeannies Diner arbeiten, bis ich herausgefunden habe, was ich machen will. Und das habe ich noch nicht. Es kommt mir dumm vor, das jetzt übers Knie zu brechen«, fügte ich hinzu. »Außerdem ist studieren teuer. Ich kann ein Jahr lang eine Auszeit nehmen, bei Jeannie arbeiten und dann mit klarem Ziel vor Augen aufs College gehen, statt mich einfach nur einzuschreiben und irgendwas zu studieren.« Ich fand, das hörte sich vernünftig an. Dad und Allison konnten nichts dagegen sagen.
»Aber arbeite nicht einfach nur im Diner«, schlug Allison vor. »Wir haben fürs Studium gespart. Du könntest ein paar Praktika machen. Freiwilligenarbeit. Das sieht dann auch gut auf der Collegebewerbung aus. Und so könntest du herausfinden, was du machen willst.«
»Vielleicht«, sagte ich skeptisch. »Aber ich wüsste gar nicht, wo ich ein Praktikum machen wollte.«
»Ich könnte bei mir in der Firma fragen«, bot mein Vater seine Hilfe an. Er war Steuerberater. Ich verzog das Gesicht. Allison sah das.
»Hey, Steuerberatung und Buchhaltung sind solide Berufsfelder, für die es sich lohnt, das Gesparte fürs Studium auszugeben.«
So wie sie das sagte, machte sie mir ziemlich deutlich verständlich, dass ich gar nicht erst auf die Idee kommen sollte, Kunst oder Theaterwissenschaften studieren zu wollen. Nicht, dass ich das vorhatte, aber ich konnte meine rebellische Ader mal wieder nicht unterdrücken. »Ich arbeite gerne im Diner.« Das war noch nicht mal gelogen. Ich arbeitete gerne mit Kundschaft. Es war nie langweilig. »Vielleicht bleibe ich einfach Kellnerin.«
Allison und mein Vater schauten sich entsetzt an.
»Aber Schatz, du kannst doch so viel mehr aus dir machen. Für Jeannie ist das in Ordnung, ihr gehört das Geschäft, aber ein junges, cleveres Mädchen wie du …« Allison nickte heftig und wurde ganz rot im Gesicht. Ich kaute auf einem Bissen Salat herum, um mein Grinsen zu verstecken. »Wir wollen dir sicher nicht vorschreiben, was du mit deinem Leben anfangen sollst, aber …«
»Ist schon okay, ich habe nur einen Witz gemacht«, unterbrach ich Allison, die sich ans Herz fasste. »Natürlich werde ich aufs College gehen. Einen ordentlichen Abschluss für einen ordentlichen Job machen. Keine Sorge.«
»Vielleicht kommt ja auch ein reicher Mann in den Diner und heiratet Stella«, meldete sich Anna zu Wort. »Dann muss sie überhaupt nicht studieren oder arbeiten.«
Jetzt hörten wir alle schockiert auf zu essen, abgesehen von Marie, die komischerweise ihre Makkaroni auf dem Teller umherschob – sie ist eigentlich dafür bekannt, dass sie dieses Gericht schneller herunterschlingt als irgendjemand anders in der Familie – und sich von der Unterhaltung der Erwachsenen dabei nicht stören ließ.
»Es ist ein Diner im Fünfziger-Jahre-Stil, Anna, das bedeutet nicht, dass man automatisch eine Zeitreise in die Fünfziger unternimmt«, antwortete ich, mit den Gedanken bei dem Mann, der heute in den Diner gekommen war. Von Heirat war nicht die Rede gewesen. Aber eine Zeitreise hatten wir immerhin unternommen.
»Wie kommst du denn auf solche Ideen?«, fragte Allison ungläubig. Jetzt war ich aus dem Schneider, weil Anna im Zentrum der elterlichen Sorge stand. Es stellte sich heraus, dass Anna eine modernisierte Cinderella-Verfilmung mit irgendwelchen hippen Teeniestars gesehen hatte, als sie bei einer Freundin gewesen war. »Bei Chantal übernachtest du mir nicht mehr«, beschloss Allison und fing an, Anna einen Lektion über Feminismus und Gleichberechtigung zu halten, was bedeutete, dass ich in Ruhe so tun konnte, als ob ich meine Makkaroni aß.
Als ich nach dem Abendessen wieder vor meinem Computer saß, war ich überrascht, dass eine ganze Menge Leute schon auf meinen Post geantwortet hatten. Schließlich erkundigten sich die Leute auf dieser Seite hauptsächlich nach Gitarrenunterricht, organisierten Mutter-Kind-Gruppen, verkauften Secondhandsachen, solche Dinge eben.
Es gab genug klischeehafte Antworten. 15MillionenDollar schrieb ein Typ. Ichwünschte, ichwäreaufeinerInsel, wo ich am Strand sitzen und Cocktails trinken kann einanderer.
Aber unter den Kommentaren befanden sich auch interessantere und weniger egoistische Wünsche, mit denen ich vielleicht sogar etwas anfangen könnte.
Ich wünsche mir, dass mein Bruder seinen Mathetest besteht und er endlich seinen Schulabschluss bekommt.
Ich wünsche mir, ich würde einen neuen, besseren Job bekommen, damit ich besser für meine Familie sorgen kann – vielleicht ab und zu mal in den Urlaub fahren und meinen Kindern Spielzeug kaufen, auf das sie ihr Auge geworfen haben.
Als ich vor dem Schlafengehen meinen iPad zuklappte, hatte mein Post ganz schön viel Interesse geweckt – von den Einwohnern von Average und wahrscheinlich auch über die Stadtgrenzen hinaus. Manche hatten den Post geteilt und einige hatten zu anderen Kommentaren geantwortet.
Ich wünschte mir, es wäre andauernd Sommer in New Hampshire – Bist du verrückt? Ich liebe die Jahreszeiten. Herbst ist toll, all das farbenfrohe Laub … – Sonnenschein ist am besten – Dann zieh doch nach Kalifornien.
Manche Leute hatten mir sogar einen Gefallen getan und schon anderer Menschen Wünsche erfüllt.
Ich wünschte, ich hätte ein Mountainbike – Ich habe eins, das ich loswerden will, möchtest du es? – Super, wann und wo kann ich es abholen?
EsgabaucheinigesehrtraurigeWünsche: Ich wünsche mir, mein Großvater würde noch leben. – Ich wünschte, mein Mann würde keine schmerzhafte Arthritis mehr haben.
Ich wünschte mir, es gäbe bessere Medizin für MS-Kranke und meine Mutter müsste nicht solche Schmerzen durchstehen – Wussten Sie, dass es eine MS-Selbsthilfegruppe gibt? Wir treffen uns donnerstagabends im Gemeindezentrum – Nein. Ich bin interessiert. Bitte mehr Info per PN.
In der Nacht träumte ich, dass ich in einem weißen Kleid über den Himmel schwebte. Ich strahlte vor Schönheit und war auf wundersame Weise ganz dünn. Meine Haare hatten glitzernde blonde Strähnen und meine Haut war milchig weiß im Mondlicht. Ich hatte einen Zauberstab in der Hand und berührte ganz gütig Sterne, während ich an ihnen vorbeiglitt. Irgendwie wusste ich – wie man in Träumen Dinge einfach so weiß –, dass die Sterne die Wünsche der Menschen darstellten, die auf der Seite der Gemeinde Average kommentiert hatten. Es fühlte sich richtig gut an, sie wahr werden zu lassen. Die Leute von Average hatten sich unter mir versammelt und winkten. Ihre Augen glänzten vor Dankbarkeit und Bewunderung. Ich war gut und wichtig.
Ein blendendes Licht erschien am Horizont, das größer und größer wurde. Ich konnte Zack in all seiner Attraktivität ausmachen. Ich schwebte auf ihn zu, immer noch lächelnd, als das Licht, das ihn umgab, sich in Flammen verwandelte, die sich an seinem muskulösen Körper hochzüngelten. Ich streckte meine Hand nach ihm aus, aber eine laute Explosion schleuderte mich zurück und ich wirbelte durchs Universum, als ich aufwachte. Mir war immer noch schwindlig, nachdem ich das Erlebnis als Albtraum abgetan hatte, und ich brauchte eine Ewigkeit, um wieder einzuschlafen.
Auf einmal fiel mir ein, dass meine Mutter mir immer eine warme Milch mit Honig gemacht hatte, als ich als kleines Kind von einem schlechten Traum aufgewacht war. Ich dachte kurz darüber nach, hinunterzugehen und mir eine Tasse Milch aufzuwärmen, aber die Erinnerung daran war tröstend genug, sodass ich bald wieder mit einem Lächeln auf den Lippen in den Schlaf fand.
Bevor ich am nächsten Tag zur Arbeit ging, druckte ich mir den Post mit allen Antworten und Kommentaren aus. Ich hatte beschlossen, nichts im Hinblick darauf auszusuchen, wofür ich mich fähig hielt und wofür nicht. Wer wusste schon, vielleicht hatte Zack ja tatsächlich einen Zauberstab für mich oder so etwas. Ich konnte keinen dieser Wünsche gänzlich ohne magische Hilfe erfüllen, das war mir jetzt schon klar.
Ich nahm mir Zeit, mich anzukleiden und wählte ein türkisfarbenes Wickelkleid, über dem ich meine Dinerschürze trug. Die Farbe stand mir sehr gut und Wickelkleider schmeichelten meiner Figur, obwohl ich darin älter aussah. Solche Kleider hatte ich natürlich nicht in der Schule anziehen können. Die Mädchen an meiner Highschool hatten so etwas einfach nicht getragen. Jeans und T-Shirt waren sozusagen die akzeptable Uniform gewesen. Jeans sahen meist wenig schmeichelhaft an mir aus. Besonders dieses Skinny-Fit-Modelle, die gerade in waren. Ich musste die im »Boyfriend«-Stil kaufen, die ganz locker sitzen sollten, bei mir aber eng um die kräftigen Oberschenkel spannten.
Nun, ich ging ja nicht mehr auf die Schule und älter auszusehen war jetzt gar nicht mehr so eine nachteilige Sache. Nach Menschenjahren wäre Zack wahrscheinlich Anfang zwanzig. Ich erinnerte mich daran, dass ich ihn später fragen wollte, ob Engel wie Menschen alterten. Eine der vielen, vielen Fragen, die ich für ihn hatte.
Ich trug sogar etwas Wimperntusche und Lippenstift auf, wischte den Lippenstift dann aber wieder weg. Das hier war ja kein Date oder so was, schimpfte ich mit mir selber.
Ich wollte gut aussehen, aber nicht so, als ob ich mir total viele Gedanken darüber gemacht hätte, gut für ihn auszusehen. Er würde mich wahrscheinlich auslachen, wenn er so etwas ahnte. Für ihn war das alles streng beruflich und Engelssache.
Trotzdem – auf der Arbeit war ich so nervös, dass ich andauernd etwas runterfallen oder überschwappen ließ. Tante Jeannie warf mir besorgte Blicke zu, aber ihre sorgenvolle Miene verwandelte sich in ein glückliches Lächeln, als sie sah, dass Zack mich abholte. Sie dachte wahrscheinlich, es sei ein Date.
»Hi«, sagte ich zu Zack. Er lächelte mich an. Es ist wohl überflüssig zu erwähnen, dass sein Lächeln himmlisch war.
»Wo möchtest du das gerne besprechen?«, sagte ich in so sachlichem Ton wie möglich, während ich halb hoffte und halb befürchtete, dass er merkte, wie gut ich heute aussah. Er zuckte nur mit den Schultern.
»Ein Ort, an dem wir ungestört sind, wäre gut.«
»Am Fluss«, beschloss ich. Die Leute gingen am Ufer mit ihren Hunden spazieren und der Weg war auch beliebt bei Joggern. Aber wir könnten relativ unbeachtet auf einer Bank sitzen. Zack nickte und wir gingen schweigend die zehn Minuten von der Stadtmitte zum Fluss. Dann spazierten wir am Flussufer entlang, an den Trauerweiden vorbei, die tief über dem Wasser hingen, und fanden eine alte Bank aus Holz, die durch hohe Gräser und Kornblumen vom Uferpfad abgeschirmt war. Perfekt. Wir konnten uns hier ungestört unterhalten, aber wenn jemand vorbeikam, würde er sehen, dass Leute auf der Bank saßen, also war es nicht zu intim.
Ich zog den Ausdruck aus meiner grünen Ledertasche, bevor ich sie neben mich ins Gras stellte.
»Ich habe mich an deinen Vorschlag gehalten, die Sache ganz intuitiv anzugehen und … äh … das ist dabei herausgekommen.« Ich zeigte ihm das Blatt Papier.
»Die Leute haben dir einfach geschrieben, was sie sich wünschen?«
Ich musste Zack erklären, was Facebook war und wie es funktionierte. Er schaute mich amüsiert an. Es hörte sich vielleicht tatsächlich recht komisch für jemanden an, dem das Konzept der sozialen Netzwerke fremd war. Mein Selbstbewusstsein schwand, als ich sein Gesicht sah. »Funktioniert das?«, fragte ich zweifelnd.
»Sicher, wieso nicht«, entgegnete er. »Es ist eigentlich egal, wie die Leute ihre Wünsche ausdrücken, so lange sie vom Herzen kommen. Vielleicht ist es sogar gut, dass sie sich hinter einem Avatar verstecken können, weil sie dann offener und ehrlicher sind.«
Diese Erkenntnis überraschte mich, was sich wohl in meinem Gesicht widerspiegelte.
»Das galt schon, bevor die Menschen das Internet erfunden hatten«, sagte Zack. »Woher, glaubst du denn, kam die Idee des Beichtstuhls?«
Ich musste mich fragen, wie alt Zack wirklich war, aber ich traute mich nicht zu fragen. »Wie wähle ich denn jetzt den Wunsch aus, den ich … äh … erfüllen werde.« Es hörte sich immer noch total abstrakt für mich an. Ich hoffte einfach bloß, dass wir später dazu kamen, wie ich das genau hinbekommen sollte.
»Du suchst dir einfach einen aus, nehme ich an«, sagte er.
»Einfach so?«
Er zuckte mit den Schultern. »Es ist eigentlich egal. Wie ich schon gesagt habe, es ist etwas Intuitives. Wenn dir der Wunsch irgendwie zu Ohren kam und du ihn wählst, dann ist das der richtige Wunsch.«
»Aber …« Ich schaute auf den Ausdruck. »Einige von denen sind doch schier unmöglich … Also, die meisten kommen mir unmöglich vor. Wenn ich einen wählen soll, kommt das doch drauf an, was ich kriege, oder nicht?«
Zack zog seine schönen dunklen Augenbrauen zusammen. »Wie meinst du das – kriege?«
»Was ich … bekomme? Was ich für … was weiß ich … Mittel bekomme? Die mir beim Erfüllen der Wünsche helfen?«, stotterte ich, während ich immer röter im Gesicht wurde. Wieso wollte er denn unbedingt, dass ich es aussprach? Ich wollte wissen, was meine Superpower sein würde.
»Oh, ich glaube, da musst du mich missverstanden haben«, sagte er ernsthaft. »Du bekommst nichts.«
Ich starrte ihn mit offenem Mund an. Wenn es mir in dem Moment etwas ausgemacht hätte, wäre mir aufgefallen, dass ich bestimmt fünf von diesen kleinen Mücken schluckte, die am Ufer eines trägen Flusses immer herumschwirrten.
»Ich soll das einfach so schaffen? Ich allein, ohne Hilfe? Aber … Du kannst Zeitreisen unternehmen und wer weiß, was noch. Ich dachte, ich kriege irgendsolche übernatürlichen Kräfte. Irgendeine Fähigkeit, oder, keine Ahnung, zumindest ein magisches Objekt oder so. Was konnte Vitrella denn? Sollte ich nicht zumindest das kriegen, was Vitrella hatte?«
Ich hörte mich beinahe entrüstet an, aber um ehrlich zu sein, war das hier auch ziemlich enttäuschend.
»Natürlich konnte Vitrella Dinge, die du nicht kannst, aber sie war auch ein Engel«, erklärte er, so als ob er mit einem Kind redete. »Du bist ein Mensch. Natürlich kannst du nur Dinge tun, die ein Mensch tun kann. Ich kann dir nicht einfach Fähigkeiten verleihen oder dir zaubern beibringen.«
»Ungerecht«, murmelte ich, drehte den Kopf weg und blinzelte in die Nachmittagssonne.
»Was hast du gesagt?«
Ich schaute ihn wieder an, verschränkte die Arme vor der Brust und versuchte, mich bestimmt anzuhören: »Wie soll ich das denn machen? Ich meine, es sind aus einem guten Grund unerfüllte Wünsche. Wenn man sie so einfach vom Traum in die Wirklichkeit verwandeln könnte, dann hätten diese Leute es schon gemacht.«
Ich nahm das Blatt Papier in die Hand, das auf meinem Schoß lag. »Schau mal. Dieser Typ wünscht sich 15 Millionen Dollar. Wo soll ich denn so viel Geld hernehmen? Oder hier? Soll ich vielleicht eine Krankheit heilen, deren Heilung sich Experten zur Lebensaufgabe gemacht haben und darin bislang gescheitert sind? Das ist doch einfach unmöglich.«
»Na, mit der Einstellung gelingt es dir bestimmt nicht. Nimm einfach einen anderen Wunsch«, meinte Zack völlig ungerührt.
Ich seufzte. »Die sind alle so gut wie unerfüllbar. Okay, vielleicht könnte ich diesem Kind Nachhilfe geben, wenn es Probleme mit Geschichte oder Englisch oder so hätte – aber Mathe. Bestimmt nicht.«
»Also sind ja nicht alle unerfüllbar«, sagte Zack mit einem breiten Lächeln. »Manche sind einfach nur sehr schwer.«
»Vielleicht.«
»Du musst sie nicht bis morgen erfüllt haben. Du kannst dir so lange Zeit dafür lassen, wie du brauchst.«
Ich schaute ihn misstrauisch an. »Ich dachte, ich müsste ein bestimmtes Wünschekontingent erreichen. Dann wäre es doch wohl besser, viele Wünsche schnell zu erfüllen.«
Zack winkte ab. »So funktioniert das nicht. Es kommt auf den Wunsch an und dass du versuchst, ihn wahr werden zu lassen. Zeit ist sowieso relativ. Für euch hier unten hat es Bedeutung, aber da oben nicht.« Ich zog die Augenbrauen hoch, aber er sagte: »Glaub mir, ich würde gerne versuchen, es dir zu erklären, aber du würdest wahrscheinlich nur Kopfschmerzen davon bekommen.«
Ich war ein bisschen beleidigt, aber wenn ich an den Physikunterricht und den langweiligen Herrn Klein dachte, der versuchte, uns Raum und Dimensionen zu erklären, musste ich ihm insgeheim zustimmen. Ich seufzte tief und schaute hilflos auf meinen Ausdruck hinunter.
»Hmm …«, sagte ich. »Die Mathenachhilfe ist relativ einfach, nehme ich an, es sei denn sein Test ist morgen oder hat schon stattgefunden …« Auf einmal hatte ich eine Idee. »Hey, du könntest doch mit mir Zeitreisen machen, oder nicht? Dann wären die Wünsche gar nicht so unmöglich zu erfüllen. Ich könnte die Lottonummern von nächster Woche herausfinden, und diesem Typ hier zu seinen 15 Millionen verhelfen. Ich könnte ein paar Millionen für mich selber gewinnen und diesem anderen Kerl noch seine Insel kaufen.«
Ich sah einen Hoffnungsschimmer, bis Zack seinen Kopf schüttelte.
»Nein, das kannst du nicht. Ich habe das nur gemacht, um dich zu überzeugen. Es wäre nicht gut für dich, wenn du das öfter machen würdest. Es gibt einen Grund dafür, dass du dich übergeben musstest. Außerdem ist es eigentlich nicht erlaubt.«
Meine Augen wurden schmal. »Ich würde mal gerne wissen, wer diese Regeln aufstellt.« Zack lächelte geheimnisvoll. »Das würden wir alle gerne.«
Bevor ich das hinterfragen konnte, fügte er hinzu. »Wie dem auch sei, es ist wirklich ganz einfach, was das Erfüllen der Wünsche angeht. Du machst es irgendwie. Ich muss dir keine Regeln oder Vorschriften geben, weil du nur ein Mensch bist …«
»… und durch meine Menschlichkeit schon beschränkt bin. Ja, ja«, beende ich seinen Satz.
»Beschränkt oder begabt, wie man es auch immer sehen will.«
Ich verzog das Gesicht. Was auch immer das heißen sollte.
»Der Mathenachhilfeunterricht fällt weg«, beschloss er. »Du hast zu lange darüber nachgedacht. Such dir einen Wunsch aus und bleib dabei.«
Ich schaute mir den Ausdruck wieder an und strich gedanklich ein paar weitere Wünsche durch, bis ich zu einem kam, an dem mein Blick hängen blieb. »Der da«, sagte ich und zeigte darauf.
»Ich wünschte mir, meine Mutter würde einen netten älteren Herrn finden, der ihr Gesellschaft leistet. Seit mein Vater vor ein paar Jahren gestorben ist, ist sie schrecklich einsam.«
Ich fand, dass es nett von der Frau war, etwas für ihre Mutter und nicht für sich selber zu wünschen. Außerdem kannte ich sie. Mrs Meyers, sie war meine Musiklehrerin an der Highschool gewesen. Sie war nett. Also nahm ich einfach an, dass ihre arme Mutter auch nett war. Es sollte nicht allzu schwierig sein, herauszufinden, wer ihre Mutter war. Und wie schwer konnte es sein, einen Freund für sie zu finden? Average war voller Senioren. Dann musste ich mir nur noch einfallen lassen, wie die beiden sich kennenlernen, aber auf irgendwas würde ich schon kommen. Es sollte möglich sein, das zu bewerkstelligen, ohne jemanden anzusprechen und zu sagen: »Ich will dir deinen Wunsch erfüllen«, dachte ich, was etwas gewesen war, das ich befürchtet hatte. Total peinlich so etwas.
Je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr gefiel mir die Sache. Ich verlor mich schon in Tagträumen darüber, wie die beiden sich in einer filmreifen »Meet cute«-Situation trafen. Insgeheim klopfte ich mir selber auf die Schulter dafür, eine solch tolle Kupplerin zu sein, dass ich Zack gar nicht mehr richtig zuhörte, der gerade etwas sagte.
»… später vorbei«, bekam ich nur das Ende des Satzes mit.
»Was?«, kehrte ich in die Gegenwart zurück.
»Ich sagte, es sieht so aus, als ob du alles im Griff hast. Ich schaue später bei dir vorbei«, wiederholte er.
»Halt«, sagte ich, als er dabei war, aufzustehen. »Wann? Wirst du mir nicht helfen? Und was passiert, nachdem ich den Wunsch erfüllt habe?«
Ich wollte mich ja wirklich sehr gerne bei diesem süßen übernatürlichen Wesen beliebt machen, aber ich brauchte doch noch ein paar mehr Informationen.
Zack zögerte. »Hör zu, ich kann dir nicht mehr erzählen, okay?«
Klar, diese ganze Sache reizte mich ungemein und, um der Wahrheit ins Gesicht zu sehen, hatte ich momentan nicht viel Besseres zu tun, aber ich wollte auch nicht einfach so irgendwelche Befehle ausführen, nur weil sie von einem gutaussehenden Typ kamen, der vielleicht oder vielleicht auch nicht ein Engel war. Schließlich wusste ich bislang nur mit Sicherheit, dass er Zeitreisen unternehmen konnte und dass ein explodierendes Licht meine Mutter traf, als sie Sex mit meinem Vater hatte. Moment mal: Diese Zeitreisensache hatte mich beeindruckt, aber ich wusste ja eigentlich bloß, dass er etwas mit mir gemacht und ich irgendwelche Sachen gesehen hatte – wer wusste schon, ob er mich wirklich in die Vergangenheit und Zukunft mitgenommen hatte? Jetzt, wo etwas mehr Zeit seit den Erlebnissen gestern verstrichen war, kam es mir immer unwahrscheinlicher vor.
Ich machte mir eine gedankliche Notiz, dass ich mir ein paar Details um die Geschichte meiner Empfängnis von meinem Vater bestätigen lassen sollte. Wie genau ich das anstellen sollte, wusste ich nicht. Ich wünschte mir sehnsüchtig einen Freund, aber ich wollte mich auch nicht von diesem angeblichen Engel ausnutzen lassen. Ich verschränkte die Arme vor der Brust und sagte etwas trotzig: »Ich muss das hier nicht machen und du weißt, dass du mich nicht dazu zwingen kannst.«
Zack setzte sich wieder hin.
»Das weiß ich«, sagte er ernst. »Ich weiß, dass ich dich nicht dazu zwingen kann. Aber es gibt nichts, das ich sonst noch tun kann, um dich zu überzeugen.«
Er nahm meine Hand in seine. Ich schaute runter auf seine hellbraunen, schlanken Finger. Mein ganzer Körper fing an zu kribbeln und mir wurde ganz warm. Bestimmt verrieten mich meine geröteten Wangen und verlegen schaute ich weg. »Vielleicht könntest du mir wenigstens … hmmm … ein bisschen mehr verraten.«
Er nickte. »Das werde ich. Ich werde dir mehr von Vitrella erzählen, wenn dich das interessiert.« Ich nickte heftig. Er zog die Hand weg. »Ich erzähl dir mehr, nachdem du den Wunsch erfüllt hast. Und weißt du was …« Er hielt inne und sein Blick ging zum Fluss. »Wenn du ein paar Wünsche hast wahr werden lassen, wird dir vielleicht wie von selbst einiges klarer werden, Dinge, die ich dir jetzt nicht erklären kann.« Er machte eine vage Handbewegung. »Du wirst bald mehr wissen … darüber, was das alles soll.« Und bevor ich mit der Wimper zucken konnte, war er verschwunden.
Na toll. Erst scharfmachen und dann das Weite suchen. Aber ich hatte den Köder geschluckt und er hatte mich definitiv am Haken.
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