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Die in dem Band ‚Psychoanalytisches Menschenbild‘ gesammelten Beiträge handeln alle von dem Bild, das Erich Fromm vom Menschen hat. Das Besondere der Frommschen Sicht besteht darin, dass die inneren Antriebskräfte weitgehend das Ergebnis der psychischen Anpassung an die Erfordernisse des Lebens, Überlebens und Zusammenlebens sind. Ihre Bewusstheit bzw. Unbewusstheit wird dabei ganz wesentlich von den aktuellen ökonomischen, sozialen und kulturellen Erfordernissen bestimmt. Vor diesem Hintergrund ergibt sich eine neue Sicht des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft, von Natur und Kultur, von individuellem und sozialem Unbewussten und Verdrängtem sowie des Verständnisses des „Wesens“ oder der „Natur“ des Menschen. Ein besonderer Reiz der vorliegenden Sammlung besteht darin, dass die einzelnen Beiträge eindrücklich die Entwicklung des Frommschen Menschenbildes vor Augen führen – von der Auseinandersetzung mit dem Freudschen Menschenbild bis hin zu den differenzierten Aussagen in dem 1968 entstandenen Beitrag ‚Einleitung in E. Fromm und R. Xirau „The Nature of Man“‘. Aus dem Inhalt - Die gesellschaftliche Bedingtheit der psychoanalytischen Therapie - Die Auswirkungen eines triebtheoretischen „Radikalismus“ auf den Menschen. Eine Antwort auf Herbert Marcuse - Eine Erwiderung auf Herbert Marcuse - Die philosophische Basis der Freudschen Psychoanalyse - Die Grundpositionen der Psychoanalyse - Einleitung in E. Fromm und R. Xirau „The Nature of Man“ - Mein eigenes psychoanalytisches Bild vom Menschen - Das Undenkbare, das Unsagbare, das Unaussprechliche
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Seitenzahl: 247
Erich Fromm2016d
Als E-Book herausgegeben und kommentiert von Rainer Funk[1]
Erstveröffentlichung als E-Book 2016 unter dem Titel Psychoanalytisches Menschenbild in der Edition Erich Fromm bei Open Publishing, München. Die einzelnen Beiträge dieses E-Book-Sammelbandes sind bis auf den letzten in Printform in der 1999 veröffentlichten Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag) enthalten.
Die E-Book-Ausgabe der einzelnen Beiträge dieses Sammelbandes orientiert sich an den von Rainer Funk herausgegebenen und kommentierten Textfassungen in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag) 1999.
Die Zahlen in [eckigen Klammern] geben die Seitenwechsel in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden wieder.
Copyright © als E-Book 2016 by The Estate of Erich Fromm. Copyright © Edition Erich Fromm 2016 by Rainer Funk.
Psychoanalytisches Menschenbild
Die gesellschaftliche Bedingtheit der psychoanalytischen Therapie
Die Auswirkungen eines triebtheoretischen „Radikalismus“ auf den Menschen. Eine Antwort auf Herbert Marcuse
Eine Erwiderung auf Herbert Marcuse
Die philosophische Basis der Freudschen Psychoanalyse
Die Grundpositionen der Psychoanalyse
Einleitung in E. Fromm und R. Xirau „The Nature of Man“
Mein eigenes psychoanalytisches Bild vom Menschen
Das Undenkbare, das Unsagbare, das Unaussprechliche
Literaturverzeichnis
Der Autor
Der Herausgeber
Impressum
(1935a)[2]
Die psychoanalytische Therapie[3] beruht auf der Aufdeckung der zur Symptombildung oder zur Bildung neurotischer Charaktereigenschaften führenden unbewussten Strebungen. Die Symptome sind Ausdruck des Konflikts zwischen solchen unbewussten verdrängten und den sie verdrängenden Tendenzen. Die wichtigste Ursache der Verdrängung ist die Angst. Ursprünglich und zunächst einmal die Angst vor äußerer Gewalt, die aber, soll eine wirksame Verdrängung zustande kommen, ergänzt wird durch die Angst, Sympathie und Liebe derjenigen zu verlieren, die man respektiert und bewundert, und endlich durch die Angst vor dem Verlust des Respekts vor sich selbst (vgl. Studien über Autorität und Familie. Sozialpsychologischer Teil, 1936a, GA I, S. 139-187).
Allerdings ist auch die Angst vor dem Verlust der Liebe einer bewunderten Person gewöhnlich noch nicht ausreichend, um die Verdrängung derjenigen Impulse und Phantasien zu bewirken, die den Verlust dieser Liebe verursachen können. Verdrängungen pflegen erst einzutreten, wenn der Impuls nicht nur von einer einzelnen Person, oder auch von mehreren Individuen verurteilt wird, sondern wenn er in der gesellschaftlichen Gruppe, der der Betreffende angehört, verpönt ist. In diesem Fall gesellt sich zur Androhung äußerer Strafen, zum Verlust der Liebe seitens der für den Betreffenden wichtigsten Person, noch die Gefahr der Isolierung und des Verlustes des gesellschaftlichen Rückhalts. Es scheint, dass diese Gefahr bei den meisten Menschen mehr Angst auslöst als die vorher erwähnte und dass diese gesellschaftliche Isolierung die wichtigste Quelle für die Verdrängung ist.[4][I-116]
Ist ein Impuls verdrängt, so ist er damit noch nicht vernichtet. Er ist nur aus dem Bewusstsein entfernt, hat aber nichts von seiner ihm ursprünglich innewohnenden Energie verloren. Er hat vielmehr die Tendenz, ins Bewusstsein zurückzukehren, und es bedarf einer Kraft, die ihn ständig daran verhindert. Freud gebraucht, um dies zu demonstrieren, ein sehr anschauliches Bild. Er vergleicht die verdrängten Regungen mit einem unerwünschten Gast, den man zu Hause herausgeworfen hat, der aber immer wieder versucht zurückzukehren. Man muss einen Diener an der Türe aufstellen, der ihn am erneuten Eindringen hindert. Wenn in einer Analyse versucht wird, die verdrängten Regungen ins Bewusstsein zurückzubringen, so macht sich diese, das Verdrängte am Zurückkehren hindernde Kraft sehr deutlich bemerkbar; Freud hat ihr den Namen „Widerstand“ gegeben. Dieser Widerstand kann sich in vielen Formen äußern. Seine einfachste ist die, dass, sobald der Analysand gleichsam in die Nähe des verdrängten Materials gerät, ihm überhaupt nichts einfällt, oder dass ihm sehr viele Dinge einfallen, die vom verdrängten Gegenstand abführen, oder dass er wütend auf den Analytiker ist und beginnt, die ganze Methode als unsinnig abzulehnen, oder dass er körperliche Symptome entwickelt, die ihn hindern, in die Analyse zu kommen, und ihn davor schützen, das verdrängte Material zu berühren. Der Widerstand ist so ein im Laufe der Analyse mit Notwendigkeit auftretendes Problem. Wollte man ihn vermeiden, so wäre dies gleichbedeutend mit dem Verzicht auf die Bewusstmachung des verdrängten Materials überhaupt. Dies wird tatsächlich von den meisten nicht-psychoanalytischen psychotherapeutischen Methoden versucht. Es ist zunächst der kürzere Weg, aber der Preis, der dafür bezahlt wird, ist der Verzicht auf die tiefgreifende Änderung in der seelischen Struktur. Der Widerstand ist geradezu das zuverlässigste Signal dafür, dass man verdrängtes Material berührt und sich nicht nur an der seelischen Oberfläche bewegt.
Die Feststellung der Notwendigkeit des Widerstandes besagt aber nicht, dass es für die Analyse umso besser sei, je stärker der Widerstand ist. Im Gegenteil. Wenn der Widerstand, aus welchen Gründen auch immer, ein bestimmtes Maß überschreitet, wird die Analyse der von ihm beschützten unbewussten Regungen überhaupt unmöglich, während umgekehrt die Analyse umso rascher fortschreitet und umso rascher erfolgreich beendet ist, je schneller es gelingt, durch den Widerstand hindurch zum unbewussten Material vorzustoßen. Erfolg und Dauer der Analyse sind davon abhängig, ob und wie rasch diese Durchstoßung der Widerstände gelingt, und die Frage, welches die Faktoren sind, von denen die Stärke des Widerstandes abhängt, ist deshalb gleichbedeutend mit der Frage nach den Erfolgschancen der analytischen Therapie. Um Missverständnisse zu vermeiden, muss hier bemerkt werden, dass es sich bei dem Widerstand, von dem wir hier sprechen, nicht um die Hemmungen handelt, die einen Patienten davon zurückhalten, einen bestimmten Einfall, den er hat, zu sagen. Auch solche Ängste spielen natürlich in der Analyse eine große Rolle, aber es ist im Prinzip eine Sache des Willens, sie zu überwinden. Wovon hier gesprochen wird, sind [I-117] die Tendenzen, die einen Menschen daran hindern, dass die verdrängten Gedanken, d.h. solche Gedanken, die zunächst einmal gar nicht in seinem Bewusstsein sind, ins Bewusstsein kommen.
Wovon hängt die Stärke des Widerstandes ab? Die Antwort auf diese Frage im Sinne Freuds wäre, etwas vereinfacht ausgedrückt: Die Stärke des Widerstandes ist proportional zur Stärke der Verdrängung, und die Stärke der Verdrängung wiederum hängt von der Stärke der Angst ab, die ursprünglich die Ursache der Verdrängung gewesen ist. Ob diese Ängste sich im Verlauf des Lebens verstärken oder abschwächen, hängt von den Lebensschicksalen ab, die der Kindheit folgen. Wie dem auch immer sei, wenn der Erwachsene eine Analyse beginnt, bringt er ein bestimmtes Maß an Angst, Verdrängungsenergie und Widerstand mit, und die Dauer wie überhaupt die Chancen des Erfolges der Analyse hängen von der Stärke des mitgebrachten Widerstandes ab. Er überträgt die mitgebrachte Angst auf die Person des Analytikers, und man kann deshalb in gewissem Sinne mit Recht sagen, die Stärke des Widerstandes hängt von der in der Übertragung entwickelten Angst vor dem Analytiker ab.
Hier taucht allerdings die Frage auf, wie es denn überhaupt möglich sein soll, dass der Patient in Gegenwart eines anderen ihm fremden Menschen Ängste überwindet, die bisher mit Bezug auf alle andern Menschen so stark waren, dass sie die Verdrängung aufrechterhielten. Die besonderen Gefühle, die dies in der Analyse möglich machen, sind leicht einzusehen. Zunächst findet nur eine allmähliche Annäherung an das verdrängte Material statt, man stößt nicht unmittelbar auf den Kern der Verdrängungen, sondern analysiert Schritt für Schritt die die zentrale Verdrängungsposition schützenden psychischen Schichten. Weiterhin hat ein Teil der Gründe für die Angst, die zur Verdrängung geführt hat, nur in einer bestimmten vergangenen Situation bestanden, sie sind in der Gegenwart gleichsam anachronistisch, und die Ängste, wenn sie nur bewusst gemacht werden, erscheinen spukhaft und verschwinden. Weiterhin kann der Analytiker anhand des ihm gebotenen Materials, speziell der Träume und Fehlleistungen und Zusammenhänge der Einfälle, das Vorhandensein bestimmter unbewusster Regungen dem Analysanden so wahrscheinlich machen, dass er sich dessen Vernunft als aktiven wirksamen Bundesgenossen bei der Aufdeckung des Verdrängten erwirbt. Hierzu kommt ferner das Leiden des Patienten, das sich oft als ein genügend starker Motor erweist, um den Widerstand zu überwinden. Ein anderer Faktor, an den man in diesem Zusammenhang häufig denkt, nämlich die in der Analyse auftretende Verliebtheit des Patienten in den Analytiker, ist von recht zweifelhaftem Wert für die Überwindung des Widerstandes. Sie wirkt zwar in der Richtung, dass der Patient sich dem Analytiker ganz eröffnen, gleichsam ganz hingeben will, und damit im Sinne der Überwindung des Widerstandes. Gleichzeitig aber wirkt sie auch in der entgegengesetzten Richtung, indem sie den Wunsch verursacht, in den Augen des Analytikers möglichst liebenswert und fehlerfrei dazustehen. Wenn die Verliebtheit die Form annimmt, dass der Analytiker zum Ideal, zum „Über-Ich“ des Analysanden wird, kann sie eine besonders schwere Hinderung in der Analyse darstellen.
Zu allen oben genannten Bedingungen für die Möglichkeiten der Überwindung des Widerstandes kommt noch die, dass der Analytiker eine freundliche, objektive und nicht verurteilende Haltung einnimmt. Vorausgesetzt, der Analytiker erfüllt diese [I-118] letzte Forderung, dann sieht es so aus, als ob die Stärke des Widerstandes ausschließlich von der Kindheitssituation und kaum von dem jetzt gegebenen, wirklichen Verhältnis zwischen Analytiker und Patient bestimmt ist. Dies ist auch der Standpunkt, der im Großen und Ganzen von Freud und manchen seiner Schüler vertreten wird. Sie sind geneigt, die Realität der Person des Analytikers, wenn nur gewisse allgemeine und recht formale Bedingungen erfüllt sind, für ziemlich unwichtig und alles, was sich an Reaktionen dem Analytiker gegenüber abspielt, für „Übertragung“, d.h. für Wiederholung von ursprünglich anderen Menschen geltenden Reaktionen zu halten. Diese Unterschätzung der Realität des Analytikers, also etwa seines Persönlichkeitstyps, Geschlechts, Alters und so fort, ist nur ein Ausdruck einer allgemeineren Voreingenommenheit Freuds gegen die Bedeutung der aktuellen Situation im Verhältnis zu den Kindheitserlebnissen. Wenn diese auch gewiss eine besondere und die Zukunft weitgehend determinierende Rolle spielen, und zwar bei dem durch den Mangel an seelischer Anpassungsfähigkeit charakterisierten Neurotiker noch mehr als beim Gesunden, so sind doch keineswegs die Erfahrungen des späteren Lebens einfach Wiederholungen und ohne Einfluss auf die Entwicklung der Triebstruktur.
Was spielt sich zwischen dem Analytiker und dem Patienten ab? Der Patient hat aus Angst vor Strafe, Liebesverlust, Isolierung, gewisse Triebregungen verdrängt. Die Verdrängung ist missglückt und hat zu neurotischen Symptomen geführt. Er kommt in die Analyse, deren Ziel es ist, das Verdrängte ins Bewusstsein zu heben. Die Angst, die ursprünglich zur Verdrängung geführt hat, wird auf den Analytiker übertragen. Aber diese mitgebrachte Angst wird stärker oder schwächer, je nach der Persönlichkeit und dem Verhalten des Analytikers. Im extremen Fall, wo der Analytiker eine verurteilende, feindliche Stellung den verdrängten Regungen gegenüber einnimmt, kann man wohl kaum überhaupt erwarten, dass der Patient imstande ist, durch den Widerstand zum Verdrängten durchzustoßen. Wenn der Patient, und mag es auch nur dunkel und instinktiv sein, fühlt, dass der Analytiker die gleiche verurteilende Einstellung zur Verletzung gesellschaftlicher Tabus hat wie die anderen Menschen, mit denen er in seiner Kindheit und später zusammengetroffen ist, dann wird in der aktuellen analytischen Situation der ursprüngliche Widerstand nicht nur übertragen, sondern neu produziert. Je weniger, umgekehrt, der Analytiker eine verurteilende Haltung hat und je mehr er andererseits das Glück des Patienten in einer unbedingten, durch nichts zu erschütternden Weise bejaht, desto mehr wird sich der mitgebrachte Widerstand abschwächen, und desto rascher kann man zum Verdrängten vorstoßen. Dabei ist das, was der Analytiker sagt oder was er bewusst denkt, von untergeordneter Bedeutung gegenüber dem, was in ihm unbewusst vorgeht und was das Unbewusste des Patienten errät und versteht. Die Frage nach der tatsächlichen bewussten und mehr noch nach der unbewussten Einstellung des Analytikers zu den gesellschaftlichen Tabus, deren Schutz in Vergeltungsdrohungen besteht, die zu den nun aufzuhebenden Verdrängungen geführt haben, ist deshalb von entscheidender Bedeutung für die Möglichkeit des therapeutischen Erfolges sowie für die Dauer der Analyse.
Wir sagten schon, dass Freud dem aktuellen Verhalten und besonderen Charakter des Analytikers relativ wenig Bedeutung zugemessen hat. Dies ist umso merkwürdiger, als die analytische Situation, so wie sie Freud geschaffen hat, in unserer Kultur, und [I-119] vielleicht überhaupt, ganz ungewöhnlich und unerhört ist. Es gibt keine auch nur annäherungsweise ähnliche Situation, in der ein Mensch einem anderen nicht nur rückhaltlos „beichtet“, d.h. ihm alles sagt, was er an sich verurteilt, sondern darüber hinaus noch jene flüchtigen Einfälle mitteilt, die absurd und lächerlich erscheinen, und wo er sich verpflichtet, auch alle jene Dinge zu sagen, die er jetzt noch gar nicht weiß, die ihm aber noch einfallen könnten, ja, wo er dem anderen auch alle Meinungen und Gefühle, die er über ihn hat, unverfälscht mitteilt und zum Gegenstand leidenschaftsloser Untersuchung macht. Diese Situation radikaler Offenheit und Wahrhaftigkeit geschaffen zu haben, ist sicher eine der großartigsten Leistungen von Freud. In seinen eigenen Äußerungen schimmert aber wenig von dem Bewusstsein der Ungewöhnlichkeit dieser Situation durch. Gewiss spricht er einmal davon, dass „die psychoanalytische Behandlung auf Wahrhaftigkeit aufgebaut“ und dass darin „ein gutes Stück ihrer erziehlichen Wirkung und ihres ethischen Wertes“ liege (S. Freud, 1915a, S. 312). Im Großen und Ganzen fasst er aber die Situation als eine medizinisch-therapeutische Prozedur auf, so wie sie sich ja auch tatsächlich aus der Hypnose entwickelt hatte. Was er über das Verhalten des Analytikers zum Patienten sagt, geht kaum über diesen technischen Aspekt hinaus und berührt selten die neuartige menschliche Seite der Situation. Der Analytiker soll von „gleichschwebender Aufmerksamkeit sein“, soll sich dem Patienten gegenüber „Indifferenz“ (S. Freud, 1915a, S. 313) und „Gefühlskälte“ (S. Freud, 1912e, S. 381) erwerben, er soll sich von „therapeutischem Ehrgeiz freihalten“ (a.a.O.) und es unter allen Umständen vermeiden, dem Liebesverlangen des Patienten nachzugeben. Er soll für den Patienten „undurchsichtig“ (S. Freud, 1912e, S. 384) sein, gleichsam glatt wie eine Spiegelfläche. Der Analytiker soll dem Patienten nicht sein Ideal aufdrängen, sondern „tolerant“ sein gegen die Schwäche des Kranken und „sich bescheiden, auch einem nicht Vollwertigen ein Stück Leistungs- und Genussfähigkeit wiedergewonnen zu haben“ (S. Freud, 1912e, S. 385). Andere Ratschläge zur Technik beziehen sich auf Fragen des äußeren Arrangements der Situation. Der Patient soll auf einem Diwan gelagert sein und der Analytiker so hinter ihm sitzen, dass er vom Patienten nicht gesehen wird. Der Patient soll nicht ohne Honorar analysiert werden und seine Stunde auch dann bezahlen müssen, wenn er sie durch Krankheit oder aus einem andern Grunde versäumt. Alles in allem entspricht das, was Freud an Ratschlägen über das Verhalten zum Patienten gibt, weit mehr dem, was ein Chirurg über die Lagerung des Patienten, Sterilisierung der Instrumente usw. zu sagen hätte, als der großartigen neuen menschlichen Situation, wie sie in dem Verhältnis Analytiker-Patient angelegt ist. Ja, Freud gibt ausdrücklich den Chirurgen als Vorbild an. „Ich kann“, sagt er, „den Kollegen nicht dringend genug empfehlen, sich während der psychoanalytischen Behandlung den Chirurgen zum Vorbild zu nehmen, der alle seine Affekte und selbst sein menschliches Mitleid beiseite drängt und seinen geistigen Kräften ein einziges Ziel setzt: die Operation so kunstgerecht als möglich zu vollziehen“ (S. Freud, 1912e, S. 381).
Nur in zwei Punkten geht Freud über das rein Technisch-Medizinische in positivem Sinn hinaus. Einmal darin, dass er, wenn auch nicht von Anfang an, gefordert hat, der Analytiker selbst solle analysiert sein, um so nicht nur die theoretisch bessere Einsicht in die Vorgänge im Unbewussten zu erhalten, sondern auch um sich seiner eigenen „blinden Flecke“ bewusst zu sein und seine [I-120] eigenen affektiven Reaktionen kontrollieren zu können. Die andere über das rein Technische hinausgehende Forderung Freuds ist die, dass der Analytiker allem gegenüber, was der Patient vorbringt, nicht werten, sondern eine objektiv vorurteilslose, neutrale, nachsichtige Haltung haben solle. Freud bezeichnet selbst wiederholt die hier gemeinte Haltung mit „Toleranz“. So sagt er etwa: „Als Arzt muss man vor allem tolerant sein gegen die Schwäche des Kranken“ (S. Freud, 1912e, S. 385), oder „das grobsinnliche Verlangen der Patientin (...) ruft alle Toleranz auf, um es als natürliches Phänomen gelten zu lassen“ (S. Freud, 1915a, S. 319). Oder er spricht von der „Toleranz der Gesellschaft, die sich im Gefolge der psychoanalytischen Aufklärung unabwendbar einstellt“ (S. Freud, 1910d, S. 114). Toleranz gegenüber dem Patienten ist tatsächlich die einzig positive Empfehlung, die Freud für das Verhalten des Analytikers neben der negativen, wie Gefühlskälte und Indifferenz, gibt.
Ein besseres Verständnis für das, was bei Freud Toleranz bedeutet, gewinnt man bei einem auch nur flüchtigen Überblick über den geschichtlichen und gesellschaftlichen Hintergrund der Toleranzidee. Die Toleranz hat zwei Seiten, die etwa in folgenden Maximen ihren Ausdruck gefunden haben: „Tout comprendre c’est tout pardonner“ und „Man soll jeden nach seiner Fasson selig werden lassen“. Die erste Maxime bezieht sich mehr auf die Milde des Urteils. Man soll nachsichtig sein, die Schwäche eines Menschen entschuldigen, nicht den Stab über ihn brechen, kurz gesagt, auch dem Schlimmsten gegenüber noch verzeihen. Die zweite Maxime drückt mehr jene Seite der Toleranz aus, bei der es darauf ankommt, alle Wertungen überhaupt zu vermeiden. Wertung selbst gilt schon als intolerant und einseitig. Ob jemand an Gott oder an Buddha glaubt, ob er für Diktatur oder Demokratie ist, oder was immer die verschiedensten Weltanschauungen und Wertsysteme sein mögen, alle sind nur Spielarten des menschlichen Denkens, und keine darf den Anspruch erheben, der anderen überlegen zu sein. Bis ins Achtzehnte Jahrhundert hinein hatte die Forderung der Toleranz einen kämpferischen Sinn. Sie war gegen Staat und Kirche gerichtet, die den Menschen verboten, gewisse Dinge zu glauben oder gar zu äußern. Der Kampf für Toleranz war ein Kampf gegen Unterdrückung und Knebelung des Menschen. Er wurde von den Vertretern des aufsteigenden Bürgertums geführt, das gegen die politischen und wirtschaftlichen Fesseln des absolutistischen Staates kämpfte. Mit dem Sieg des Bürgertums und seiner Etablierung als herrschender Klasse verschob sich die Bedeutung der Toleranz. Aus einem Kampfruf gegen die Unterdrückung und für die Freiheit, wurde Toleranz mehr und mehr der Ausdruck eines intellektuellen und moralischen laissez faire. Das Verhältnis von Menschen, die sich als Käufer und Verkäufer auf dem freien Markt treffen, setzte diese Art Toleranz voraus; die Individuen mussten sich unabhängig von ihren subjektiven Meinungen und Wertmaßstäben als abstrakt gleich wertvoll anerkennen, sie mussten Wertungen für etwas Privates und in die Beurteilung eines Menschen nicht Einzugehendes ansehen. Toleranz wurde ein Relativismus von Werten, die selbst zum privaten und niemand anderen etwas angehenden Besitz des Individuums erklärt wurden. Im Bewusstsein ging die Duldung unbegrenzt weit. In Wirklichkeit hatte sie ihre klaren, wenn auch unausgesprochenen Grenzen dort, wo die Grundlage der bestehenden Ordnung bedroht war. Dies gilt nicht nur für direkte Bedrohungen politischer oder sozialer Art, sondern auch für die [I-121] Verletzung jener fundamentalen Tabus, die zum „Kitt“ der Gesellschaft gehören und für den Bestand einer auf Klassengegensätzen aufgebauten Gesellschaft unerlässlich sind. Die unerbittliche Strenge gegen jeden Übertreiber dieser Tabus kann in Zeiten, wo die Herrschaft des Bürgertums relativ gesichert und stabil ist, aus dem Bewusstsein weitgehend verschwinden. Sie bleibt aber nichtsdestoweniger im Unbewussten erhalten und kommt sofort an die Oberfläche, wenn vitale persönliche oder gesellschaftliche Interessen ernsthaft in Frage stehen. Die liberalistische Toleranz, wie sie sich im Neunzehnten Jahrhundert entwickelt hat, ist in sich widerspruchsvoll: Im Bewusstsein der Menschen herrscht ein Relativismus gegenüber allen Werten überhaupt, im Unbewussten eine nicht minder strenge Verurteilung aller Tabuverletzungen.
Diese Problematik des Toleranzbegriffes zeigt sich bereits in klassischen Äußerungen zu Beginn der bürgerlichen Periode. Mirabeau wendet sich gegen den Begriff der Toleranz mit einer Polemik gegen den Artikel 10 der Erklärung der Menschenrechte von 1789, der die Toleranz proklamierte, indem er sagt: „Ich will keine Toleranz predigen. Die unbeschränkteste Religionsfreiheit ist in meinen Augen ein so heiliges Recht, dass das Wort Toleranz, mit dem sie ausgedrückt werden soll, mir in einer Art selbst tyrannisch erscheint, denn das Vorhandensein einer Autorität, die die Macht zur Toleranz hat, ist ein Attentat auf die Denkfreiheit, da sie das, was sie duldet, auch ebenso gut nicht dulden könnte“ (zit. nach A. Aulard, 1924, S. 36).
Mirabeaus radikale Formulierung verdeckt noch den Tatbestand, dass sich die liberalistische Toleranz nur auf das Denken und Reden, nicht aber auf das Handeln bezieht, vielmehr hier sehr schnell ihre Grenze findet. Diese Grenze der bürgerlichen Toleranzidee kommt bei Kant deutlich zum Ausdruck. Was Kant als Freiheit in der Gesellschaft fordert, ist wesentlich die Freiheit des Gelehrten, als Gelehrter zu schreiben und zu sagen, was er denkt. Ihr entspricht die unbedingte Gehorsamspflicht des Bürgers gegen die gesetzgebende Obrigkeit. „Nun ist zu manchen Geschäften, die in das Interesse des gemeinen Wesens laufen, ein gewisser Mechanismus notwendig, vermittelst dessen einige Glieder des gemeinen Wesens sich bloß passiv verhalten müssen, um durch eine künstliche Einhelligkeit von der Regierung zu öffentlichen Zwecken gerichtet oder wenigstens von der Zerstörung dieser Zwecke abgehalten zu werden. Hier ist es nun freilich nicht erlaubt zu räsonieren; sondern man muss gehorchen“ (I. Kant, 1913, S. 171).
Den Wertrelativismus dieser Toleranzidee zeigt ein Erlass des Nationalkonvents von 1793:
Der Nationalkonvent (...) hindert Euch nicht in Euren Meinungen, stellt Euch keine Gewissensfragen, und das erste Gesetz, das er im Namen des Volkes erlassen hat, dessen Organ er ist, enthält in aller Form die Anerkennung der freien Übung aller Kulte. Übt also unbesorgt die Bräuche, die Ihr für gut haltet. Dienet dem Schöpfer der Natur auf Eure Weise. Juden, Christen, Mohammedaner, Schüler des Konfuzius oder Anbeter des großen Lama, Ihr seid in den Augen eines freien Volkes alle gleich. (Zit. nach A. Aulard, 1924, S. 390.)
Den hervorragendsten Ausdruck fand die liberale Toleranz in den verschiedenen bürgerlichen Reformbestrebungen. In der Strafrechtsreform war sie bestrebt, den Kriminellen zu erklären, zu entschuldigen und seine Behandlung in den Strafanstalten zu verbessern. Man verstand manche der psychologischen und sozialen [I-122] Bedingungen seines Handelns und betrachtete ihn als einen Menschen, der ja eigentlich „gar nicht so schlimm“ ist, dessen Handlungen man irgendwie verstehen kann und über den man deshalb nicht den Stab brechen soll. Aber bei aller Milde und Toleranz dem Verbrecher gegenüber kam die bürgerliche Strafrechtsreform doch nie dazu, den Begriff des Verbrechens prinzipiell aufzuheben. Auch der liberalste Strafrechtsreformer hätte es, wenn auch unter allen möglichen Rationalisierungen, abgelehnt, einen „Verbrecher“ zum Schwiegersohn zu haben, wollte seine Tochter einen Defraudanten heiraten, der im Gefängnis gesessen hat. Nicht wesentlich anders ist es mit der Schulreform. Man erlaubte den Kindern der bessergestellten gesellschaftlichen Schichten ein größeres Maß an Freiheit, verzichtete auf Strafen oder spezielle religiöse Unterweisung, aber keineswegs darauf, ihren Charakter im Sinne der grundlegenden Erfordernisse ihrer Klasse zu formen. Streben nach Erfolg, Pflichterfüllung, Respekt vor den Tatsachen, waren unabdingbare Erziehungsziele, auch wenn man in vielen einzelnen, aber nicht fundamentalen Dingen ein großes Maß an Freiheit erlaubte.
Die psychoanalytische Situation ist ein anderer Ausdruck der bürgerlich-liberalistischen Toleranz. Hier soll ein Mensch einem anderen gegenüber solche Gedanken und Impulse zum Ausdruck bringen, die im schroffsten Gegensatz zu den gesellschaftlichen Tabus stehen, und der andere soll nicht entrüstet auffahren, keinen moralisierenden Standpunkt einnehmen, sondern objektiv und freundlich bleiben, kurz auf jede beurteilende Einstellung verzichten. Diese Haltung ist nur denkbar auf dem Boden jener allgemeinen Toleranz, wie sie sich im wachsenden Maße im großstädtischen Bürgertum ausgebildet hat, und tatsächlich sind die Psychoanalytiker fast ausschließlich Angehörige des großstädtisch-liberalen Bürgertums, dessen Vertreter wir auch in allen Reformbewegungen treffen. Auch die Toleranz des Psychoanalytikers hat die zwei Seiten, von denen oben gesprochen wurde: Einerseits wertet er nicht, steht allen Erscheinungen objektiv und neutral gegenüber, andererseits aber teilt er, wie jedes andere Mitglied seiner Klasse, den Respekt vor den fundamentalen gesellschaftlichen Tabus und empfindet dieselbe Abneigung gegen jeden, der sie verletzt. Es wird ihm gewiss besonders leicht, diese Abneigung aus seinem Bewusstsein zu bannen. Zunächst einmal deshalb, weil ihm gar nichts anderes übrigbleibt, wenn er überhaupt eine Praxis ausüben will. Dann aber, weil ein kranker, leidender Mensch zu ihm kommt, der gleichsam mit seiner Neurose die Strafe für seine unsozialen Tendenzen schon erlitten hat. Da nun die verurteilende Einstellung, die auch bei Freud keineswegs fehlt, im wesentlichen unbewusst ist, so ist es schwierig, ihr Vorhandensein nachzuweisen. Die wichtigste Quelle für diesen Nachweis ist das Studium der Persönlichkeit des Analytikers selbst. Ein solcher Versuch ist an dieser Stelle nicht möglich. Immerhin aber erlauben auch die Schriften Freuds eine gewisse Einsicht in den hinter der Toleranz versteckten Respekt vor den gesellschaftlichen Tabus des Bürgertums.
Da Freud in der Verdrängung sexueller Impulse die wichtigste Ursache der neurotischen Erkrankung gesehen hat, ist es der beste Ausgangspunkt, seine Stellung zur bürgerlichen Sexualmoral bzw. zu ihrer Verletzung zu studieren. Gewiss hat Freud eine kritische Stellung zur bürgerlichen Sexualmoral eingenommen. Er hat ferner den Mut gehabt nachzuweisen, dass sexuelle Impulse auch da eine Rolle spielen, wo man [I-123] bisher ganz andere „ideale“ Motive gesehen hatte, und selbst da, wo – wie beim kleinen Kinde – die Annahme sexueller Motive geradezu ein Sakrileg bedeutete. Seine nicht-liberalen Gegner haben ihm dieser Haltung wegen den Vorwurf der Pansexualität gemacht, ja man hat gesagt, er sei der typische Vertreter einer libertinistischen dekadenten Gesellschaftsschicht. Wie steht es aber in Wirklichkeit mit Freuds Haltung zur Sexualmoral? Gewiss ist er tolerant, und gewiss hat er an der bürgerlichen Sexualmoral die Kritik geübt, dass ihre allzu große Strenge häufig zu neurotischen Erkrankungen führt. Aber selbst wo die Kritik an der bürgerlichen Sexualmoral zum Gegenstand wird, in der Arbeit Die kulturelle Sexualmoral und die moderne Nervosität (1908d) kommt zum Ausdruck, dass seine Haltung kritisch, aber keineswegs prinzipiell von derjenigen seiner Klasse verschieden ist. Freud unterscheidet in diesem Aufsatz drei Kulturstufen:
eine erste, auf welcher die Betätigung des Sexualtriebes auch über die Ziele der Fortpflanzung hinaus frei ist; eine zweite, auf welcher alles im Sexualtrieb unterdrückt ist bis auf das, was der Fortpflanzung dient, und eine dritte, auf welcher nur die legitime Fortpflanzung als Sexualziel zugelassen wird. Dieser dritten Stufe entspricht unsere gegenwärtige, „kulturelle“ Sexualmoral. (S. Freud, 1908d, S. 152.)
Er stellt die Frage:
Erstens, welche Aufgabe die Kulturforderung der dritten Stufe an den einzelnen stellt; zweitens, ob die zugelassene legitime Sexualbefriedigung eine annehmbare Entschädigung für den sonstigen Verzicht zu bieten vermag; drittens, in welchem Verhältnis die etwaigen Schädigungen durch diesen Verzicht zu dessen kulturellen Ausnützungen stehen. (S. Freud, 1908d, S. 156.)
Auf diese erste Frage antwortet Freud: „Was unsere dritte Kulturstufe von dem einzelnen fordert, ist die Abstinenz bis zur Ehe für beide Geschlechter, die lebenslange Abstinenz für alle solche, die keine legitime Ehe eingehen“ (S. Freud, 1908d, S. 156). „Die Mehrzahl der unsere Gesellschaft zusammensetzenden Personen“ sei „der Aufgabe der Abstinenz konstitutionell nicht gewachsen“, den meisten gelingt die Sublimierung ihrer Sexualität nicht; sie „werden neurotisch oder kommen sonst zu Schaden“ (S. Freud, 1908d, S. 156).
Auf die Frage, ob der Sexualverkehr in legitimer Ehe eine volle Entschädigung für die Einschränkung vor der Ehe bieten kann, gibt Freud eine verneinende, aber recht merkwürdige Antwort. Er weist darauf hin, dass unsere kulturelle Sexualmoral
auch den sexuellen Verkehr in der Ehe selbst beschränkt, indem sie den Eheleuten den Zwang auferlegt, sich mit einer meist sehr geringen Anzahl von Kinderzeugungen zu begnügen. Infolge dieser Rücksicht gibt es befriedigenden sexuellen Verkehr in der Ehe nur durch einige Jahre, natürlich noch mit Abzug der zur Schonung der Frau aus hygienischen Gründen erforderten Zeiten. Nach diesen drei, vier oder fünf Jahren versagt die Ehe, insofern sie die Befriedigung der sexuellen Bedürfnisse versprochen hat, denn alle Mittel, die sich bisher zur Verhütung der Konzeption ergeben haben, verkümmern den sexuellen Genuss, stören die feinere Empfindlichkeit beider Teile oder wirken selbst direkt krankmachend. (S. Freud, 1908d, S. 157.)
Freud geht hier weit über das hinaus, was er eigentlich sagen will. Seine Absicht ist ja nach seinen eigenen Worten bloß die Kritik an der Sexualmoral der dritten Stufe, der Monogamie. Er will zeigen, dass die Monogamie keine genügende Sexualbefriedigung zulässt, die Nervosität steigert, und dass deshalb Grund vorliegt, eine Milderung unserer Sexualmoral ins Auge zu fassen. Er begründet aber die Kritik an der Monogamie mit Argumenten [I-124] – nämlich der Schädlichkeit der konzeptionsverhütenden Mittel und der Unmöglichkeit unbeschränkter Kinderzahl –, die ganz in der gleichen Weise auch für eine von der heutigen abweichende „reformierte“ Sexualmoral gelten würden, also speziell für eine Moral, die den vor- und außerehelichen Sexualverkehr erlaubt. Diese „Fehlleistung“ darf man wohl so interpretieren, dass darin jene unbewusste, tief skeptische Haltung zum Ausdruck kommt, die er zur Möglichkeit eines befriedigenden Sexuallebens überhaupt hat. Dieser Eindruck wird noch verstärkt, wenn man berücksichtigt, dass, wäre ihm entscheidend an der Schaffung von Verhältnissen gelegen, die volle Sexualbefriedigung zulassen, er im Rahmen seiner Argumentation den größten Nachdruck auf die Möglichkeit der Verbesserung der Methoden zur Konzeptionsverhütung gelegt hätte, statt sich mit der bloßen Feststellung ihres bisherigen Versagens zu begnügen. Die gleiche skeptische Haltung drückt sich in seiner Beantwortung der dritten Frage aus. Er erklärt sich „für unfähig, Gewinn und Verlust hier richtig gegeneinander abzuwägen“ (S. Freud, 1908d, S. 159), gibt aber immerhin zu bedenken, dass die Abstinenz im allgemeinen der Entwicklung eines energischen aktiven Charakters hinderlich ist und leicht zur Ausbildung sexueller Anomalitäten führt. „Man darf wohl die Frage aufwerfen“, so schließt er diesen Aufsatz,
ob unsere „kulturelle“ Sexualmoral der Opfer wert ist, welche sie uns auferlegt, zumal, wenn man sich vom Hedonismus nicht genug freigemacht hat, um nicht ein gewisses Maß von individueller Befriedigung unter die Ziele unserer Kulturentwicklung aufzunehmen. Es ist gewiss nicht Sache des Arztes, selbst mit Reformvorschlägen hervorzutreten; ich meinte aber, ich könnte die Dringlichkeit solcher unterstützen, wenn ich die von Ehrenfels’sche Darstellung der Schädigungen durch unsere „kulturelle“ Sexualmoral um den Hinweis auf deren Bedeutung für die Ausbreitung der modernen Nervosität erweitere. (S. Freud, 1908d, S. 167.)
Selbst in diesem Aufsatz, der die für Freud radikalste Kritik an der bürgerlichen Sexualmoral darstellt, ist er ein typischer Reformer. Er weist auf die Gefahren hin, die die strikte Sexualmoral mit sich bringt, plädiert für gewisse Erleichterungen, zeigt aber in der tief skeptischen Haltung gegenüber der Möglichkeit adäquater Sexualbefriedigung überhaupt, dass seine Kritik in keiner Weise prinzipiell ist. Zeigt er in diesem Aufsatz immerhin noch Züge eines Kritikers, so nimmt er in dem vier Jahre später geschriebenen Aufsatz Über die allgemeinste Erniedrigung des Liebeslebens (S. Freud, 1912d), eindeutig eine Stellung zugunsten der von ihm so genannten „kulturellen“ Sexualmoral ein. Er sagt (S. 87 f.):