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Geheime Gaben. Ein Schnappschuss, der alles verändert. Wird sie die unheimlichen Botschaften auf ihren Fotos entschlüsseln, bevor es zu spät ist? Liv Granthams Leben ist völlig aus dem Fokus geraten. Nachdem sich ihr Mann als Betrüger entpuppt hat, wagt die alleinerziehende Mutter einen Neuanfang und zieht mit ihren beiden Töchtern in ein idyllisches englisches Dorf – jenes Dorf, aus dem sie als Kind nach unheimlichen Ereignissen überstürzt fliehen musste. Es erwarten sie ein geerbtes Cottage, eine mysteriöse Kamera, eine sonderbare Katze – und ein Mord. Zu allem Überfluss taucht der Geist ihrer verstorbenen Nachbarin auf Livs Fotos auf. Als sie dann noch des Einbruchs und sogar des Mordes verdächtigt wird, bleibt ihr nichts anderes übrig, als selbst zu ermitteln. Dabei belichtet sie nicht nur dunkle Geheimnisse, sondern muss sich auch mit ihren unterdrückten übersinnlichen Fähigkeiten auseinandersetzen. Während sie mithilfe ihrer entfremdeten, hellsichtigen Verwandtschaft versucht, sich ein klares Bild von den mörderischen Vorfällen in ihrem neuen Heimatort zu machen, geraten Liv und ihre Familie ins Visier des Täters. Kann sie den Mörder rechtzeitig entlarven? GEISTER IM VISIER ist der humorvolle Auftakt der Geisterfotografin-Krimis. Wenn du eine Katze mit übernatürlichem Gespür, schrullige Charaktere mit verborgenen Talenten und eine alleinerziehende Mutter als geisterjagende Hobbydetektivin spannend findest, ist Felicity Greens magischer Cozy-Krimi GEISTER IM VISIER genau das Richtige für dich.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Epilog
Felicity Green
Geister im Visier
Ein Geisterfotografin-Krimi
© Felicity Green, 1. Auflage 2025
www.felicitygreen.com
Veröffentlicht durch:
Umschlaggestaltung: Melody Simmons, bookcoversbymelody.com
Korrektorat: Wolma Krefting, bueropia.de
Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder teilweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
Personen und Handlungen sind frei erfunden oder wurden fiktionalisiert. Ähnlichkeiten mit lebenden und verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Meine verstorbene Großtante hatte mir offiziell zwei Dinge hinterlassen: ein renovierungsbedürftiges Cottage in den Cotswolds und eine alte Nikon D40.
Seit meiner Kindheit hatte ich keinen Fotoapparat mehr in der Hand gehabt, weil mich meine Bilder halb zu Tode erschreckten. Aber nun war ich eine alleinerziehende Mutter mit zwei Töchtern, einem flüchtigen Kriminellen als Ehemann und einem leeren Bankkonto. Ich wusste nicht, ob und wie mir die Kamera nützen würde, und das stand auf meiner Prioritätenliste auch nicht gerade oben.
Das Cottage allerdings war ein Rettungsanker. Selbst wenn das bedeutete, die große Reise über den Atlantik anzutreten und unser Leben nach Fairwyck in England zu verlagern. Ich war dort aufgewachsen, hatte jedoch die meisten Erinnerungen an das Kaff erfolgreich verdrängt.
Und so stand ich nun an einem regnerischen Dienstag Anfang Mai in meiner neuen, aber sehr alten Küche, während meine Töchter sich in den winzigen Dachzimmern die Augen ausheulten. Es war ein bizarres Gefühl – und das lag nicht nur an dem orange und braun gemusterten Linoleumboden und der dazu passenden Tapete aus den Siebzigerjahren, deren Anblick bei mir Schwindel verursachte.
Sollte das etwa jetzt mein Leben sein? Vor zwanzig Jahren hätte ich einer Wahrsagerin ins Gesicht gelacht, die mir prophezeite, dass ich mit zweiundvierzig Jahren hier neu anfangen würde. Ich? Anführerin des Cheerleading-Teams, verlobt mit dem Football-Stipendiaten Steven Grantham? Nein, ich hätte mir nie vorstellen können, mich je in dieser traurigen, einsamen und demütigenden Lebenssituation zu befinden.
Andererseits hätte ich auch nicht damit gerechnet, dass ich fünfundzwanzig Kilo zunehme und mein Traummann sich als Betrüger entpuppt, der unsere Familie in den Ruin treibt.
Für meine Töchter war das alles meine Schuld, und ich hatte ihr Leben zerstört. Selbst wenn ich die enge, knarzende Treppe hinaufgehen wollte, um sie zu trösten, würden sie mich gerade nicht lassen. So konnte ich mich damit befassen, das Katzenfutter zu finden.
Was niemand erwähnt hatte, war die Katze von Großtante Ethel. War sie seit dem Tod ihrer Besitzerin etwa auf sich allein gestellt? Die orangefarbene Katze miaute so laut, dass ich sicher war, die Nachbarn würden mich beim Tierschutzverein anzeigen, wenn ich dem Tier nicht sofort gab, was es forderte.
Ethels Kleider hingen noch in den Schränken, ihre Bücher standen in den Regalen, und die Speisekammer war voller Dosen. Es sah nicht so aus, als hätte jemand die Sachen meiner Großtante ausgeräumt. Warum war also kein Katzenfutter aufzufinden? Ich war fest entschlossen, das arme Ding zu füttern, auch wenn ich dafür in den Dorfladen gehen musste. Dabei schrie mein Körper förmlich danach, mich auf die Couch zu schmeißen, meinen Geheimvorrat an M&Ms zu vertilgen und mich in einen guten Kriminalroman zu flüchten.
Gerade als ich ein paar verstaubte Thunfischdosen in der Speisekammer entdeckte, klingelte mein Handy. Es war meine beste Freundin von zu Hause.
»Hi, Sarah.«
»Hey, Liv! Wie ist das Häuschen denn so? Gibt es dort preisgekrönte Rosen und einen gemütlichen Kamin?«
Sie klang ein bisschen zu aufgeregt. Sarah kannte England nur aus Regency-Romance-Romanen und Rosamunde-Pilcher-Filmen.
»Hm. Es ist ... beschaulich.« Es gab einen Garten, aber es war eher eine überwucherte Wiese, die mit Schafsmisthaufen gespickt war. »Keine Rosen. Aber ein Kamin.«
Ich schaute in Richtung des Lochs in der Wand, das allem Anschein nach seit Urzeiten vom Rauch geschwärzt worden war. Ich hatte einen Blick darauf, während ich in der Küche auf dem Boden kniete und Thunfisch in die Schüssel gab, weil das Erdgeschoss meines neuen Hauses eigentlich Küche und Wohnzimmer in einem war.
Zum Glück schien die Katze mit dem Thunfisch zufrieden zu sein und das Miauen hörte auf.
»Ich würde sagen, es ist eher ein Renovierungsprojekt.« Ich öffnete die andere Dose Thunfisch, denn ich sah, dass die Schüssel bald nachgefüllt werden musste.
»Oh, du Arme! Du musst nicht dort bleiben, weißt du? Warum verkaufst du nicht einfach das Cottage und nutzt das Geld als Anzahlung für ein neues Haus hier in Connecticut?«
Ich schnaubte. »Meinst du in unserer alten Nachbarschaft? Erstens könnte ich mir das nie leisten. Der Verkaufserlös dieser Bruchbude würde mir noch nicht einmal die Anzahlung einer Zweizimmerwohnung in Norwalk ermöglichen.«
»Nein, nein, ich meinte nicht hier.« Sarah lachte nervös. »Das willst du dir doch nicht antun. Du hast ja keine Ahnung, was alle über dich sagen. Es wird schwer sein, deinen Ruf wiederherzustellen.«
Mein Ruf? Ich biss mir auf die Lippen, um nicht laut zu protestieren. Es war total ungerecht, dass unsere früheren Freunde und Nachbarn ihre Schuldzuweisungen nicht voll und ganz auf die Person richteten, die sie verdiente: auf meinen Mann. Aber das konnte ich Sarah nicht vorwerfen, sie gab das bloß weiter. Wenigstens redete sie noch mit mir, im Gegensatz zu den meisten meiner anderen sogenannten besten Freundinnen.
»Wenn du mich fragst, ist es das Beste, wenn du dir einen neuen Partner suchst. Jemanden, der dir einen Ring an den Finger steckt. Das würde dir helfen, diese ganze hässliche Sache hinter dir zu lassen.«
Was meinte sie damit? Die letzten zwanzig Jahre mit meiner Familie? Das war weniger eine »hässliche Sache« als mein ganzes Erwachsenenleben. Ich sagte nichts, und Sarah redete weiter.
»Vielleicht könntest du dann in unsere Nachbarschaft zurückkehren. Meine Cousine aus Hartford versucht, ihren verwitweten Nachbarn mit jemandem zu verkuppeln, da könnte ich …«
»Warte mal«, unterbrach ich sie schließlich. »Ich bin noch nicht bereit, mit jemandem auszugehen. Geschweige denn, mich zu verloben. Steven und ich sind immer noch verheiratet, schon vergessen? Ich kann mich nicht in seiner Abwesenheit von ihm scheiden lassen, nicht einmal nach allem, was er getan hat. Er muss so und so viele Jahre ohne ein Wort verschwunden sein, bevor ich ein Verfahren einleiten kann …«
Damit wollte ich mich momentan gar nicht auseinandersetzen. Ich wollte auch nicht zugeben, dass ich mir im Moment nicht einmal einen Anwalt leisten konnte. Die Katze schlängelte sich zwischen meinen Beinen herum, und ich bückte mich, um die zweite Dose Thunfisch in die Schüssel zu leeren.
»Wie auch immer, dieses Haus bringt nichts ein. Niemand wird es kaufen. Das ist hier nicht wie in der Filmkulisse eines britischen Landhaus-Krimis. Das alte Strohdach sieht aus der Nähe nicht besonders vertrauenswürdig aus. Ich bin nur froh, dass es nicht undicht ist, denn eine Reparatur kann ich nicht bezahlen.«
Meine Mutter hatte mir das Geld für unsere Flugtickets nach England geliehen, und deswegen hatte ich immer noch ein schlechtes Gewissen.
»So schlimm kann es nicht sein«, sagte Sarah. »Was ist mit den Möbeln? Englische Antiquitäten sind etwas wert.«
Mein Blick wanderte von dem schiefen Küchentisch zu dem verblichenen Chintzsofa mit dazugehörigem Sessel von undefinierbarer Farbe. Sie waren so alt wie Antiquitäten, keine Frage, aber ich bezweifelte, dass selbst ein Wohltätigkeitsladen sie noch annehmen würde.
Ich seufzte. »Das einzig Wertvolle, das mir Großtante Ethel vermacht hat, ist eine Kamera. Sie hinterließ mir eine Notiz mit der kryptischen Bemerkung, ich solle mich wieder auf meine Berufung konzentrieren.«
»Ich wusste nicht, dass du eine Ausbildung als Fotografin gemacht hast. Sagtest du nicht, du hättest Kunst studiert?«
»Kulturmanagement. Ich habe keine Kamera mehr angefasst, seit meine Mutter und ich von hier weggezogen sind, als ich acht Jahre alt war.«
»Oh. Warum meint deine Großtante …«
»Ich weiß es nicht«, sagte ich verzweifelt. Natürlich hatte ich schon eine Ahnung, aber ich wollte nicht mit Sarah darüber reden. »Meine Mutter dachte, sie würde mir einen Gefallen tun, indem sie meine Großtante dazu brachte, mich in ihr Testament aufzunehmen. Sie malte ein jämmerliches Bild von meiner Notlage im Familien-Newsletter, stell dir das vor. Echt demütigend. Aber was sollte ich tun? Wir konnten nicht in Moms Ein-Zimmer-Eigentumswohnung in dieser Seniorenresidenz in Florida bleiben. Also sind wir jetzt hier, können nicht zurück und unser Haus ist auf absehbare Zeit eine Bruchbude, deren Instandhaltung mich Geld kosten wird. Geld, das ich nicht habe.«
Ich unterbrach meinen Wortschwall, als ich spürte, wie mir die Tränen in die Augen stiegen. Die miauende Katze schien meinen Kummer zu bemerken. Sie wurde still. Ich glaubte, Mitleid in ihren mandelförmigen, goldenen Augen zu sehen. Dann drehte sie sich weg und pirschte einfach davon. Ich kramte in der Speisekammer herum und förderte eine Dose Corned Beef zutage.
»Hier, Mietze, Mietze. Entschuldige, Sarah, ich füttere die Katze. Was ich sagen wollte, ist, mir kann’s hier auch nicht schlechter ergehen als zu Hause.«
»Warum kommst du nicht einfach heim, Liv?«
»Ich kann nicht. Meine Mädchen brauchten ein Dach über dem Kopf. Wenigstens das haben sie hier.«
»Sicher. Ich will nicht negativ klingen, aber du musst auch Geld für euren Lebensunterhalt verdienen, oder? Dich ganz ohne Erfahrung als Fotografin selbstständig zu machen, ist das überhaupt realistisch?«
»Nein, natürlich nicht.« Ich richtete mich auf, nachdem ich das Corned Beef in die Schüssel getan und der zurückkehrenden Katze ein paar Streicheleinheiten gegeben hatte. »Ich habe mich schon um einen Job gekümmert, bevor ich hierherkam.«
»Gibt es in Fairwyck ein Museum?«
»Ein Museum?«
»Oder eine Galerie ... ähm, ich bin mir nicht sicher, was jemand mit einem Abschluss in Kulturmanagement genau machen würde.«
Ich lachte. »Nein, nein. Ich habe überhaupt keine Berufserfahrung. Niemand wird mich für so einen Job einstellen. Und solche kulturellen Einrichtungen gibt es hier auch nicht – soweit ich weiß. Es gibt eine Kneipe, eine Teestube, einen Laden mit Apotheke und Postamt, die Kirche, eine Bibliothek, einen Metzger und … ich glaube, das war’s. Ich habe einfach alle kontaktiert, ihnen gesagt, wer ich bin und dass ich mit meinen Kindern hierherziehen werde und mich nach offenen Stellen erkundigt.«
Sarah war still. »Bitte sag mir nicht, dass du dich als Fleischereifachverkäuferin verdingen willst, Liv.«
Ich schluckte. »Ähm, nein. Die einzige Person, die sich gemeldet hat, war die Kneipenwirtin. Sie braucht an Samstagabenden Unterstützung.«
Ich konnte sehen, wie Sarah die Nase rümpfte, obwohl wir nicht per Videochat telefonierten. »Du willst Barfrau werden?«
»Nur in Teilzeit. Die Wirtin war aber sehr nett und hat sich umgehört. Sie hat herausgefunden, dass ein Vermietungsbüro Angestellte sucht. In den Cotswolds gibt es eine große Nachfrage nach Wochenend- und Ferienhäusern.«
»Oh, du willst also in die Immobilienbranche einsteigen.« Sarah klang erleichtert.
»Nicht … genau.« Ich war mir unsicher, ob ich Sarahs falsche Vermutung korrigieren sollte. Aber warum nicht? Ich hatte keinen Grund zu lügen oder mich für meine Situation zu schämen. »Ich bin als Reinigungskraft angestellt.«
Eisige Stille herrschte in der Telefonleitung. »Das kann nicht dein Ernst sein. Du willst als Putzfrau arbeiten?« Sarah flüsterte das letzte Wort, als hätte ich ihr gesagt, dass ich mein Geld damit machte, Drogen an Kinder zu verkaufen.
»Ja«, sagte ich ein wenig defensiv.
»Weißt du überhaupt, wie man putzt?«
»Natürlich.« Wir hatten immer eine Haushälterin, wie alle anderen in unserer Nachbarschaft auch, aber insgeheim machte es mir Spaß, zu putzen und das Haus in Ordnung zu halten. Es hatte etwas Befriedigendes, solche Aufgaben zu erledigen.
»Ich verstehe, dass das nur vorübergehend sein soll. Ich werde sicherlich niemandem hier etwas sagen ... aber es gibt Dinge, von denen man sich nur schwer erholen kann, Liv.«
»Was meinst du? Bekomme ich ein Hexenmal, wenn ich mich unter die Arbeiterklasse mische, oder was?«
Es war ein Scherz, aber er versteckte nur schlecht meine Verärgerung. Ich musste meinen Lebensunterhalt verdienen. Ich war froh, dass ich Arbeit gefunden hatte. Und ich würde lieber die Häuser anderer Leute putzen, als Leute um ihr Geld zu bringen, wie Steven es getan hatte. Und nun war ich diejenige, die sich schämen sollte?
Nein.
Mein Mann hatte vorgegeben, ein erfolgreicher Unternehmensberater zu sein, während er in Wirklichkeit ein Schneeballsystem betrieb und viele Menschen – darunter unsere Freunde und Nachbarn – um ihr Geld betrog. Um die ganze Sache ins Rollen zu bringen, hatte er eine weitere Hypothek auf unser Haus aufgenommen und uns ohne mein Wissen zusätzliche Schulden aufgebürdet. Als er sich mit seinen Millionen aus dem Staub machte, war seine Sekretärin und, wie ich erfuhr, langjährige Geliebte mitgekommen. Das FBI hatte mich als Verdächtige verhört – und ich konnte es ihnen nicht einmal verübeln. Wie blind konnte eine Ehefrau sein, dass sie nicht bemerkte, was sich direkt vor ihrer Nase abspielte?
Ja, ich hatte es mir in meinem Vorstadt-Kokon bequem gemacht. Ich hatte Scheuklappen aufgehabt. Und das war es, was mich nachts um den Schlaf brachte. Für alles andere war jedoch Steven verantwortlich, und das FBI hatte mich von jeglichem kriminellen Fehlverhalten freigesprochen. Deshalb war es mir egal, dass Sarah die einzige »Freundin« war, die noch mit mir sprach.
Wenn sie mir unterstellen wollte, dass ich für Stevens Missetaten irgendwie mitschuldig war, dass ich mich schämen sollte, weil ich mit allen Mitteln versuchte, das zu retten, was mein Mann von unserer Familie zurückgelassen hatte, dann würde ich mir das nicht gefallen lassen.
Als ich Sarah das sagte, bestritt sie nicht einmal, dass sie so dachte. Schlimmer noch, sie verteidigte alle, die derselben Meinung waren. Sie sagte, dass eine gute Ehefrau ihren Mann auf dem rechten Weg halten müsse.
»Weißt du, Liv, es ist wichtig, für unsere Männer attraktiv zu bleiben. Das ist unser Job. Sie haben Arbeitsstress und machen viele Überstunden, um uns ein schönes Leben zu ermöglichen, oder? Ich denke, sie erwarten zu Recht, dass wir gepflegt und vorzeigbar aussehen.«
Ich schloss meine Augen. »Du denkst also, all das wäre nicht passiert, wenn ich immer noch Größe 36 tragen würde?«
»Nicht ganz. Ich will damit nur sagen, dass Steven sich vielleicht nicht nach einer anderen umgeschaut hätte.«
»Ach so, dann könnten wir jetzt also beide auf einer Insel sein, Cocktails schlürfen und unser unrechtmäßig erworbenes Vermögen genießen?«
Mein Sarkasmus entging Sarah völlig. »Wäre das nicht besser, als allein in einem heruntergekommenen Cottage in England zu hausen und für sich selbst sorgen zu müssen?«
»Äh, Sarah, ich muss jetzt wirklich auflegen.« »Okay, wir sprechen uns bald.«
Ich beendete einfach das Gespräch. Ich würde sie nicht zurückrufen, und ich bezweifelte irgendwie, dass ich noch einmal von ihr hören würde. Nicht alle Veränderungen waren etwas Schlechtes.
Na ja, ich würde nicht so weit gehen, zu behaupten, dass mein Bastard von einem Ehemann mir einen Gefallen getan hätte, aber trotzdem … Es schauderte mich bei dem Gedanken, dass ich noch vor einem Jahr wahrscheinlich ein wenig wie Sarah gewesen war.
In einem Punkt hat sie sich auf jeden Fall geirrt. Ich war nicht allein. Ich hatte meine Töchter, auch wenn sie mich in diesem Moment hassten.
»Du hasst mich nicht, solange ich Dosen öffne, oder?« sagte ich zu der Katze und streichelte das weiche, orange-weiß gemusterte Fell ihres Kopfes.
Und anscheinend hatte ich jetzt auch ein Haustier. Immerhin.
Letztendlich gelang es mir, Audrey und Bianca zu überreden, zum Abendessen nach unten zu kommen. Ich wollte glauben, dass es ein Fortschritt war, auch wenn Audrey nur mit mir sprach, um mich über ein Schweigegelübde zu informieren. Sie hatte vor, sich daran zu halten, bis ich zur Vernunft kam und diesen verrückten Plan, in England neu anzufangen, aufgab.
Audrey war der festen Überzeugung, dass ich an allem, was geschehen war, schuld war. Obwohl sie wusste, dass gegen ihren Vater ermittelt wurde und das FBI nach ihm fahndete, hielt sie das für ein großes Missverständnis. Irgendwie hatte sie sich in den Kopf gesetzt, dass ich ihren Daddy daran gehindert hatte, seine Familie mit auf die Flucht vor dem Gesetz zu nehmen.
Da sie erst neun Jahre alt war, hatte sie kaum eine Vorstellung davon, wie viel Geld uns unser Leben in einer eingezäunten Wohnanlage in einem Vorort von Hartford gekostet hatte. Sie verstand nicht, dass wir nicht dort bleiben konnten, wo ihre Freunde waren.
Audrey war aber nicht einmal mein größtes Problem. Ich hatte angenommen, dass meine Mädchen in den letzten Stunden beide in ihre Kissen geweint hatten. Es stellte sich jedoch heraus, dass Bianca die Zeit genutzt hatte, um ihr schönes langes schwarzes Haar mit einer Nagelschere abzuschneiden.
Sie teilte mir mit, dass sie nun Blake genannt werden wolle. Sie wusste nicht, ob sie sich noch als Mädchen identifizierte.
Ich hielt mich für einen offenen Menschen und ermutigte meine Kinder, ihr wahres Ich zum Ausdruck zu bringen, aber ich musste zugeben, dass dies ein riesiger Schock war.
Bianca, nein, Blake war immer ein ruhiges, angepasstes Mädchen gewesen. Wir hatten nie irgendwelche Probleme mit ihr gehabt. Audrey war die eigensinnige, temperamentvolle Tochter, die mit ihren neun Jahren schon viel mehr Teenager war als Blake. Es kam also völlig unerwartet.
Aber ich verstand, dass das an mir lag, nicht an Blake. Dennoch bedeutete es, dass ich an mir zu arbeiten hatte, und der Gedanke, das auch noch auf meine Schultern zu laden, ließ mich beinahe zusammenbrechen. Ich atmete ein paar Mal tief durch. Dann schwor ich mir im Stillen, die neue Identität meines ältesten Kindes so gut wie möglich zu unterstützen.
Ich musste nur einen Weg finden, Blake zu sagen, dass ich sie an einer reinen Mädchenschule angemeldet hatte. Zum Glück hatte ich noch ein paar Tage Zeit, denn die Kinder sollten erst nächste Woche mit dem Unterricht anfangen. Bis dahin musste ich mich um andere Dinge kümmern. In erster Linie um meinen neuen Job.
Am nächsten Morgen fing ich früh an und begleitete eine erfahrene Reinigungskraft namens Esme. Meine neue Kollegin mit hellbrauner Haut und langen schwarzen Zöpfen war sehr geduldig und beantwortete meine vielen Fragen, die wahrscheinlich zeigten, dass ich überhaupt keine Berufserfahrung hatte. Esme sah allerdings zufrieden aus, nachdem ich ganz allein ein Badezimmer geputzt hatte. Das gab mir Hoffnung.
Als ich an diesem Mittwochnachmittag nach Hause kam, hatte meine Erschöpfung ein ganz neues Ausmaß angenommen. Offensichtlich war ich körperlich anstrengende Arbeit nicht gewöhnt. Ich saß am Küchentisch, trank eine Tasse Tee und versuchte, mich aufzuraffen, um einkaufen zu gehen und etwas zum Abendessen zu besorgen, als es an der Tür klopfte.
Ich kannte niemanden, der vorbeikommen würde, aber in meinem Zustand der absoluten Müdigkeit rief ich einfach: »Komm rein!«
Das Haus von Großtante Ethel war so klein, dass die Eingangstür direkt ins Wohnzimmer führte, sodass ich nicht aufstehen musste, um die ältere Frau eintreten zu sehen.
Sie war groß und trug ihr rotbraunes Haar in einer Art altmodischen Beehive-Frisur, sodass sie sich unter dem niedrigen Türrahmen bücken musste. Trotz ihres gefärbten Haars und ihrer königlichen Haltung hätte ich sie auf Mitte siebzig geschätzt, wahrscheinlich im gleichen Alter wie meine Großtante, als sie starb.
»Guten Tag«, sagte die Frau. »Mein Name ist Matilda Rutherford. Ich bin die Nachbarin.«
»Hallo, ich bin Liv. Darf ich Matilda sagen? Schön, dich kennenzulernen.«
Der Anblick des Korbes in ihrer Hand, der mit selbst gebackenen Scones gefüllt war, holte mich schließlich von meinem Stuhl. Ich war ein großer Fan von Scones, und ich stellte mir vor, dass diese ältere englische Dame eine großartige Bäckerin war.
Mein Magen knurrte, und ich griff nach dem Korb. Ich schaffte es irgendwie, Matilda eine Tasse Tee zu machen, bevor ich ihr Willkommensgeschenk probierte. Es fiel mir schwer, meine Enttäuschung zu verbergen. Die Scones waren trocken. Mein Gesicht musste mich verraten haben.
Ich wurde knallrot, als sie sagte: »Nicht sehr gut, was?«
»Ähm, ich meine, vielleicht mit etwas Butter oder Sahne ...«
»Schon in Ordnung, meine Liebe«, sagte Matilda mit hoch erhobenem Kopf. »Ich weiß, ich bin keine hervorragende Köchin. Mein Stanley sagte immer: ›Matilda, Liebling, du hast viele Talente, aber Kochen gehört nicht dazu.‹«
»Stanley ist dein Mann?«
Matilda nickte. »Aber Ethel hat meine Scones gerne gegessen, besonders, als sie nicht mehr selbst backen konnte. Also dachte ich, ich backe sie für dich.«
»Das ist sehr nett. Kanntest du meine Großtante gut?«
»Wir waren beste Freunde.«
»Oh, mein herzliches Beileid.« Ich fühlte mich unwohl, denn obwohl Ethel meine Verwandte war, hatte ich sie kaum gekannt. Die Leute in Fairwyck, denen ich mich vorgestellt hatte, sprachen mir ihre Anteilnahme aus, aber Matilda war diejenige, die wirklich einen Verlust erlitten hatte.
Matilda senkte würdevoll den Kopf, aber die Augen hinter der schwarzen Katzenaugenbrille wurden feucht. »Nun, ich freue mich, dass du und deine Töchter in das Haus eingezogen seid. Es ist schön, Ethels Familie hier zu haben.«
»Oh, es war ein Rettungsanker für mich und die Kinder«, sagte ich. »Wir konnten nirgendwo anders hin.«
»Ich kann mir vorstellen, dass du sonst nicht hierhergekommen wärst. Ethel hat mir erzählt, dass du sehr wohlhabend bist. Ich schätze, dieses Haus entspricht nicht deinem üblichen Lebensstandard.«
»Oh. Na ja, in der Not frisst der Teufel Fliegen.« So etwas hatte ich am Tag zuvor zu Sarah gesagt, aber jetzt kam es mir irgendwie falsch vor ... undankbar. »Das kam nicht richtig rüber. Ja, das Cottage könnte ein paar Renovierungen vertragen. Ich kann mir im Moment keine Reparaturen leisten, aber wir sind so froh, dass wir ein Dach über dem Kopf haben.«
Matilda sah sich um. »Ich weiß nicht, ob dir das bekannt war, aber Ethel kämpfte jahrelang gegen ihre Krankheit, bevor sie starb. Sie hatte nicht mehr die Kraft, sich besser um ihr Haus zu kümmern.«
Ich zuckte zusammen. Das hatte ich nicht gewusst. Dadurch fühlte ich mich noch mieser, weil ich das Geschenk meiner Großtante angenommen und mich dann darüber beschwert hatte. »Oh, nein, ich wollte nicht andeuten ...«
Matilda winkte ab. »Ich wollte dir kein schlechtes Gewissen machen. Ich biete nur eine Erklärung an. Sie hatte auch nicht viel Geld, und ich habe ihr ein paar Mal gesagt, dass ich bei der Renovierung helfen würde. Das meiste ist nur oberflächlich und könnte günstig gemacht werden. So habe ich auch mein Häuschen aufgemöbelt.«
»Wirklich?« Skeptisch betrachtete ich die kaputten und fleckigen Fliesen über der Spüle. Ich hatte gestern versucht, sie zu schrubben, aber die Mühe war umsonst gewesen.
»Oh ja. Ich meine, es ist keine Dauerlösung, aber wenn du das Cottage einfach mit sparsamen Maßnahmen aufhübschen willst, kann ich dir ein paar Tipps geben.« Sie folgte meinem Blick zu den Fliesen. »Ich habe zum Beispiel preiswerte Fliesenaufkleber benutzt, um meine Küche zu verschönern.«
»Das klingt nach einer guten Idee.« Ich lächelte Matilda anerkennend an. »Raumgestaltung ist also dein Hobby?«
»Das auch. Ich mache meine eigenen Reinigungsmittel, weil ich empfindlich auf das gekaufte Zeug reagiere. Ich kann auch gut mit einem Hammer und einem Pinsel umgehen. Renovieren, Streichen, Holzarbeiten, all so etwas. Ich bin eine richtige Heimwerker-Queen.«
»Wow.« Ich war wirklich beeindruckt. »Ich wünschte, ich hätte solche Fähigkeiten. Ich kann nicht einmal Fertigmöbel zusammenbauen, ohne einen Nervenzusammenbruch zu erleiden.«
»Da ist nichts dabei«, sagte Matilda in ihrem sachlichen Ton. »Ich schaue mir die ganzen Heimwerkersendungen im Fernsehen an und mache einfach nach, was die da machen. Ich kann dir ein paar Sachen zeigen, wenn du möchtest. Du kannst jederzeit bei mir vorbeikommen.«
»Das werde ich. Ich danke dir vielmals.« Stampfende Füße auf der Treppe lenkten unsere Aufmerksamkeit auf meine Kinder.
»Mom!«, sagte Audrey mit ihrer weinerlichsten Stimme. »Ich habe Hunger.« Offenbar hatte sie ihr Schweigegelübde vergessen.
»Ich muss in den Laden gehen und Lebensmittel einkaufen. Aber unsere Nachbarin hat Scones mitgebracht. Sagt Hallo zu Matilda Rutherford.«
Audrey und Blake lächelten und nickten höflich, und ich nannte Matilda die Namen meiner Kinder. Audrey nahm einen Scone, drehte ihn in der Hand und runzelte die Stirn.
»Da sind Rosinen drin. Ich hasse Rosinen.«
»Okay, im Schrank habe ich noch eine Tüte Brezeln, sonst müsst ihr eben warten.«
Audrey rümpfte ihre süße Stupsnase.
Blake sagte: »Warum machen wir nicht die Besorgungen? Der Laden ist doch um die Ecke, oder?«
»Das wäre wunderbar.« Ich lächelte und beschrieb den kurzen Weg zum Dorfladen. Blake und eine sichtlich verärgerte Audrey gingen zum Einkaufen.
»Ich sehe, du hast alle Hände voll zu tun, aber Blake scheint ein verantwortungsbewusstes Kind zu sein.«
»Ja, das ist sie. Hast du Kinder? Enkelkinder?«
Matilda schüttelte den Kopf. »Stanley und ich sind nicht mit einer Familie gesegnet worden.«
»Es tut mir leid, das zu hören.«
»Das ist schon in Ordnung.« Sie winkte ab, wirkte aber traurig.
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. »Oh, dann hast du ja Zeit für all deine Heimwerker-Projekte.«
»Stimmt.«
Dank meiner Angewohnheit, Stille mit Geschwätz zu füllen, plapperte ich weiter. »Ich mag übrigens deine Frisur. Färbst du auch deine Haare selbst?«
»Oh nein, das ist die einzige Ausnahme, die ich mache. Da lasse ich einen Profi ran. Mein Stanley fand meine Haare immer schon eine meiner attraktivsten Eigenschaften, weißt du. Deshalb habe ich jeden Monat einen Termin bei meinem Friseur, damit die Frisur aussieht wie eh und je.«
Matilda schien ihren Mann wirklich zu lieben. Meine Nachbarin fing an zu husten und zog ein Inhaliergerät aus ihrer Rocktasche.
»Alles in Ordnung?« fragte ich besorgt.
»Ach ja, mein Asthma macht mir zu schaffen. Hast du Haustiere?«
In diesem Moment meldete sich die Katze zu Wort. Sie hatte sich wohl durch die Tür geschlichen, als die Kinder einkaufen gegangen waren. Jetzt miaute sie laut, als wollte sie sich beschweren, dass wir sie nicht bemerkt hatten.
»Nur Ethels Katze.« Ich stand auf, um das letzte Corned Beef aus der Speisekammer zu holen, und ärgerte mich darüber, dass ich vergessen hatte, die Kinder zu bitten, Katzenfutter mitzubringen. »Ich vergesse immer wieder, dass ich jetzt drei hungrige Mäuler stopfen muss.«
»Wie meinst du das, Ethels Katze?«
Ich richtete mich auf, nachdem ich das Corned Beef in die Schüssel getan hatte. Matilda schaute die Katze mit einem Stirnrunzeln an.
»Die Katze hing hier rum, als wir einzogen. Ich nahm an, sie gehörte meiner Großtante.«
Matilda schüttelte den Kopf. »Ethel hatte keine Katze.«
»Oh, du intriganter Beinumschleicher«, schalt ich die Katze, die seelenruhig das Futter verschlang. »Du hast ein Zuhause und kommst zu uns für einen Nachschlag. Gehört sie einem der anderen Nachbarn?«
Matilda schüttelte den Kopf, ihren Blick immer noch auf die Katze gerichtet.
»Nein. Nein, ich habe sie noch nie gesehen, aber ...«
Sie stand langsam vom Tisch auf und ging um ihn herum, um die orange Katze besser betrachten zu können.
Langsam wurde ich beunruhigt. »Meinst du, es ist etwas nicht in Ordnung mit ihr?«
Die Mieze hatte ihre Mahlzeit in Rekordzeit beendet und setzte sich auf ihre Hinterpfoten. Unbefangen begann sie sich zu putzen.
»Ethel hatte keine Katze«, wiederholte Matilda langsam. »Aber diese Katze sieht Ethel wirklich sehr ähnlich.«
Ich zog die Augenbrauen hoch. »Was willst du damit sagen?«
»Kannst du dich daran erinnern, wie deine Großtante aussah, bevor sie ergraute?«
»Sehr gut sogar.« Ich hatte ein paar deutliche Erinnerungen an Tante Ethel aus meiner Kindheit. »Sie hatte glatte rote Haare. Sie trug sie lang und offen.«
Matilda nickte, wobei sie die Katze nicht aus den Augen ließ. »Ja. Ihr Haar hatte genau die gleiche Farbe wie das Fell der Katze. So ein dunkles Orange. Fast zimtfarben. Und ihre Augen ... sie leuchteten auch bernsteinfarben, nicht wahr?«
»Hmm.« Matilda hatte recht. Es gab eine Ähnlichkeit zwischen der Katze und Ethel, aber worauf wollte sie hinaus? »Ich habe die gleiche Augenfarbe. Liegt in der Familie. Meine Mom hat die auch. Nur haben wir nicht das rote Haar geerbt. Moms Haare sind dunkelbraun, wie meine, nur feiner. Oder besser gesagt, waren. Jetzt sind sie eher grau meliert.«
Matilda musterte mich. »Stimmt, du siehst Calista sehr ähnlich.«
Ich vergaß immer, dass die älteren Bewohner von Fairwyck meine Mutter gekannt hatten – und auch mich, als Kind.
»Aber diese Katze ...« Matildas Blick schweifte wieder zum Tier. »Weißt du was? Im Wohnzimmer gibt es unten im Bücherregal Fotoalben. Würdest du bitte das große herausnehmen?«
»Ähm, Moment ...« Ich ging zu dem Bücherregal hinüber. Es war immer noch voll mit Ethels Büchern. Ich hatte noch keine Zeit gehabt, sie durchzugehen, um Platz für meine eigenen zu schaffen. Ganz unten fand ich das Fotoalbum, das Matilda meinte.
Ich brachte es in die Küche. Meine Nachbarin stand immer noch wie angewurzelt auf der Stelle, ihre Augen auf die Katze gerichtet.
»Würdest du es öffnen? Da müsste ein Bild von Ethel drin sein, als sie jünger war.«
Ich legte das Album auf den Küchentisch und fand ein großes Foto von drei jungen Frauen, die sich eingehakt hatten. Die große Frau mit dem rötlich braunen Beehive war eindeutig Matilda. Neben ihr stand eine kleinere junge Frau mit braunen Locken. Und an ihrer anderen Seite war Großtante Ethel zu sehen. Sie war viel jünger als in meiner Erinnerung und hatte lange orangerote Haare im Stil der Siebzigerjahre, passend zur Kleidung der jungen Frauen.
Mir fiel noch etwas auf. Ethel hatte diese helle Strähne in ihrem Pony. Als Kind hatte ich immer angenommen, das wären erste graue Haare, denn Ethel war mir alt vorgekommen. Es musste aber eine blonde Strähne gewesen sein. Hatte sie sie sich färben lassen und die Frisur über die Jahrzehnte beibehalten, so wie Matilda?
Matilda erzählte mir, dass Ethel damit geboren wurde. »Es handelt sich um eine seltene genetische Erkrankung«, erklärte sie. »Man nennt es Mallen-Streifen.«
»Oh.« Ich blickte vom Foto zur Katze. Es war nicht ungewöhnlich, dass die Tiere ein zweifarbiges Fell hatten. Bei roten Katzen kamen weiße Flecken sogar recht häufig vor. Deshalb hatte ich den weißen Streifen hinter den Ohren gar nicht richtig wahrgenommen.
Aber jetzt, wo ich das Bild zum Vergleich hatte, musste ich Matilda zustimmen. Es waren nicht nur die Augen, das zimt-orange Fell und die weiße Strähne. Es war auch das Gesicht.
Diese Katze, die offenbar niemandem gehörte und erst nach Ethels Tod hier aufgetaucht war, sah genauso aus wie meine Großtante.
Ich hoffte, dass Matildas Besuch ein vielversprechender Anfang für unsere Aufnahme in die Dorfgemeinschaft war. Meine Nachbarin war ziemlich abrupt gegangen, aber davon wollte ich mich nicht beunruhigen lassen. Vielleicht hatte sie wegen ihres Asthmas gehen müssen. Oder ihr war tatsächlich Ethel die Katze, wie ich sie nun getauft hatte, nicht geheuer gewesen.
Trotz der Ähnlichkeiten mit meiner verstorbenen Großtante und der Tatsache, dass diese Mieze aus dem Nichts aufgetaucht zu sein schien, konnte ich nicht so recht glauben, dass die Katze eine Reinkarnation von Ethel war. Das wäre doch verrückt, oder?
Auf jeden Fall fand ich, dass Matilda und ich ein angenehmes Gespräch gehabt hatten, und freute mich, dass meine Nachbarin Kontakt mit Ethels Familie pflegen wollte.
Den Rest der Woche hörte ich allerdings nichts mehr von ihr. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, sie zu besuchen und etwas Selbstgemachtes mitzubringen, zum Beispiel einen Auflauf. Meine Kochkünste waren nicht gerade überragend, aber das hatte Matilda auch nicht davon abgehalten.
Aber die Zeit lief mir davon, denn ich war sehr beschäftigt. Wenn ich nicht gerade die Häuser anderer Leute putzte, versuchte ich, unser eigenes aufzuräumen. Wir hatten zwar nicht viele Besitztümer mitgebracht, aber ich musste trotzdem entscheiden, was ich mit Ethels Sachen machen wollte.
An den meisten Abenden war ich so müde, dass ich kaum Energie für mehr aufbrachte, als das Abendessen auf den Tisch zu bringen. Also kam ich nie dazu, einen Auflauf zu machen und die Bekanntschaft mit meiner Nachbarin zu vertiefen.
Mit den übrigen Dorfbewohnern lief es auch nicht besser. Meine andere Nachbarin hatte ich bereits gegen uns aufgebracht. Ihr Grundstück mit einem größeren Haus grenzte an meinen Garten. Es war tatsächlich so beträchtlich, dass es auch an der Grundstücksgrenze zu Matildas Garten noch entlanglief. Ein paar Mal hatte ich den Krauskopf einer älteren Dame hinter den Vorhängen hervorschauen sehen, doch ich war nicht dazu gekommen, bei ihr zu klingeln und mich vorzustellen.
Eines Abends suchte ich Ethel die Katze, weil ich unbedingt ins Bett musste, und es mir lieber war, das Tier nachts im Haus zu wissen. Als ich nach der Katze rief und versuchte, den Schafsmist-Haufen auszuweichen, von denen ich immer noch keine Ahnung hatte, wie sie in den Garten kamen, wo weit und breit kein Schaf zu sehen war, entdeckte ich Ethel auf der anderen Seite des Zauns.
Die Nachbarin, die mich bisher ignoriert hatte, schien die Anwesenheit des Tieres auf ihren Beeten nicht zu schätzen. Sie kam ausnahmsweise hinter den Vorhängen hervor, stapfte zur Hintertür heraus und versuchte, die Katze zu verscheuchen. Ich stellte mich vor, aber statt ihren Namen zu nennen, fragte sie keifend, ob die Katze mir gehörte.
Ich zuckte mit den Schultern. »Das kam irgendwie mit dem Haus.«
Die kleine rundliche Frau blinzelte und schaute mich über den Zaun hinweg an. »Ethel hatte keine Katze.«
»Das habe ich schon gehört.« Ich rief erneut die Katze, aber die schien sich im Gemüsebeet zu Hause zu fühlen und putzte sich munter.
»Schön, Sie zu treffen«, sagte ich im Bemühen, höflich zu sein. »Und Ihr Name ist ...?«
»Phyllis Bishop.«
»Okay, wir würden Sie gerne näher kennenlernen, Phyllis. Kommen Sie auf eine Tasse Tee vorbei, wann immer Sie wollen.«
Sie blinzelte noch ein paar Mal irritiert, dann drehte sie sich um und lief auf die Katze zu, um sie wegzujagen. Es sah ein wenig komisch aus, wie sie über die Beete wackelte und mit den Armen fuchtelte, aber ich schaffte es, nicht zu lachen.
Die Katze stand auf und streckte sich, ganz ohne Eile. Dann starrte sie Phyllis Bishop an. Ich glaubte, Spott in ihren goldenen Augen erkennen zu können. Ethel die Katze fauchte kurz, drehte sich um und machte sich durch ein Loch im Zaun aus dem Staub.
Ich bahnte mir meinen Weg zur Küchentür zurück, die Augen auf den Boden gerichtet, um nicht aus Versehen auf Schafsmist zu treten. Als ich aufblickte, war Phyllis längst in ihrem Haus verschwunden.
»Wir mögen sie nicht, was?«, fragte ich, als ich die Tür weit öffnete, um die Katze hereinzulassen.
Aber Ethel schien mehr daran interessiert, ihren Napf zu finden, als mit mir zu kommunizieren. Wenn sie wirklich die reinkarnierte Ethel war, hatte sie die guten Manieren meiner Großtante irgendwann zwischendurch abgelegt.
Ich freute mich auf meine Schicht in der Kneipe am Samstagabend, denn Putzen war eine ziemlich einsame Tätigkeit, jetzt, wo ich allein arbeiten durfte. Ich hatte vergessen, Telefonnummern mit Esme auszutauschen, sonst hätte ich mich wenigstens mal mit einer Kollegin treffen können.
Meine Chefin im Vermietungsbüro, die Inhaberin Judith Winters, war ein wenig einschüchternd. Sie hatte eine direkte Art, wirkte sehr unerschrocken und war immer übertrieben geschminkt. Tatsächlich sah sie aus wie Anna Nicole Smith in ihrer Glanzzeit, verkleidet als Geschäftsfrau.
Abgesehen von Matilda und Phyllis hatte ich noch keinen Kontakt mit anderen im Ort gehabt und deshalb noch keine Freundschaften geschlossen. Ich hatte große Hoffnungen, dass ich durch den Job in der Kneipe mehr Leute treffen würde, damit sich das änderte.
Da ich Samstagvormittag und -nachmittag frei hatte, schlug ich den Kindern vor, das Dorf zu erforschen. Bislang waren wir nur im Laden gewesen. Audrey und Blake hatten es vermieden, allein durch Fairwyck zu spazieren, vielleicht weil sie keine Lust hatten, als Außenseiter begafft zu werden.
Außerdem, so Blake, würden wir für die Erkundung von Fairwyck höchstens zehn Minuten brauchen, da es abgesehen von ein paar Geschäften nicht viel zu sehen gab. Das stimmte nicht ganz. Das Dorf war klein, aber mit vielen kopfsteingepflasterten Gassen, die sich durch die Häuserreihen schlängelten. Es gab hübsche, für die Region typische, aus honigfarbenen Backsteinen errichtete Cottages. Ein Bach plätscherte am Dorf vorbei, und Fairwyck lag eingebettet in die malerischen Hügel der Cotswolds.
Wir kamen aber gar nicht dazu, all das zu entdecken, denn zu unserer Freude stellte sich heraus, dass an jedem zweiten Samstag im Monat, also auch heute, in Fairwyck Markttag war. Und es war kein kleiner Bauernmarkt. Die gesamte Grünfläche in der Mitte des Ortes war voller Verkaufsstände, wo von frischem Obst und Gemüse über Fleisch, Käse und Honig bis hin zu Kunsthandwerk alles Mögliche angeboten wurde.
Das Beste war, dass es einen kleinen Foodtruck mit Kaffee und Gebäck gab. Ich war so erfreut über meinen Cappuccino, dass ich noch nicht einmal protestierte, als Blake sich auch einen bestellte. Und Audrey lächelte zum ersten Mal seit ihrer Ankunft in England, als sie in das riesige Schoko-Croissant biss.
Wir schauten uns die vielen schönen Sachen an, die Künstler feilboten, und sahen eine Menge Dinge, die uns gefielen – wenn wir bloß das Geld dafür gehabt hätten. Als wir uns alle drei für einen Kunstdruck begeisterten, beschloss ich, dass wir uns den leisten konnten.
Zum ersten Mal seit unserem Umzug waren wir uns über etwas einig. Das Bild schien mir symbolisch für einen ersten wichtigen Schritt. Ich trug das aufgerollte Poster in einer Hand und meinen Kaffeebecher in der anderen, als mich jemand von hinten schubste. Der Cappuccino ergoss sich über das kostbare Gut, das wir gerade erworben hatten.
Wütend drehte ich mich um und ließ ein paar Schimpfwörter los. Der Mann, der das Missgeschick verursacht hatte, entschuldigte sich geknickt.
»Wir haben das gerade erst gekauft«, schrie ich, während ich hektisch versuchte, den Kaffee von der Rolle zu wischen.
»Es tut mir so leid. Ich kaufe Ihnen ein neues.«
Der Mann war groß, hatte dunkles Haar und braune Augen. Den Hundeblick konnte er sich schenken.
»Es war ein Unikat. Meine Kinder und ich haben es gemeinsam ausgesucht, und ich habe es mit meinem letzten Geld bezahlt. Also vielen Dank dafür.«
Als ich mich nach Audrey und Blake umschaute, sah ich, dass sie sich zwischen zwei Ständen versteckten, offensichtlich peinlich berührt, dass ich eine Szene gemacht hatte.
»Ich kann nur wiederholen, wie leid es mir tut!« Der Mann legte eine Hand auf sein Herz. »Wo haben Sie es gekauft? An Marcos Stand? Ich weiß, dass es genau den gleichen Druck nicht mehr geben wird, aber er macht oft Variationen. Vielleicht ist ja etwas dabei, das Ihnen und Ihren Kindern genauso gefällt?«
»Das ist nicht der Punkt.«
Ich hätte fast geweint. Unser Familienausflug war eindeutig ruiniert. Warum war das alles so schwierig? Hatte meine Familie es nicht verdient, einfach mal eine gute Zeit zu haben?
»Darf ich?« Der Mann nahm mir vorsichtig den aufgerollten Druck aus der Hand. Mit Taschentüchern entfernte er den Rest der Flüssigkeit. Dann rollte er das Bild aus. Er legte es auf Marcos Stand. Der Fleck auf der anderen Seite war jetzt nicht einmal mehr zu sehen. Ich wurde knallrot. Jetzt kam ich mir wirklich wie eine Idiotin vor. Alle starrten mich an.
»Ich denke, es ist in Ordnung«, sagte der Mann unnötigerweise. »Aber ich kaufe Ihnen trotzdem ein neues Bild, wenn Sie wollen.«
Ich versuchte, meinen Kopf hochzuhalten. »Wie ich schon sagte, wir waren nur an diesem einen interessiert. Es hat eine besondere Bedeutung für uns. Da es nicht völlig ruiniert ist, behalten wir es.«
Obwohl ich am liebsten weggelaufen wäre, ließ ich mir Zeit, rollte das Bild vorsichtig wieder zusammen, zog das Gummi darüber und schlenderte zur Straße. Ich nickte meinen Kindern zu, die sich hinter mir ebenfalls vom Markt wegschlichen. Wir eilten nach Hause, ohne ein Wort zu sagen. Blake und Audrey gingen auf ihre Zimmer, und als sie außer Hörweite waren, erlaubte ich mir, ein paar Tränen zu vergießen.
Der Kunstdruck, der ein Symbol für einen Neuanfang hätte sein sollen, war jetzt nur noch ein Beleg dafür, dass ich als Mutter schon wieder versagt hatte. Ich wünschte mir nichts sehnlicher, als endlich einmal etwas für unsere Familie richtig zu machen.
Meine Stimmung hellte sich auf, als ich an diesem Abend im Pub Owl and Oak zu meiner Schicht erschien.
Die Inhaberin Ellie Bullwart war die einzige Person, die sich auf meine verzweifelten Anfragen nach einem Arbeitsplatz gemeldet hatte. Wir hatten schon ein paar Mal miteinander telefoniert, uns aber noch nicht persönlich getroffen. Sie war genau so, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Warm, mit einem Heiligenschein aus blondem Haar. Sie war sogar angezogen wie eine Sonnenblume, in einem flatterigen gelben Maxikleid.
Wir umarmten uns, und ich wusste sofort, dass ich wenigstens eine Freundin in Fairwyck hatte. Ich gab mir wirklich größte Mühe, auch ihren Mann Jason zu mögen. Aber der stämmige Kerl mit den kurz rasierten Haaren machte es mir nicht leicht. Er grunzte in meine Richtung, anstatt mich zu begrüßen, und war eindeutig mehr an der Runde Darts mit seinen Kumpels interessiert.
Mir so schnell eine schlechte Meinung über ihn zu bilden, war nicht gerade nett, versuchte ich mir zu sagen. Die Bullwarts hatten mich eingestellt, weil sie Hilfe brauchten, und heute Abend war es meine Aufgabe, hinter der Theke zu stehen. Soweit ich wusste, hatte Jason sich die gesamte Woche über den Arsch aufgerissen. Vielleicht hatte er sich eine Auszeit verdient, und es stand mir nicht zu, darüber zu urteilen, ob seine Frau nicht auch eine Pause hätte gebrauchen können.
Nach einer Weile schlenderte Jason herüber und musterte mich. »Ich hab mir die Neue aber anders vorgestellt. Normalerweise stellen wir Studenten oder so ein. Wie alt bist’n du?«
Ich war zu verblüfft, um zu antworten.
Ellie sah es mir an und kam mir zuvor. »Ich habe dir doch erzählt, dass Liv eine alleinerziehende Mutter ist.«
»Ja, aber nicht, dass sie eine alte Mutter ist.«
Meine Augen weiteten sich.
»Ich meine, du siehst gut aus für dein Alter, versteh mich nicht falsch ...« Gerade als ich dachte, Jasons Kommentare könnten nicht mehr schlimmer werden, fuhr er fort. »Aber du musst den Mami-Look ablegen, wenn du am Samstagabend Trinkgeld verdienen willst. Die Kundschaft weiß einen tieferen Ausschnitt zu schätzen.« Er schaute mir nicht ins Gesicht, als er das sagte. »Die Möpse dafür haste ja.«
»Jason!«, schimpfte Ellie und ihre Wangen färbten sich rot.
Er hob seine Hände. »Ich versuche bloß zu helfen.« Immer noch auf meine Brust starrend, ging er rückwärts und kehrte zu seinen Freunden zurück.
»Es tut mir so leid«, stotterte Ellie.
»Ich bin super dankbar für diesen Job, Ellie«, fand ich schließlich Worte. »Ich brauche das Geld wirklich dringend. Aber du verstehst, dass er nicht so mit mir reden darf?«
»Natürlich. Ich werde das mit ihm klären.«
Zum Glück füllte sich der Pub schnell, und Jason hielt sich von der Theke fern. Die Gäste hielten Ellie und mich auf Trab, aber das machte mir nichts aus. Die Zeit verging wie im Flug und ich musste mich nicht mit Jason herumschlagen.