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Bereits Ende der Zwanziger Jahre kam Erich Fromm mit den Forschungen von Johann Jakob Bachofen zu mutterrechtlich organisierten Gesellschaften in Berührung. Bachofen zeigte, dass der bis in unsere Zeit gültigen Vorherrschaft des Mannes eine ganz andere Art des Zusammenlebens vorausging. In mutterrechtlich organisierten Gesellschaften geht es nicht um Dominanzgehabe und Rivalität, sondern um mütterliche Qualitäten, um Fürsorge, Gleichberechtigung, Liebe und bedingungslosen Schutz für alle. Die Erkenntnisse Bachofens prägte das Denken Fromms nachhaltig: Sowohl seine Vorstellungen eines humanistischen Sozialismus oder einer am „Sein“ orientierten Gesellschaft, als auch seine patriarchatskritischen Positionen in der Genderfrage sind von Bachofen geprägt. Der vorliegende Beitrag ‚Bachofens Entdeckung des Mutterrechts‘ ist Mitte der Fünfziger Jahre entstanden und stellt eine ausgezeichnete Zusammenfassung der Rezeption Bachofens durch Fromm dar.
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Seitenzahl: 32
(Bachofen’s Discovery of the Mother Right)
Erich Fromm(1994b [1955])
Als E-Book herausgegeben und kommentiert von Rainer FunkAus dem Amerikanischen übersetzt von Rainer Funk.
Anmerkung des Herausgebers: Unter dem Titel Bachofens Entdeckung des Mutterrechts erschien dieser Beitrag aus dem Jahr 1955 erstmals 1994 in deutscher Sprache in dem Band Liebe, Sexualität und Matriarchat. Beiträge zur Geschlechterfrage im Deutschen Taschenbuch Verlag in München. Diese Fassung fand, leicht überarbeitet, Aufnahme in die Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag) 1999, Band XI, S. 177-187. – Das englische Originalmanuskript trägt den Titel Bachofen’s Significance for Today und wurde erstmals 1997 unter dem Titel Bachofen’sDiscovery of the Mother Right in den von R. Funk herausgegebenen Sammelband Love, Sexuality, and Matriarchy beim Verlag Fromm International Publishing Corporation in New York, S. 3-18, veröffentlicht.
Die E-Book-Ausgabe orientiert sich an der von Rainer Funk herausgegebenen und kommentierten Textfassung der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag) 1999, GA XI, S. 177-187.
Die Zahlen in [eckigen Klammern] geben die Seitenwechsel in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden wieder.
Copyright © 1994 by The Estate of Erich Fromm; Copyright © als E-Book 2015 by The Estate of Erich Fromm. Copyright © Edition Erich Fromm 2015 by Rainer Funk.
Auch wenn Johann Jakob Bachofen (1815-1887) heute nur vergleichsweise wenigen Fachleuten bekannt ist, so ist er doch beileibe kein in Vergessenheit geratener Autor.[1] Er war nie sehr bekannt oder gar berühmt, auch damals nicht, als seine Bücher erschienen, oder kurz nach seinem Tod. In den letzten Jahren seines Lebens fand sein Werk bei einigen Anthropologen, etwa bei Adolf Bastian oder bei Lewis H. Morgan, Bewunderung und Anerkennung. Auch Friedrich Engels wurde – wie auch Karl Marx – stark von Bachofens Werk beeinflusst. Es vergingen viele Jahre, in denen Bachofen fast vollständig ignoriert wurde, bis in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg eine kleine Gruppe von deutschen Intellektuellen, die von der Romantik beseelt waren, damit begann, Bachofen zu lesen und seinen Namen – wenn auch nur in kleinen Zirkeln – bekannt zu machen. Erst in letzter Zeit lässt sich erneut ein wachsendes Interesse an Bachofen beobachten, und zwar nicht nur in Deutschland und in der Schweiz, sondern auch in der Englisch und Spanisch sprechenden Welt.
Das eigenartige Schicksal, das Bachofens Werk erfuhr, fällt noch mehr auf, wenn wir es mit dem Werk eines anderen Genies vergleichen, mit Sigmund Freud, der eine Generation später an Fragestellungen arbeitete, die mit denen Bachofens innerlich verwandt sind. Wie unterschiedlich ist doch das Schicksal, das ihre Werke erfuhren. Freud wird ein weltbekannter Denker, seine Ideen und Begriffe gehen in die Alltagssprache über, seine Bücher werden in alle Sprachen übersetzt, seine Ideen an zahlreichen Einrichtungen gelehrt. Auf der anderen Seite Bachofen: Er bleibt einer größeren Öffentlichkeit unbekannt, er wird nur von wenigen bewundert, von den meisten Wissenschaftlern aber lächerlich gemacht. Der Kontrast sticht noch mehr ins Auge, wenn man bedenkt, dass Bachofen manchmal Freuds Ideen vorwegnahm und manchmal auf die gleichen Fragen viel tiefgründigere Antworten gab.
Im allgemeinen wird Bachofens Entdeckung des Mutterrechts als seine bedeutendste angesehen. Auf Grund seiner Erforschung der römischen, griechischen und ägyptischen Mythen und Symbole kam er zu der Erkenntnis, dass die patriarchale Struktur der Gesellschaft, wie sie für die gesamte Geschichte der zivilisierten Welt typisch ist, relativ neuen Datums ist. Ihr sei eine Kultur vorausgegangen, in der die Mutter das Haupt der Familie war, die Führung der Gesellschaft wahrnahm und die Große [XI-178]