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Zwei Liebende, getrennt, in zwei Welten.
Ein Baum, der sie verbindet.
Morrigan, die Phantomkönigin der Sidhe, hat Alice in die Anderswelt entführen lassen. Sie will sich Ciaras Seele bemächtigen, die in Alice wiedergeboren wurde. Doch so leicht wird Alice Ciaras menschliche Essenz nicht aufgeben – besonders nicht, ohne zu wissen, was für Ziele die undurchsichtige Feenkönigin verfolgt.
Dylan sitzt unterdessen in der Welt der Menschen fest. Ohne seine magischen Fähigkeiten kann er Alice nicht helfen. Gemeinsam mit der Druidin Avalynn Wannaugh setzt er einen wahnwitzigen Plan in die Tat um, damit er Alice retten und ihr seine Liebe beweisen kann.
Als Alice und Dylan merken, dass es um viel mehr als ihr eigenes Glück geht, müssen sie sich entscheiden, ob sie den Preis dafür zahlen wollen, sich mit der mächtigen Morrigan anzulegen.
Wenn du wissen willst, wie die Geschichte von Alice und Dylan weitergeht, dann bestelle jetzt Band 2 der spannenden Romantic-Fantasy-Saga DAS GEHEIMNIS VON CONNEMARA.
»Ich liebe das Talent der Autorin, die irische Mythologie mit einer fantasievollen Geschichte zu vereinen. Das Buch liefert alles, was man sich nur wünscht: eine starke Protagonistin, eine unvorhersehbare Handlung und viel Gefühl. Ich bin begeistert und freue mich riesig auf das Finale der Connemara-Trilogie.« -- Yvonnes Bücherecke
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Veröffentlichungsjahr: 2016
Felicity Green
EFEURANKEN
Das Geheimnis von Connemara
Buch 2
2. Auflage, 2018
© Felicity Green
www.felicitygreen.com
Veröffentlicht durch:
A. Papenburg-Frey
Schlossbergstr. 1
79798 Jestetten
Umschlaggestaltung: CirceCorp design–Carolina Fiandri, circecorpdesign.com Coverbild: Depositphotos ©heckmannoleck, FlexDreams, DanFLCreativo
Korrektorat: Wolma Krefting, bueropia.de
Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder teilweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden und verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
www.felicitygreen.com
Kapitel Eins
Kapitel Zwei
Kapitel Drei
Kapitel Vier
Kapitel Fünf
Kapitel Sechs
Kapitel Sieben
Kapitel Acht
Kapitel Neun
Kapitel Zehn
Kapitel Elf
Kapitel Zwölf
Kapitel Dreizehn
Kapitel Vierzehn
Kapitel Fünfzehn
Kapitel Sechzehn
Kapitel Siebzehn
Kapitel Achtzehn
Kapitel Neunzehn
Kapitel Zwanzig
Kapitel Einundzwanzig
Kapitel Zweiundzwanzig
Kapitel Dreiundzwanzig
Epilog
Wie geht es weiter?
Die Autorin
Come away, O human child!
To the waters and the wild
With a faery, hand in hand.
For the world's more full of weeping than you can understand.
William Butler Yeats, The Stolen Child
Alice
Mein Gefängnis vermittelte die Illusion, dass die Freiheit zum Greifen nahe war. Es wirkte nicht besonders stabil und war licht- und luftdurchlässig. Das Material, aus dem der Käfig bestand, sah aus wie Bast, scheinbar zu lockeren Maschen geflochten. Mein erster Impuls, als man mich hier hineingestoßen hatte, war es gewesen, mich vom Boden aufzurappeln und mich umzudrehen, um an der Tür zu rütteln.
Doch es gab keine Tür.
Ich hatte eindeutig gesehen, wie einer der Männer in grauen Kutten diese Seite des Käfigs geöffnet hatte. Doch nun war plötzlich keine Tür mehr erkennbar, kein Schloss aufzubrechen, kein Spalt zu sehen. Die Wand bestand aus denselben gleichförmigen Maschen wie der Rest des Käfigs. Mein Blick suchte hektisch die Wände, die Decke, den Boden ab. Nirgends ein Spalt, nicht mal eine Naht. Als ob alles in einem Stück gestrickt worden wäre.
Mein Atem ging schneller. Panisch zerrte ich an den Maschen, versuchte sie auseinanderzupulen. Vergeblich. Das Material war härter und störrischer, als es aussah. Als meine Fingerkuppen blutig waren, ließ ich frustriert die Hände sinken. Ich wischte mir die Finger an der Jeans ab und trat einen Schritt zurück. Um mich zu beruhigen, holte ich tief Luft und atmete langsam aus. Panik brachte mir in dieser Situation nichts. Mit schierer Kraft würde ich den Käfig wohl nicht auseinanderbrechen können. Denk nach, befahl ich mir. Wenn ich alles um mich herum einschätzen konnte, würde sich mir vielleicht eine Möglichkeit zur Flucht eröffnen.
Wahrscheinlich handelte es sich bei diesem Konstrukt um eine weitere Erfindung der Sidhe, die nach dem Prinzip der Biomimetik entwickelt worden war. Technik nach dem Vorbild der Strukturen und Prozesse, die sich in der Natur im Laufe der Zeit als vorteilhaft erwiesen hatten, hatte mir Maggie stolz erklärt. Damit waren uns die Feen – auf Irisch Sidhe – weit voraus. Wir Menschen wussten natürlich aus Mythen und Legenden, dass Feen auf eine besondere Weise mit der Natur verbunden waren. Aber bislang hatte noch keiner, der angeblich in die Anderswelt gereist war, von diesen wundersamen Bauten hier berichtet. Zumindest war mir keine Volkssage bekannt, in der Wände vorkamen, die durch Poren atmeten, oder kuppelförmige Häuser, die aussahen wie Bienenwaben. Bevor mich Maggie in die Anderswelt entführt hatte, war meine Vorstellung von der Welt der Feen vage gewesen – wie ein Irland ohne Zivilisation vielleicht, ein bisschen wie bei Herr der Ringe. Ich befürchtete, die einzige Parallele war, dass ich bestimmt auf die Hilfe eines Magiers angewiesen war, um jemals aus diesem High-Tech-Käfig ausbrechen zu können.
Mein Mangel an Vorstellungskraft war eventuell damit zu erklären, dass mir der Gedanke, es gäbe eine Parallelwelt zu unserer, in der die Nachfahren der aus Irland vertriebenen Túatha Dé Danann lebten, nach wie vor sehr surreal vorkam. Selbst nach alledem, was ich in den letzten Monaten an sonderbaren Dingen erlebt hatte. Es war ja immer noch eine Sache, aus einem Koma aufzuwachen und plötzlich Irisch zu sprechen, die Erinnerungen eines Mädchens namens Ciara zu haben und von einem unglaublich gut aussehenden jungen Mann mit grünen Augen zu träumen, in den dieses Mädchen aus einer anderen Zeit verliebt gewesen war. Aber gerade erst hatte ich mich damit auseinandergesetzt, dass Ciaras große Liebe ein Sidhe war, und gerade erst hatte ich meine eigenen Gefühle für ihn entdeckt.
Mir zog sich das Herz zusammen, als ich an Dylan dachte. Einerseits wünschte ich mir, dass er von meiner Entführung erfahren hatte und dass er jetzt nach mir suchte. Andererseits wusste ich nicht, was Dylan hier blühte. Sollte er es überhaupt schaffen, in die Anderswelt zu gelangen, brachte er sich damit bestimmt in große Gefahr. Ich wusste ja noch nicht einmal, was man mit mir machen würde, wurde mir mit Schrecken bewusst. Mein Puls ging wieder schneller, als ich daran dachte, was Dylan immer über Menschen gesagt hatte, die von den Sidhe als Gefahr eingestuft wurden. Man ließ diese Menschen »verschwinden«. Heutzutage wurde das angeblich nicht mehr so häufig gemacht, weil es zu viel Aufmerksamkeit auf sich zog. Früher hatte man das wohl öfter getan – die Geschichten und Legenden waren voll davon. Was genau das bedeutete, wusste ich nicht. Vielleicht hieß es einfach, dass man mich in diesem Käfig verrotten lassen würde.
Ich sah mich in meinem Gefängnis um. Außer ein paar Decken, einem Krug Wasser, Brot und Äpfeln fand ich nichts. Ich hatte auch keine Gegenstände an mir, die mir irgendwie dabei helfen würden, durch die scheinbar dünnen Wände durchzubrechen. Vielleicht könnte ich mir Hilfe von außen holen. Ich hatte auf meinem Weg hierher gesehen, dass noch andere Käfige um meinen herumstanden. Ich presste ein Auge gegen eine Maschenöffnung und schaute hinaus.
Die Abstände zu den anderen Käfigen waren so groß, dass nicht viel zu erkennen war. Lediglich farbige Formen hinter dem Bastmaterial konnte ich ausmachen, die sich ab und zu bewegten. Mein Gefühl sagte mir, dass es Menschen und nicht Feen waren, die in den Käfigen saßen. Wie angestrengt ich auch versuchte, durch die Maschen zu spähen, außer den Käfigen, den grünen Hügeln Connemaras, dem grau bewölkten Himmel über mir und dem Meer in der Ferne konnte ich nichts erkennen. Das Essen, das man mir bereitgestellt hatte, verriet mir, dass man mich längere Zeit am Leben halten wollte. Es konnte also sehr gut sein, dass sich die anderen Käfiginsassen hier schon eine Weile aufhielten und etwas wussten, was mir weiterhelfen könnte.
»Hallo!«, rief ich, so laut ich konnte, und lauschte gespannt. Keine Antwort. Immer wieder schrie ich den anderen etwas zu und versuchte, sie auf mich aufmerksam zu machen. Aber ich bekam keine Reaktion. Sie mussten mich doch hören – wieso antworteten sie nicht? Das Gefühl der Machtlosigkeit breitete sich immer mehr in mir aus. Ich tigerte in meinem Käfig hin und her und schaute ab und zu durch die Maschen, in der Erwartung, dass sich um mich herum etwas tun würde. Das tat es aber nicht.
Der Blick aufs Meer in der Ferne war ein Geniestreich der Foltermethodik, fiel mir auf. Wahrscheinlich trieb es einen irgendwann in den Wahnsinn, den endlosen Ozean und die freie Natur um einen herum zu sehen. In Gedanken sah ich mich schon selber stundenlang auf das Meer starren, in der Hoffnung, am Horizont würde mein Retter auftauchen – nur um diese Hoffnung immer wieder begraben zu müssen. Unweigerlich musste ich an die Geschichten aus Brian Flanahans Mündlich überlieferte Sagen und Mythen – Westirland denken, in der auch »meine« Geschichte über die verzauberte Insel vor der Küste Roundstones stand.
Es gab die Theorie, dass die Anderswelt unter Wasser lag, weil diese Insel manchmal erschien und wieder verschwand, wenn Seeleute versuchten, sie zu betreten. Außerdem wurde häufig davon berichtet, wie Kühe und Pferde aus dem Meer kamen und an den Strand liefen. Ich konnte Dylan schon auf einem Connemara-Schimmel aus den Wellen auftauchen und auf mich zureiten sehen. Je näher er kam, desto verschwommener wurde das Bild, bis es sich schließlich ganz in Luft auflöste. Ich schüttelte diese Fantasie ab und setzte noch einmal alles daran, mit den anderen Käfiginsassen zu kommunizieren. Es war das Einzige, was ich momentan tun konnte.
»Hallo! Ich bin hier, in diesem Käfig ganz links von euch.«
Niemand reagierte.
»Hallo! Hört ihr mich nicht?«, schrie ich mich immer wieder heiser, ohne eine Antwort zu erhalten. Als nur noch ein Krächzen aus meiner Kehle kam, fielen ein paar Tropfen durch die Maschen auf mein Haupt. Ich schaute auf. Die Wolken öffneten sich und Regen prasselte auf meinen Käfig herunter. Sogleich verengten sich die Maschen und die Wände um mich herum zogen sich zusammen. Ich blieb trocken, aber jetzt war es stockduster in meinem Käfig. Frustriert lehnte ich mich gegen eine der nun festen Wände und glitt daran hinab zu Boden. Ich fröstelte und wickelte mich in die Decken ein. Jetzt konnte ich nichts mehr tun. Mir blieb nichts anderes übrig, als zu warten. Jetzt lenkte mich nichts mehr davon ab, mich wohl oder übel mit der Begegnung auseinanderzusetzen, die mich vor einigen Stunden völlig aus der Bahn geworfen hatte. Sobald ich daran dachte, wie sie plötzlich vor mir gestanden hatte, lief mir ein kalter Schauer den Rücken hinunter und ich zitterte noch mehr. Ciara.
Ich hatte viele Fragen zu den sonderbaren Begebenheiten, die sich in den letzten Monaten ereignet hatten. Es gab einiges, das ich wusste, aber noch nicht verarbeitet hatte. Doch wer Ciara war und was mit ihr passiert war – dieses Rätsel hatte ich doch längst gelöst.
Nachdem ich im Krankenhaus in meiner Heimatstadt in Deutschland aufgewacht war, hatte ich das Gefühl gehabt, nicht mehr Alice zu sein. Die zuerst wahnwitzig erscheinende Theorie, dass ich in einem früherem Leben eine andere gewesen war, deren Erinnerungen, Träume, Sprache und Liebe sich jetzt an die Oberfläche meines Bewusstseins drängten, hatte sich als wahr herausgestellt. Schließlich fand ich heraus, dass die zweite Seele, die in meiner Brust schlummerte, Ciara war, eine wunderschöne Künstlerin, die in den 1950er-Jahren in Roundstone gelebt hatte. Die verbotene Liebe zu Dylan trieb sie in den Selbstmord. Zumindest hatten alle, einschließlich Dylan und mir, geglaubt, dass sie freiwillig ins Meer gegangen war. Erst später kam mir die Erinnerung daran, wie Maggie mich dazu gedrängt hatte, zur verzauberten Insel zu schwimmen, wo ich in die Anderswelt und so zu Dylan gelangen konnte. Ein perfider Trick, denn ich erreichte die Insel nie und ertrank.
Ich hatte lange dafür gekämpft, zu erfahren, wer Ciara war, und dann hatte ich hart dagegen angekämpft, dass Ciara mich ganz einnehmen würde. Ich hatte lernen müssen, dass ich auch immer noch Alice war und wie ich diese beiden Persönlichkeiten in mir trennen konnte. Ich hatte Ciara akzeptiert. Ich hatte gelernt, sie Teil von mir sein zu lassen.
Jetzt stellte sich heraus, dass das, was ich zu wissen glaubte, eine Illusion gewesen war. Ciara war nicht die, für die ich sie gehalten hatte. Sie war nicht das Mädchen, in das sich Dylan damals verliebt hatte.
Ciara war nicht tot. Sie war hier, in der Anderswelt. Sie lebte in einem Palast, der aus grünen Waben bestand. In der Mitte ihres Zimmers stand eine riesige Eiche.
»Das ist die Eiche, von der ich zehre«, hatte sie mir gesagt, als man mich vor einigen Stunden zu ihr brachte, unmittelbar bevor ich in diesen Käfig eingesperrt worden war. »Die Ur-Eiche. Die Quelle all meines Wissens, der Ursprung der Weisheit der Druiden.« Fast wie verliebt streichelte sie die raue Rinde des massiven, breiten Baumstamms.
Längst wusste ich, dass Eichen für Druiden heilig waren. Die Bezeichnung druid bedeutet grob übersetzt Eichenweise. Eichen galten auch als Portale in die Anderswelt und Druiden als Wächter dieser Grenzen zur Welt der Feen, als Wächter der Eichen. Ciaras Andeutungen bestätigten eine Theorie, von der ich schon länger ahnte, dass sie wahr war: Die ersten Druiden waren Sidhe gewesen, die ihr Wissen an Menschen weitergegeben hatten. Allerdings interessierten mich alte Bäume momentan herzlich wenig. Ich konnte nicht fassen, dass ich vor mir stand. Wie war das nur möglich?
»Die Wurzeln der Eiche«, fuhr Ciara fort, »sind in deiner Welt, der Stamm und die Krone hier in meiner. Andersherum siehst du in deiner Welt Krone und Stamm, und verwurzelt ist diese Eiche in der Anderswelt. Als ob die Barriere zwischen den Welten ein zweiseitiger Spiegel wäre. Verstehst du?«
Verwirrt schüttelte ich den Kopf. Ich verstand gar nichts. Was faselte sie von der Eiche? Ciara lebte und meine Erinnerungen … waren sie falsch?
»Ich, ich habe dich sterben sehen«, stotterte ich. »Ich meine, ich habe gespürt, wie du gestorben bist. Ich war dabei. Ich bin gestorben. Deine Essenz ist in mir. Ich bin du. Wie kannst du noch am Leben sein?«
Ciara lachte glockenhell. »Aber Kleines, das versuche ich dir doch gerade zu erklären. Weißt du, was dein Problem ist? Du stellst zu viele Fragen. Du bist zu ungeduldig. Manchmal muss man der Wahrheit Zeit und Raum geben, sich zu entfalten.«
Ich verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich dachte, die Wahrheit kenne ich schon. Schließlich hat Maggie versucht, mich mit einem Schadzauber zu belegen, damit meine Erinnerungen an die Wahrheit über Ciaras Tod unterdrückt blieben.« Ich schaute zu der großen Frau mit den langen roten Haaren hinüber, die neben mir stand und süffisant lächelte. »Ich konnte dem Schadzauber mit einem Schutzamulett entgegenwirken und habe mich schließlich doch an das erinnert, was wirklich passiert war.« Als beide Frauen sich meinen Worten gegenüber gleichgültig zeigten, fügte ich trotzig hinzu: »Oder willst du abstreiten, dass du das versucht hast, Maggie?«
Maggie zuckte mit den Schultern. »Anscheinend kannst du deinen eigenen Erinnerungen nicht trauen. Das ist ja nicht meine Schuld. Vielleicht wirst du tatsächlich verrückt, wie die meisten, in denen jemand wiedergeboren wird. Hast du schon mal daran gedacht?«
Ciara lachte wieder. »Ach bitte, Schwesterchen. Solche abschreckenden Taktiken hast du doch schon versucht, und wir wissen, dass das nichts bringt. Die Kleine lässt einfach nicht locker. Sie ist wie ein Hund. Wenn es irgendwo einen Knochen auszubuddeln gibt, dann findet sie ihn. Du hast dich lange genug für sie eingesetzt. Jetzt bin ich dran.«
Eingesetzt? Maggie? Ich glaubte, mich verhört zu haben. Schließlich hatte die Frau mich gejagt, mich mit einem Schadzauber belegt, mich gekidnappt und dann mit einem Flugzeug in die Anderswelt entführt. Dabei war sie nie besonders zimperlich mit mir umgegangen. Wenn Ciara andeutete, dass Maggie nachsichtig mit mir gewesen sei, dann verhieß das nichts Gutes im Bezug darauf, wie sie selber mit mir verfahren würde.
Ich schüttelte unwirsch den Kopf. Damit wollte ich mich gar nicht beschäftigen. Ich wollte endlich wissen, wie zum Teufel es sein konnte, dass Ciara am Leben war.
»Dylan und Coimeádaí haben dich tot am Strand gefunden. Sie haben deine Essenz genommen«, versuchte ich es noch einmal. So hatte es mir Dylan erzählt und es gab für mich keinen Grund, seine Geschichte anzuzweifeln. Dylans Aufgabe war es, »lebensmüden« Sidhe ein letztes Leben auf Erden zu geben. Nur so konnten Feen sterben – indem sie als Mensch wiedergeboren wurden. In den Mythen und Legenden wurden diese Menschen als Wechselkinder bezeichnet. Coimeádaí, der Hüter der Seelen, band die Essenz an einen Edelstein und Realta bestimmte mithilfe der Sternenkonstellationen einen geeigneten Menschen, der bald geboren werden würde. Dann war es Dylans Aufgabe, die Energie eines Blitzes in eine Eiche zu lenken, in der der Edelstein lag. So transferierte er die Feenseele in das neugeborene Kind. Als Dylan seine große Liebe Ciara tot am Strand liegen sah, bat er seinen Freund, ihre Essenz an einen Opal zu binden, sodass Ciara wieder auferstehen könnte. In mir. Sie müssen also eine tote Ciara vorgefunden haben, sonst hätte die Wiedergeburt schließlich nicht stattfinden können.
»Sie haben meine Essenz genommen und dann bin ich aufgestanden, wieder ins Meer gegangen, zur Insel geschwommen und nach Hause zurückgekehrt.« Ciara sagte das in so leichtem Ton, als würde sie gerade einem Kind eine Gute-Nacht-Geschichte vorlesen. Sie tänzelte in ihrem weißen, fließenden Gewand um die Eiche herum. Ich fragte mich ernsthaft, wer von uns beiden hier nicht ganz richtig im Kopf war.
Der Schock, plötzlich Ciara gegenüber zu stehen, saß tief. Es war ein bisschen so, als sei mein Spiegelbild zum Leben erweckt worden. Und es ergab keinen Sinn. Waren alle meine Erinnerungen nur meiner Fantasie entsprungen? Nein, ich wusste von manchen, hundertprozentig, dass sie der Realität entsprachen. Warum sollte Ciaras schrecklicher Tod eine Ausnahme sein? Mein anfänglicher Horror wich langsam, aber sicher Verärgerung. Ciaras sonderbares Verhalten fing mich an zu nerven.
Denn wenn ich eins wusste, dann, wer Ciara gewesen war. Ich hatte sie gelebt. Sie war ein guter, liebender Mensch gewesen. Naiv vielleicht und gutgläubig, aber sie hatte nichts gemein mit dieser gehässigen, spöttischen und überheblichen Person. Das war nicht die Ciara, die ich kannte. Ihre kindischen Tänzeleien veranlassten mich dazu, mit den Augen zu rollen. »Ciara, sag mir einfach, was du mit mir vorhast, damit …«, begann ich ungeduldig, doch sie fiel mir abrupt ins Wort.
»Du kannst aufhören, mich Ciara zu nennen.« Sie drehte sich zu mir um. Auf einmal wurde es ganz still. Selbst die Blätter der Eiche raschelten nicht mehr. Sie tat einen Schritt auf mich zu. Ihre langen schwarzen Locken umrahmten ihr liebliches Gesicht, aber der Ausdruck in ihren grauen Augen ließ sie alles andere als lieblich wirken. »Ich bin Morrigan, die große Phantomkönigin der Sidhe. Und jetzt wird es auch Zeit, dass du mir den Respekt erweist, der einer Königin gebührt.« Ihr Ton war plötzlich eisig. »Wir hatten lange genug unseren Spaß.«
Dylan
Dylan stand auf der Ha'penny-Brücke und starrte auf den Fluss hinunter, der träge unter ihm in Richtung Dublins höchstem Gebäude, Liberty Hall, floss. Sein Atem kondensierte in der kalten Novembernacht und die weißen Wölkchen schienen mit dem Fluss reisen zu wollen, bis sie sich nach kurzer Zeit im Dunkel der Nacht auflösten. Auf dem Aston Quay auf der einen, und dem Bacherlor's Walk auf der anderen Seite des Flusses brannten die Straßenlampen, die tanzende Lichtpunkte auf das schwarze Wasser zauberten.
In seiner Welt, der Anderswelt, nannte man den Fluss An Ruirthech, was auf Gälisch »schneller Läufer« hieß. Dylan glaubte gehört zu haben, dass er in dieser Welt, der Welt der Menschen, auch mal so geheißen hatte. Aber das war vor seiner Zeit gewesen. Auch bei seiner Geburt vor zweihundertfünfzig Jahren hatte man diesen Fluss hier schon Liffey genannt. In beiden Welten, die sich topografisch nicht voneinander unterschieden, floss dieser Fluss im gemächlichen Tempo, und »schneller Läufer« war in jedem Fall eine unzutreffende Bezeichnung.
Dylan versuchte sich mit diesen Überlegungen von der beunruhigenden Tatsache abzulenken, dass Alice noch nicht aufgetaucht war. Zwar hatten sie sich nicht für heute Nacht hier verabredet, aber in den letzten Wochen war dieser Ort immer ihr Treffpunkt gewesen und es hatte sich so eingebürgert, dass sie sich jede zweite Nacht auf der Brücke einfanden. Nur zwischen zwölf und ein Uhr und nur hier konnten sie dank dem Brückenzauber ungestört miteinander reden. Es war mittlerweile halb eins und von Alice keine Spur. Dylan war noch nicht bereit, wieder zu gehen, denn es war ihm viel zu wichtig, dass sie miteinander sprachen.
Schließlich hatten sie sich vorgestern genau hier, unter dieser Laterne in der Mitte der Brücke geküsst. Träumerisch schaute Dylan zum gelben Licht der Laterne hoch. Es hieß, dass denjenigen, die sich hier, an diesem Ort küssten, ewiges Liebesglück beschert war. Er wollte so gerne glauben, dass diese Volksweisheit der Wahrheit entsprach. Aber das konnte er nicht. Der Grund dafür war nicht, dass er sie für abergläubisch hielt. Er war das lebende Beispiel dafür, dass solche sogenannten übernatürlichen Dinge existierten. Als Sidhe hatte er eigentlich selber Magie. Nur momentan nicht, fiel ihm zerknirscht ein, weil er jegliche magischen Kräfte, die er als Fee besessen hatte, aufgegeben hatte, um an Alices Seite zu sein.
Dylan seufzte, als er an seinen ursprünglichen Plan dachte. Vier Jahre lang hätte er als Alices Kommilitone am Trinity College studieren sollen. Der Ältestenrat hatte dem zugestimmt, um herauszufinden, ob seine Anwesenheit bei Alice gewisse Erinnerungen hervorrufen würde. Auf diese Weise sollte bestimmt werden, ob Alice aufgrund ihres Wissens über die Feen eine Gefahr für die Sidhe darstellte oder nicht. Aber er hatte es nie als seine Aufgabe angesehen, sein Volk vor Alice zu schützen. Nein, im Gegenteil, er hatte immer vorgehabt, Alice vor den Sidhe zu beschützen. Das war er ihr schuldig, dachte er jetzt mit einem traurigen Lächeln, das und noch viel mehr. Hier, auf dieser Brücke, hatte er ihr im Geheimen alles erzählt. Und hier hatte er sich in sie verliebt.
Nein, der Grund, warum er nicht an ein Happy End mit Alice glauben konnte, war, dass ihre Liebe verboten war. Feen durften nicht mit Menschen zusammen sein. Und was für ein tragisches Ende eine solche Verbindung nehmen konnte, hatte er vor etwas über sechzig Jahren schon einmal erfahren müssen.
Sein Herz verkrampfte sich, als er an Ciara dachte. Sofort verbot er sich jeden weiteren Gedanken an sie. Er schloss die Augen. Alice, Alice, Alice, dachte er. Gleich darauf hörte er Schritte. Erleichtert machte er die Augen auf, um das Mädchen die Brücke betreten zu sehen. Sie ging im Eilschritt und die Haare wehten hinter ihr her. Er kniff die Augen zusammen. Die Haare waren lang und lockig. Das hier war nicht Alice.
»Dylan«, keuchte das Mädchen außer Atem, »ich bin so froh, dass du hier bist.«
Sie trat unter den Schein der Laterne. »Bridget«, rief er. »Wo ist Alice?«
Bridget schaute ihn mit sorgenvoller Miene an. »Alice ist verschwunden.«
Dylan kam auf sie zu und packte sie an den Schultern. »Verschwunden? Was meinst du damit? Was ist passiert?« Er konnte nicht glauben, dass genau das geschehen war, was er immer befürchtet hatte. Vorgestern, nach dem Kuss, da hatten sie sich unverwundbar gefühlt, als ob niemand ihnen etwas antun konnte. Sie waren zum ersten Mal zusammen von der Brücke spaziert, Arm in Arm, und er hatte sie nach Hause gebracht. Der Gedanke an den Abschiedskuss vor der Haustür brachte ihn jetzt schier um. Hatte sie doch jemand beobachtet? Hatte Maggie …
»Sie wollte nach Hause zu ihren Eltern fliegen«, unterbrach Bridget seine Gedanken.
»Was?«, fragte er verwirrt und ließ Bridget los. »Du musst dich irren, davon hat sie mir vorgestern gar nichts erzählt.«
»Nein, das war eine spontane Entscheidung. Du weißt doch vielleicht, dass Alice kaum mehr Kontakt mit ihren Eltern hatte – gestern hat sie zum ersten Mal seit Langem wieder mit ihrem Vater telefoniert, und es stellte sich heraus, dass sich ihre Eltern getrennt haben.«
Dylan nickte nur stumm. Alices Eltern hatten Schwierigkeiten damit gehabt, wie sich ihre Tochter veränderte, nachdem sie vor ein paar Monaten im Krankenhaus aus einem Koma aufgewacht war. Ihre Tochter war einfach nicht mehr ihre Tochter. Alice fühlte sich daheim nicht mehr zugehörig und nachdem sie Professor O'Tool, seine Frau Vera und Tochter Bridget kennengelernt hatte, war sie nach Dublin gekommen, um am Trinity College zu studieren. Dylan hatte ehrlich verdrängt, dass Alice kaum mehr mit ihren Eltern sprach, oder dass das, was ihr passiert war, ihre Familie zerbrochen hatte. Das ihm mittlerweile so bekannte lähmende Gefühl breitete sich in seinem Brustkorb aus. Auch das hier war seine Schuld. Jedes Mal, wenn er versuchte, etwas wieder gutzumachen, schien er nur noch mehr Menschen mit sich ins Verderben zu ziehen.
»Alice hat ihrem Vater gestern versprochen, dass sie nach Deutschland kommt, damit sie alles besprechen und die Beziehung wieder kitten können«, sagte Bridget nun. »Genaueres weiß ich auch nicht, aber es hörte sich so an, als wäre es wirklich wichtig gewesen, dass sie nach Hause fährt, so eine Art letzte Chance, weißt du? Und da jetzt Wochenende ist und wir nächste Woche Study Week haben … naja, also ich habe sie heute Morgen zum Flughafen gefahren.« Bridget holte tief Luft. Ihre Stimme bebte: »Seitdem hat keiner mehr was von ihr gehört.«
Dylan krallte sich am Brückengeländer fest. Das weiße Eisen fühlte sich erst kühl an, doch je länger seine Finger sich darum schlossen, desto heißer wurden sie. Sidhe vertrugen Eisen nicht besonders gut. Deshalb hatte er die Brücke ausgesucht. Sie war durch einen Zauber geschützt, der auch das Eisen für ihn erträglich machte, aber es längere Zeit anzufassen, war keine gute Idee. Doch gerade in diesem Moment begrüßte er die Schmerzen. Sie waren ihm lieber als die Pein, die er in seinem Inneren fühlte. Widerwillig ließ er dennoch das Geländer los – er würde Alice keine große Hilfe sein, wenn er sich selbst außer Gefecht setzte.
»Bist du hundertprozentig sicher, dass sie nicht in Deutschland angekommen ist?«, fragte er und drehte sich wieder zu Bridget um. »Vielleicht ist sie bei ihrer Mutter, oder …«
»Ich bin mir sicher«, unterbrach Bridget ihn. »Ihr Vater stand am Flughafen in der Ankunftshalle und hat auf sie gewartet. Als sie nicht aus dem Flugzeug stieg, hat er uns angerufen. Daraufhin haben wir und er heute überall herumtelefoniert. Sie ist verschwunden, Dylan!«
Verschwunden. Das taten Sidhe Menschen an, die ihnen zur Gefahr wurden. Sie ließen sie verschwinden. Genau das hatte Dylan versucht zu verhindern. Dass sein Volk Alice als Gefahr einstufte und verschwinden ließ. Und wieder einmal hatte er kolossal versagt.
»Glaubst du, es war diese Maggie, Dylan?« Bridget flossen die Tränen. »Glaubst du, sie haben sie geschnappt und ihr etwas angetan?«
Erschrocken schaute Dylan Bridget an. »Du weißt alles, oder? Alice hat dir alles erzählt?«
Bridget hörte auf zu schniefen und schluckte. »Ja, ich habe doch bei Padraig gespitzelt. Hab etwas mit ihm am Laufen gehabt, um gleichzeitig herauszufinden, was er über euch beide weiß.«
Professor Padraig O'Cadhla war Alices und Dylans Seminarleiter an der Uni. Offiziell. Eigentlich war er Fee und ein sogenannter Garda, ein Wächter. Das war seine Berufung und er nahm sie ernst. Das war nichts Ungewöhnliches, denn er hatte auch keine große Wahl. Jeder und jede Sidhe hatte eine Berufung, in die Feenkinder schon im jungen Alter eingeweiht wurden. Jeder ging dieser persönlichen Aufgabe gewissenhaft nach. Da Dylan seine Magie abgetreten hatte, konnte er auch seine Berufung nicht mehr ausleben. Das hinterließ manchmal ein Vakuum in seinem Kopf, dort, wo er früher den Blitz gespürt hatte, den er in eine Eiche lenkte, jedes Mal, wenn er mit seiner Kraft als Dealan einem Wesen zur Wiedergeburt verhalf. Hätte er seinen Job so getreu ausgeführt wie O'Cadhla und nicht versucht, eine Menschenseele zu reinkarnieren, dann wäre das alles hier nicht passiert.
Er schüttelte den Gedanken an seine Berufung ab. Jetzt war es seine Aufgabe, Alice zu retten, auch wenn er sich diese Bestimmung selber zugeschrieben hatte. So etwas lag gar nicht in der Natur der Feen. Aber er hatte Fehler begangen und musste jetzt mit den Konsequenzen umgehen. Obwohl seine Loyalität und sein Gehorsam bei seinem Volk liegen sollten, fühlte er sich verantwortlich für die Menschen, deren Leben er in Gefahr gebracht hatte. Und das zog immer größere Kreise. Auch Bridget konnte jetzt dazugehören.
»Bridget, es kann sein, dass du dich jetzt auch in Gefahr befindest. Tu auf jeden Fall weiterhin mit O'Cadhla so, als ob nichts passiert wäre und als ob du von nichts weißt. Dein Leben könnte davon abhängen.«
Bridget starrte ihn verängstigt an. Das Mädchen mit den lustigen blonden Locken hatte sonst immer einen frechen Spruch auf den Lippen, aber heute war davon nichts mehr zu spüren. Sie war ganz offensichtlich sehr beunruhigt – zu Recht.
»Aber ich habe vorgestern mit ihm Schluss gemacht. Glaubst du, das hat etwas damit zu tun? O Gott, er hat zu mir gesagt, dass ich das unheimlich bereuen werde. Ist es meine Schuld, dass Alice verschwunden ist?«
»Nein, Bridget, nein«, beschwichtigte Dylan sie. »Es ist allein meine Schuld. Mach dir keine Sorgen darüber, sag einfach niemandem etwas, dann passiert dir bestimmt nichts.«
»Ich mache mir hauptsächlich Sorgen, wie wir Alice wieder zurückkriegen.«
»Ich auch. Aber ich habe schon ein paar Ideen, wo ich anfangen kann. Wie seid ihr mit Alices Vater verblieben?«
»Er will die Polizei anrufen. Aber wir konnten ihn überreden, bis morgen zu warten. Er kommt nämlich morgen früh hier her.«
»Wir müssen versuchen, ihn davon abzuhalten, die Polizei zu verständigen«, sagte Dylan in dringendem Tonfall. »Je mehr Aufmerksamkeit ihr Verschwinden erregt, desto schlechter stehen die Chancen, dass Alice je zurückkehren darf.«
»Aber wie wollen wir das anstellen?«, fragte Bridget verzweifelt. »Seine Tochter ist spurlos verschwunden. Ist doch klar, dass er alle Hebel in Bewegung setzt und die Polizei kontaktiert.«
Dylan seufzte. »Uns fällt schon etwas ein.«
Für eine Weile sagten sie nichts. Wie gelähmt stand Dylan auf der Brücke und schaute dem fließenden Wasser hinterher, das in dieselbe Richtung floss, immer und immer wieder in seinen seit Tausenden von Jahren festgelegten Bahnen.
»Dylan?« Bridgets Stimme klang brüchig. »Wo ist Alice? Kannst du sie zurückholen?«
»Ich glaube, sie ist in der Anderswelt. Aber ich kann sie nicht holen.« Seine Kehle schnürte sich zu. »Ich komme dort nicht mehr hin.«
Kurz vor acht Uhr am nächsten Morgen eilte Dylan über die nasse Rasenfläche zum Arts Building auf dem Trinity College Gelände. Um die Uhrzeit war auf dem sonst so betriebsamen Campus noch wenig los. Dylan hatte den Kragen seines Mantels hochgestellt und den Kopf eingezogen, um zu vermeiden, dass ihm der prasselnde Regen den Nacken runterlief. Aber er war sowieso schon platschnass. Gegen halb zwei Uhr nachts, als er vor Padraig O'Cadhlas verschlossener Tür stand, hatte es angefangen zu nieseln. Trotz wiederholtem Klingeln und Klopfen machte keiner auf und in der Wohnung ging auch kein Licht an. Da er daraus schloss, dass O'Cadhla wirklich nicht zu Hause war, wartete er vor dessen Wohnung, um ihn abzupassen. Aber sein Seminarleiter und »Bewacher« war nicht aufgetaucht.
O'Cadhla hatte zwar auch ein Büro im Arts Building, aber Dylan bezweifelte sehr, dass er ihn dort antreffen würde. Trotzdem wollte er dort als Erstes vorbeischauen. Als er zum Arts Building kam, schloss der Hausmeister gerade die Tür auf. Das hieß, es konnte eigentlich noch keiner da sein, es sei denn, jemand hatte beim Hausmeister geklingelt. Dennoch hielt er an seinem ursprünglichen Vorhaben fest und ging in den fünften Stock zu O'Cadhlas Büro. Die Tür war verschlossen.
Als Nächstes versuchte er es bei Dr. Brennans Büro. Es war Sonntag und Study Week, aber die junge Doktorin war momentan seine einzige Hoffnung. Alice hatte sich der Expertin für keltische Ikonografie anvertraut und lag Dylan jetzt schon seit Tagen in den Ohren, sich von Claire Brennan helfen zu lassen. Alice war der Meinung, dass moderne Druidinnen, zu denen Dr. Brennan Kontakt hatte, Dylan dabei helfen könnten, in die Anderswelt zu gelangen. Ihr Plan war es gewesen, dem Ältestenrat zu erzählen, dass Maggie für Ciaras Tod verantwortlich gewesen war. Da es Feen heutzutage nicht mehr erlaubt war, Menschen einfach so umzubringen, war das eigentlich eine Straftat, die geahndet werden müsste.
Die Wut kochte in ihm hoch, als er daran dachte, wie Maggie Ciara in den vermeintlichen Freitod manipuliert hatte. Er beruhigte sich schnell wieder, bevor er seinen Emotionen freien Lauf ließ – mit Hilfe einer Atemtechnik, die er in den letzten Jahren gelernt hatte anzuwenden. Wenn er die Schmerzen in seiner Brust zuließ, konnte er nicht klar denken. Er musste unbedingt Ruhe bewahren. Dennoch gab er zu, dass er liebend gerne erleben würde, wie Maggie für Alices Tod bezahlen musste. Aber er hatte eine Ahnung, dass das nicht passieren würde. Deswegen war er Alices Plan gegenüber immer skeptisch gewesen. Ja, wenn sie handeln wollten, dann war es die einzige Möglichkeit. Aber in Anbetracht der Tatsache, dass Maggie Morrigans Schwester war, der Königin der Sidhe, wagte er zu bezweifeln, dass man sie hart ins Gericht nehmen würde.
Im zweiten Stock suchte er nach der Zimmernummer, die Alice ihm schon mitgeteilt hatte. Als er Dr. Brennans Büro fand, musste er zu seiner Überraschung feststellen, dass die Tür einen Spalt breit offen stand.
»Dr. Brennan?«, sagte er vorsichtig.
Als niemand antwortete, machte er die Tür langsam auf. Sie knarzte. Dr. Brennans Büro lag im Halbdunkel des regnerischen Morgens. Alice hatte ihm erzählt, dass die junge Doktorin unzählige Bücher in ihren Regalen stehen hatte – unter anderem auch über Druiden. Doch jetzt waren die Regale alle leer. Überhaupt war das Zimmer komplett ausgeräumt worden. Sogar im Papierkorb neben der Tür lag nichts. Neben den vielen leeren Regalen befanden sich noch ein gelber Plüschsessel und ein Stuhl im Büro. Vor dem Schreibtisch stand ein Bürostuhl. Dylan stutzte.
Da, auf dem Schreibtisch, da lag noch etwas. Im Dämmerlicht war es schwer zu erkennen.
Dylan ging darauf zu. Er nahm den Gegenstand in die Hand. Er passte genau in seine Handfläche und war angenehm glatt. Man hätte ihn vielleicht für einen Handschmeichler halten können.
Aber Dylan wusste sofort, was es war. Ein Druidenei.
Das Ei war ein Talisman für Druiden, ein mystisches Objekt, das auch für Meditation und Magie benutzt wurde. Es symbolisierte Erneuerung und Wiedergeburt.
Dylan ließ es von einer Hand in die andere gleiten und starrte nachdenklich aus dem Fenster. Wenn das hier Dr. Brennans Druidenei war, dann würde das mit größter Wahrscheinlichkeit bedeuten, dass auch sie eine moderne Druidin war. Das hatte Dr. Brennan Alice aber nie so dargestellt. Sie hatte immer von »Bekannten« gesprochen, von Kontakten in einem Zirkel moderner Hexen, die sie zu Rate zog.
Dass ihr Büro jetzt ausgeräumt war, verhieß nichts Gutes. Wahrscheinlich würde sie hier nicht noch einmal auftauchen. Doch warum das Ei zurücklassen? Als clevere Nachricht, mit der sie sich als Druidin outete, die Alice in ihr Vertrauen gezogen und schließlich verraten hatte?
Solch hämische, heimtückische Art mochte so gar nicht zu dem Bild passen, dass er sich von Claire Brennan gemacht hatte. Aber die Möglichkeit lag nahe, dass sie Alice bei den Sidhe verraten hatte. Jemand musste es schließlich getan haben.
»Nein, das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen«, schüttelte Professor O'Tool vehement den Kopf. »Ich hätte für Claire meine Hand ins Feuer gelegt. Ich kenne sie schon lange. Dass sie Alice und im weitesten Sinne mich so hintergehen würde, kann ich mir einfach nicht vorstellen.«
Dylan saß bei der Familie O'Tool in der Küche. Vera war auch da und kochte gerade eine Kanne Kaffee. Sie warteten darauf, dass Bridget wiederkam, die Alices Vater, Frank Lohmann, vom Flughafen abholte. Es war das erste Mal, dass Dylan Bridgets Eltern traf und fand beide auf Anhieb sympathisch. Ob sich das umgekehrt auch so verhielt, bezweifelte er allerdings. Natürlich wusste er, wie vorbehaltlos ihre Gastfamilie Alice unterstützt hatte und ein Grund dafür war, dass Alice sich in Irland so zu Hause fühlte. Vera und Seamus O'Tool wussten über Ciara Bescheid und hatten vor Beginn des Semesters Alice dabei geholfen, in Roundstone, Connemara, mehr über Ciara herauszufinden. Doch über Dylan hatte Alice ihnen gegenüber kein Wort verloren. Bridget hatte ihren Eltern erst alles erzählt, nachdem Alice verschwunden war. Natürlich machten sich die O'Tools große Sorgen und waren Dylan verständlicherweise zuerst sehr verhalten begegnet. Schließlich war es auch seine Schuld, dass Alice verschwunden war, erinnerte er sich bitter.
»Ich bin nicht glücklich darüber, dass Alice hinter unserem Rücken nachts aus dem Haus ist, um sich mit dir zu treffen«, hatte Vera als Erstes gesagt, nachdem Bridget sich verabschiedet und auf den Weg zum Flughafen gemacht hatte. Ernst fuhr sie fort: »Als sie in Connemara nachts im Gewitter und Regen draußen herumgelaufen war – dir hinterhergelaufen war, wie wir kürzlich erfahren haben – da hat sie uns versprochen, dass so etwas nicht noch einmal vorkommt. Wir haben ihre Eltern nicht angerufen, weil wir ihr vertrauen wollten. Ich fühle mich ehrlich gesagt hintergangen. Es ist ihre Privatsache, warum sie sich mit dir trifft, aber nachts in Dublin herumzuirren, ohne dass wir davon wissen, ist nicht in Ordnung. Wir sind hier verantwortlich für sie.«
Daraufhin hatte Dylan von dem Brückenzauber und von der Notwendigkeit berichtet, dass ihre Treffen geheim blieben. Er entschuldigte sich immer wieder, wohl wissend, dass das nichts an der Situation änderte. Die O'Tools würden sich trotzdem Alices Eltern gegenüber schuldig fühlen, dass deren Tochter in ihrer Obhut etwas zugestoßen war. Nach einem längeren ernsten Gespräch schienen sich Vera und der Prof davon überzeugt zu haben, dass Dylan wirklich um Alices Wohl besorgt war und alles daran setzen würde, sie zu retten.
Schließlich war Dylan in seiner Berichterstattung bei seinem Besuch in Dr. Brennans Büro angekommen. Er musste es dreimal genau erklären, was es mit dem Druidenei auf sich hatte, und trotzdem blieb Professor O'Tool standhaft bei seiner Meinung.
»Ich hatte keine Ahnung, dass Claire Druidin ist, aber möglich ist es natürlich, besonders wenn man ihr Forschungsgebiet in Betracht zieht. Es fällt in ihren Interessenbereich. Aber ich weigere mich, zu glauben, dass sie Alice mutwillig und mit bösen Absichten etwas angetan hat. Ihr Vater war selber Linguistik-Professor am Trinity College und eine Art Mentor für mich. Er war mein Doktorvater und ich war öfter bei den Brennans zu Hause eingeladen. Ich kenne Claire schon lange. Leider ist ihr Vater nicht mehr am Leben. Ihre Mutter wohnt in Frankreich. Sie ist leider nicht allzu guter Gesundheit und ich möchte sie nicht beunruhigen. Sonst hätte ich sie nämlich schon längst kontaktiert. Und wie in Alices Fall sollten wir eigentlich die Polizei verständigen, wenn Claire Brennan tatsächlich verschwunden ist.«
Wiederholt hatte der Prof während des Gesprächs versucht, Dr. Brennan telefonisch zu erreichen – ohne Erfolg. Die O'Tools und Dylan einigten sich darauf, dass Vera und der Professor bei Claire zu Haus vorbeischauen würden, während sich Dylan mit Alices Vater unterhielt.
»Dieses Ei alleine verrät schließlich gar nichts«, gab Seamus O'Tool zu bedenken. »Nur weil es in ihrem Büro gelegen hat …«
»Ein Ei im Büro?«, unterbrach ihn Bridget, die gerade in die Küche kam. Ihr folgte Alices Vater, der sehr müde aussah. »Wie bei Padraig?«
Dylan schaute sie entgeistert an. Unterdessen gaben sich die O'Tools und Frank Lohmann die Hand. Dylan wusste von Alice, dass Alices Vater bei ihrer letzten Begegnung im Sommer einen einigermaßen vergnüglichen Urlaub mit seiner Familie hier in Dublin verlebt hatte. Er war hoffnungsvoll gewesen, dass sich mit Alice doch noch alles zum Guten wenden würde. Seitdem hatte sich vieles geändert und Frank Lohmann hatte seine Hoffnungen wohl begraben müssen. Vielleicht gab er den O'Tools ein wenig die Schuld daran, wie sich das Verhältnis zu seiner Tochter entwickelt hatte. Zumindest fiel die Begrüßung kühl aus.
Eigentlich hatte sich Dylan fest vorgenommen, einen guten Eindruck auf Herrn Lohmann zu machen. Er musste ihm schließlich gestehen, dass er in seine Tochter verliebt war. Außerdem musste er ihn davon überzeugen, dass es in Alices bestem Interesse war, wenn die Behörden nicht eingeschaltet wurden, sondern Alices Rettung allein in seiner Verantwortung blieb. Doch jetzt konnte er Alices Vater nur zerstreut die Hand schütteln, weil Bridgets Kommentar ihn aus dem Gleichgewicht gebracht hatte. Frank Lohmann zog die Augenbrauen hoch, als Dylan sich sofort an Bridget wandte. »Was hast du gesagt? Padraig O'Cadhla hat ein Druidenei im Büro gehabt?«
Bridget sah verwirrt aus. »Von einem Druidenei weiß ich nichts. Aber er hatte einen Gegenstand, der aussah wie ein Ei, aber aus Gips oder Stein … auf dem Schreibtisch.«
Auf Dylans Stirn bildete sich eine Furche und er sagte erst einmal gar nichts. Die O'Tools und Herr Lohmann schauten sich ratlos an. »Was hat das zu bedeuten«, fragte Bridget schließlich ungeduldig.
»Bei O'Cadhla hat ein Druidenei eigentlich nichts verloren. Er ist ein Garda, ein Bewacher. Das ist in der Welt der Feen so etwas wie eine Art Schutzmann. Er hat mehr Kraft als andere und seine magischen Fähigkeiten beschränken sich auf eine erhöhte Beobachtungsgabe und einen ausgezeichneten Jagdinstinkt. Wenn er den Duft von jemandem aufnimmt, kann er ihn bis ans Ende der Welt verfolgen. Aber das hat nichts mit Mystik und Meditation zu tun, mit druidischer Magie, für die das Druidenei verwendet wird. Ich kann mir keinen Reim drauf machen.«
Alices Vater räusperte sich. »Kann mir endlich mal jemand sagen, was hier vor sich geht? Habe ich das richtig verstanden – Feen und Druiden?« Seine Stimme wurde lauter. »Und wo zum Teufel ist meine Tochter?«
Alle schauten sich betreten an. »Bitte setzen Sie sich doch, Herr Lohmann«, bat Vera ihn und schenkte ihm eine Tasse Kaffee ein. »Es ist wohl besser, wenn wir erst mal hierbleiben, um zu bezeugen, dass Dylan die Wahrheit sagt, auch wenn sich seine Geschichte unglaublich anhört.«
Dylan erzählte Alices Vater von Ciaras Wiedergeburt und wie es dazu gekommen war. Er sprach langsam und deutlich, weil er nicht wusste, wie gut der deutsche Mann Englisch verstand.
Herr Lohmann saß mit offenem Mund da, während sein Kaffee kalt wurde. Alice hatte Dylan erzählt, wie sich besonders ihr Vater dagegen sperrte, dass »esoterischer Humbug« die Ursache für Alices »Krankheit« sein konnte, wie er sich ausdrückte. Er hatte nach einer rationalen, wissenschaftlichen Erklärung dafür gesucht, dass seine Tochter auf einmal Irisch sprach und sich wie eine Fremde aufführte. Schon gegen die Wiedergeburtstheorie hatte er sich gesperrt. Die Nachricht, dass das alles mit Feen zu tun haben sollte, die in einer Parallelwelt zu seiner lebten, schien er nicht gut aufzunehmen. Er rieb sich mit der Hand über das Gesicht.
»Was willst du mir erzählen? Dass du so ein Sidhe bist? Und das soll ich dir glauben?« Sein Blick wanderte von einem Gesicht zum anderen. »Habt ihr alle was eingeworfen, oder was? Seid ihr plemplem?« Frank Lohmann schrie jetzt fast. »Ich werde jetzt sofort die Polizei verständigen!«
»Herr Lohmann, jetzt warten Sie doch mal«, versuchte Dylan ihn zu beruhigen. Doch Alices Vater war schon aufgesprungen und hatte sein Handy gezückt. Abwehrend hielt er die Hand hoch. »Ich will nichts mehr hören!«
»Ich kann es Ihnen beweisen, Herr Lohmann, denken Sie doch mal nach«, rief Dylan verzweifelt. »Wir haben uns schon mal gesehen.«
Frank Lohmann hielt in seiner Bewegung inne und schaute ihn mit schmalen Augen an. »Wie bitte?«
»Denken Sie nach … es ist schon einige Jahre her. Achtzehn Jahre, um genau zu sein. Bei Alices Geburt.«
Jetzt weiteten sich Herr Lohmanns Augen und er ließ sich langsam wieder auf den Stuhl sinken. »Was? … Aber das kann doch gar nicht sein! Du sahst … du sahst genauso … «
»Genauso aus wie heute?«, beendete Dylan den Satz erleichtert. »Ja. Denn ich bin keine achtzehn Jahre gealtert wie ein Mensch. Weil ich eben Sidhe bin.«
Alices Vater sagte erst mal gar nichts. Dafür schaltete sich Bridget ein. »Wie, ihr habt euch bei Alices Geburt getroffen?«
»Als Alice geboren ist, habe ich einen Blitz in die Eiche geleitet, die vor dem Krankenhaus stand«, erklärte Dylan. »So ist Ciara in ihr wiedergeboren. Herr Lohmann ist später nach draußen gekommen, um sich die zerstörte Eiche anzuschauen, wie viele andere auch.«
Herr Lohmann schluckte. »Und da haben wir uns unterhalten«, sagte er tonlos. »Über den Namen meiner gerade eben geborenen Tochter. Dylan hat mir den Namen Alice vorgeschlagen und er hat sich mir in den Kopf gesetzt. So ist Alice zu ihrem Namen gekommen.«
»Moment mal«, schüttelte Vera verwirrt den Kopf. »Wieso war es dir so wichtig, dass sie Alice heißen soll, Dylan?«
»Ich weiß es«, rief der Professor aufgeregt. »Es hat mit der Baummagie zu tun, nicht wahr? Wie beim Ogham?« Dylan nickte.
»Ogham … das waren doch die komischen Zeichen auf dem Hexenbeutel, den wir in unserem Cottage in Roundstone gefunden haben? Mit dem Maggie Alice mit einem Schadzauber belegen wollte?«, fragte Bridget stirnrunzelnd.
Der Professor nickte. »Ich habe doch Claire Brennan den Beutel gegeben, damit sie uns sagen kann, was es damit auf sich hat. Bei dem ersten Gespräch zwischen Alice und Dr. Brennan war ich dabei. Claire hat erklärt, was die Ogham-Zeichen auf dem Beutel bedeuten. Sie buchstabieren das Wort CIAR, wovon der Name Ciara abgeleitet ist. Das ist Irisch und heißt schwarz oder dunkel. Im Ogham korrespondieren die Buchstaben mit einem Baumalphabet. C steht für coll, das heißt Haselnuss, I für idad, die Eibe, A für ailm, Kiefer, und R für ruis, Holunder. Die Bäume haben alle eine bestimmte Bedeutung.«
Bridget zog die Augenbrauen hoch. »Und was hat das jetzt mit Alice zu tun?«
»Der Stamm des Namens hat ein paar der gleichen Buchstaben, wie der Stamm des Namens Alice«, erklärte Professor O'Tool. »Aber ein signifikanter Buchstabe ist anders.«
Dylan nickte. »L. Alices Name hat den Buchstaben L, für luis, die Eberesche mit den roten Vogelbeeren.«
»Warum?«, drängte Bridget ungeduldig.
»Es war als eine Art Schutz für sie gedacht.« Dylan war sich unsicher, wieviel er verraten sollte. Aber die Menschen in diesem Raum wussten sowieso schon zu viel. »Das Holz der Eberesche gilt als Schutz vor Feen. Hat man das Holz bei sich, zum Beispiel in Form eines Gehstocks, wenn man über einen Feenhügel oder ein anderes Portal in die Anderswelt spaziert, dann können Feen einen nicht in die andere Welt hinüberziehen.« Er zuckte mit den Schultern. »Ich nehme an, dass es etwas damit zu tun hat. Ich wollte Alice schützen und bin zu einem sehr alten, zauberkundigen Druiden namens Mog Ruith gegangen, der mir den Namen genannt hat.«
Frank Lohmann seufzte. »Okay. Druiden. Feen. Anderswelt. Okay.« Er holte tief Luft. »Und da soll meine Tochter jetzt sein? In dieser Anderswelt?« Er sah Dylan verzweifelt an.
Dylan nickte. »Wir gehen von der Annahme aus, dass man sie dorthin gebracht hat, weil sie zu viele Erinnerungen hatte und zu viel über die Sidhe weiß. Wahrscheinlich wurde sie zum Ältestenrat gebracht, der jetzt über ihr Schicksal entscheidet.«
Alices Vater rieb sich das Gesicht. Als er die Hand sinken ließ, hatte er Tränen in den Augen. Er schüttelte unwirsch den Kopf. »Ich hätte das alles nicht erlauben sollen. Meine Frau habe ich sowieso schon verloren. Anne hat mich doch verlassen. Ich hätte eine strenge Hand walten lassen sollen, darauf beharren, dass Alice mit dem ganzen Irischkram abschließt, nachdem sie wieder Deutsch konnte. Ich hätte darauf bestehen sollen, dass sie die Pläne verfolgt, die sie vor dem Koma hatte, und in Deutschland studiert. Dann wäre das alles nicht passiert.«
Dylan schaute hilflos zu den O'Tools rüber. »Alice ist ein achtzehnjähriges Mädchen, Frank«, sagte Vera nun vorsichtig. »Sie hat ihren eigenen Kopf und sie hätte wahrscheinlich früher oder später das gemacht, was sie für richtig hielt, mit oder ohne deinen Segen. Meinst du wirklich, mit mehr Strenge hättest du das hier aufhalten können?«
Die Tränen liefen nun über Frank Lohmanns Gesicht. »Ich weiß es nicht«, flüsterte er. »Ich weiß gar nichts mehr.«
Vera stupste den Professor an. »Wir werden uns jetzt auf die Suche nach Claire Brennan machen, der Doktorin für keltische Ikonografie, der sich Alice anvertraut hat. Sie ist ebenfalls verschwunden, soweit wir wissen. Dylan wird dir alles Weitere erklären.«
Vera stand auf und stellte ihre Tassen in die Spüle. Der Professor zögerte noch. »Ich weiß, dass du meinst, du hättest besser auf deine Tochter aufpassen können als wir und dass du glaubst, in deiner Obhut wäre das nicht passiert. Es tut uns leid und wir geben uns die Schuld dafür, dass Alice so etwas passieren konnte. Ich kann das wirklich sehr gut nachvollziehen, denn wenn Bridget an ihrer Stelle wäre, würde ich mich genauso fühlen. Aber ich glaube wirklich, dass Alice eine mutige, verantwortungsbewusste junge Frau ist, die den Weg gegangen ist, den sie für richtig hielt – und dass sie das sowieso gemacht hätte, egal in welcher Familie. Ich glaube, es ist falsch, sie wie ein Kind zu behandeln. Aber sie ist deine Tochter. Ich respektiere, dass du zusammen mit Dylan eine Entscheidung triffst, wie wir weiter vorgehen wollen.«
Alices Vater nickte stumm. Nachdem Vera, der Prof und Bridget gegangen waren, war es erst einmal ein paar Minuten still in der Küche. Dann fing Dylan vorsichtig an, mehr über Alices Situation und die Welt der Sidhe zu erzählen.
»Und was ist, wenn diese Maggie Alice das Gleiche angetan hat wie Ciara?«, stellte Frank Lohmann schließlich die Vermutung auf.
Dylan schüttelte den Kopf. »Nein, das glaube ich nicht. Alice ist anders als Ciara. Sie ist außergewöhnlich stark. Sie würde sich nicht von Maggie zu etwas überreden lassen, das den sicheren Tod für sie bedeutet.«
»So wie du die Frau beschrieben hast, traue ich der alles zu.«
Dylan überlegte, ob er Alices Vater verraten sollte, dass Feen Menschen nicht umbringen konnten. Er entschied sich dagegen. Denn es gab unzählige Möglichkeiten für Maggie, Alice indirekt umzubringen, wenn sie sich das trauen würde. Anscheinend waren ihr die Konsequenzen ihrer Taten egal. Aber er schüttelte den Gedanken daran ab. Er war zu schmerzhaft, fühlte sich an wie tausend Dolche in seiner Brust. Dylan reckte das Kinn. »Alice lebt noch, das kann ich spüren, Herr Lohmann«, rief er.
Alices Vater stand auf und ging in der Küche auf und ab. »Ich weiß überhaupt nicht, was ich machen soll. Ich will nicht glauben, was ich hier höre, aber ich kann mich wohl nicht dagegen sperren. Mein erster Instinkt war es natürlich, dich und die O'Tools allesamt in die Klapsmühle einliefern zu lassen.« Er seufzte und starrte aus dem Küchenfenster. »Aber mittlerweile bin ich bereit, an alles zu glauben, solange mir das meine Familie wieder zurückbringt.«
»Dann rufen Sie nicht die Polizei. Bitte, Herr Lohmann, die Konsequenzen wären fatal. Ich würde ihr dann nicht mehr helfen können. Und ich bin bereit, alles zu tun, um Alice zu retten«, fügte er mit fester Stimme hinzu.