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Zu der kurzen Frage „Haben oder Sein?“ entwickelt Erich Fromm in diesem Buch eine tiefgründige Gesellschaftsanalyse, in der er zwei grundsätzliche Existenzformen herausarbeitet: die egoistisch-gewinnorientierte des Besitzens und Verfügens über Dinge und Menschen (Haben) und die altruistisch-solidarische des gebenden Erlebens (Sein). Fromm zeigt, dass unser gegenwärtiges Gesellschafts- und Wirtschaftssystem durch Egoismus, Selbstsucht und Habgier bestimmt ist und unweigerlich zerstörerische Folgen für Mensch und Natur mit sich bringt. Im zweiten Teil des Buches vermittelt er dem Leser durch viele Beispielen Ideen, wie er sich vom „Haben“ in Richtung „Sein“ und damit hin zu einem neuen Menschen entwickeln kann. Im dritten Teil von „Haben oder Sein“ beschreibt Fromm die Voraussetzungen für einen fundamentalen Wandel in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft, um die gegenwärtigen Krise zu überwinden und von einer Orientierung am Haben zu einer am Sein zu gelangen. Aus dem Inhalt: Erster Teil: Zum Verständnis des Unterschieds zwischen Haben und Sein • Auf den ersten Blick • Haben und Sein in der alltäglichen Erfahrung • Haben und Sein im Alten und Neuen Testament und in den Schriften Meister Eckharts Zweiter Teil: Analyse der grundlegenden Unterschiede zwischen den beiden Existenzweisen • Die Existenzweise des Habens • Die Existenzweise des Seins • Weitere Aspekte von Haben und Sein Dritter Teil: Der neue Mensch und die neue Gesellschaft • Religion, Charakter und Gesellschaft • Voraussetzungen für den Wandel des Menschen und Wesensmerkmale des neuen Menschen • Wesensmerkmale der neuen Gesellschaft
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Seitenzahl: 363
(To Have Or to Be?)
Erich Fromm (1976a)
Als E-Book herausgegeben und kommentiert von Rainer Funk Übersetzung aus dem Amerikanischen von Brigitte Stein überarbeitet von Rainer Funk
Erstveröffentlichung unter dem Titel To Have Or to Be? im Jahre 1976 bei Harper and Row, Publishers, New York, als Band 50 der World Perspectives, geplant und herausgegeben von Ruth Nanda Anshen. Herausgeberkomitee: Erwin Chargaff, Lord Kenneth Clark, Sir Fred Hoyle, Adolph Lowe, Joseph Needham, I. I. Rabi, Karl Rahner, S.J., Lewis Thomas, C. N. Yang und Chiang Yee. Eine erste, von Erich Fromm durchgesehene deutsche Übersetzung von Brigitte Stein erschien unter dem Titel: Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft bereits im Herbst 1976 bei der Deutschen Verlags-Anstalt in Stuttgart. Diese Übersetzung erfuhr durch Rainer Funk und in Absprache mit Erich Fromm eine starke Überarbeitung, die mit der 11. gebundenen Auflage 1979 auf den Markt kam und Eingang in Band II der Erich Fromm Gesamtausgabe von 1980/81 fand. Die überarbeitete Übersetzung wurde auch in der Taschenbuchausgabe beim Deutschen Taschenbuch Verlag benutzt. Von dieser Taschenbuchversion wurden bis Oktober 1991 bereits eine Million Exemplare verkauft.
Die E-Book-Ausgabe orientiert sich an der von Rainer Funk herausgegebenen und kommentierten Textfassung der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag) 1999, Band II, S. 269-414.
Die Zahlen in eckigen Klammern (zum Beispiel: [II-402]) geben den Band und den Seitenwechsel auf die betreffende Seite in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden wieder. Auf diese Weise lassen sich auch aus dem E-Book Zitate nach der Printversion nachweisen.
© 1976 Erich Fromm und 1981 The Estate of Erich Fromm;
Vorwort
Einführung: Die grosse Verheissung, das Ausbleiben ihrer Erfüllung und neue Alternativen
Das Ende einer Illusion
Warum hat sich die große Verheißung nicht erfüllt?
Die ökonomische Notwendigkeit menschlicher Veränderung
Gibt es eine Alternative zur Katastrophe?
Erster Teil: Zum Verständnis des Unterschieds zwischen Haben und Sein
1 Auf den ersten Blick
Die Bedeutung des Unterschieds zwischen Haben und Sein
Veränderungen im Sprachgebrauch
Beobachtungen von Du Marsais und Marx
Heutiger Sprachgebrauch
Zur Etymologie der Begriffe
Philosophische Konzepte des Seins
Haben und Konsumieren
2 Haben und Sein in der alltäglichen Erfahrung
Lernen
Erinnern
Miteinander sprechen
Lesen
Autorität ausüben
Wissen
Glauben
Lieben
3 Haben und Sein im Alten und Neuen Testament und in den Schriften Meister Eckharts
Altes Testament
Neues Testament
Meister Eckhart (1260-1327)
Eckharts Begriff des Habens
Eckharts Begriff des Seins
Zweiter Teil: Analyse der grundlegenden Unterschiede zwischen den beiden Existenzweisen
4 Die Existenzweise des Habens
Die gewinnorientierte Gesellschaft – Basis für die Existenzweise des Habens
Das Wesen des Habens
Haben – Gewalt – Rebellion
Weitere Faktoren, die die Existenzweise des Habens fördern
Die Existenzweise des Habens und der anale Charakter
Askese und Gleichheit
Funktionales Haben
5 Die Existenzweise des Seins
Tätigsein
Aktivität und Passivität
Aktivität und Passivität bei einigen großen Meistern des Denkens
Sein als Wirklichkeit
6 Weitere Aspekte von Haben und Sein
Sicherheit – Unsicherheit
Solidarität – Antagonismus
Freude – Vergnügen
Sünde und Vergebung
Angst vor dem Sterben – Bejahung des Lebens
Hier und Jetzt – Vergangenheit und Zukunft
Dritter Teil: Der neue Mensch und die neue Gesellschaft
7 Religion, Charakter und Gesellschaft
Die Grundlagen des Gesellschafts-Charakters
Gesellschafts-Charakter und „religiöse“ Bedürfnisse
Ist die westliche Welt christlich?
Die Religion des Industriezeitalters
Der „Marketing-Charakter“ und die „kybernetische Religion“
Der humanistische Protest
8 Voraussetzungen für den Wandel des Menschen und Wesensmerkmale des neuen Menschen
Der neue Mensch
9 Wesensmerkmale der neuen Gesellschaft
Eine neue Wissenschaft vom Menschen
Literaturverzeichnis
Hinweise zur Übersetzung
Der Autor
Der Herausgeber
Impressum
Der Weg zum Tun ist zu sein.Lao-tse
Die Menschen sollen nicht so viel nachdenken, was sie tun sollen; sie sollen vielmehr bedenken, was sie sind.Meister Eckhart
Je weniger du bist, je weniger du dein Leben äußerst, umso mehr hast du, umso größer ist dein entäußertes Leben.Karl Marx
Dieses Buch setzt zwei Richtungen meiner früheren Schriften fort. Es ist eine Erweiterung meiner Arbeiten auf dem Gebiet der radikal-humanistischen Psychoanalyse und konzentriert sich auf die Analyse von Selbstsucht und Altruismus als zwei grundlegenden Charakterorientierungen. Im letzten Drittel des Buches, in Teil III, führe ich ein Thema weiter aus, mit dem ich mich schon in Wege aus einer kranken Gesellschaft (1955a) und Die Revolution der Hoffnung (1968a) beschäftigt habe: der Krise der heutigen Gesellschaft und der Möglichkeiten, sie zu lösen. Wiederholungen schon früher geäußerter Überlegungen waren unvermeidlich, aber ich hoffe, dass der neue Gesichtspunkt, von dem aus diese kleinere Arbeit geschrieben ist, und der weitere Rahmen auch Lesern Gewinn bringen wird, die mit meinen früheren Schriften vertraut sind.[1]
Der Titel dieses Buches ist fast identisch mit zwei Titeln anderer Werke: mit dem Titel von Gabriel Marcels Buch Sein und Haben (G. Marcel, 1954) und mit dem Titel des Buches von Balthasar Staehelin Haben und Sein (B. Staehelin, 1969). Alle drei Bücher sind aus dem Geist des Humanismus geschrieben, aber der Zugang zum Thema ist jeweils verschieden. Marcels Standpunkt ist ein theologischer und philosophischer; Staehelins Buch ist eine konstruktive Erörterung des Materialismus in der modernen Wissenschaft und ein Beitrag zur Wirklichkeitsanalyse; Thema dieses Buches ist eine empirische, psychologische und gesellschaftliche Analyse der beiden Existenzweisen. Interessierten Lesern empfehle ich die Bücher von Marcel und Staehelin.
Aus dem Wunsch, dieses Buch leicht lesbar zu machen, habe ich Fußnoten auf ein äußerstes Minimum reduziert – sowohl was die Zahl wie die Länge betrifft. Einige Literaturhinweise erscheinen im Text in Klammern, die genauen Angaben stehen in der Bibliographie.[2]
Es bleibt mir nun noch die angenehme Pflicht, denjenigen zu danken, die zum Inhalt und Stil dieses Buches beigetragen haben. Als erstem möchte ich Rainer Funk danken, der mir auf vielen Gebieten eine große Hilfe war: In langen Gesprächen half er mir, komplizierte Fragen der christlichen Theologie besser zu verstehen. Er wurde nicht müde, mich auf theologische Literatur hinzuweisen; er las das Manuskript mehrere Male, und seine ausgezeichneten konstruktiven Vorschläge wie auch seine Kritik [II-272] halfen sehr, das Manuskript zu bereichern und einige Irrtümer zu beseitigen. Sehr zu Dank verpflichtet bin ich [der amerikanischen Lektorin] Marion Odomirok, deren feinfühlige Redaktion das Buch sehr gefördert hat. Mein Dank gilt auch Joan Hughes, die gewissenhaft und geduldig die zahlreichen Versionen des Manuskripts getippt hat und mir viele gute Anregungen gab, was Stil und sprachlichen Ausdruck betrifft. Endlich danke ich Annis Fromm, die das Manuskript in seinen verschiedenen Fassungen gelesen hat, immer mit vielen wertvollen Anregungen und Einsichten.
Was die deutsche Ausgabe betrifft, so danke ich Brigitte Stein für ihre Übersetzung und Ursel Locke, die das Buch als Lektorin betreute.
Die große Verheißung unbegrenzten Fortschritts – die Aussicht auf Unterwerfung der Natur und auf materiellen Überfluss, auf das größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl und auf uneingeschränkte persönliche Freiheit – das war es, was die Hoffnung und den Glauben von Generationen seit Beginn des Industriezeitalters aufrechterhielt. Zwar hatte die menschliche Zivilisation mit der aktiven Beherrschung der Natur durch den Menschen begonnen, aber dieser Herrschaft waren bis zum Beginn des Industriezeitalters Grenzen gesetzt. Von der Ersetzung der menschlichen und tierischen Körperkraft durch mechanische und später nukleare Energie bis zur Ablösung des menschlichen Verstandes durch den Computer bestärkte uns der industrielle Fortschritt in dem Glauben, auf dem Wege zu unbegrenzter Produktion und damit auch zu unbegrenztem Konsum zu sein, durch die Technik allmächtig und durch die Wissenschaft allwissend zu werden. Wir waren im Begriff, Götter zu werden, mächtige Wesen, die eine zweite Welt erschaffen konnten, wobei uns die Natur nur die Bausteine für unsere neue Schöpfung zu liefern brauchte.
Männer und in zunehmendem Maß auch Frauen erlebten ein neues Gefühl der Freiheit. Sie waren Herren ihres eigenen Lebens; die Ketten der Feudalherrschaft waren zerbrochen, sie waren aller Fesseln ledig und konnten tun, was sie wollten. So empfanden sie es wenigstens. Und obwohl dies nur für die Mittel- und Oberschicht galt, verleiteten deren Errungenschaften andere zu dem Glauben, die neue Freiheit werde schließlich allen Mitgliedern der Gesellschaft zugutekommen, wenn die Industrialisierung nur im gleichen Tempo voranschreite. Sozialismus und Kommunismus wandelten sich rasch von einer Bewegung, die eine neue Gesellschaft und einen neuen Menschen anstrebte, zu einer Kraft, die das Ideal eines bürgerlichen Lebens für alle aufrichtete: der universale Bourgeois als Mann und Frau der Zukunft. Leben erst alle in Reichtum und Komfort, dann, so nahm man an, werde jedermann schrankenlos glücklich sein. Diese Trias von unbegrenzter Produktion, absoluter Freiheit und uneingeschränktem Glück bildete den Kern der neuen Fortschrittsreligion, und eine neue irdische Stadt des Fortschritts ersetzte die „Stadt Gottes“. Ist es verwunderlich, [II-274] dass dieser neue Glaube seine Anhänger mit Energie, Vitalität und Hoffnung erfüllte?
Man muss sich die Tragweite dieser großen Verheißung und die phantastischen materiellen und geistigen Leistungen des Industriezeitalters vor Augen halten, um das Trauma zu verstehen, das die beginnende Einsicht in das Ausbleiben ihrer Erfüllung heute auslöst. Denn das Industriezeitalter ist in der Tat nicht imstande gewesen, seine große Verheißung einzulösen, und immer mehr Menschen werden sich folgender Tatsachen bewusst:
dass Glück und größtmögliches Vergnügen nicht aus der uneingeschränkten Befriedigung aller Wünsche resultieren und nicht zu Wohl-Sein (well-being) führen;
dass der Traum, unabhängige Herren über unser Leben zu sein, mit unserer Erkenntnis endete, dass wir alle zu Rädern in der bürokratischen Maschine geworden sind;
dass unsere Gedanken, Gefühle und unser Geschmack durch den Industrie- und Staatsapparat manipuliert werden, der die Massenmedien beherrscht;
dass der wachsende wirtschaftliche Fortschritt auf die reichen Nationen beschränkt blieb und der Abstand zwischen ihnen und den armen Nationen immer größer geworden ist;
dass der technische Fortschritt sowohl ökologische Gefahren als auch die Gefahr eines Atomkrieges mit sich brachte, die jede für sich oder beide zusammen jeglicher Zivilisation und vielleicht sogar jedem Leben ein Ende bereiten können.
Als Albert Schweitzer am 4. 11. 1954 zur Entgegennahme des Friedensnobelpreises nach Oslo kam, forderte er die ganze Welt auf: „Wagen wir die Dinge zu sehen wie sie sind. Es hat sich ereignet, dass der Mensch ein Übermensch geworden ist. (...) Er bringt die übermenschliche Vernünftigkeit, die dem Besitz übermenschlicher Macht entsprechen sollte, nicht auf. (...) Damit wird nun vollends offenbar, was man sich vorher nicht recht eingestehen wollte, dass der Übermensch mit dem Zunehmen seiner Macht zugleich immer mehr zum armseligen Menschen wird. (...) Was uns aber eigentlich zu Bewusstsein kommen sollte und schon lange vorher hätte kommen sollen, ist dies, dass wir als Übermenschen Unmenschen geworden sind.“ (A. Schweitzer, 1966, S. 118-120).
Dass sich die große Verheißung nicht erfüllt hat, liegt neben den systemimmanenten ökonomischen Widersprüchen innerhalb des Industrialismus an den beiden wichtigsten psychologischen Prämissen des Systems selbst, nämlich 1. dass das Ziel des Lebens Glück, d.h. ein Maximum an Lust sei, worunter man die Befriedigung aller Wünsche oder subjektiven Bedürfnisse, die ein Mensch haben kann, versteht (radikaler Hedonismus); 2. dass Egoismus, Selbstsucht und Habgier – Eigenschaften, die das System fördern muss, um existieren zu können – zu Harmonie und Frieden führen. [II-275]
Radikaler Hedonismus wurde bekanntlich in verschiedenen Epochen der Geschichte von den Reichen praktiziert. Wer über unbegrenzte Mittel verfügte, wie beispielsweise die Elite Roms und die der italienischen Städte in der Renaissance sowie die Englands und Frankreichs im 18. und 19. Jahrhundert, der versuchte, seinem Leben durch unbegrenztes Vergnügen einen Sinn zu geben. Doch obwohl dies in bestimmten Kreisen zu bestimmten Zeiten die gängige Praxis war, entsprang sie mit einer Ausnahme nie der Theorie des „Wohl-Seins“, die von den großen Meistern des Lebens in China, Indien, dem Nahen Osten und Europa formuliert worden war.
Die Ausnahme ist der griechische Philosoph Aristipp, ein Schüler des Sokrates (1. Hälfte des 4. Jh. v. Chr.), der lehrte, dass das Ziel des Lebens der Genuss eines Optimums an körperlichen Freuden sei, und dass Glück die Summe des genossenen Vergnügens sei. Das Wenige, was wir über seine Philosophie wissen, verdanken wir Diogenes Laertius, doch es reicht aus, um zu belegen, dass Aristipp der einzige radikale Hedonist war, für den die Existenz eines Verlangens die Basis für das Recht auf seine Befriedigung und damit für die Verwirklichung des Lebenszieles, der Lust, ist.
Epikur kann kaum als Vertreter dieser Art von Hedonismus, wie Aristipp sie vertrat, gesehen werden. Obwohl Epikur die „reine“ Lust als das höchste Ziel ansieht, bedeutet dies für ihn die „Abwesenheit von Schmerz“ (aponia) und „Seelenruhe“ (ataraxia). Laut Epikur kann Vergnügen im Sinne der Befriedigung von Begierden nicht das Ziel des Lebens sein, denn auf solche Lust folge zwangsläufig Unlust, und dadurch entferne sich der Mensch von seinem wahren Ziel, der Abwesenheit von Schmerz. (Epikurs Theorie weist viele Parallelen zu jener Freuds auf.) Dennoch scheint Epikur im Gegensatz zur Position des Aristoteles einen gewissen Subjektivismus vertreten zu haben, soweit die widersprüchlichen Darstellungen der Epikuräischen Philosophie eine endgültige Interpretation zulassen.
Keiner der anderen großen Meister lehrte, dass die faktische Existenz eines Wunsches eine ethische Norm konstituiere. Ihnen ging es um das optimale Wohl-Sein (vivere bene) der Menschheit. Das wichtigste Element ihres Denkens ist die Unterscheidung zwischen solchen Bedürfnissen (Wünschen), die nur subjektiv wahrgenommen werden und deren Befriedigung zu momentanem Vergnügen führt, und solchen Bedürfnissen, die in der menschlichen Natur wurzeln und deren Erfüllung menschliches Wachstum fördert, das heißt Wohl-Sein (eudaimonia) hervorbringt. Mit anderen Worten, es ging ihnen um die Unterscheidung zwischen rein subjektiv empfundenen und objektiv gültigen Bedürfnissen – wobei ein Teil der ersteren das menschliche Wachstum behindert, während letztere im Einklang mit den Erfordernissen der menschlichen Natur stehen.
Die Theorie, dass das Ziel des Lebens die Erfüllung eines jeden menschlichen Wunsches sei, wurde nach Aristipp unmissverständlich erstmals wieder von den Philosophen des 17. und 18. Jahrhunderts ausgesprochen. Diese Auffassung konnte leicht aufkommen, als das Wort „Profit“ aufhörte „Gewinn für die Seele“ zu bedeuten (wie in der Bibel und auch noch bei Spinoza) und stattdessen materiellen, finanziellen Gewinn bezeichnete. Dies geschah in jener Epoche, als das Bürgertum nicht nur seine politischen Fesseln abwarf, sondern auch alle Bande der Liebe und Solidarität, und zu glauben begann, wer nur für sich selbst sei, sei mehr er selbst, nicht weniger. Für [II-276] Hobbes ist Glück das ständige Weiterschreiten von einer Begierde (cupiditas) zur nächsten; La Mettrie empfiehlt sogar Drogen, da diese wenigstens die Illusion von Glück vermittelten; für de Sade ist die Befriedigung grausamer Impulse allein schon deshalb legitim, weil sie vorhanden sind und nach Befriedigung verlangen. Dies waren Denker, die im Zeitalter des endgültigen Sieges der bürgerlichen Klasse lebten. Was einst die unphilosophische Praxis der Aristokratie gewesen war, wurde nun zur Praxis und Theorie der Bourgeoisie.
Viele ethische Theorien sind seit dem 18. Jahrhundert entwickelt worden – teils angesehenere Formen des Hedonismus, wie der Utilitarismus, teils strikt antihedonistische Systeme wie jene von Kant, Marx, Thoreau und Schweitzer. Dennoch ist unsere heutige Zeit seit Ende des Ersten Weltkriegs weitgehend zur Theorie und Praxis eines radikalen Hedonismus zurückgekehrt. Die Vorstellung grenzenlosen Vergnügens steht in merkwürdigem Gegensatz zu dem Ideal disziplinierter Arbeit, ebenso wie die Annahme eines zwanghaften Arbeitsethos dem Ideal völliger Faulheit in den freien Stunden des Tages und im Urlaub widerspricht. Fließband und bürokratische Routine auf der einen Seite, Fernsehen, Auto und Sex auf der anderen, ermöglichen diese widerspruchsvolle Kombination. Zwanghaftes Arbeiten allein würde die Menschen ebenso verrückt machen wie absolutes Nichtstun. Erst durch die Kombination beider wird das Leben erträglich. Außerdem entsprechen die beiden widersprüchlichen Haltungen einer ökonomischen Notwendigkeit: Der Kapitalismus des 20. Jahrhunderts setzt ebenso den maximalen Konsum der produzierten Güter und Dienstleistungen wie die zur Routine gewordene Teamarbeit voraus.
Theoretische Überlegungen ergeben, dass der radikale Hedonismus in Anbetracht der menschlichen Natur nicht der richtige Weg zum „guten Leben“ ist, und sie zeigen, warum er es nicht sein kann. Doch selbst ohne diese theoretische Analyse geht aus den verfügbaren Daten ganz klar hervor, dass unsere „Jagd nach Glück“ nicht zu Wohl-Sein führt. Wir sind eine Gesellschaft notorisch unglücklicher Menschen: einsam, von Ängsten gequält, deprimiert, destruktiv, abhängig – jene Menschen, die froh sind, wenn es ihnen gelingt, jene Zeit „totzuschlagen“, die sie ständig einzusparen versuchen.
Wir führen gegenwärtig das größte je unternommene gesellschaftliche Experiment zur Beantwortung der Frage durch, ob Vergnügen (als passiver Affekt im Gegensatz zu den aktiven Affekten Wohl-Sein und Freude) eine befriedigende Lösung des menschlichen Existenzproblems sein kann. Zum ersten Mal in der Geschichte ist die Befriedigung des Luststrebens nicht bloß das Privileg einer Minorität, sondern mindestens für die Hälfte der Bevölkerung der Industrieländer real möglich. Das Experiment hat die Frage bereits mit nein beantwortet.
Die zweite psychologische Prämisse des industriellen Zeitalters, dass das Ausleben des individuellen Egoismus Harmonie, Friede und den allgemeinen Wohlstand fördere, ist vom theoretischen Ansatz her ebenso irrig, und auch diese Täuschung wird durch die vorhandenen Daten erhärtet. Warum sollte dieses Prinzip, das nur von einem einzigen der großen klassischen Ökonomen, David Riccardo, abgelehnt wurde, richtig sein? Egoismus ist nicht bloß ein Aspekt meines Verhaltens, sondern meines Charakters. Er bedeutet, dass ich alles für mich haben möchte; dass nicht Teilen, [II-277] sondern Besitzen mir Vergnügen bereitet; dass ich immer habgieriger werden muss, denn wenn Haben mein Ziel ist, bin ich umso mehr, je mehr ich habe; dass ich allen anderen gegenüber feindselig bin – meinen Kunden gegenüber, die ich betrügen, meinen Konkurrenten, die ich ruinieren, meinen Arbeitern, die ich ausbeuten möchte. Ich kann nie zufrieden sein, denn meine Wünsche sind endlos. Ich muss jene beneiden, die mehr haben als ich, und mich vor jenen fürchten, die weniger haben. Aber alle diese Gefühle muss ich verdrängen, um (vor anderen und vor mir selbst) der lächelnde, vernünftige, ehrliche, freundliche Mensch zu sein, als der sich jedermann ausgibt.
Die Habsucht muss zu endlosen Klassenkämpfen führen. Die Behauptung der Kommunisten, ihr System werde den Klassenkampf durch Abschaffung der Klassen beenden, ist eine Fiktion, da auch ihr System auf dem Prinzip des unbegrenzten Konsums als Lebensziel basiert. Solange jeder mehr haben will, müssen sich Klassen herausbilden, muss es Klassenkampf und, global gesehen, internationale Kriege geben. Habgier und Friede schließen einander aus.
Radikaler Hedonismus und schrankenloser Egoismus hätten nicht zu Leitprinzipien ökonomischen Verhaltens werden können, wenn nicht im 18. Jahrhundert ein grundlegender Wandel eingetreten wäre. In der mittelalterlichen Gesellschaft sowie in vielen anderen hoch entwickelten und auch in primitiven Gesellschaften wurde das ökonomische Verhalten durch ethische Normen bestimmt. So waren beispielsweise für die Theologen der Scholastik wirtschaftliche Kategorien wie Preis und Privateigentum ein Gegenstand der Moraltheologie. Zwar fanden die Theologen stets Formulierungen, um ihren Moralkodex jeweils den neuen ökonomischen Erfordernissen anzupassen (so zum Beispiel Thomas von Aquins Modifizierung des Konzepts des „gerechten Lohns“), dennoch blieb das ökonomische Verhalten ein Teil des allgemeinen menschlichen Verhaltens und war daher den Wertvorstellungen der humanistischen Ethik unterworfen. Der Kapitalismus des 18. Jahrhunderts machte schrittweise einen radikalen Wandel durch: Das wirtschaftliche Verhalten wurde von der Ethik und den menschlichen Werten abgetrennt. Der Wirtschaftsmechanismus wurde als autonomes Ganzes angesehen, das unabhängig von den menschlichen Bedürfnissen und dem menschlichen Willen ist – ein System, das sich aus eigener Kraft und nach eigenen Gesetzen in Gang hält. Das Elend der Arbeiter sowie der Ruin einer stetig zunehmenden Zahl kleinerer Unternehmen infolge des unaufhaltsamen Wachstums der Konzerne galten als wirtschaftliche Notwendigkeit, die man vielleicht bedauern konnte, jedoch akzeptieren musste wie die Auswirkungen eines Naturgesetzes.
Die Entwicklung dieses Wirtschaftssystems wurde nicht mehr durch die Frage: Was ist gut für den Menschen? bestimmt, sondern durch die Frage: Was ist gut für das Wachstum des Systems? Die Schärfe dieses Konflikts versuchte man durch die These zu verschleiern, dass alles, was dem Wachstum des Systems (oder auch nur eines einzigen Konzerns) diene, auch das Wohl der Menschen fördere. Diese These wurde durch eine Hilfskonstruktion abgestützt, wonach genau jene menschlichen Qualitäten, die das System benötigte – Egoismus, Selbstsucht und Habgier – dem Menschen angeboren seien; sie seien somit nicht dem System, sondern der menschlichen Natur [II-278] anzulasten. Gesellschaften, in denen Egoismus, Selbstsucht und Habgier nicht existierten, wurden als „primitiv“, ihre Mitglieder als „naiv“ abqualifiziert. Man weigerte sich anzuerkennen, dass diese Charakterzüge gerade nicht natürliche Triebe sind, die zur Bildung der Industriegesellschaft führten, sondern das Produkt gesellschaftlicher Bedingungen.
Von Bedeutung ist nicht zuletzt ein weiterer Faktor: Das Verhältnis des Menschen zur Natur wurde zutiefst feindselig. Wir Menschen sind eine „Laune der Natur“, denn auf Grund unserer Existenzbedingungen sind wir Teil der Natur, doch auf Grund unserer Vernunftbegabung transzendieren wir sie. Wir haben versucht, dieses Problem unserer Existenz dadurch zu lösen, dass wir die messianische Vision der Harmonie zwischen Menschheit und Natur aufgaben, indem wir uns die Natur untertan machten und für unsere eigenen Zwecke umgestalteten, bis aus der Unterjochung der Natur mehr und mehr deren Zerstörung wurde. Unser Eroberungsdrang und unsere Feindseligkeit haben uns blind gemacht für die Tatsache, dass die Naturschätze begrenzt sind und eines Tages zur Neige gehen können, und dass sich die Natur gegen die Raubgier der Menschen zur Wehr setzen wird.
Die industrielle Gesellschaft verachtet die Natur ebenso wie alles, was nicht von Maschinen hergestellt worden ist – und alle Menschen, die keine Maschinen produzieren (die farbigen Rassen, seit neuestem mit Ausnahme der Japaner und Chinesen). Die Menschen sind heutzutage fasziniert vom Mechanischen, von der mächtigen Maschine, vom Leblosen und in zunehmendem Maß von der Zerstörung.
Ich habe bisher davon gesprochen, dass die von unserem sozioökonomischen System, das heißt von unserer Lebensweise geprägten Charakterzüge pathogen sind und schließlich den Menschen und damit die Gesellschaft krank machen. Von einem ganz anderen Gesichtspunkt aus gibt es jedoch noch ein zweites Argument, das in einer tiefgreifenden psychologischen Veränderung des Menschen eine Alternative zur ökonomischen und ökologischen Katastrophe sieht. Es findet sich in den beiden Berichten des Club of Rome, von denen der eine von Dennis H. Meadows et al., 1972, der andere von M. D. Mesarović und E. Pestel, 1974, besorgt wurde. Beide Berichte setzen sich weltweit mit den technologischen, ökonomischen und demographischen Entwicklungen auseinander. Mesarović und Pestel kommen zu dem Schluss, dass nur drastische, nach einem weltweiten Plan durchgeführte ökonomische und technologische Veränderungen eine „große, letztlich globale Katastrophe“ verhindern können. Die Daten, die sie zum Beweis ihrer Thesen anführen, basieren auf der umfassendsten systematischen Untersuchung, die bisher durchgeführt wurde. (Ihre Untersuchung hat gewisse methodologische Vorzüge gegenüber dem Bericht von Meadows et al., aber diese frühere Studie ging in ihren Forderungen nach radikalen ökonomischen Veränderungen zur Abwendung einer Katastrophe sogar noch weiter.) Mesarović und Pestel kommen zu dem Schluss, dass derartige ökonomische Veränderungen nur unter der Voraussetzung möglich sind, dass ein fundamentaler Wandel der[II-279]menschlichen Grundwerte und Einstellungen (oder, wie ich es nennen würde, der menschlichen Charakterorientierung) im Sinne einer neuen Ethik und einer neuen Einstellung zur Natur eintritt (vgl. M. D. Mesarović und E. Pestel, 1974, S. 135). Ihre Äußerungen bekräftigen nur, was schon andere vor und nach Erscheinen ihres Buches gesagt haben, dass nämlich eine neue Gesellschaft nur dann entstehen kann, wenn sich parallel zu deren Entwicklungsprozess ein neuer Mensch entwickelt, oder, bescheidener ausgedrückt, wenn sich die heute vorherrschende Charakterstruktur des Menschen grundlegend wandelt.
Leider wurden diese beiden Berichte in jenem Geist der Quantifizierung, Abstraktion und Entpersönlichung verfasst, der so charakteristisch für unsere Zeit ist. Darüber hinaus vernachlässigen sie alle politischen und gesellschaftlichen Faktoren, ohne die keine realistische Strategie entworfen werden kann. Dennoch präsentieren sie wertvolle Daten und befassen sich zum ersten Mal mit der wirtschaftlichen Situation der gesamten Menschheit, ihren Möglichkeiten und Gefahren. Ihre Schlussfolgerung, dass eine neue Ethik und eine veränderte Einstellung zur Natur notwendig sei, ist umso bemerkenswerter, da diese Forderung in auffälligem Gegensatz zu ihren philosophischen Prämissen steht.
Auch E. F. Schumacher (1973), ebenfalls ein Wirtschaftswissenschaftler, aber gleichzeitig ein radikaler Humanist, fordert eine tiefgreifende menschliche Veränderung. Seine Forderung basiert auf der Auffassung, dass unsere gegenwärtige Gesellschaftsordnung uns krank mache und dass wir auf eine wirtschaftliche Katastrophe zusteuern, wenn wir unser Gesellschaftssystem nicht grundlegend umgestalten.
Die Notwendigkeit einer radikalen menschlichen Veränderung ist deshalb weder nur eine ethische oder religiöse Forderung noch ausschließlich ein psychologisches Postulat, das sich aus der pathogenen Natur unseres gegenwärtigen Gesellschafts-Charakters ergibt, sondern sie ist auch eine Voraussetzung für das nackte Überleben der Menschheit. Richtig leben heißt nicht länger, nur ein ethisches oder religiöses Gebot erfüllen. Zum ersten Mal in der Geschichte hängt das physische Überleben der Menschheit von einer radikalen seelischen Veränderung des Menschen ab. Dieser Wandel im „Herzen“ des Menschen ist jedoch nur in dem Maße möglich, in dem drastische ökonomische und soziale Veränderungen eintreten, die ihm die Chance geben, sich zu wandeln, und den Mut und die Vorstellungskraft, die er braucht, um diese Veränderung zu erreichen.
Alle bisher zitierten Daten sind der Öffentlichkeit zugänglich und weithin bekannt. Die nahezu unglaubliche Tatsache ist jedoch, dass bisher keine ernsthaften Anstrengungen unternommen wurden, um das uns angesagte Schicksal abzuwenden. Während im Privatleben nur ein Wahnsinniger bei der Bedrohung seiner gesamten Existenz untätig bleiben würde, unternehmen die für das öffentliche Wohl Verantwortlichen praktisch nichts, und diejenigen, die sich ihnen anvertraut haben, lassen sie gewähren. [II-280]
Wie ist es möglich, dass der stärkste aller Instinkte, der Selbsterhaltungstrieb, nicht mehr zu funktionieren scheint? Eine der am nächsten liegenden Erklärungen ist, dass die Politiker mit vielem, was sie tun, vorgeben, wirksame Maßnahmen zur Abwendung der Katastrophe zu ergreifen. Endlose Konferenzen, Resolutionen und Abrüstungsverhandlungen erwecken den Eindruck, als habe man die Probleme erkannt und unternehme etwas zu ihrer Lösung. De facto geschieht zwar nichts, was uns wirklich weiterhilft, aber Führer und Geführte betäuben ihr Gewissen und ihren Überlebenswunsch, indem sie sich den Anschein geben, den Weg zu kennen und in die richtige Richtung zu marschieren.
Eine andere Erklärung ist, dass die vom System hervorgebrachte Selbstsucht die Politiker veranlasst, ihren persönlichen Erfolg höher zu bewerten als ihre gesellschaftliche Verantwortung. Niemand empfindet es mehr als schockierend, wenn Staats- und Wirtschaftsführer Entscheidungen treffen, die ihnen zum persönlichen Vorteil zu gereichen scheinen, dabei aber schädlich und gefährlich für die Gemeinschaft sind. Wenn die Selbstsucht eine der Säulen der heute praktizierten Ethik ist, muss man sich in der Tat fragen, warum sie sich anders verhalten sollten. Sie scheinen nicht zu wissen, dass Habgier (ebenso wie Unterwerfung) die Menschen verdummt und sie unfähig macht, ihre eigenen wahren Interessen zu verfolgen, ob diese nun ihr eigenes Leben oder das ihrer Frauen und Kinder betreffen. (Siehe dazu J. Piaget, 1932.) Gleichzeitig ist der Durchschnittsmensch so selbstsüchtig mit seinen Privatangelegenheiten beschäftigt, dass er allem, was über seinen persönlichen Bereich hinausgeht, nur wenig Beachtung schenkt.
Ein weiterer Grund für das Absterben unseres Selbsterhaltungstriebes ist darin zu suchen, dass der Einzelne die sich am Horizont abzeichnende Katastrophe den Opfern vorzieht, die er jetzt bringen müsste. Dies ist eine verbreitete Einstellung. Arthur Koestler hat uns ein bezeichnendes Beispiel dafür in der Schilderung eines Erlebnisses im Spanischen Bürgerkrieg gegeben. Er hielt sich gerade in der komfortablen Villa eines Freundes auf, als der Vormarsch der Franco-Truppen gemeldet wurde. Es stand außer Zweifel, dass sie im Laufe der Nacht das Haus erreichen würden; er musste damit rechnen, erschossen zu werden; durch Flucht konnte er sein Leben retten. Aber die Nacht war kalt und regnerisch, das Haus warm und behaglich. Also blieb er und ließ sich gefangen nehmen. Sein Leben wurde erst Wochen später fast wie durch ein Wunder dank der Bemühungen befreundeter Journalisten gerettet. Das gleiche Verhalten findet man bei Menschen, die lieber ihr Leben riskieren, als sich einer ärztlichen Untersuchung zu unterziehen, die die Diagnose einer ernsten Erkrankung und die Notwendigkeit einer schweren Operation ergeben könnte.
Außer den genannten Erklärungen für die verhängnisvolle Passivität des Menschen, wenn es um Leben oder Tod geht, gibt es noch eine weitere; sie ist mit ein Grund dafür, warum ich dieses Buch schreibe. Ich spreche von der Ansicht, es gebe keine Alternativen zum Monopolkapitalismus, zum sozialdemokratischen oder sowjetischen Sozialismus oder zum technokratischen „Faschismus mit lächelndem Gesicht“. Die Popularität dieser Ansicht ist zum großen Teil darauf zurückzuführen, dass kaum der Versuch unternommen wurde, die Möglichkeiten einer Verwirklichung völlig neuer Gesellschaftsmodelle zu untersuchen und entsprechende Experimente zu [II-281] machen. Und darüber hinaus: Solange die Probleme einer Umformung der Gesellschaft nicht wenigstens annähernd den Platz in den Köpfen unserer Wissenschaftler einnehmen, den die Naturwissenschaften und die Technik innehaben, und solange deshalb[3] die Wissenschaft vom Menschen nicht die Anziehung hat, die der Naturwissenschaft und Technik bisher vorbehalten waren, werden Kraft und Vision mangeln, neue und reale Alternativen zu sehen.
Das Hauptanliegen dieses Buches ist die Analyse der beiden Existenzweisen des Menschen, der des Habens und der des Seins.
Im ersten, einleitenden Kapitel bringe ich einige Beobachtungen zum Unterschied zwischen den beiden Existenzweisen, die auf den ersten Blick auffallen. Im zweiten Kapitel zeige ich die Unterschiede an einer Reihe von Beispielen aus dem täglichen Leben, die der Leser leicht zu seinen eigenen Erfahrungen in Beziehung setzen kann. Das dritte Kapitel enthält Ansichten zu Haben und Sein, wie sie im Alten und Neuen Testament und in den Schriften Meister Eckharts zu finden sind. In den darauf folgenden Kapiteln komme ich zu der schwierigsten Aufgabe: der Analyse des Unterschieds zwischen den Existenzweisen des Habens und des Seins, in deren Verlauf ich versuche, auf der Basis der empirischen Daten zu theoretischen Schlussfolgerungen zu gelangen. Während sich das Buch bis dahin hauptsächlich mit individuellen Aspekten der zwei grundlegenden Existenzweisen auseinandersetzt, wird in den letzten Kapiteln die Relevanz dieser beiden Existenzweisen für das Entstehen eines neuen Menschen und einer neuen Gesellschaft untersucht und werden mögliche Alternativen zur Katastrophe, zum kräftezehrenden Krank-Sein (ill-being) des Einzelnen und zu einer verheerenden sozioökonomischen Entwicklung der ganzen Welt erörtert.
Die Alternative Haben oder Sein leuchtet dem gesunden Menschenverstand nicht ein. Haben, so scheint es uns, ist etwas ganz Normales im Leben; um leben zu können, müssen wir Dinge haben, ja, wir müssen Dinge haben, um uns an ihnen zu erfreuen. In einer Gesellschaft, in der es das oberste Ziel ist, zu haben und immer mehr zu haben, in der man davon spricht, ein Mann sei „eine Million wert“: Wie kann es da eine Alternative zwischen Haben und Sein geben? Es scheint im Gegenteil so, als bestehe das eigentliche Wesen des Seins im Haben, sodass nichts ist, wer nichts hat.
Die großen Meister des Lebens haben jedoch in der Alternative zwischen Haben und Sein eine Kernfrage ihrer jeweiligen Anschauung gesehen. Buddha lehrt, dass nicht nach Besitz streben dürfe, wer die höchste Stufe der menschlichen Entwicklung erreichen wolle. Jesus sagt: „Denn wer sein Leben retten will, der wird es verlieren; wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, der wird es retten. Denn was nützt es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, sich selbst aber verliert und Schaden erleidet?“ (Lk 9,24 f.). Meister Eckhart lehrt, nichts zu haben und sich selbst offen und „leer“ zu machen, sich selbst mit seinem eigenen Ich nicht im Wege zu stehen, sei die Voraussetzung, um geistigen Reichtum und Kraft zu erlangen. Marx lehrt, dass Luxus ein genauso großes Laster sei wie Armut, und dass es unser Ziel sein müsse, viel zu sein, nicht viel zu haben. (Ich beziehe mich hier auf den wirklichen Marx, den radikalen Humanisten, nicht auf die üblichen Fälschungen des Sowjetkommunismus.) Diese Unterscheidung hat mich seit Jahren beeindruckt. Ich suchte ihre empirische Grundlage durch das konkrete Studium von Einzelnen und von Gruppen mit Hilfe der psychoanalytischen Methode zu finden. Was ich fand, legte mir den Schluss nahe, dass diese Unterscheidung zusammen mit jener zwischen der Liebe zum Leben und der Liebe zum Toten das alles entscheidende Problem der menschlichen Existenz ist; dass die empirischen Daten der Anthropologie und der Psychoanalyse darauf hindeuten, dass Haben und Sein zwei grundlegend verschiedene Formen menschlichen Erlebens sind, deren jeweilige Stärke Unterschiede zwischen den Charakteren von Einzelnen und zwischen verschiedenen Typen des Gesellschafts-Charakters bestimmt. [II-285]
Beispiele aus der Dichtung
Um den Unterschied zwischen der Existenzweise des Habens und der Existenzweise des Seins zu verdeutlichen, möchte ich als Beispiel zwei Gedichte ähnlichen Inhalts zitieren, die der verstorbene D. T. Suzuki in seinen Vorlesungen Über Zen-Buddhismus (1960) zitiert. Das eine ist ein Haiku von dem japanischen Dichter Basho (1644-1694), das andere stammt von einem englischen Dichter des 19. Jahrhunderts, von Tennyson. Beide beschreiben das gleiche Erlebnis: ihre Reaktion auf eine Blume, die sie auf einem Spaziergang sehen. Tennysons Gedicht lautet:
Flower in a crannied wall, I pluck you out of the crannies, I hold you here, root and all, in my hand, Little flower – but if I could understand What you are, root und all, and all in all, I should know what God and man is.
Blume in der geborstenen Mauer, Ich pflücke dich aus den Mauerritzen, Mitsamt den Wurzeln halte ich dich in der Hand, Kleine Blume – doch wenn ich verstehen könnte, Was du mitsamt den Wurzeln und alles in allem bist, Wüsste ich, was Gott und Mensch ist.(Übersetzung: Marion Steipe)
Bashos Haiku lautet so:
„Yoku mireba Nazuna hana saku Kakine kana.“
„Wenn ich aufmerksam schaue, Seh’ ich die NazunaAn der Hecke blühen!“
Der Unterschied fällt ins Auge. Tennyson reagiert auf die Blume mit dem Wunsch, sie zu haben. Er pflückt sie „mitsamt den Wurzeln“. Sein Interesse an ihr führt dazu, dass er sie tötet, während er mit der intellektuellen Spekulation schließt, dass ihm die Blume eventuell dazu dienen könne, die Natur Gottes und des Menschen zu begreifen. Tennyson kann in diesem Gedicht mit dem westlichen Wissenschaftler verglichen werden, der die Wahrheit sucht, indem er das Leben zerstückelt.
Bashos Reaktion auf die Blume ist vollkommen anders. Er will sie nicht pflücken; er berührt sie nicht einmal. Er „schaut aufmerksam“, um sie zu „sehen“.
Suzuki (1960, S. 1) schreibt dazu:
Wahrscheinlich ging Basho eine Landstraße [II-286] entlang, als er etwas bemerkte, das unscheinbar an der Hecke stand. Er näherte sich, sah genau hin und fand, dass es nichts als eine wilde Pflanze war, die recht unbedeutend ist und für gewöhnlich von Vorübergehenden nicht beachtet wird. Es ist eine einfache Tatsache, die in dem Gedicht beschrieben wird, ohne dass dabei ein besonders poetisches Gefühl zum Ausdruck kommt, außer vielleicht in den beiden letzten Silben, die auf japanisch „kana“ lauten. Dieser Partikel, der häufig an ein Hauptwort, ein Adjektiv oder ein Adverb angehängt wird, drückt ein gewisses Gefühl der Bewunderung, des Lobes, des Leidens oder der Freude aus und kann manchmal in der Übersetzung ziemlich treffend durch ein Ausrufungszeichen wiedergegeben werden. Im vorliegenden Haiku endet der ganze Vers mit einem solchen Ausrufungszeichen.
Tennyson muss die Blume besitzen, um den Menschen und die Natur zu verstehen, und dadurch, dass er sie hat, zerstört er die Blume. Basho möchte sehen, er möchte die Blume nicht nur anschauen, er möchte mit ihr eins sein, sich mit ihr vereinen – und sie leben lassen.
Den Unterschied zwischen Tennyson und Basho verdeutlicht ein Gedicht von Goethe:
Gefunden
Ich ging im Walde So für mich hin, Und nichts zu suchen, Das war mein Sinn.
Im Schatten sah ich Ein Blümchen stehn, Wie Sterne leuchtend, Wie Äuglein schön.
Ich wollt es brechen, Da sagt’ es fein: Soll ich zum Welken Gebrochen sein?
Ich grub’s mit allen Den Würzlein aus, Zum Garten trug ich’s Am hübschen Haus.
Und pflanzt’ es wieder Am stillen Ort; Nun zweigt es immer Und blüht so fort.
Goethe geht ohne Absicht spazieren, als die leuchtende kleine Blume seine Aufmerksamkeit erregt. Er berichtet, dass er den gleichen Impuls hat wie Tennyson, [II-287] nämlich die Blume zu pflücken. Aber anders als Tennyson ist er sich bewusst, dass dies ihren Tod bedeuten würde. Die Blume ist so lebendig für ihn, dass sie zu ihm spricht und ihn warnt. Er löst das Problem also anders als Tennyson und Basho. Er gräbt die Blume aus und verpflanzt sie, damit ihr Leben erhalten bleibt. Goethe steht gewissermaßen zwischen Basho und Tennyson, aber im entscheidenden Augenblick ist seine Liebe zum Leben stärker als die rein intellektuelle Neugier. Dieses schöne Gedicht drückt Goethes Grundeinstellung zur Erforschung der Natur aus.
Tennysons Beziehung zu der Blume ist von der Weise des Habens oder der des Besitzenwollens geprägt, wobei es nicht um materiellen Besitz, sondern um den Besitz von Wissen geht. Die Beziehung Bashos und Goethes ist von der Weise des Seins gekennzeichnet. Mit „Sein“ meine ich eine Existenzweise, in der man nichts hat und nichts zu haben begehrt, sondern voller Freude ist, seine Fähigkeiten produktiv nutzt und eins mit der Welt ist.
Goethe, der leidenschaftliche Anwalt des Lebens und Kämpfer gegen die Zerstückelung und Mechanisierung des Menschen, hat in vielen Gedichten für das Sein und gegen das Haben Partei ergriffen und den Konflikt zwischen Haben und Sein in seinem „Faust“ dramatisch gestaltet, in dem Mephistopheles das Haben verkörpert. Es gibt ein kurzes Gedicht von ihm, das die Qualität des Seins mit unübertrefflicher Schlichtheit charakterisiert:
Eigentum
Ich weiß, dass mir nichts angehört Als der Gedanke, der ungestört Aus meiner Seele will fließen, Und jeder günstige Augenblick, Den mich ein liebendes Geschick Von Grund aus lässt genießen.
Doch der Unterschied zwischen Sein und Haben ist nicht identisch mit dem Unterschied zwischen östlichem und westlichem Denken. Er entspricht vielmehr dem Unterschied zwischen dem Geist einer Gesellschaft, die den Menschen zum Mittelpunkt hat, und dem Geist einer Gesellschaft, die sich um Dinge dreht. Die Haben-Orientierung ist charakteristisch für den Menschen der westlichen Industriegesellschaft, in welcher die Gier nach Geld, Ruhm und Macht zum beherrschenden Thema des Lebens wurde. Weniger entfremdete Gesellschaften wie die des Mittelalters oder der Zuni-Indianer oder die bestimmter afrikanischer Stämme, die noch nicht von den heutigen Ideen des „Fortschritts“ infiziert sind, haben ihre eigenen Bashos; und vielleicht werden die Japaner nach ein paar weiteren Generationen der Industrialisierung ihre eigenen Tennysons haben. Es ist nicht so, dass der westliche Mensch östliche Systeme wie den Zen-Buddhismus nicht ganz begreifen kann (wie C. G. Jung meinte), sondern dass der moderne Mensch den Geist einer Gesellschaft nicht zu begreifen vermag, die nicht auf Eigentum und Habgier aufgebaut ist. In der Tat ist Meister Eckhart ebenso schwer zu verstehen wie Basho oder Zen, doch Eckhart und der Buddhismus sind in Wirklichkeit nur zwei Dialekte der gleichen Sprache. [II-288]
Eine gewisse Verschiebung des Akzents vom Sein zum Haben lässt sich sogar an der zunehmenden Verwendung von Hauptwörtern und der Abnahme der Tätigkeitswörter in den westlichen Sprachen innerhalb der letzten Jahrhunderte feststellen.
Ein Hauptwort ist die geeignete Bezeichnung für ein Ding. Ich kann sagen, dass ich Dinge habe, z.B. einen Tisch, ein Haus, ein Buch, ein Auto. Die richtige Bezeichnung für eine Tätigkeit, um einen Prozess auszudrücken, ist ein Verb: zum Beispiel ich bin, ich liebe, ich wünsche, ich hasse usw. Doch immer häufiger wird eine Tätigkeit mit den Begriffen des Habens ausgedrückt, das heißt ein Hauptwort anstelle eines Verbs verwendet. Eine Tätigkeit durch die Verbindung von „haben“ mit einem Hauptwort auszudrücken, ist jedoch ein falscher Sprachgebrauch, denn Prozesse und Tätigkeiten können nicht besessen, sondern nur erlebt werden.
Die bösen Folgen dieses Sprachgebrauchs wurden schon im 18. Jahrhundert erkannt. Du Marsais (1972) drückte das Problem in seinem posthum veröffentlichten Werk Les Veritables Principes de la Grammaire aus dem Jahr 1769 sehr präzise aus. Er schreibt: „In dem Beispiel ‘Ich habe eine Uhr’ ist ich habe im eigentlichen Sinne zu verstehen; aber in ‘ich habe eine Idee’ wird ich habe nur nachahmend verwendet – es ist ein geborgter Ausdruck. Ich habe eine Idee bedeutet, ich denke, ich stelle mir etwas auf diese oder jene Weise vor; ich habe Sehnsucht bedeutet ich sehne mich; ich habe den ‘Willen’ heißt ich will, etc.“ (Den Hinweis auf Du Marsais verdanke ich Dr. Noam Chomsky.)
Ein Jahrhundert nachdem Du Marsais dieses Phänomen der Ersetzung von Verben durch Substantive beobachtet hatte, beschäftigten sich Marx und Engels mit dem gleichen Problem, wenn auch auf radikalere Weise als ihr Vorgänger. Ihre Kritik an Edgar Bauers „Kritischer Kritik“ enthält einen kleinen, aber sehr wichtigen Essay über die Liebe. In ihm beziehen sie sich auf folgende Äußerung Bauers: „Die Liebe (...) ist eine grausame Göttin, welche, wie jede Gottheit, den ganzen Menschen besitzen will und nicht eher zufrieden ist, als bis er ihr nicht bloß seine Seele, sondern auch sein physisches Selbst dargebracht hat. Ihr Kultus ist das Leiden, der Gipfel dieses Kultus ist die Selbstaufopferung, der Selbstmord“ (E. Bauer, 1844).
Marx und Engels antworten: „Herr Edgar verwandelt die ‘Liebe’ in eine ‘Göttin’, und zwar in eine ‘grausame Göttin’, indem er aus dem liebenden Menschen, aus der Liebe des Menschen den Menschen der Liebe macht, indem er die ‘Liebe’ als ein apartes Wesen vom Menschen lostrennt und als solches verselbständigt“ (K. Marx, 1962, S. 684).
Marx und Engels weisen hier auf den entscheidenden Faktor, die Verwendung des Substantivs statt des Verbs, hin. Das Substantiv „Liebe“, das nur eine Abstraktion der Tätigkeit des Liebens ist, wird vom Menschen getrennt. Der liebende Mensch wird zum Menschen der Liebe, Liebe wird zur Göttin, zum Idol, auf das der Mensch sein Lieben projiziert; in diesem Entfremdungsprozess hört er auf, Liebe zu erleben, [II-289] und ist mit seiner Liebesfähigkeit nur noch durch seine Unterwerfung unter die Göttin der Liebe verbunden. Er hat aufgehört, selbst ein fühlender Mensch zu sein; stattdessen ist er zu einem entfremdeten Götzendiener geworden.
In den zweihundert Jahren seit der Zeit, in der Du Marsais lebte, hat die Tendenz, Verben durch Substantive zu ersetzen, Ausmaße angenommen, die sich selbst Du Marsais kaum hätte vorstellen können. Ein typisches, wenn auch leicht übertriebenes Beispiel aus dem heutigen Sprachgebrauch sei hier gegeben: Nehmen wir an, eine Frau eröffnet das Gespräch mit einem Psychoanalytiker folgendermaßen: „Herr Doktor, ich habe ein Problem.“[4] Einige Jahrzehnte früher hätte die Patientin anstelle von „Ich habe ein Problem“ sehr wahrscheinlich gesagt: „Ich bin besorgt.“[5] Der moderne Sprachstil ist ein Indiz für die heutige Entfremdung. Wenn ich sage: „Ich habe ein Problem“ anstelle von „Ich bin besorgt“, dann wird die subjektive Erfahrung ausgeschlossen. Das Ich, das die Erfahrung macht, wird ersetzt durch das Es, das man besitzt. Ich habe meine Gefühle in etwas verwandelt, das ich besitze: das Problem. Ein „Problem“ ist ein abstrakter Ausdruck für alle Arten von Schwierigkeiten. Ich kann es nicht haben, da es kein Ding ist, das man besitzen kann, allerdings kann das Problem mich haben; genauer gesagt, habe ich mich dann in ein „Problem“ verwandelt, und meine Schöpfung hat Besitz von mir ergriffen. Diese Art zu sprechen verrät die versteckte unbewusste Entfremdung.[6]
„Haben“ ist ein täuschend einfaches Wort. Jeder Mensch hat etwas: seinen Körper[7], seine Kleider, seine Wohnung, bis hin zum modernen Menschen, der ein Auto, einen Fernsehapparat und eine Waschmaschine hat. Zu leben, ohne etwas zu haben, ist praktisch unmöglich. Warum sollte „haben“ also problematisch sein? Dennoch zeigt die Sprachgeschichte des Wortes „haben“, dass es ein echtes Problem aufwirft. Für jene, die glauben, dass „haben“ eine höchst natürliche Kategorie innerhalb der menschlichen Existenz ist, mag es überraschend sein, wenn sie erfahren, dass es in vielen Sprachen kein Wort für „haben“ gibt. Im Hebräischen muss „ich habe“ zum Beispiel durch die indirekte Form „jesh li“ (es ist mir) ausgedrückt werden. Tatsächlich gibt es mehr Sprachen, die Besitz in dieser Weise ausdrücken, als durch „ich habe“.[8][II-290]
Bemerkenswert ist, dass in der Entwicklung vieler Sprachen die Konstruktion „es ist mir“ später durch die Konstruktion „ich habe“ ersetzt wird, während eine umgekehrte Entwicklung, wie Émile Benveniste (1966