4,99 €
Eine mysteriöse Klinik für aggressive Jugendliche auf einer einsamen Shetland-Insel. Ein Mädchen, das zur Berserkerin wird. Kreaturen, die bei der zweiten Ragnarök auf die Erde zurückkehren. Die Zeit der Menschheit ist abgelaufen. Kann die Tierkriegerin die Troll-Apokalypse verhindern?
Als Alannah in die Klinik für aggressive Jugendliche auf einer einsamen Shetland-Insel eingewiesen wird, glaubt sie, endlich Hilfe und Freunde gefunden zu haben.
Bis sich herausstellt, dass man Alannah dort nicht behandeln, sondern das aus ihr machen will, vor dem sie sich am meisten fürchtet: das blutrünstige, unkontrollierbare Tier in ihr, den Berserker.
Ihre neuen Freunde wissen die schreckliche Wahrheit längst: Das Ende der Menschheit und die Rückkehr der Trollwesen stehen bevor. Kann und will Alannah die Apokalypse abwenden?
DIE TIERKRIEGERIN UND DAS ENDE DER MENSCHHEIT ist der erste Band der Fantasy-Dystopie mit den etwas anderen Gestaltwandlern: die TROLL-CHRONIKEN. Klick »kaufen« und freue dich auf eine starke Protagonistin, Mythologie, Magie, Liebe und Freundschaft - diesmal alles mit einem nordischen Twist.
»Ich fand dieses Buch absolut genial, ich war selten so gefesselt von einem Buch wie von diesem. (…) Ein absolutes Muss für alle Fans von Fantasygeschichten und Dystopien.« – Bines Bücherwelt
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2019
Die Autorin
Prolog
Kapitel eins
Kapitel zwei
Kapitel drei
Kapitel vier
Kapitel fünf
Kapitel sechs
Kapitel sieben
Kapitel acht
Kapitel neun
Kapitel zehn
Kapitel elf
Kapitel zwölf
Kapitel dreizehn
Kapitel vierzehn
Kapitel fünfzehn
Kapitel sechzehn
Kapitel siebzehn
Kapitel achtzehn
Kapitel neunzehn
Kapitel zwanzig
Kapitel einundzwanzig
Kapitel zweiundzwanzig
Kapitel dreiundzwanzig
Kapitel vierundzwanzig
Kapitel fünfundzwanzig
Kapitel sechsundzwanzig
Kapitel siebenundzwanzig
Kapitel achtundzwanzig
Kapitel neunundzwanzig
Kapitel dreißig
Kapitel einunddreißig
Kapitel zweiunddreißig
Kapitel dreiunddreißig
Kapitel vierunddreißig
Epilog
Wie geht es weiter?
Connemara-Saga
Die Tierkriegerin
und das Ende der Menschheit
Die Troll-Chroniken Band 1
© Felicity Green, 1. Auflage 2019
www.felicitygreen.com
Veröffentlicht durch:
A. Papenburg-Frey
Schlossbergstr. 1
79798 Jestetten
© Covergestaltung: Laura Newman – design.lauranewman.de
Verwendete Stockgrafiken: © Andrew Poplavsky / 123RF.com
Korrektorat: Wolma Krefting, bueropia.de
Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder teilweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
Personen und Handlungen sind frei erfunden oder wurden fiktionalisiert. Ähnlichkeiten mit lebenden und verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Erstellt mit Vellum
Würdest du dich in ein hässliches, blutrünstiges Biest verwandeln, um die Menschheit zu retten?
Alannah lebt in einem Käfig im Keller ihrer Eltern, denn sie ist eine Gefahr für andere.
Als ihre Familie sie aufgibt, setzt sie alle Hoffnung auf eine mysteriöse Klinik für aggressive Jugendliche auf einer einsamen Shetland-Insel.
Hier findet Alannah zwar Freunde, aber ihr wird nicht geholfen, ein normales Leben zu führen. Im Gegenteil: Sie soll genau das werden, wovor sie sich am meisten fürchtet.
Denn Alannah ist geboren, um zu kämpfen.
Und sie kann ihrem Schicksal nicht entkommen, denn die Zeit der Menschheit läuft ab. Eine geheime Organisation, die nordische Mythen und Magie wieder auferstehen lässt, setzt alles darauf, dass Alannah und die anderen Tierkrieger die bevorstehende Apokalypse abwenden.
Doch wer sind die schrecklichen Kreaturen, die an der zweiten Ragnarök aus der Erde kriechen werden – und was haben sie mit Alannah gemein?
Felicity Green schreibt Urban Fantasy und Paranormal Mystery-Serien für Leserinnen, die Mythen und Magie, unerwartete Wendungen, Gänsehaut und große Gefühle lieben.
Felicity wurde in der Nähe von Hannover geboren und zog nach dem Abitur nach England. In Canterbury studierte sie Literatur und Schauspiel. Später tingelte Felicity mit diversen Theatergruppen durch England, Irland und Schottland – eine Inspiration für die Schauplätze ihrer Romane. An der University of Sussex schloss sie einen MA in Kreativem Schreiben ab.
Mit ihrem Mann Yannic, Tochter Taya und Kater Rocks lebt sie jetzt an der Schweizer Grenze.
www.felicitygreen.com
Für meinen Mann und meine Tochter, denen es nichts ausmacht, dass unsere Familienurlaube meist Romanrecherchetrips werden.
Die Insel strahlte eine trügerische Ruhe aus.
Der einlullende, stete Rhythmus der Wellen, die über die Kiesstrände schwappten und sich an den Felsklippen brachen.
Das fahle Mondlicht, in dem das gefrorene Gras auf den sanften Hügeln beinahe mystisch silbern glänzte.
Der gleichmäßige Takt der Schwingungen unzähliger lautloser Flügelschläge in der Luft.
Bei unserer Ankunft auf Mousa hatten wir zuerst das Schild gesehen, das uns Respekt vor den Bewohnern der Insel einbläuen wollte: Die Vögel, die in diesem Naturreservat beheimatet waren, konnten manchmal aggressiv reagieren, wenn sie ihre Brutstätten nahe am Klippenweg bedroht sahen.
Wir hatten die Insel mit Ehrfurcht betreten, aber wir hatten keine Angst vor der Natur. Die wahre Bedrohung kam nicht von dieser fast quälend idyllischen Welt.
Als der Turm nach zwanzig Minuten Fußmarsch endlich in unser Sichtfeld kam, traf mich die Energie, die er verströmte, wie eine Druckwelle. Ich hatte imposantere Gebäude und höhere Türme gesehen. Doch den massiven, alten Steinen wohnte eine unheimliche Kraft inne.
Und auch wenn ich nicht gewusst hätte, welch höllisches Grauen der Turm barg, hätte ich seine Magie wahrscheinlich gespürt. Sie musste der Grund dafür sein, dass Touristen auf diese Insel kamen, um den besterhaltenen Broch auf Shetland zu besichtigen, und weshalb diese Wehrtürme aus der Eisenzeit überhaupt eine solche Faszination ausübten.
Vor dem Turm angekommen sahen wir uns unschlüssig an.
Calixta räusperte sich. »Gehen wir rein?«
Ich warf einen skeptischen Blick auf den jetzt helleren Streifen am Horizont. Wir hatten noch ein bisschen Zeit. »Warum nicht.«
Im Wissen, die letzten Menschen zu sein, die den Broch von Mousa betreten würden, gingen wir der Reihe nach durch den engen, niedrigen Eingang. Bosse, der vor mir eintrat, musste richtig den Kopf einziehen. Aus einem Schränkchen nahmen wir große Taschenlampen, schalteten sie an und leuchteten umher.
Calixta, Ran, Bosse und ich kraxelten ein paar der unebenen Steinstufen hoch, damit die anderen nach uns überhaupt noch Platz hatten.
Auf den Illustrationen, die uns General Darktower gezeigt und die ich im Museum gesehen hatte, war der Innenraum größer erschienen. Natürlich war das, was auf den Zeichnungen abgebildet war, reine Spekulation. Niemand wusste genau, was die Menschen, die die Brochs gebaut hatten, darin gemacht hatten. Oder was der genaue Zweck der Brochs gewesen war.
Niemand außer einer kleinen Gruppe von Menschen, die das Geheimnis jahrhundertelang gehütet hatte. Und wir.
Die Illustrationen hatten einen Haushalt gezeigt, mit Feuerstelle und Tieren. Eine zweite Ebene auf halber Höhe des Turms, die mehr Raum bot. Geräucherte Fische, die an Stangen an der Decke hingen. Das Leben im Broch hatte fast heimelig gewirkt.
Hier, jetzt, in unserer Gegenwart, war der Turm weit von gemütlich entfernt. Nichts als nackte, dunkle, kalte Steine. Die kreisrunde Öffnung oben, auf die man ein Gitter gelegt hatte, damit sich keine Vögel in den Turm verirrten, ließ etwas Dämmerlicht ein, trug aber zur beklemmenden, ominösen Atmosphäre bei.
Wir gingen der Reihe nach die enge Treppe mit ihren winzig kleinen, gefährlich unebenen Stufen hinauf.
Wir blieben stehen, um die kleinen Hohlräume in der doppelten Wand des Turms zu begutachten, von denen man annahm, dass sie als Schlaf- und Vorratsräume gedient hatten.
Oben angekommen, öffneten wir die Gitterluke und betraten den schmalen Gang am Rande des Dachs.
Wir genossen schweigend die schmerzhaft schöne Aussicht, bis Adira sagte: »Wir sollten gehen.«
Auf dem Weg nach unten rutschte ich aus und Nic, der vor mir ging, ergriff mein Handgelenk. Ich schüttelte seine Hand ab. Ich hatte mich am Eisengeländer festgehalten. Ich brauchte seine Hilfe nicht.
Unten legten wir die Lampen zurück in den Schrank, auch wenn sie vermutlich nie wieder jemand brauchen würde.
Erst als ich wieder draußen stand, bemerkte ich, dass ich im Turm nicht einen richtig tiefen Atemzug getan hatte. Ich ließ kalte, frische Luft in meine Lungen strömen.
Eine Hand legte sich auf meine Schulter und ich zuckte zusammen.
»Alles in Ordnung?« Es war Hilda. Sie hatte besorgt die Brauen zusammengezogen, was der schönen Symmetrie ihres Gesichtes keinen Abbruch tat.
Ich zwang mich zu einem Lächeln. »Ja, so in Ordnung, wie alles eben sein kann, wenn das Ende der Welt kurz bevorsteht«, versuchte ich zu witzeln.
Doch Hilda zeigte ihre Grübchen nicht. Nur die Furche auf ihrer Stirn wurde tiefer. »Aber das tut es ja nicht. Deshalb sind wir hier.«
Gott, Hilda war so was von idealistisch. Kein Wunder, war sie doch jahrelang schon Dr. Isbisters Gehirnwäsche unterzogen worden. Nicht zu vergessen, der Einfluss ihrer Eltern – die jetzt in einem Bunker saßen, um auf das Ende der Welt zu harren.
Ich schaute mich um. War ich die Einzige, die ihre Zweifel hatte, ob unsere Wahnsinnsmission gelingen würde? Nein, Bosse sah derart blass aus, dass ich befürchtete, er würde sich gleich übergeben. Und die Geschwister Ran, Adira und Calixta hatten sich an der Hand genommen.
Nur Nic wirkte so zuversichtlich wie eh und je. Na, dann muss ich mir ja keine Sorgen machen, dachte ich bitter. Wir anderen mussten schließlich auch nicht wissen, wie genau das hier ablaufen würde. Wie wir die Menschheit retten würden. Solange Nic es wusste. Er war der Held. Wir nichts als seine Bodyguards.
Nic trat neben Hilda und sah uns erwartungsvoll an, so als wollte er uns auffordern, ihn in unser Gespräch einzuweihen. Die beiden passten wirklich sehr gut zusammen, mit ihren goldblonden Haaren und den attraktiven Gesichtszügen.
Schnell wandte ich mich ab.
Es war sowieso egal.
Entweder gingen wir gleich mit dieser verdammt schönen Insel unter. Die Zeit der Menschheit war abgelaufen, und damit auch unsere.
Oder Nic, der Auserwählte, würde die Kreaturen besiegen, deren Zeit gleich anbrach. Dann konnte er sich jede aussuchen, die er haben wollte. Und ich bezweifelte, dass er mich oder Hilda aussuchen würde. Denn Hilda war wie ich. Trotz all ihrer Schönheit verwandelte sie sich am Ende in ein Biest, wie es hässlicher und unweiblicher nicht hätte sein können.
Als der Tag heraufdämmerte, machten wir uns bereit. Und dann warteten wir.
Nichts geschah. Alle wurden merklich unsicher. Sollte die alte Alannah, die davon überzeugt gewesen war, in einen Weltuntergangskult geraten zu sein, doch recht behalten?
Doch die Zeichen der zweiten Ragnarök waren alle da gewesen. Der Winter, so bitterkalt wie drei. Die Sonnenfinsternis, dann der Blutmond. Und wenn ich im Laufe des Tages noch Zweifel hegte, so wurden diese am Nachmittag immer weniger. Man merkte es an der Luft. Es braute sich etwas zusammen.
Ich konnte überhaupt keine Vögel mehr sehen. Waren sie geflüchtet wie Ratten vom sinkenden Schiff? Bestimmt hatten sie das tiefe Brummen gespürt, das jetzt vom Turm ausging.
Wir nahmen unsere Positionen um Nic ein. Nic zog sich nahezu ganz aus und rieb sich mit einer Paste ein. Dann war das bei Magni und Martin, den anderen Auserwählten, die uns ihre Magie gezeigt hatten, nicht nur Show gewesen. Nic schien ganz konzentriert und sah aus, als ob er die Kälte nicht spürte.
Doch dann fing er meinen Blick auf und zwinkerte mir zu.
Ich wurde rot und schaute schnell weg. Jetzt dachte er, ich hätte seinen muskelgestählten Körper bewundert. Nur ein selbstgefälliger Schönling wie Nic konnte sich einbilden, dass ich in diesem Moment an so etwas dachte. Arschloch.
Das Brummen wurde lauter und der Boden unter unseren Füßen fing an zu beben. Der starke, Ehrfurcht erweckende Wehrturm, der jahrhundertelang jedem Wetter getrotzt hatte, begann zu zittern. Die ersten Steine lösten sich oben und fielen herunter. Gleich würde er zusammenbrechen wie ein Turm aus Holzklötzen.
Ich schloss die Augen und zehrte von der Wut, von der ich genug in meinem Inneren angestaut hatte. Die Verwandlung ging schnell. Ohne es zu sehen, wusste ich, dass die anderen um mich herum dasselbe taten.
Wir waren bereit, das zu tun, wofür wir geschaffen worden waren.
Die Türme, die Tore zu der Welt, in der das Böse vor vielen, vielen Jahren verbannt worden war, würden aufbrechen. Die Kreaturen würden aus der Erde kriechen und die Menschheit auf grausame Weise vernichten, um sich das, was einmal ihnen gehört hatte, wieder anzueignen.
Es sei denn, wir konnten sie aufhalten.
Die paar Sekunden nach dem Aufwachen jeden Morgen war die Welt für mich in Ordnung. Dieser kurze Moment, bevor mir bewusst wurde, wo ich war. Ja, eigentlich, wer ich war.
Einen glückseligen Augenblick lang trieb ich auf dem weiten Ozean des ahnungslosen Seins.
Dann zog sich mein Herz zusammen und meine Welt schrumpfte ebenso, als mir schlagartig einfiel:
Ich lebte in einem Käfig im Keller meiner Eltern.
Mein Atem ging schneller und mein Puls beschleunigte sich. Die Atemübungen, die verhindern sollten, dass ich außer Kontrolle geriet, waren mir mittlerweile schon in Fleisch und Blut übergegangen. Ich machte sie, seit ich vierzehn war, und mittlerweile gehörten sie zu meiner täglichen Routine. Wie Zähneputzen.
Routine war wichtig, wenn man völlig isoliert lebte. Man durfte sich nicht die Gelegenheit geben, zu lange zu grübeln. Sonst bekam man einen Hüttenkoller. Oder in meinem Fall wäre Käfigkoller wohl die treffendere Bezeichnung.
Wie auch immer, Koller war schlecht.
Damit ich keinen Koller kriegte, war ich schließlich hier eingesperrt.
Ich wusste, dass es zu meinem Besten war. Aber manchmal fiel es mir schwer, das zu akzeptieren.
Gott sei Dank war meine Mutter sehr gut darin, mir Beschäftigungsmöglichkeiten zu bieten. Sie hatte mir einen Stundenplan erstellt, bei dem sich Lernen für die Abi-Prüfungen mit Sport abwechselte. Eine Hälfte meines Käfigs sah nämlich aus wie ein Fitnessstudio. Neben dem Fernseher stapelten sich Yoga-DVDs und auf Knopfdruck schallten Hörbücher mit Meditationsübungen durch den Keller. Auf dem Stundenplan standen sogar Chatten in Online-Foren mit Gleichaltrigen, Computerspiele und Bücherlesen. Alles war genau reglementiert.
Ich fügte mich dem total. Nicht nur, weil es einfacher für mich war, sondern auch, weil ich glaubte, dass es meiner Mutter half. Sie klammerte sich an ihre Rolle als Managerin meines Lebens, weil die völlige Hilflosigkeit sie sonst runtergezogen hätte.
Ich wollte nicht, dass meine Mutter mich aufgab, denn mein Vater hat es schon getan, und das brach mir das Herz.
Dabei war er derjenige gewesen, der am Anfang am meisten hinter mir gestanden hatte.
Ich konnte mich noch genau daran erinnern, wie ich kurz nach meinem vierzehnten Geburtstag vor der angelehnten Tür des Rektorenzimmers auf einem Stuhl saß und meinen Vater sagen hörte: »Alannah lässt sich eben nicht gefallen, gemobbt zu werden. Natürlich war die gewalttätige Reaktion nicht angemessen, aber wie sehr muss sie gereizt worden sein, dass sie sich zu etwas hat hinreißen lassen? Hat da keiner etwas vorher gemerkt?«
Wozu ich mich »habe hinreißen lassen«? Drei meiner Mitschülerinnen krankenhausreif zu schlagen. Ja, sie hatten mich gehänselt, und die angestaute Wut, die seit Anbeginn der Pubertät in mir getobt hatte, war nicht länger kontrollierbar gewesen.
Meinem Vater hatte ich es zu verdanken, dass der Rektor sich schuldig fühlte, das Mobbing nicht bemerkt zu haben. Man ging den Kompromiss ein, mich in eine Parallelklasse zu versetzen und mich einmal die Woche zum Anti-Aggressionstraining zu schicken. Ein Jugendarbeiter, der immer auf eine etwas verzweifelte Weise cool wirken wollte, versuchte dort mir und anderen gewaltbereiten Jugendlichen beizubringen, ruhig zu bleiben und sozialkompetent mit Gewaltimpulsen umzugehen – so nannte er das.
Das Problem war, dass es seit dem ersten Vorfall einen Teil in mir gab, der gar nicht ruhig bleiben, sondern die Gewaltimpulse wollte. Sicher, ich schämte mich und ich hatte auch etwas Angst vor mir selber – vor dem, wozu ich fähig war. Aber ich hatte auch eine Art … Selbstachtung und vor allem Selbsterkenntnis gewonnen, die mich mit Stolz und Ehrfurcht erfüllten. Das konnte ich ja vor keinem zugeben. Ich wusste doch, dass der Gewaltausbruch falsch gewesen war.
Aber es hatte sich so richtig angefühlt … es war befreiend gewesen, die innere Anspannung, die aufgestaute Aggression endlich loslassen zu können. Diese Energie freizusetzen war keine … Anstrengung gewesen. Es war mir gut und richtig vorgekommen. Ich hatte gar keinen Schmerz gespürt. Die Prügelei hatte ich wie einen Traum erlebt, indem Schwerkraft und Zeit aussetzten und ich stark und anmutig war. Wie in den Filmen mit Kampfsequenzen in Zeitlupe.
Die Prügelei mit den drei Mitschülerinnen war ein bisschen so gewesen, als hätte ich vom Apfel des Baums der Erkenntnis gekostet. Und es dauerte nicht lange, bis ich bei einem der Rollenspiele in Anti-Aggressionstraining einen Jungen, der doppelt so groß und schwer wie ich war, an die Wand warf.
Da begann mein Vater mich mit anderen Augen zu sehen. Das bisschen Respekt, das er nach der ersten Prügelei mit den mobbenden Mädchen noch aufgebracht hatte, verwandelte sich schnell in Furcht. Eine Art irrationale Angst vor dem, wozu ich körperlich in der Lage war.
Ich war nicht mehr sein kleines Mädchen.
Als ich nach der dritten Schlägerei von der Schule flog, begann er sich von mir zu distanzieren. Es tat weh, aber ich konnte es ihm nicht verübeln.
Meine Mutter nahm die Sache in die Hand, nachdem ich auch die nächste Schule verlassen musste – in Rage hatte ich ein ganzes Klassenzimmer auseinandergenommen. In Absprache mit dem Jugendamt machte ich erneut eine Anti-Aggressionstherapie. Die ständige Auseinandersetzung mit dem Thema ließ mich in etwa so fühlen wie ein Stier, dem man andauernd mit einem roten Tuch vor der Nase herumwedelte. Es wurde nur noch gereizter.
Meine Mutter recherchierte nach Internaten für schwererziehbare Jugendliche, und vor lauter Panik richtete ich die Gewalt gegen mich selbst. Auf der Akutstation der psychiatrischen Klinik, in die man mich einlieferte, gab ich endlich zu, wie ich mich während der befreienden Attacken fühlte.
»Würden Sie den Zustand wie eine Art Trance beschreiben?«, fragte der Oberarzt mit gerunzelter Stirn, ohne mich anzusehen.
»Ja, genau.«
Er schrieb etwas auf seinen Notizblock.
»Würden Sie sagen, Sie stehen neben sich und beobachten sich selber, oder fühlt es sich eher so an, als ob Sie von einer fremden Kraft getrieben werden, als wenn jemand anders Ihren Körper bewegt?«
»Hmm. Eher so, als wenn mein Körper weiß, was zu tun ist. Als ob ich mich ganz auf ihn verlassen kann.« Unsicher schielte ich zu ihm rüber, als er sich noch mehr Notizen machte.
Leider erhielt ich nicht die ersehnte logische Erklärung für mein Verhalten. Stattdessen überließ der Oberarzt alles Weitere dem Assistenzarzt, der mir Medikamente verschrieb.
Die Medikamente halfen und die »Beschäftigungstherapien«, wie ich den Stundenplan nannte – Malen, Gesprächskreis, Spazierengehen und so weiter –, waren eine Erleichterung, weil ich die Verantwortung für mein Tun auf andere abschieben konnte.
Ich war eine Musterpatientin. Meine Mutter kam täglich, weil sie mit dem Plan, mich besser zu machen, voll in ihrem Element war. Mein Vater kam seltener und wurde immer stiller. Er kämpfte damit, dass seine Tochter offensichtlich psychisch krank war. Dissoziative Identitätsstörung lautete eine erste, vorsichtige Diagnose.
Leider war es nur eine Illusion. Die Medikamente halfen nicht, sie machten alles nur noch schlimmer. Sie unterdrückten meine Aggressivität auf eine solche Weise, dass ich sie nicht bemerkte, sodass ich schließlich völlig die Kontrolle verlor.
Eines Nachts kam ich zu mir, wie ich mitten in meinem Zimmer in der psychiatrischen Einrichtung auf dem Fußboden saß. Ich war von Kopf bis Fuß mit Blut bedeckt.
Panisch tastete ich meinen Körper nach Wunden ab, bis ich erkannte, dass das Blut nicht meins war.
Ich war so geschockt, dass ich beinahe laut losgeschrien hätte. Aber ich biss mir auf die Zunge, bis ich endlich den eisenhaltigen Geschmack meines eigenen Blutes schmecken konnte.
Mein Blick irrte im Zimmer umher. Am Fenster entdeckte ich blutige Handabdrücke. Ich stürzte hinüber. Das Fenster ließ sich öffnen.
Normalerweise waren die Fenster abgeschlossen. Die Institution war kein Gefängnis und es war nicht völlig unmöglich, von hier abzuhauen. Aber die Fenster und Türen waren immer verriegelt und die Pfleger passten auf. Dann erinnerte ich mich an die Reinigungskraft, die gestern in meinem Zimmer gewesen war und unter anderem auch Fenster geputzt hatte. Hatte sie vergessen abzuschließen? Hatte ein Teil meines Unterbewusstseins das mitbekommen – der Teil, der nach Gewalt suchte und sofort die Chance ergriffen hatte?
Ich versuchte nicht darüber nachzudenken, was das bedeutete. Dass dieser aggressive Teil von mir eine gewisse … Intelligenz in sich trug. Entscheidungskraft. Wieso konnte ich nicht hier in der Klinik ausrasten und einem Mitpatienten Gewalt antun? Wieso ausbrechen und irgendwem irgendwo etwas antun, das in so viel Blut resultierte?
Ich fing an zu hyperventilieren, als mir bewusst wurde, dass ich mich überhaupt nicht erinnerte. Es erschien mir nicht mal wie ein vager Traum. Ich wusste nicht, was ich getan hatte.
Alles, was ich wusste, war, dass ich das Blut loswerden musste, um wieder klar denken zu können. Der Geruch, das klebrige Gefühl, die Flecken … ich musste alles loswerden.
Ich torkelte ins Bad und schrubbte meinen Körper, bis meine Haut rot und wund war. Dann beseitigte ich die Flecken auf dem Fußboden und an den Wänden.
Nur die Reste unter den Fingernägeln wollten einfach nicht weggehen – es war nicht sehr hilfreich, dass man Patienten in dieser Klinik natürlich keine Nagelscheren und Feilen erlaubte. Ich stand gerade vor dem Waschbecken im Bad und riss mir vor Verzweiflung beinahe die Nägel von den Fingern, als die Nachtwache ins Zimmer kam.
»Alles klar, Alannah?«
»Ja«, rief ich aus dem Bad. Ich hörte selber, wie meine Stimme zitterte. Mein Blick wanderte zu den blutigen Kleidern und den Handtüchern, die ich zum Saubermachen benutzt hatte, und die auf einem Haufen in der Wanne lagen. »Ich … ich habe geduscht. Ich habe so geschwitzt.«
»Okay.« Wie erstarrt stand ich da, während die Nachtwache einen Moment lang zögerte. Doch dann machte sie die Tür wieder zu. Gut, dass mir die Pfleger vertrauten.
Meine Knie waren so weich, dass ich mich auf die Toilette sinken ließ.
Dann gab ich mir einen Ruck und wusch die blutigen Sachen aus. Sie wurden nicht mehr ganz sauber, aber man konnte nicht mehr erkennen, dass die Flecken vom Blut gekommen waren. Nach und nach ließ ich sie in den folgenden Tagen verschwinden.
Niemand hat je herausgefunden, dass ich in der Nacht aus der Klinik ausgebrochen war.
Ich spielte weiter die Musterpatientin, hatte nur meine Medikamente heimlich nicht mehr genommen, bis ich schließlich entlassen wurde.
Ich weiß bis heute nicht, was ich in der Nacht getan hatte. Meine Nachforschungen ergaben nichts: In den Zeitungen und Polizeiberichten stand nichts von getöteten oder schwer verletzten Menschen oder Tieren. Aber von irgendwem musste das viele Blut stammen. In meinen Albträumen sah ich noch lange danach meinen braun verkrusteten Körper, spürte immer noch das schiere Entsetzen und die Panik.
In meinen Albträumen hatte ich Angst vor mir selbst, vor dem … Tier in mir, das zu so etwas fähig war.
Diese Nacht war ein Wendepunkt für mich gewesen. Ich verstand, dass mir niemand … die Verantwortung abnehmen konnte, für das, was ich tat. Dass mir niemand wirklich helfen konnte.
Ich musste selber dafür sorgen, dass ich niemandem etwas antat.
Ich hatte meine Eltern davon überzeugen können, dass die beste Lösung für mich war, so wenig Kontakt wie möglich mit anderen zu haben und dass ich das Abitur besser per Fernstudium zu Hause machen sollte.
Außer zum stundenlangen Joggen hatte ich das Haus danach selten verlassen – Bewegung war ein Muss, denn Sport war der einzige Weg, mich abzureagieren und meine Wutanfälle in Schach zu halten.
Knapp zwei Jahre lang war alles gut gegangen. Ein paar Mal hatten mich meine Eltern in meinem Zimmer einsperren müssen, wo ich dann die gesamte Inneneinrichtung zerlegte. Aber ich hatte niemandem mehr etwas angetan.
Bis zu der Nacht, in der ich zwei Männer umbrachte.
Meine Mutter kam zweimal am Tag. Sie schaute mittags vorbei, um mir das Mittagessen und Einkäufe durch die Luke zu schieben, die jeweils von einer Seite geschlossen sein musste, um die andere öffnen zu können. Damit ich nicht Mamas Hand packen, sie durch die Luke ziehen und in Stücke reißen konnte.
Nicht, dass ich das je auch nur versuchsweise getan hätte. Aber nach dem, was vor sechs Monaten passiert war, konnten meine Eltern nicht vorsichtig genug sein. Das verstand ich.
Mittags hielt sich meine Mama nicht länger im Keller auf, weil sie auch für meinen Vater und sich gekocht hatte und mein Papa oben wartete.
Mein Vater, ein erfolgreicher Bauunternehmer, hatte mich hier unten nicht mehr besucht, seit er den teuren Käfig für mich fertiggestellt hatte. Es war sozusagen sein letztes Geschenk an mich gewesen, eine letzte väterliche Liebesbezeugung. Aber mehr konnte er für mich nicht tun, hatte meine Mutter gesagt. Es war zu viel für ihn, mich hier unten zu besuchen.
Am Nachmittag kam sie immer um 16 Uhr und nahm sich mehr Zeit für mich. Ich freute mich immer sehr auf das »Kaffeekränzchen« mit Mama, wie ich es nannte. Denn sie brachte für gewöhnlich selbst gebackenen Kuchen mit und wir tranken Kaffee dazu. Dann gingen wir die Schularbeiten durch und besprachen den Plan für den nächsten Tag. Ich war es zwar gewohnt, allein zu sein, aber trotzdem sehnte ich mich natürlich danach, mich mit anderen Menschen auszutauschen. Die halbe Stunde am Nachmittag mit meiner Mama war sozusagen meine einzige Möglichkeit dazu, wenn man mal vom Chatten in Foren absah, aber das war ja nicht ganz dasselbe.
Am heutigen Tage war etwas anders, das spürte ich sofort, als meine Mutter den Keller betrat. Sie schien nervös. Meine Mama war sonst so souverän. Sie war eine praktisch veranlagte Frau, die immer eine Antwort wusste. Meine Ahnung bestätigte sich, als sie eine Tüte vom Bäcker in die Luke steckte. Mama stand Martha Stewart in nichts nach, wenn es um den Haushalt ging. Dass sie Kuchen in der Bäckerei kaufte, statt selber zu backen, kam äußerst selten vor.
Fragend sah ich von der Tüte, die ich mittlerweile in den Händen hielt, durch die Gitterstäbe zu ihr auf.
»Ja, ich hatte keine Zeit zu backen, ich musste mich heute Mittag um etwas kümmern.« Sie fuhr sich zerstreut durch die sonst immer so perfekt sitzenden kurzen Haare. »Setz dich erst einmal.« Sie deutete auf den kleinen Tisch, den ich wie gewohnt an den Rand des Käfigs gezogen hatte, und auf dem schon mein Kaffee parat stand. Ich machte meinen immer selber in meiner kleinen Mini-Küche im Käfig, während Mama ihren von oben auf dem Tablett mitbrachte.
Ich zog einen Stuhl heran und zog ein Puddingteilchen aus der Tüte. Sonst wurde ziemlich penibel darauf geachtet, dass ich nicht zu viel Zucker zu mir nahm. Meine Mutter glaubte, dass sich das negativ auf meine »Schübe« auswirken würde, ein bisschen so, als ob ich ADHS hätte. Ich glaubte nicht, dass es da einen Zusammenhang gab, war aber gewillt, alles zu versuchen.
Das Gebäckstück lachte mich an – wenn ich’s mir recht überlegte, hatte ich seit sechs Monaten nur Mamas gesunden, zuckerfreien Vollkornkuchen gegessen. Beherzt biss ich hinein. Während ich kaute, sah ich meine Mutter an ihrem Puddingteil herumzupfen.
Sie saß mir gegenüber auf der anderen Seite der Gitterstäbe, wo ein identischer kleiner Beistelltisch stand, und ihre Hände zitterten so sehr, dass sie Kaffee verschüttete, als sie die Tasse zum Mund führte.
Das leckere Gebäckstück blieb mir fast im Hals stecken. So hatte ich meine Mutter selten erlebt. Irgendetwas stimmte überhaupt nicht.
Ich nahm selber einen Schluck Kaffee, um den Kuchen herunterzuspülen, und fragte leise: »Was ist los, Mama?«
Vorsichtig stellte sie ihre Tasse wieder ab. Dann schaute sie mich an.
»Ich habe jemanden gefunden, der dir vielleicht helfen könnte, Alannah.«
Ich sagte nichts, sondern starrte sie nur weiter erwartungsvoll an. Diese Nachricht war nichts, was mich vom Hocker haute. Meine Mutter wurde es nicht müde, nach einer Heilmethode für meine Krankheit zu suchen. Und auch ich recherchierte häufig und besprach meine Ergebnisse mit ihr. Wir hatten schon öfter gedacht, einen Lösungsansatz gefunden zu haben, der immer in einer Sackgasse geendet war.
»Ein Arzt, der sich auf dein Problem spezialisiert hat. Ich habe fast den ganzen Mittag mit ihm telefoniert und alles von dir erzählt. Er möchte dir sehr gerne einen Therapieplatz anbieten.«
»Okay«, antwortete ich. Es war mir nicht ganz klar, wieso meine Mutter diese Nachricht nicht mit ihrem gewöhnlichen, beschwingten Optimismus überbrachte. Warum war sie so nervös?
Ich ließ mir ihre Worte noch einmal durch den Kopf gehen. »Er hat sich auf mein Problem … spezialisiert? Wir wissen doch gar nicht genau, was mein Problem ist.« Der Bissen Gebäck in meinem Magen fing an, sich wie ein großer, harter Stein anzufühlen. Mir schwante, was genau meine Mutter dem Arzt erzählt haben könnte. Alles erzählt … Ich schluckte. »Mama, du hast doch nicht … Du hast doch nicht von der Sache berichtet, oder?«
Ich konnte meiner Mutter nicht ins Gesicht sehen, sondern starrte auf die Tischplatte und schob ein paar Krümel darauf hin und her.
»Doch, das habe ich. Er hat gespürt, dass da etwas war, das mich sehr beunruhigt hat und er hat mich schließlich davon überzeugt, ihm die Wahrheit zu sagen. Was du getan hast.«
Ich erstarrte.
»Wir mussten es irgendwann jemandem erzählen, wenn wir Hilfe in Anspruch nehmen wollen.« Meine Mutter klang jetzt wieder resoluter und selbstbewusster. »Und du musst dir keine Sorgen machen. Es gibt schließlich die ärztliche Schweigepflicht.«
Ich zog die Brauen zusammen und schaute vorsichtig unter meinem Pony zu ihr hoch. »Stimmt das? Du hast ja nur mit ihm telefoniert und ich bin nicht … offiziell seine Patientin, also …«
»Doch, das bist du. Wir haben die Papiere schon unterschrieben. Seine Klinik hat alles gefaxt und wir haben es soeben unterschrieben zurückgefaxt.«
Ich schaute meine Mutter mit offenem Mund an. »Ohne es mit mir zu besprechen?«, fand ich schließlich meine Sprache wieder. »Was ist das denn überhaupt für ein Arzt? Ich bin immerhin fast volljährig, ich sollte selber darüber entscheiden können … Oder wenigstens gefragt werden …« Ich brach ab. Tränen standen in meinen Augen und ich wischte sie eilig weg, bevor sie über meine Wangen kullern konnten.
Tief ein und wieder aus. Tief ein und wieder aus. So sagte ich mir still mein Mantra auf. Meine Atemübungen sollten mich davon abhalten, zu emotional zu werden.
»Ich glaube, dass diese Klinik das Richtige ist für dich, Alannah. Wir … wir wissen nicht, was wir sonst mit dir machen sollen. Dieser …«, sie zeigte auf meinen Käfig, »… Raum kann doch kein Dauerzustand werden. Wir müssen etwas tun. Auch wenn es uns schwergefallen ist, und wenn es uns noch schwerer fallen wird, dich gehen zu lassen …«
»Gehen zu lassen?«, unterbrach ich sie verwirrt. »Wo … wo ist denn diese Klinik?«
»Tja. Das ist die Sache.« Sie trank schnell noch einen Schluck Kaffee, um ihren Gesichtsausdruck zu verbergen, und ich wusste jetzt, warum sie so nervös gewesen war. »Die Klinik ist ein bisschen weiter weg. Und wir können erst einmal keinen Kontakt haben.«
»Wo ist sie? Wo wollt ihr mich hinschicken?«
»Auf eine abgelegene Shetland-Insel.«
»Shetland? Das ist … vor der schottischen Küste, richtig?« Verwirrt legte ich die Stirn in Falten. »Ich soll in eine Klinik nach Schottland? Geht das überhaupt? Bezahlt das die Krankenkasse?«
Meine Mutter atmete tief durch. »Die Shetland-Inseln gehören zu Schottland und liegen zwischen Schottland und Norwegen. Und … ähm. Es ist eine Privatklinik.«
»Das kostet doch bestimmt ein Vermögen?«
»Eigentlich nicht. Dr. Isbister entwickelt gerade eine neue Therapie und nimmt deshalb einige Jugendliche mit demselben Krankheitsbild, wie du es hast, in ein Programm auf, um diese therapeutischen Maßnahmen auszutesten.«
Ich blinzelte. »Ich soll ein medizinisches Versuchsobjekt werden?«
»Nein, so kann man das nicht nennen.« Mama fuhr sich wieder durch die Haare. »Es ist einfach eine Chance für dich, Alannah. Dr. Isbister ist überzeugt davon, dir helfen zu können. Was für andere Optionen haben wir?«
Ich atmete langsam aus.
Meine Mutter hatte recht. Unseren Recherchen zufolge gab es für das, was ich durchmachte, bisher keine Therapie. Auch wenn mich das Gefühl, ein Versuchskaninchen zu sein, nicht loslassen wollte, musste mein Verstand zustimmen: Ich sollte alles versuchen, und wenn dieser Dr. Isbister glaubte, mir helfen zu können, wieso der Sache nicht eine Chance geben?
»Okay, versuchen wir es«, sagte ich. »Wenn es mir nichts bringt, dann kann ich ja immer noch abbrechen und wieder nach Hause kommen.«
»Vorerst nicht.« Mama stand schnell auf. »Wir haben erst einmal keinen Kontakt, wie gesagt, und wir haben zugesagt, dass du sechs Monate im Programm bleibst. Es ist ein langfristiger Lösungsansatz …«
Ich riss die Augen auf. »Sechs Monate?«, fiel ich ihr ins Wort. »Und ich kann nicht nach Hause, wenn ich das Gefühl habe, es bringt nichts oder alles noch schlimmer macht?«
»Wenn es tatsächlich gar nicht anschlägt oder schlimmer wird, dann wird der Doktor sicher Vernunft walten lassen und die Versuchsreihe abbrechen«, beschwichtigte meine Mutter mich. »Es ist ja kein Gefängnis, sondern eine Klinik.«
Ihre Worte sollten mich beruhigen, aber ich konnte mein schneller schlagendes Herz einfach nicht wieder in den Griff bekommen.
Panisch stand ich auf. »Ich muss jetzt ein bisschen Sport machen, Mama.«
Meine Mutter nickte und war schon fast auf der Treppe. Sie wusste, was meine Worte bedeuteten.
Ich stand auf meinem Laufband, als sie sich noch mal umdrehte.
»Alannah, wenn nur die geringste Chance besteht, dass der Arzt dir helfen kann, müssen wir sie ergreifen. So etwas wie in Hamburg… Das darf nicht noch mal passieren.«
Ich biss mir auf die Lippen. Ich musste nicht antworten. Meine Mutter wartete auch nicht darauf, sondern verließ den Keller.
Ich machte das Laufband an und rannte, als wenn der Teufel hinter mir her wäre. Nur konnte ich das Gefühl nicht loswerden, dass ich ihn nicht abschütteln würde, so schnell ich auch lief.
Als meine Mutter am nächsten Nachmittag kam, war ich um einiges gefasster. Ich hatte die letzten vierundzwanzig Stunden über nichts anderes nachgedacht als über meine Situation.
Es gefiel mir nicht, dass meine Eltern über meinen Kopf hinweg entschieden hatten, aber ich konnte es ihnen nicht verübeln. Ich konnte froh sein, dass sie bisher überhaupt hinter mir gestanden hatten – statt mich den Behörden zu überlassen.
Vor sechs Monaten hatte ich meine Cousine Lynn in Hamburg besucht. Wir wohnten in einem Vorort und ich unternahm eigentlich solche Ausflüge in die Stadt schon lange nicht mehr. Aber ich hatte mich besonders isoliert und einsam gefühlt und als Lynns Einladung für ihre Buchvernissage kam, wollte ich ihr nicht absagen.
Lynn hatte einen erfolgreichen Gesundheitsblog und gerade ihr erstes Buch veröffentlicht. Ich besprach es lange mit meinen Eltern, und schließlich stimmten sie mir zu, dass nicht viel passieren konnte, wenn meine Eltern mich zur Vernissage fuhren. Sie konnten nicht bleiben, weil sie für den Abend selber etwas abgemacht hatten. Ich überzeugte meine Eltern davon, dass ich allein klarkommen und mit dem Taxi heimfahren würde, sodass sie ihre Pläne nicht ändern mussten. Es war schließlich nicht zu erwarten, dass mich in dem Reformhaus, in dem die Buchpräsentation stattfand, und mit den Leuten, die zu einer solchen Veranstaltung kamen, etwas zu aggressiven Handlungen provozieren würde.
Es lief auch alles gut, bis Lynn mich nach der Vernissage fragte, ob wir noch etwas trinken gehen wollten. Sie hatte sich so gefreut, mich zu sehen. Ich konnte es nicht übers Herz bringen, Nein zu sagen. Ein Getränk, das würde ich ja wohl hinbekommen.
Wir wollten eine trendige Bar besuchen, von der Lynn gehört hatte und die in der Nähe des Reformhauses sein sollte. Leider stellte sich heraus, dass sie doch einige Straßen weiter war. »Wir hätten fahren sollen«, meinte ich.
»Ach was, so ein Abendspaziergang ist doch nett.« Lynn hakte sich bei mir ein. Ich ließ mich von ihrer unbekümmerten Art anstecken. Sie hatte ja recht. Vielleicht übertrieb ich völlig mit meiner Isolation. Womöglich stand es gar nicht so schlimm um mich. Dass ich mir solche Erlebnisse, die ein anderes Mädchen in meinem Alter als völlig normal empfinden würde, selber versagte, war vielleicht nicht nur schade, sondern auch unnötig. Ich hatte auch Freunde verdient!
Schließlich fanden wir die Bar. Weil ich minderjährig war, hatte ich eine gute Ausrede, bei alkoholfreien Getränken zu bleiben. Ich wusste ehrlich gesagt gar nicht, was Alkohol für einen Effekt haben würde. Aber alles, was mir die Kontrolle über mich selbst entzog, war wahrscheinlich eine schlechte Idee.
Die Bar war gemütlich, mit warmem Licht, Ledersofas und angenehmer Musik, sodass nichts mir Stress verursachte. Ich begann mich in der trügerischen Sicherheit zu wiegen, dass alles okay war.
Obwohl Lynn ein paar Jahre älter war, hatten wir als Kinder oft zusammen gespielt, und wir verloren uns in nostalgischen Kindheitserinnerungen. Dabei vergaßen wir ganz die Zeit.
Als ich auf die Uhr schaute, stellte ich erschrocken fest, wie spät es schon war. Meine Eltern waren bestimmt längst wieder zu Hause und würden sich Sorgen machen.
Wir verließen die Bar und gingen durch die mittlerweile dunklen Straßen. »Ich muss mich echt beeilen«, sagte ich zu Lynn. »Meine Eltern machen mir die Hölle heiß.«
Meine Cousine rollte mit den Augen. »Ich finde, deine Eltern übertreiben es echt. Es ist ja nicht so, als ob wir bis drei Uhr morgens durch die Clubs ziehen würden. Und selbst wenn. Du bist alt genug.«
»Du verstehst das nicht. Ich habe … ihnen genug Anlass zur Sorge gegeben.«
»Nur weil du früher mal ein paar Probleme in der Schule hattest? In der Pubertät spinnt doch jeder mal ein bisschen. Und das ist ja auch schon ewig her.«
Ich korrigierte sie nicht. Meine Eltern hatten meine Aggressionsprobleme immer für sich behalten und mir eingebläut, niemandem davon zu erzählen. Weder Lynn noch andere Familienmitglieder oder Freunde wussten davon, noch nicht mal von meinem Klinikaufenthalt.
Keine Ahnung, warum es meinen Eltern so wichtig war. Ich hatte immer angenommen, sie schämten sich. Mittlerweile glaubte ich, es steckte mehr dahinter, auch wenn ich nicht wusste, was. Bevor ich in die Klinik gekommen war, hatte ich ein Gespräch meiner Eltern belauscht.
Es war darum gegangen, ob man meiner Patentante von meinen Problemen berichten sollte. Ich hatte Tante Alannah, nach der ich benannt worden war, schon länger nicht mehr gesehen. Sie lebte in Schottland und war eine Freundin meiner Mutter, die Englisch auf Lehramt studiert und ihr Auslandsjahr in Glasgow gemacht hatte. Dort hatte sie sich mit Lannie, wie alle meine Patentante nannten, eine Wohnung geteilt.
Ich konnte mich gut erinnern, dass Tante Lannie uns öfter besucht hatte, als ich kleiner war, aber mit der Zeit war der Kontakt weniger geworden.
Bei dem belauschten Gespräch hatte mein Vater aber aus irgendeinem Grund insistiert, dass Tante Lannie unbedingt von meiner »Verfassung« erfahren musste.
Meine Mutter war strikt dagegen. »Du weißt, was dann passiert. Man wird sie uns wegnehmen.« Offensichtlich glaubte meine Mutter, dass Tante Lannie sich beim Jugendamt dafür einsetzen würde, dass man mich … was, in eine Klinik steckte? Warum sollte sie das tun? Und warum schien meine Mutter tatsächlich Angst davor zu haben, dass ich ihnen weggenommen werden würde? Mir wäre nie in den Sinn gekommen, dass man meine Eltern für mein Verhalten verantwortlich machen oder irgendwie bestrafen könnte … Ich wurde in meinen Gedanken unterbrochen, als mein Vater etwas Schockierendes sagte. »Vielleicht ist es für sie das Beste.«
»Wie kannst du so etwas sagen, Michael!«
»Sie hat genau die Symptome, vor denen man uns gewarnt hatte und auf die wir achten sollten. Die Bedingungen waren, dass wir sie kontaktieren, sobald Alannah dieses Verhalten zeigt. Hast du schon darüber nachgedacht, dass sie ihr womöglich helfen können?«
Meine Mutter schluchzte. Ich hatte sie noch nie so außer Fassung erlebt. »Mach dir doch nichts vor, Michael. Das ist nicht der Grund, warum wir von ihrem aggressiven Verhalten berichten sollten. Es würde ihnen nur bestätigen, dass Alannah ein hoffnungsloser Fall ist. Dass die Resozialisierung gescheitert ist. Du glaubst, die können ihre letzte Rettung sein?« Mama versuchte offensichtlich, nicht laut zu werden, und so kamen die Worte heiser und heftig heraus. »Wir waren ihre letzte Rettung. Es liegt an uns, dass sie kein hoffnungsloser Fall ist. Wenn sie davon erfahren … ich gebe sie nicht wieder her.« Meine Mutter weinte jetzt und mein Vater sagte nichts. Dann hörte ich ihn tröstende Worte murmeln. Ich nahm an, er hatte meine Mama in den Arm genommen.
»Du hast recht«, sagte er schließlich. Er hörte sich so traurig an. »Wir geben sie nicht wieder her. Wir ziehen das durch. Wir sind eine Familie, komme, was wolle. Und wir sagen niemandem etwas davon.«
Ich war völlig verwirrt wegen dem, was meine Eltern besprochen hatten. Es hörte sich so an, als ob jemand erwartet hätte, dass ich mich aggressiv verhalte und dass meine Eltern diesem Jemand einen Bericht schuldig waren. Tante Lannie hatte wohl etwas damit zu tun. Und was sollte das überhaupt heißen, Resozialisierung? Auch wenn ich nicht genau verstand, was sie da redeten, tat es mir in der Seele weh, dass sie von mir als hoffnungslosem Fall sprachen. Jemand, für den die letzte Rettung schon zu spät war. Stand es denn so schlimm um mich? War etwas so Schlechtes in mir, dass meine Eltern darüber stritten, ob sie mich an was oder wen auch immer weggeben sollten?
Mehrere Male war ich kurz davor, sie auf das anzusprechen, was ich mitangehört hatte. Aber ich hatte zu viel Angst vor ihren Antworten. Ich konnte gar nicht darüber nachdenken, was die sonderbaren Anspielungen bedeuteten, die sie gemacht hatten, zu sehr war ich beschäftigt mit den Selbstzweifeln, die wie ein hässlicher Tumor in meinem Inneren wucherten.
Nicht lange danach hatte ich den Suizidversuch unternommen, der mich auf die Akutstation der psychiatrischen Klinik brachte.
Und seitdem lebte ich mit der Angst, dass meine Eltern sich umentscheiden würden. Dass sie mich doch aufgeben würden, was immer das bedeutete.
Wenn ich jetzt länger wegblieb als verabredet, dann … Panik machte sich in meinem Inneren breit.
»Meine Eltern sind bestimmt schon daheim und machen sich Sorgen …«, murmelte ich.
»Okay, okay, ich glaube, ich kenne eine Abkürzung, dann sind wir gleich beim Parkplatz hinter dem Reformhaus, wo mein Auto steht. Ruf doch deine Eltern einfach an und sag, die Vernissage hat länger gedauert.«
»Gute Idee, vielleicht können sie mich abholen«, sagte ich erleichtert. Ich zog das Handy aus der Tasche, während ich Lynn in eine dunkle Gasse folgte. Auf einer Seite gab es eine bröckelige Mauer, die andere Seite grenzte an die fensterlosen Rückseiten von Geschäften. Es roch übel und eine einzige Straßenlampe flackerte im Sekundentakt und ging an und wieder aus. Man konnte gar nicht das andere Ende der Gasse sehen. »Bist du sicher, dass man hier entlanggehen kann?«, fragte ich skeptisch.
»Ziemlich sicher«, antwortete Lynn. »Wir sollten eigentlich direkt hinter dem Reformhaus rauskommen. Sonst drehen wir einfach um.« Sie ging einen Schritt schneller, wahrscheinlich, um rasch festzustellen, ob es sich nicht doch um eine Sackgasse handelte.
Ich war damit beschäftigt, das Handy zu bedienen und die eingespeicherte Nummer meiner Eltern zu finden. Als ich mit dem Telefon am Ohr wieder aufschaute, war Lynn weit vor mir. Sie verschwand gerade im dunklen Schatten einer Biegung. Ich beschleunigte meine Schritte, um zu ihr aufzuschließen.
Nach nur einmal Klingeln nahm meine Mutter schon ab. »Wo bist du?«, fragte sie ohne Begrüßung.
»Sorry, es ging etwas länger …«
Die Umrisse dreier Personen tauchten vor mir auf. Eine davon musste Lynn sein. Ihre blonden Haare wirkten wie ein heller Fleck im Dunkeln. Wer waren die anderen zwei?
Erschrocken blieb ich stehen. Eine der Gestalten – der Größe nach zu urteilen waren es Männer – drängte sich an Lynn. Niemand machte ein Geräusch.
»Alannah? Alannah? Bist du da?«, fragte meine Mutter.
Ich machte zwei vorsichtige Schritte. Die beiden Männer schienen so fixiert auf Lynn zu sein, dass sie mich noch nicht bemerkt hatten.
»Alannah, wo bist du?«, rief meine Mama frustriert.
»In einer Gasse hinter dem Parkplatz des Reformhauses«, sagte ich schnell, ohne nachzudenken. »Lynn wird von zwei Männern angegriffen. Ich muss gehen.«
Die Männer hatten meine Stimme gehört und drehten sich zu mir um. Aber ich rannte schon auf sie zu.
Als ich näher kam, konnte ich sehen, dass der eine Mann eine behandschuhte Hand auf Lynns Mund gelegt hatte. Deshalb hatte sie nicht um Hilfe schreien können.
Die Klinge des Messers, das er an Lynns Kehle hielt, blitzte auf. Ich konnte das Weiße in Lynns Augen sehen, als sie mir den Kopf zuwandte. Der Mann hatte ihr schon die Hose heruntergerissen.
Der andere Mann machte sich bereit, sich auf mich zu stürzen.