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Der Sammelband "Liebe, Sexualität und Matriarchat" versammelt die wichtigsten Beiträge Erich Fromms zur Genderfrage. Tatsächlich ist Erich Fromm mit seinen Arbeiten zum Mutterrecht und mit seiner Kritik an der Vorherrschaft des Mannes ein wichtiger Vordenker des Feminismus und der Gleichberechtigung der Geschlechter. Fromm interessiert nicht so sehr die Tatsache des anatomischen und biologischen Unterschieds der Geschlechter, auch nicht die überlebenswichtige Funktion der Sexualität, sondern vielmehr die Funktionalisierung der Genderfrage im Laufe der Menschheitsgeschichte. Die sexuelle Anziehungskraft des jeweils anderen Geschlechts hat dabei offensichtlich nur eine sehr begrenzte Bedeutung und konnte den Menschen nicht daran hindern, den Geschlechtsunterschied zur Ausübung von Herrschaft zu benutzen. Den Sozialpsychologen Fromm interessiert dabei vor allem die Frage, wie sich die gesellschaftlich geprägte Genderfrage in der psychischen Strukturbildung (Charakter) widerspiegelt und wie sie die Liebesfähigkeit und die Funktion der Sexualität beeinflusst. Über all dies gibt dieser Sammelband umfassend Auskunft. Aus dem Inhalt - Bachofens Entdeckung des Mutterrechts - Die sozialpsychologische Bedeutung der Mutterrechtstheorie - Die männliche Schöpfung - Robert Briffaults Werk über das Mutterrecht - Die Bedeutung der Mutterrechtstheorie für die Gegenwart - Geschlecht und Charakter - Mann und Frau - Sexualität und Charakter. Psychoanalytische Bemerkungen zum Kinsey-Report - Selbstsucht und Selbstliebe - Die Faszination der Gewalt und die Liebe zum Leben
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Seitenzahl: 371
Erich Fromm(1994a)
Als E-Book herausgegeben und kommentiert von Rainer FunkSoweit nicht ursprünglich in deutscher Sprache verfasst, sind die Übersetzungen aus dem Amerikanischen jeweils bei den einzelnen Beiträgen vermerkt.
Erstveröffentlichung 1994 unter dem Titel Liebe, Sexualität und Matriarchat. Beiträge zur Geschlechterfrage beim Deutschen Taschenbuch Verlag in München, herausgegeben und eingeleitet von Rainer Funk. Die einzelnen Beiträge fanden 1999 weitgehend Aufnahme in die Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag). – Die Erstpublikation der Schriften dieses Bandes in englischer Sprache erfolgte 1997 unter dem Titel Love, Sexuality, and Matriarchy. About Gender bei Fromm International Publishing Corporation in New York.
Die E-Book-Ausgabe der einzelnen Beiträge dieses Sammelbandes orientiert sich an den von Rainer Funk herausgegebenen und kommentierten Textfassungen in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag) 1999.
Die Zahlen in [eckigen Klammern] geben die Seitenwechsel in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden wieder.
Copyright © 1994 by The Estate of Erich Fromm; Copyright © als E-Book 2015 by The Estate of Erich Fromm. Copyright © Edition Erich Fromm 2015 by Rainer Funk.
Liebe, Sexualität und Matriarchat. Beiträge zur Geschlechterfrage
Vorwort von Rainer Funk
Mutterrecht und männliche Schöpfung
Bachofens Entdeckung des Mutterrechts
Die sozialpsychologische Bedeutung der Mutterrechtstheorie
I
II
III
IV
Die männliche Schöpfung
Robert Briffaults Werk über das Mutterrecht
Die Bedeutung der Mutterrechtstheorie für die Gegenwart
Geschlechtsunterschiede und Charakter
Geschlecht und Charakter
Mann und Frau
Geschlecht und Sexualität
Sexualität und Charakter. Psychoanalytische Bemerkungen zum Kinsey-Report
Gesellschafts-Charakter und Liebe
Selbstsucht und Selbstliebe
Selbstsucht und Nächstenliebe
Die Entsprechung von Selbst- und Objektbezug
Hass und Selbsthass
Liebe als leidenschaftliche Bejahung
Selbstliebe und Selbstsucht
Die Faszination der Gewalt und die Liebe zum Leben
Literaturverzeichnis
Man wird weder die Psychologie der Frau verstehen noch die des Mannes, solange man nicht in Betracht zieht, dass seit etwa sechstausend Jahren Kriegszustand zwischen den Geschlechtern herrscht. Dieser Krieg ist ein Guerilla-Krieg. Vor sechstausend Jahren besiegte das Patriarchat die Frauen, und es wurde die Gesellschaft auf die Vorherrschaft des Mannes gegründet. Die Frauen wurden zu seinem Besitz und hatten für jedes Zugeständnis, das ihnen gemacht wurde, dankbar zu sein. Es gibt aber keine Vorherrschaft des einen Teils der Menschheit über den anderen, es gibt keine Vorherrschaft einer sozialen Klasse, einer Nation oder eines Geschlechts über das andere, ohne dass es unterschwellig zu Rebellion, Wut, Hass und Rachewünschen bei denen kommt, die unterdrückt und ausgebeutet werden, und zu Angst und Unsicherheit bei denen, die ausbeuten und unterdrücken.
In dieser Interview-Aussage Erich Fromms (1975i), am 16. Februar 1975 in der italienischen Zeitschrift L’Espresso veröffentlicht, sind die Grundgedanken Fromms zur Geschlechterfrage zusammengefasst. Nicht die Tatsache des Geschlechtsunterschieds schafft Probleme; vielmehr führt seine Verzweckung unweigerlich zu Schwierigkeiten bei beiden Geschlechtern.
Erich Fromm interessiert nicht in erster Linie die Tatsache des anatomischen und biologischen Unterschieds der Geschlechter, sondern seine Funktionalisierung im Laufe der Menschheitsgeschichte. Der Geschlechtsunterschied – das Anderssein des anderen Geschlechts – hat in Verbindung mit der Sexualität die Funktion, das Überleben des Menschen sicherzustellen. Die sexuelle Anziehungskraft des jeweils anderen Geschlechts hat dabei aber offensichtlich nur eine sehr begrenzte Bedeutung und konnte den Menschen nicht daran hindern, den Geschlechtsunterschied zur Ausübung von Herrschaft zu benützen. An der Geschlechterfrage interessiert deshalb in erster Linie, wie sich diese Funktionalisierung des Geschlechtsunterschieds seelisch auf das Identitätserleben des Einzelnen wie auf das Zusammenleben der Menschen und insbesondere der Geschlechter auswirkt.
Jede Lösung der Geschlechterfrage, die nur eine Verschiebung der Herrschaft vom Mann auf die Frau anstrebt, fördert den Krieg der Geschlechter. Darum hält Fromm (1975i) in dem bereits erwähnten Interview von 1975 auch nichts von einer Frauenrechtsbewegung, die in Wirklichkeit „das Prinzip der patriarchalischen Welt fortführt, nur dass die Frauen dann jene Macht haben, die bisher ausschließlich eine Domäne der Männer war“, weil die Frauen nicht „menschlich emanzipiert werden“. Der Krieg dauert an und
erzeugt unweigerlich auf beiden Seiten eine Menge Hass und Sadismus. Die Ausgebeuteten und die Ausbeuter sitzen im gleichen Boot, vergleichbar einem Gefangenen und seinem Wärter. Sie beide bedrohen sich gegenseitig und hassen sich gegenseitig. Sie beide haben Angst vor den Angriffen des anderen. Auch wenn die Männer das Gegenteil vorgeben, so haben sie doch Angst vor den Frauen.
Es gibt kaum eine psychologische Frage, die derart kontrovers geführt wird und komplex ist wie die Geschlechterfrage. Der Grund ist einfach: Weil wir noch immer in der Tradition des Patriarchats stehen, ist jeder bei der Geschlechterfrage Betroffener und Voreingenommener und partizipiert an Übertragungen und Projektionen, wie sie im „Krieg der Geschlechter“ gang und gäbe sind. Hier einen Zugang zur Klärung zu finden setzt voraus, dass wir uns unseres Partizipierens an den patriarchalischen Denkmustern bewusst werden und eine Vorstellung von Wahrnehmungs- und Denkmustern entwickeln, die matriarchalisch sind. Nur so lässt sich eine den Geschlechterunterschied integrierende Wirklichkeitswahrnehmung erahnen und einüben.
Jede sinnvolle Beschäftigung mit der Geschlechterfrage muss von der Funktionalisierung des Geschlechterunterschieds seit der Etablierung des Patriarchats ausgehen. Fromm selbst kam zu dieser Erkenntnis schon Ende der Zwanziger Jahre aufgrund der Lektüre der Schriften Johann Jakob Bachofens und auf Grund von Gesprächen im Hause des Baden-Badener Arztes Georg Groddeck. Die Bedeutung, die Bachofens Werk Das Mutterrecht (1926) für die Entwicklung des Frommschen Denkens hatte, kann nicht überschätzt werden. Einen literarischen Niederschlag fand die Rezeption Bachofens bei Fromm bereits Anfang der Dreißiger Jahre. Die Wertschätzung Bachofens zieht sich durch das gesamte Werk Fromms. Noch im Alter zählte Fromm Bachofen zu den wichtigsten Quellen seines Denkens und wurde nicht müde, die Lektüre von Das Mutterrecht zu empfehlen.
Die Beiträge des ersten Teils in dieser Sammlung sind ein beredtes Zeugnis von Fromms Rezeption der Bachofenschen Erkenntnisse über mutter- und vaterrechtliche Gesellschaftsstrukturen. In ihnen zeigt Fromm nicht nur, mit welcher Begeisterung er Bachofen rezipiert hat; Fromm entpuppt sich auch als wichtiger Vordenker der heute so aktuell gewordenen Geschlechterfrage.
Matriarchalische und patriarchalische Gesellschaftsstrukturen bestimmen wesentlich die Geschlechterfrage. Doch sie sind nicht die einzigen Determinanten. Im zweiten Teil des vorliegenden Bandes untersucht Fromm, ob es einen Zusammenhang zwischen dem jeweiligen Geschlecht und dem Charakter eines Menschen gibt. Dabei versucht der Aufsatz Geschlecht und Charakter (1943b) aufzuzeigen, dass biologische Unterschiede zwischen Mann und Frau gewisse charakterologische Unterschiede zur Folge haben. Die Ausführungen konzentrieren sich auf die unterschiedlichen Rollen von Mann und Frau beim Geschlechtsverkehr und den daraus ableitbaren charakterologischen Konsequenzen. Freilich sind diese mit solchen vermischt, die unmittelbar durch soziale Faktoren entstehen. Letztere sind „sehr viel stärker in ihrer Wirkung und können biologisch verwurzelte Unterschiede entweder verstärken, auslöschen oder umkehren“. – 1949 hat Fromm diesen Aufsatz um wichtige Passagen erweitert (vgl. R. H. Anshen, 1949, S. 375-392), die in die vorliegende deutsche Wiedergabe erstmals übernommen wurden.
Der zweite Beitrag zum Thema „Geschlechtsunterschiede und Charakter“ trägt den Titel Mann und Frau (1951b) und entstand aus einem Vortrag, den Fromm 1949 zur Geschlechterfrage hielt. In der vorliegenden Wiedergabe sind die wichtigsten Ausführungen Fromms bei der Diskussion seines Vortrags mit aufgenommen. Der Vortrag, 1951 veröffentlicht, steht in einer theoretischen Spannung zum vorgenannten Beitrag Geschlecht und Charakter (1943b), insofern Fromm hier nicht mehr den Versuch macht, charakterologische Geschlechtsunterschiede aus geschlechtsspezifischen biologischen Gegebenheiten abzuleiten, sondern lapidar feststellt: Es „trifft nicht zu“, dass „Schwierigkeiten in den Beziehungen zwischen Mann und Frau ihrem Wesen nach durch den Geschlechtsunterschied bedingt sind“. In erster Linie handelt es sich bei der Beziehung zwischen Mann und Frau um eine Beziehung zwischen Menschen. Und diese wird durch den jeweils vorherrschenden Gesellschafts-Charakter definiert. Der heute vorherrschende Gesellschafts-Charakter zeichnet sich gerade dadurch aus, dass sich die Menschen nicht mehr an ihrem Eigensein und an geschlechtsspezifischen Eigentümlichkeiten orientieren, sondern am Markt, am Erfolg, an der Erwartung der anderen, an der Rolle, die ihnen zugesprochen wird. Für den Marketing-Charakter gilt: „Die Beziehungen zwischen Mann und Frau haben nur noch wenig Spezifisches.“
Fromm sieht die Geschlechterfrage sowohl durch die matriarchalischen und patriarchalischen Gesellschaftsstrukturen bestimmt als auch durch die jeweils dominante Orientierung des Gesellschafts-Charakters. Dies hat weitreichende Folgen für die Rolle und das Verständnis der Sexualität im Kontext der Geschlechterfrage. Der dritte Teil dieses Bandes enthält deshalb den Beitrag Sexualität und Charakter (1948b). Er entstand 1948 aus Anlass der Veröffentlichung des Kinsey-Reports. Auf diesen geht Fromm aber nur beiläufig ein. In Abgrenzung von Sigmund Freud, der den Charakter eines Mannes und einer Frau vom Schicksal her begreift, den der Sexualtrieb bei Jungen und Mädchen erfährt, erklärt Fromm den Zusammenhang genau umgekehrt: „Meiner Ansicht nach ist sexuelles Verhalten nicht die Ursache, sondern die Auswirkung der Charakterstruktur eines Menschen.“ Nicht das „Bett“ entscheidet über das Wohl und Wehe der Beziehung, sondern die Art des Beziehungsmusters, also die Charakterorientierung, entscheidet über das sexuelle Verhalten. Geschlechtsspezifische Probleme resultieren deshalb nicht aus dem Geschlechtsunterschied, sondern sind in erster Linie der Ausdruck der besonderen Art, in der zwei Menschen aufeinander bezogen sind.
Wenn die Geschlechterfrage und die sich am Geschlechtsunterschied festmachenden Probleme der Geschlechterbeziehung nicht in erster Linie ein Ausdruck des Geschlechtsunterschieds sind, vielmehr der Geschlechtsunterschied verzweckt wird, um Leidenschaften (Charakterzüge) wie Herrschaftsausübung und Unterwürfigkeit, Liebe und Hass ausleben zu können, dann ist die Frage des Verhältnisses der Geschlechter zueinander vor allem die Frage, welche Charakterorientierung die Beziehungen der Menschen bestimmt: Liebe oder Hass, die Liebe zum Leben oder die Faszination der Gewalt. Der vierte Teil des vorliegenden Bandes handelt darum von diesen Grundorientierungen, die auch über die Geschlechterfrage entscheiden. Beide Beiträge werden dem deutschen Leser erstmals zugänglich gemacht.
Der Artikel Selbstsucht und Selbstliebe (1939b) wurde im Jahr 1939 in der Zeitschrift Psychiatry veröffentlicht und blieb, abgesehen vom ersten Teil, den Fromm 1947 in sein Buch Psychoanalyse und Ethik (1947a, GA II, S. 78-91) übernahm, vergessen. Er gehört zu den wichtigsten Aufsätzen Fromms. In ihm entwickelt er – lange vor den Vertretern der Selbstpsychologie und der Narzissmustheorie – eine Theorie des Selbst, in der er im Unterschied zu Sigmund Freud darlegt, dass sich die Beziehung des Menschen zu sich selbst und seine Beziehung zu anderen immer entsprechen. Statt von einer Konkurrenz von Selbstliebe und Nächstenliebe geht er von einer Korrespondenz und Korrelation von Selbstbezug und Objektbezug aus. Dabei unterstreicht er die Selbstliebe als positiven Bezug zu sich selbst. Erst wenn diese vereitelt wird, kommt es zu Selbstsucht und Narzissmus als Kompensationsformen für mangelnde Selbstliebe. Die gleiche Logik von Selbst- und Objektbezug zeigt er auch für den Hass auf und spricht von einem reaktiven und einem charakterbedingten Hass. Überraschend ist hierbei, mit welcher Klarheit Fromm 1939 die psychologischen Grundlagen des Nationalsozialismus in Deutschland zur Darstellung bringen konnte. (Die Zwischenüberschriften wurden aus Gliederungsgründen von mir hinzugefügt.)
Liebe und Hass sind Grundorientierungen des Charakters und prägen das Verhältnis der Geschlechter. Im Laufe des Zwanzigsten Jahrhunderts haben Liebe und Hass eine sehr viel umfassendere und zugleich präzisere Bedeutung bekommen. Es geht nicht mehr einfach nur um Liebe, sondern um die Liebe zum Lebendigen, zu dem, was wächst und sich entfaltet: um die Biophilie. Und es geht nicht einfach mehr nur um Hass, sondern um die Lust an der Zerstörung um der Zerstörung willen, um das Angezogensein von allem Leblosen, um die Faszination der Gewalt, um die Liebe zum Toten: um die Nekrophilie. Davon handelt der letzte Beitrag, den Fromm 1967 in einer amerikanischen Zeitschrift veröffentlichte. Nicht die Geschlechterfrage entscheidet über die Zukunft des Menschen, sondern ob die Liebe zum Leben oder die Liebe zum Toten unsere Beziehungen, und deshalb auch die Beziehungen der Geschlechter, bestimmt. „Eine solche, das Leben liebende Einstellung ist freilich nur schwer in Erfahrung zu bringen in einer Kultur, für die Ergebnisse wichtiger sind als der Prozess, für die die Dinge wichtiger sind als das Leben, die die Mittel zu Zwecken macht und die uns anhält, unseren Verstand zu gebrauchen, wenn unser Herz gefragt ist. Einen anderen Menschen zu lieben und das Leben zu lieben lässt sich nicht durch Akkordarbeit erreichen. Beim Sex funktioniert das; bei der Liebe jedoch nicht. Ohne eine Lust an der Stille gibt es keine Liebe.“ (1967e, GA XI, S. 347.)
(Bachofen’s Discovery of the Mother Right)
(1994b [1955])[1]
Auch wenn Johann Jakob Bachofen (1815-1887) heute nur vergleichsweise wenigen Fachleuten bekannt ist, so ist er doch beileibe kein in Vergessenheit geratener Autor.[2] Er war nie sehr bekannt oder gar berühmt, auch damals nicht, als seine Bücher erschienen, oder kurz nach seinem Tod. In den letzten Jahren seines Lebens fand sein Werk bei einigen Anthropologen, etwa bei Adolf Bastian oder bei Lewis H. Morgan, Bewunderung und Anerkennung. Auch Friedrich Engels wurde – wie auch Karl Marx – stark von Bachofens Werk beeinflusst. Es vergingen viele Jahre, in denen Bachofen fast vollständig ignoriert wurde, bis in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg eine kleine Gruppe von deutschen Intellektuellen, die von der Romantik beseelt waren, damit begann, Bachofen zu lesen und seinen Namen – wenn auch nur in kleinen Zirkeln – bekannt zu machen. Erst in letzter Zeit lässt sich erneut ein wachsendes Interesse an Bachofen beobachten, und zwar nicht nur in Deutschland und in der Schweiz, sondern auch in der Englisch und Spanisch sprechenden Welt.
Das eigenartige Schicksal, das Bachofens Werk erfuhr, fällt noch mehr auf, wenn wir es mit dem Werk eines anderen Genies vergleichen, mit Sigmund Freud, der eine Generation später an Fragestellungen arbeitete, die mit denen Bachofens innerlich verwandt sind. Wie unterschiedlich ist doch das Schicksal, das ihre Werke erfuhren. Freud wird ein weltbekannter Denker, seine Ideen und Begriffe gehen in die Alltagssprache über, seine Bücher werden in alle Sprachen übersetzt, seine Ideen an zahlreichen Einrichtungen gelehrt. Auf der anderen Seite Bachofen: Er bleibt einer größeren Öffentlichkeit unbekannt, er wird nur von wenigen bewundert, von den meisten Wissenschaftlern aber lächerlich gemacht. Der Kontrast sticht noch mehr ins Auge, wenn man bedenkt, dass Bachofen manchmal Freuds Ideen vorwegnahm und manchmal auf die gleichen Fragen viel tiefgründigere Antworten gab.
Im allgemeinen wird Bachofens Entdeckung des Mutterrechts als seine bedeutendste angesehen. Auf Grund seiner Erforschung der römischen, griechischen und ägyptischen Mythen und Symbole kam er zu der Erkenntnis, dass die patriarchale Struktur der Gesellschaft, wie sie für die gesamte Geschichte der zivilisierten Welt typisch ist, relativ neuen Datums ist. Ihr sei eine Kultur vorausgegangen, in der die Mutter das Haupt der Familie war, die Führung der Gesellschaft wahrnahm und die Große [XI-178] Göttin war. Bachofen nahm außerdem an, dass dieser matriarchalischen Phase am Beginn der Geschichte noch die rohere, weniger zivilisierte Gesellschaftsform des Hetärismus vorausgegangen sei. Diese habe sich völlig auf die natürliche Produktivität der Frau gegründet, hatte weder Heirat noch Gesetz, Prinzipien oder Ordnung gekannt und sei eine Lebensform gewesen, die sich mit dem wilden Wachstum von Sumpfpflanzen vergleichen lässt. Die matriarchalische Phase liegt also zwischen der niedrigsten und der bisher höchsten Phase menschlicher Entwicklung, dem Patriarchat. In diesem regiert der Vater als Repräsentant der Prinzipien von Recht, Vernunft, Gewissen und hierarchischer gesellschaftlicher Organisation.
Bachofens Theorie stellt bezüglich bestimmter prähistorischer Phänomene mehr als nur eine anthropologische Hypothese dar. Sie ist eine umfassende und tiefgründige Geschichtsphilosophie, in vielen Aspekten der von Hegel und insbesondere von Marx ähnlich. Bei Marx beginnt die Geschichte mit einem Urzustand der Gleichheit, in dem es aber gleichzeitig nur ein geringes Bewusstsein des Menschen seiner selbst und auch nur unbedeutende Produktivkräfte gibt. Der Mensch entwickelt sich mit der Evolution seiner Arbeit; er entwickelt seine Vernunft, seine Kunstfertigkeiten, seine Individualität. Am Ende wird er zur ursprünglichen Harmonie zurückkehren, allerdings auf einem neuen Niveau von Rationalität und Technik. Bei Bachofen nimmt die Evolution einen ähnlichen Lauf, ist hierbei aber konzentriert auf die beherrschende Rolle der Mutter- beziehungsweise der Vaterfigur. Die Geschichte entwickelt sich von der vor-rationalen mütterlichen Welt zur rationalen patriarchalischen Welt, aber gleichzeitig auch von Freiheit und Gleichheit zu Hierarchie und Ungleichheit. Am Ende wird der Mensch auf einer neuen Ebene, auf der die matriarchalischen und patriarchalischen Prinzipien aufgehoben sind, zu Liebe und Gleichheit zurückkehren.
Die Bedeutung Bachofens erschöpft sich freilich nicht in diesem evolutionären Geschichtsschema. Mit der Erforschung des Wesens der mütterlichen und väterlichen Liebe hat Bachofen den Weg zu den zentralen Fragen der Psychologie, der individuellen und gesellschaftlichen psychischen Entwicklung, geebnet. Er ist kein „Vorgänger“ der modernen Psychologie, sondern vielmehr der, der einen Weg gefunden und uns Einsichten ermöglicht hat, die heute, nach über hundert Jahren Entwicklung der „Wissenschaft vom Menschen“, noch fruchtbarer oder – paradoxerweise – moderner sind als zu seinen Lebzeiten. Die folgenden Bemerkungen sollen dies illustrieren.
Vermutlich ist Bachofens Erforschung des Wesens der mütterlichen und der väterlichen Liebe und der sich daraus ergebenden Unterschiede der Bindung an die Mutter beziehungsweise den Vater seine bedeutendste Leistung. Ihn interessieren nicht die konkrete Mutter und der konkrete Vater einer bestimmten Person, sondern der „Idealtypus“ (im Max Weberschen Sinne) von Mutter und Vater oder – um mit Carl Gustav Jung zu sprechen – die mütterlichen und väterlichen Archetypen. Er untersucht Funktion und Rolle, die das mütterliche und das väterliche Prinzip bei der menschlichen Evolution spielen.
Was ist das Wesen des Mütterlichen?
In der Pflege der Leibesfrucht lernt das Weib früher als der Mann seine liebende Sorge über die Grenzen des eigenen Ich auf andere Wesen erstrecken und alle Empfindungsgabe, die sein Geist besitzt, auf die [XI-179] Erhaltung und Verschönerung des fremden Daseins richten. Von ihm geht jetzt jede Erhebung der Gesittung aus, von ihm jede Wohltat im Leben, jede Hingebung, jede Pflege und jede Totenklage. (J. J. Bachofen, 1954, S. 88°f.)
Liebe, Fürsorge, Verantwortungsbewusstsein für andere: dies sind Schöpfungen der Mutter. Mütterliche Liebe ist der Samen, aus dem jede Liebe und jeder Altruismus erwachsen. Aber nicht nur dies. Mütterliche Liebe ist die Grundlage, auf der sich universaler Humanismus entwickelt. Die Mutter liebt ihre Kinder, weil sie ihre Kinder sind, und nicht deshalb, weil sie diese oder jene Bedingung erfüllen oder einer Erwartung entsprechen. Sie liebt ihre Kinder unterschiedslos, so dass ihre Kinder sich untereinander deshalb als gleich erleben, weil ihre zentrale Bindung die zu der Mutter ist.
Aus dem gebärenden Muttertum stammt die allgemeine Brüderlichkeit aller Menschen, deren Bewusstsein und Anerkennung mit der Ausbildung der Paternität untergeht. (J. J. Bachofen, 1954, S. 89.)
Schließlich folgt daraus, dass die grundlegenden Prinzipien in einer mutter-zentrierten Kultur Freiheit und Gleichheit, Glück und die bedingungslose Bejahung des Lebens sind.
Im Unterschied zum mütterlichen ist das väterliche Prinzip durch Gesetz, Ordnung, Vernunft, Hierarchie bestimmt. Der Vater hat einen Lieblingssohn, den nämlich, der ihm am meisten ähnelt und der ihm geeignet erscheint, als Erbe und Nachfolger seinen Besitz und die weltlichen Aufgaben zu übernehmen. Bei den vater-zentrierten Söhnen hat die Gleichheit der Hierarchie Platz gemacht und die Harmonie dem Hader. Es ist Bachofens Verdienst, den Fortschritt in der Geschichte bei der Entwicklung vom matriarchalischen zum patriarchalischen Prinzip aufgezeigt und sowohl die positiven wie die negativen Aspekte des matriarchalischen beziehungsweise des patriarchalischen Prinzips erkannt zu haben. Auch wenn er das Patriarchat als die höhere Stufe der Evolution angesehen hat, so hat ihn dies keineswegs dazu verleitet, die besonderen Vorzüge der matriarchalischen Struktur zu ignorieren oder die negativen Aspekte des Patriarchats zu übersehen.
Positive Züge des Matriarchats sind das Gespür für Gleichheit, Universalität und bedingungslose Bejahung des Lebens. Negative Aspekte sind seine Bindung an Blut und Boden, sein Mangel an Rationalität und Fortschrittlichkeit. Positiv am Patriarchat ist seine grundsätzliche Orientierung an Vernunft, Recht, Wissenschaft, Zivilisation, spiritueller Entwicklung. Negativ an ihm sind Hierarchie, Unterdrückung, Ungleichheit, Unmenschlichkeit. Die positiven Aspekte des Matriarchats und die negativen des Patriarchats lassen sich kaum eindrücklicher zur Anschauung bringen als in Äschylus’ Antigone. Antigone vertritt Menschlichkeit und Liebe; Kreon, der totalitäre Führer, vertritt die Vergötzung des Staates und den Gehorsam.[3]
Über die Entdeckung des Wesens der mütterlichen und der väterlichen Liebe und deren Rollen als Prinzipien in der Geschichte hinaus ist Bachofen der eigentliche Vater der Deutung von Symbolen und Mythen – wie Freud der Vater der Traumdeutung ist. Freilich war Bachofens Interesse an Mythen Teil eines Interesses, das er mit anderen Romantikern wie Karl Otfried Müller, Joseph von Görres oder Georg Friedrich Creuzer teilte. Doch Bachofen zeigte eine wahrhaft geniale Originalität bezüglich der Methode, mit der er den verborgenen, unbewussten Gehalt hinter den Mythen zur Entdeckung brachte. Mit besonderer Aufmerksamkeit für das Detail des Mythos [XI-180] gelang es Bachofen, durch die Oberfläche hindurch zu den tiefsten unbewussten Wurzeln und Motivationen des Mythos zu gelangen.
Bachofen hatte eine Begabung, die sich kaum bei einem Forscher beobachten lässt: die Bedeutung von Symbolen intuitiv zu erkennen und dann aufzuzeigen. Wer den Reichtum und die Feinheit der Symbolik verstehen lernen will, kann kaum einen besseren Lehrer finden als ihn in seiner Deutung der Mythen. So lassen zum Beispiel seine Ausführungen über Das Ei als Symbol (J. J. Bachofen, 1954, S. 21-42) nicht nur den Tiefgang und die Sensibilität spüren, die für die Deutung von Symbolen Voraussetzung sind, sondern zeigen auch die für ihn typische unendliche Geduld und Liebe für den Erkenntnisgegenstand, wenn er Schritt für Schritt die Bedeutung eines Symbols oder eines Mythos enträtselt. Er war sich des Reichtums und der Tiefe des Mythos bewusst, der nicht nur eine einzige, „richtige“ Deutung zulässt, sondern verschiedene, je nach der Tiefe des Verstehens, die man erreicht hat. Der Mythos, die Auslegung des Symbols, ist das „Produkt einer Kulturperiode, in welcher das Völkerleben noch nicht aus der Harmonie der Natur gewichen ist“ (J. J. Bachofen, 1954, S. 85). Der Mythos folgt bestimmten Gesetzen. Hat man diese einmal erkannt, dann hat sein Verstehen dieselbe objektive und rationale Gültigkeit wie das jedes anderen historischen Phänomens.
Welchen Ansatz und welche Methode vertritt Bachofen bei der Deutung von Mythen und Symbolen? An erster Stelle zu nennen und vielleicht besonders bedeutsam ist die Tatsache, dass er sich nicht von den herrschenden Meinungen beeindrucken lässt. Er ist sich deutlich bewusst, dass seine Theorien Widerspruch erregen. Der Widerspruch, sagt Bachofen in Die Sage von Tanaquil,
ist in der Tat kaum schroffer zu denken und sowohl in den Resultaten als in der Methode der Forschung ein durchgreifender. Die Resultate führen uns zu historischen Tatsachen zurück, die ein zum Dogma verhärtetes Vorurteil als abgetan betrachten, und die doch dem Zusammenhang des großen Weltganges nicht fehlen können. (J. J. Bachofen, 1954, S. 293.)
Bachofens Forschungsansatz hängt weitgehend von einer Voraussetzung ab:
Sie verlangt die Fähigkeit des Forschers, den Ideen seiner Zeit, den Anschauungen, mit welchen diese seinen Geist erfüllen, gänzlich zu entsagen und sich in den Mittelpunkt einer durchaus verschiedenen Gedankenwelt zu versetzen. Ohne solche Selbstentäußerung ist auf dem Gebiete der Altertumsforschung ein wahrer Erfolg undenkbar. Wer die Anschauungen späterer Geschlechter zu seinem Ausgangspunkte wählt, wird durch sie von dem Verständnis früherer immer mehr abgelenkt. Die Kluft erweitert sich, die Widersprüche wachsen; wenn dann alle Mittel der Erklärung erschöpft scheinen, bietet sich Verdächtigung und Anzweifelung, am Ende entschiedene Negation als das sicherste Mittel dar, den gordischen Knoten zu lösen. Darin liegt der Grund, warum alle Forschung, alle Kritik unserer Tage so wenig große und dauernde Resultate zu schaffen vermag. Die wahre Kritik ruht nur in der Sache selbst, sie kennt keinen andern Maßstab als das objektive Gesetz, kein anderes Ziel als das Verständnis des Fremdartigen, keine andere Probe als die Zahl der durch ihre Grundanschauung erklärten Phänomene. Wo es der Verdrehungen, Anzweifelungen, Negationen bedarf, da wird die Fälschung stets auf Seite des Forschers, nicht auf jener der Quellen und [XI-181] Überlieferungen, auf welche Unverstand, Leichtsinn, eitle Selbstvergötterung so gerne die eigene Schuld abwälzen, zu suchen sein. Jedem ernsthaften Forscher muss der Gedanke stets gegenwärtig bleiben, dass die Welt, mit der er sich beschäftigt, von derjenigen, in deren Geist er lebt und webt, unendlich verschieden, seine Kenntnis bei der größten Ausdehnung immer beschränkt, seine eigene Lebenserfahrung zudem meist unreif, immer auf die Beobachtung einer unmerklichen Zeitspanne gegründet, das Material aber, das ihm zu Gebote steht, ein Haufe einzelner Trümmer und Fragmente ist, die gar oft, von der einen Seite betrachtet, unecht erscheinen, später dagegen, in die richtige Verbindung gebracht, das frühere voreilige Urteil zuschanden machen. (J. J. Bachofen, 1954, S. 93.)
Im vorstehenden Zitat bringt Bachofen nicht nur höchst treffend und sehr schön das Problem von Objektivität und innerer Freiheit bei der historischen Forschung zum Ausdruck; er gibt zugleich ein zutreffendes Bild von seiner eigenen Herangehensweise. Beim Lesen seines Werks ist man von seiner Objektivität beeindruckt – und dies umso mehr, je mehr man liest. Genauso wenig wie auf seinen großen Landsmann Carl Jacob Burckhardt macht auch auf ihn der Lärm der damals Mächtigen und Erfolgreichen Eindruck. Nicht einmal seine eigenen Vorlieben und Wertsetzungen verleiten ihn dazu, das Bild von der Vergangenheit zu entstellen. Bachofen nannte seine Methode „eine naturforschende Methode“, der es um die „rein objektive Beobachtung“ geht (J. J. Bachofen, 1954, S. 295°f.). Erst seine Aufzählung der verschiedenen Aspekte seiner Methode gibt einen Gesamteindruck von den außerordentlichen Fähigkeiten Bachofens als Beobachter und Wissenschaftler.
Bachofens Mutterrecht wurde etwa zeitgleich mit Darwins Hauptwerk Von der Entstehung der Arten (1858) veröffentlicht. Trotz der zahlreichen offensichtlichen Unterschiede zwischen Darwins und Bachofens Werk kann man sagen, dass Bachofen das evolutionäre Prinzip auf die Entwicklung des Menschen und der Geschichte anwandte. Auch er setzt den Beginn der menschlichen Evolution auf einer sehr niedrigen, unseren Stolz verletzenden Stufe an.
Mag das Gemälde, das sich so vor unsern Augen entrollt, auch gar unerquicklich sein und dem Stolz auf den Adel unserer Abkunft wenig zusagen, so wird doch der Anblick allmählicher stufenweiser Überwindung des Tierischen unserer Natur die Zuversicht fest begründen, dass es dem Menschengeschlechte möglich ist, seinen Weg von unten nach oben, von der Nacht des Stoffes zum Lichte eines himmlisch-geistigen Prinzips durch alle Hebungen und Senkungen seiner Geschicke hindurch siegreich zu Ende zu führen. (J. J. Bachofen, 1954, S. 223.)
Wer möchte nicht gerne (...) unserm Geschlecht die schmerzliche Erinnerung einer so unwürdigen Kindheit ersparen? Aber das Zeugnis der Geschichte verbietet, den Einflüsterungen des Stolzes und der Eigenliebe Gehör zu geben und den äußerst langsamen Fortschritt der Menschheit (...) in Zweifel zu ziehen. (J. J. Bachofen, 1954, S. 108.)
Bei dieser knappen Beschreibung der Methode Bachofens möchte ich wenigstens noch kurz auf sein dialektisches Denken eingehen. Wie für Hegel sind auch für Bachofen Konflikt und Widerspruch die Geburtshelfer des Fortschritts. Jedes geschichtliche Phänomen wird als Reaktion auf einen vorausgehenden gegensätzlichen [XI-182] Zustand verstanden. „Es ist kein Paradoxon, sondern eine der größten Wahrheiten, dass die Entwicklung unseres Geschlechts nur im Kampfe der Gegensätze sich vollzieht“ (J. J. Bachofen, 1954, S. 274). Ausgestattet mit diesem Verständnis der dialektischen Natur des historischen Prozesses, war es Bachofen möglich zu erkennen, dass eine ganz gegensätzliche Einstellung die Folge der Überwindung eines vorausgehenden gegensätzlichen Zustands ist und dass man, wenn man nur tief genug gräbt, im neuen Extrem noch immer Überreste des vorausgehenden Gegensatzes findet. (Vgl. auch Freuds „Wiederkehr des Verdrängten“ beim Begriff der Reaktionsbildung.)
Es verwundert nicht, dass ein Mensch mit einem wahrhaft wissenschaftlichen Geist, wie ihn Bachofen besaß, sich von der quantifizierenden Methode der Sozialwissenschaften nicht beeindrucken ließ. Die gründliche und erschöpfende Erforschung eines einzigen Phänomens ist wertvoller als der Aufweis vieler Parallelen, von denen keine – für sich genommen – wirklich überzeugend ist. Für Bachofen addieren sich hundert halbe Beweise niemals zu der Beweiskraft, die eine einzige gründliche Analyse erbringt.
Bachofens Untersuchungsmethode zeichnet sich durch noch eine andere Errungenschaft aus. Er zeigte, dass es kein Verstehen der Gesellschaftsstruktur, des Rechts, der Religion, der Familienkonstellation und der Charakterstruktur für sich allein und unabhängig voneinander gibt – eine Einsicht, die erst in den letzten Jahren an Boden gewonnen hat. Bachofen hatte sie bereits ganz und gar begriffen und wandte sie an. Deshalb ist Bachofen nicht einfach nur ein Anthropologe, Archäologe, Philosoph, Psychologe, Soziologe, Historiker, sondern ein Erforscher der „Wissenschaft vom Menschen“.
Ich habe bereits eingangs auf die unterschiedlichen Schicksale hingewiesen, die Bachofens und Freuds Werk jeweils erfahren haben. Tatsächlich gibt es noch andere wichtige Unterschiede bezüglich des Werks und der Persönlichkeit dieser beiden Menschen, die jedoch gleichzeitig hilfreich sind, die auffälligen Übereinstimmungen zu unterstreichen.
Bachofens und Freuds Werk kreisen um das gleiche Problem: Beide verstehen die Entwicklung des Menschen als Entwicklung seiner Beziehung zu Mutter und Vater. Für beide beginnt die menschliche Entwicklung mit der Bindung an die Mutter, die dann aufgelöst und durch die Beziehung zum Vater als der zentralen affektiven Figur ersetzt werden muss. Der Unterschied freilich zeigt sich im Hinblick auf die Bedeutung dieser Bindung. Für Freud ist sie in erster Linie eine sexuelle Bindung, womit Freud die Tatsache verdunkelte, die Bachofen ans Licht gebracht hatte: dass nämlich die Beziehung zur Mutter die erste und die stärkste emotionale Beziehung des kleinen Kindes ist.
Das stärkste Verlangen im Kind – ein Verlangen, das den Menschen niemals verlässt, bis er zur Mutter Erde zurückkehrt – ist sein Verlangen nach der Liebe der Mutter. Mutter bedeutet für das kleine Kind Leben, Wärme, Nahrung, Glück, Sicherheit. Mutter symbolisiert bedingungslose Liebe, die Erfahrung, ich werde geliebt, und zwar nicht, weil ich gehorsam, gut und nützlich bin, sondern weil ich Mutters Kind bin, ihre Liebe und ihren Schutz brauche. Freud rationalisierte sozusagen dieses stärkste aller affektiven Verlangen und machte es – vermutlich aus Gründen, die in seinem eigenen [XI-183] Charakter wurzelten – zu einer sexuellen Bindung. Dies sah er in der Tatsache begründet, dass der kleine Junge bereits einen aktiven sexuellen Trieb hat und dass die Mutter die einzig wirklich vertraute Frau ist, die seine sexuellen Wünsche, während sie physisch für ihn sorgt, auch noch stimuliert.
Freuds seltsame Verleugnung der emotionalen Bedeutung der Mutter zeigt sich in seiner Äußerung in Das Unbehagen in der Kultur (S. Freud, 1930a, S. 430): „Ein ähnlich starkes Bedürfnis aus der Kindheit wie das nach dem Vaterschutz wüsste ich nicht anzugeben.“ Im Vorwort zur zweiten Auflage von der Traumdeutung (S. Freud, 1900a, S. 10) kennzeichnet Freud, auf den Tod seines eigenen Vaters Bezug nehmend, den Tod des Vaters als „das bedeutsamste Ereignis, den einschneidendsten Verlust im Leben eines Mannes“. Es lässt sich deutlich sehen, wie in Freuds eigenem Erleben die Mutter aus ihrer zentralen Stellung entfernt und zugunsten des Vaters entthront wurde. Die Göttin wird vertrieben und zu einer Prostituierten verwandelt.
Bachofen lehrte mit seiner Deutung, wie recht Freud mit der Annahme hatte, dass die Unfähigkeit, die Mutterbindung zu überwinden (wenn auch nicht jedes Verlangen nach ihr), der Kern jeder Neurose sei; und er zeigte, wie unrecht Freud hatte, die Rolle der Mutter auf eine sexuelle zu reduzieren. Bachofens grundlegende Entdeckung war es, dass die früheste und die tiefste Bindung eines Menschen die Bindung an die Mutter ist und dass jeder menschliche Reifungsprozess, sei er phylo- oder ontogenetisch, von des Menschen Fähigkeit abhängt, diese Fixierung zu überwinden und eine Phase zu durchleben, in der die Beziehung zum Vater von zentraler Bedeutung ist. Auf einer noch höheren Entwicklungsebene wird schließlich die Bindung zur Mutter erneuert, allerdings nicht als Fixierung an die eigene, leibliche Mutter, sondern als Rückkehr zu den Prinzipien der Liebe und Gleichheit auf einer höheren spirituellen Ebene.
Während Freud von seinem extrem patriarchalischen Standpunkt aus in der Frau einen kastrierten Mann sah (eine typische Kompensation für eine ungelöste Angst vor der Abhängigkeit von Frauen), sah Bachofen in der Frau – als Mutter – die Repräsentantin einer ursprünglichen Kraft, der Natur, der Realität und gleichzeitig der Liebe und Bejahung des Lebens. Aus diesem Grund, und nicht auf Grund der sexuellen Verlockung, gibt es eine Bindung, die nur mit Mühe überwunden werden kann. Auf der anderen Seite macht Bachofen mit dem Aufweis der positiven Funktion des Vaters klar, dass die Wendung von der Mutter zum Vater nicht von der Kastrationsdrohung herrührt, sondern im Bedürfnis des Jungen nach Führung und Hilfe wurzelt, die sich im väterlichen Prinzip ausdrücken und im Vater verkörpert sind.
Bachofen vertiefte sich in das Mysterium der symbolischen Sprache, wie nach ihm Freud. Freud erforschte vor allem den Traum, Bachofen den Mythos. Beide ließen sich nicht von den gängigen Meinungen über Mythen und Träume beeindrucken; beiden ging es um den versteckten, latenten, unbewussten Bedeutungsgehalt von Träumen und Mythen. Und doch gibt es auch hier erhebliche Unterschiede zwischen beiden, nämlich in der Tiefgründigkeit der Deutung. Bachofen sah im Symbol den Ausdruck ganz grundlegender, in den Bedingungen der menschlichen Existenz selbst wurzelnder Strebungen des Menschen. Freud hingegen reduzierte die Bedeutung viel zu oft auf Sexuelles oder auf oft sehr oberflächliche Verbindungen zur Sexualität, die durch die freie Assoziation aufkamen. [XI-184]
Eine weitere Gemeinsamkeit von Bachofen und Freud ist ihr Interesse an der Beziehung zwischen Geschichte, Religion und Psychologie. Für Bachofen besteht die Evolution der menschlichen Rasse darin, dass der Mensch aus der Gebundenheit an die Mutter heraustritt, und er schließt auf eine matriarchalische Gesellschaft, die den uns bekannten patriarchalischen Kulturen voraus liegt. Freud hingegen lässt die Geschichte und die menschliche Evolution mit der vater-beherrschten Urhorde und der Rebellion der Söhne gegen den Vater beginnen.
Die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Bachofen und Freud in ihren theoretischen Äußerungen spiegeln nur die Gemeinsamkeiten und Unterschiede in ihrer Persönlichkeit. Beide sind geniale Menschen mit einer unstillbaren Leidenschaft für die Wahrheit, einem nie gesättigten Interesse für die verborgene, mysteriöse Unterwelt des Geistes. Und doch sind sie ganz verschiedene Menschen. Bachofen, der Schweizer Patrizier, ist religiös, konservativ und anti-liberal. Freud, der Wiener Jude, ist liberal, anti-religiös und rationalistisch. Diese Unterschiede verdecken jedoch andere, die nicht weniger signifikant sind.
Obwohl Bachofen extrem konservativ war und dem modernen Fortschritt gegenüber äußerst skeptisch, so erfüllte ihn dennoch ein tiefer Glaube an die Zukunft der Menschheit. Er war davon überzeugt, dass der Beginn und das Ende der menschlichen Geschichte eine eigentümliche Ähnlichkeit zeigen und dass das Ende die Rückkehr an den Anfang auf einer höheren Ebene der Entwicklung bedeutet. Die Grundsätze des Matriarchats sollen nicht einfach verschwinden, sondern (im Hegelschen Sinne) „aufgehoben“ und mit den Grundsätzen des Patriarchats in einer neuen Synthese vereint werden.
So beschreibt Bachofen selbst seinen Glauben an die Entwicklung der menschlichen Rasse (1954, S. 228°f.):
Ein großes Gesetz beherrscht die Rechtsentwicklung des Menschengeschlechts. Es schreitet vom Stofflichen zum Unstofflichen, vom Physischen zum Metaphysischen, vom Tellurismus zur Geistigkeit fort. Das letzte Ziel kann nur durch die vereinte Kraft aller Völker und Zeiten erreicht werden, wird aber, trotz aller Hebungen und Senkungen, sicherlich in Erfüllung gehen. Was stofflich beginnt, muss unstofflich enden. Am Ende aller Rechtsentwicklung steht wiederum ein ius naturale, aber nicht das des Stoffes, sondern des Geistes, ein letztes Recht, allgemein, wie das Urrecht allgemein war; willkürfrei, wie auch das stofflich-physische Urrecht keine Willkür in sich trug; in den Dingen gegeben, von dem Menschen nicht erfunden, sondern erkannt, wie auch das physische Urrecht als immanente materielle Ordnung erschien. An die Herstellung eines einstigen einheitlichen Rechts wie einer einheitlichen Sprache glauben die Perser. „Wenn Arimanius vernichtet ist, wird die Erde plan und eben sein, und die nun beglückten Menschen werden durchgängig eine Lebensart, Regierungsform und Sprache haben.“ (Plutarch Über Isis und Osiris 47.) Dieses letzte Recht ist der Ausdruck des reinen Lichts, dem das gute Prinzip angehört. Es ist nicht tellurisch-physischer Art, wie das blutige, finstere Recht der ersten stofflichen Zeit, sondern himmlisches Lichtrecht, das vollkommene Zeusgesetz, reines und vollendetes Ius, wie es dieser mit Jupiter identische Name verlangt. In seiner letzten Erhebung liegt aber notwendig [XI-185] seine Auflösung. In der Befreiung von jedem stofflichen Zusatz wird das Recht Liebe. Die Liebe ist das höchste Recht. Auch dies Dikaion erscheint wieder in der Zweizahl: aber nicht, wie das alte tellurische, in der Zweizahl des Streites und nie endender Vertilgung, sondern in jener Zweiheit, die nach einem Backenstreiche die zweite Wange darbietet und den zweiten Rock freudig hingibt. Diese Lehre verwirklicht die höchste Gerechtigkeit. Sie hebt in der Vollendung selbst den Begriff des Rechts auf und erscheint so als die letzte und völlige Überwindung des Stoffs, als die Lösung jeder Dissonanz.
Trotz – oder gerade wegen – dieses Glaubens an den Menschen war Bachofen dem „Fortschritt“ seiner Zeit gegenüber und dem, was das Zwanzigste Jahrhundert bringen würde, äußerst skeptisch. Mit Blick auf die Zukunft machte Bachofen 1869 eine Voraussage, die belegt, mit welcher prophetischen Klarheit Bachofen die Zukunft zu sehen imstande war. Es ist die gleiche intuitive Klarheit, mit der er die Vergangenheit erfasste:
Ich fange an zu glauben, dass der Geschichtsschreiber des Zwanzigsten Jahrhunderts nur noch von Amerika und Russland zu reden haben wird. Die alte Welt Europens liegt auf dem Siechbett und wird dauernd sich nicht mehr erholen. Dann werden wir den neuen Weltherrn als Schulmeister und sonst noch recht nützlich sein können, wie weiland die Griechen den römischen Großen, und Gelegenheit haben, diese Geschichte dieses Fortschritts dem Ende zu gründlich zu studieren. Leider bin ich Schwarzseher, wie man es nicht gerne hat. (J. J. Bachofen, am 25. Mai 1869 in einem Brief an Meyer-Ochsner, zitiert in der Einleitung zu J. J. Bachofen, 1954, S. XXVI.)
Freuds politische Einstellung ist auf eine paradoxe Weise gegensätzlich. Er, der Liberale, hat nur wenig Glauben an die Zukunft der Menschheit. Selbst wenn die sozialen und ökonomischen Probleme gelöst werden könnten, so ist er doch davon überzeugt, dass die Natur des Menschen ihn weiterhin eifersüchtig und neidisch auf andere Menschen machen würde; die Männer würden auch dann noch von dem Wunsch getrieben sein, mit anderen Männern um das Besitzrecht auf begehrenswerte Frauen zu wetteifern. Für Freud wohnt dem historischen Prozess etwas Tragisches inne. Je mehr Kultur der Mensch schafft, desto mehr muss er sich die Befriedigung seiner instinktiven Triebe versagen und desto unglücklicher und neurotischer wird er.
Bei Bachofen entwickelt sich der Mensch auf Grund von Konflikten zu immer höheren Formen der Harmonie. Andererseits ließ sich Bachofen im Unterschied zu Freud niemals von Macht beeindrucken. Ernest Jones beschreibt im zweiten Band seiner Freud-Biographie, dass Freud zu Beginn des Ersten Weltkriegs zu einem glühenden Patrioten wurde. Er war zutiefst von der Richtigkeit der österreichischen und der deutschen Sache überzeugt und konnte sich über die deutschen Siege begeistern. Ein solches tragisches Abgleiten in die Kriegshysterie wäre bei Bachofen undenkbar gewesen. Für ihn waren die spirituelle Wirklichkeit und ihre Werte zu real und bestimmend, als dass er je zur Bewunderung der Armee und ihrer Siege hätte verleitet werden können.
Ich möchte mit diesem Vergleich zwischen Bachofen und Freud nicht von der Größe Freuds ablenken. Größe bleibt auch dann erhalten, wenn Schatten den Glanz eines Genialen trüben. Der Vergleich sollte die besondere Position Bachofens [XI-186] verdeutlichen. Und ich will mit ihm meine persönliche Wertschätzung für einen Mann zum Ausdruck bringen, der so wenig bekannt ist und doch unserer Generation und der Zukunft so viel zu geben hat.
Abschließend möchte ich einige Bemerkungen darüber machen, in welche Richtung das Werk Bachofens fortgesetzt und als Quelle für Neuentdeckungen im Bereich der Anthropologie, der Geschichte, der Religion und der Psychologie genutzt werden kann. In einem Bereich hatte Bachofen bereits in der Vergangenheit großen Einfluss: darin nämlich, dass Marx und Engels den Zusammenhang zwischen Familienstruktur, Gesellschaftsstruktur und wirtschaftlicher Organisation in der Frühzeit erforschten. In seiner Schrift Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats von 1884 (MEW 21, S. 25-173 und S. 473-483) legt Engels Zeugnis ab von dem Einfluss, den Bachofen auf sein eigenes Denken hatte. Desgleichen lieferten andere – etwa Lewis H. Morgan (in seinem 1870 erschienenen Buch Systems of Sanguinity and Affinity of the Human Family sowie in dem 1877 erschienenen Buch Die Urgesellschaft) und viele Jahre später, 1928, Robert Briffault in seinem dreibändigen Werk The Mothers – weitere Beweise für das Vorhandensein matriarchalischer Strukturen in vielen Gesellschaften und Religionen, die Bachofen nicht untersucht hatte. Diese Arbeiten stellen aber erst den Anfang dar, Bachofens Entdeckungen für anthropologische und historische Forschungen fruchtbar zu machen.
Finden seine grundlegenden Ideen Anwendung, dann wird die Erforschung des Hinduismus, der mexikanischen und chinesischen Religionen, der Entwicklung des Judentums, des Katholizismus und des Protestantismus zu neuen und aufschlussreichen Einsichten führen. Ebenso werden seine Theorien primitive Religionen und pseudoreligiöse Phänomene, wie sie die modernen totalitären Systeme darstellen, erhellen. Ihre Wirkung auf und ihre Anziehungskraft für Millionen von Menschen wird sich nur dann ganz verstehen lassen, wenn man erkennt, wie hier mütterliche und väterliche Funktionen vermischt und wie unbewusste Sehnsüchte in beide Richtungen angesprochen werden.
Nicht weniger fruchtbar wird sich die Anwendung der Theorien Bachofens im Bereich der Individualpsychologie auswirken. Sie wird zu notwendigen Korrekturen in Freuds Verständnis des Inzests und des Ödipuskomplexes führen und zu einer Vertiefung der Funde, die Jung in diesem Bereich gemacht hat. Meiner Überzeugung nach kann sie dabei helfen, zwischen mutter-zentrierten und vater-zentrierten Typen des Charakters zu unterscheiden, unter Einbeziehung ihrer jeweiligen Geschichte sowie ihrer spezifischen Tugenden und Laster. Die Anwendung seiner Theorien wird vermutlich zeigen, dass es anstelle von Freuds reinem väterlichen Über-Ich ein mütterliches und ein väterliches Gewissen gibt und dass wirkliche Reife in der Synthese der beiden Gewissen besteht, nachdem diese von den Personen des Vaters und der Mutter losgelöst und als mütterliche und väterliche Kräfte in jedem einzelnen Menschen ausgebildet worden sind.
Darüber hinaus werden die Erkenntnisse Bachofens zu neuen Einsichten in der Psychopathologie führen. Man wird etwa zeigen können, dass mutter-zentrierte Menschen an anderen Formen psychischer Krankheiten leiden als vater-zentrierte; Depressionen, bestimmte Formen von Charakterneurosen des rezeptiven Typs [XI-187] auf der einen Seite und Zwangsneurosen und Paranoia auf der anderen Seite werden möglicherweise in einem neuen Licht erscheinen.
Als jemand, der – wenn auch nur in sehr begrenzter Weise – selbst versucht hat, Bachofens Entdeckungen auf anthropologische und psychologische Fragen anzuwenden, kann ich nur feststellen, dass man sich den Reichtum der Vorschläge, die in Bachofens Werk enthalten sind, noch nicht einmal ansatzweise zu eigen gemacht hat. Nicht dass ich glaubte, alle seine Theorien seien richtig. Die Geschichte der Ideen ist auch eine Geschichte von Irrtümern, und Bachofen macht dabei keine Ausnahme. Worauf es ankommt, ist der Wahrheitskern einer Idee und die Fruchtbarkeit eben dieses Kernes für zukünftiges Denken. In dieser Hinsicht ist Bachofen einer der fruchtbarsten und fortschrittlichsten Denker.
(1934a)[4]
Das 1861 erschienene Buch Das Mutterrecht des Basler Professors Johann Jakob Bachofen[5] teilt ein bemerkenswertes Schicksal mit zwei fast gleichzeitig veröffentlichten wissenschaftlichen Untersuchungen: Darwins Entstehung der Arten (1858) und Marx’ Zur Kritik der politischen Ökonomie (1859). Alle drei Untersuchungen behandelten wissenschaftliche Spezialfragen, erregten aber weit über den Kreis der engeren Fachleute hinaus die Affekte von Wissenschaftlern und Laien. Für Marx und Darwin ist dieser Tatbestand ohne weiteres durchsichtig. Komplizierter liegt der Fall bei Bachofen. Einmal deshalb, weil das Problem des Matriarchats weit weniger mit den für die Erhaltung der bürgerlichen Gesellschaft vitalen Interessen zu tun zu haben scheint als Marxismus und Darwinismus; zum anderen, weil die begeisterte Zustimmung zur matriarchalischen Theorie aus zwei weltanschaulich und politisch völlig entgegengesetzten Lagern kam. Zuerst wurde Bachofen entdeckt und gefeiert von sozialistischer Seite, von Marx, Engels, Bebel u.a.; dann, nach jahrzehntelangem fast völligem Totschweigen wurde er neu entdeckt und neu gefeiert von soziologisch und politisch entgegengesetzt eingestellten Philosophen wie Klages und Bäumler. Diesen Extremen stand in fast geschlossener Front der Ablehnung oder des Ignorierens die offizielle Wissenschaft gegenüber, bis hin zu Vertretern sozialistischer Anschauungen wie Heinrich Cunow. In den letzten Jahren hat das Problem des Mutterrechts eine dauernd wachsende Rolle in der wissenschaftlichen Diskussion gespielt. In einer Reihe mehr oder minder ausführlicher Publikationen wurde das Problem immer häufiger behandelt, teils zustimmend, teils ablehnend, fast stets aber mit einem sichtbaren emotionellen Anteil der Autoren.[6]
Die folgenden Ausführungen wollen zu zeigen versuchen, warum das Problem des Matriarchats so starke Affekte auslöst oder, was dasselbe ist, welche vitalen gesellschaftlichen Interessen es berührt; weiterhin, welches die Hintergründe einerseits der revolutionären und andererseits der ihnen entgegengesetzten Sympathien für die Mutterrechtstheorie sind; endlich wollen sie andeuten, worin die Bedeutung des Problems für die Erforschung der gegenwärtigen gesellschaftlichen Struktur und ihrer Wandlungen liegt. [I-086]
Eine Gemeinsamkeit zwischen den Sympathien ist unschwer zu finden. Sie liegt in der Distanz zur bürgerlich-demokratischen Gesellschaft. Offenbar ist zumindest die Distanz notwendig, um überhaupt eine gesellschaftliche Struktur verstehen und aus den Zeugnissen von Mythen, Symbolen, Rechtsinstitutionen usw. entdecken zu können, falls diese Gesellschaft nicht nur in einzelnen Inhalten, sondern in ihren grundlegenden sozialpsychologischen Zügen radikal verschieden von der bürgerlichen Gesellschaft ist. Bachofen hat dies selbst sehr klar gesehen. In der Vorrede zu Das Mutterrecht (1954, S. 92) sagt er:
Die Erreichung eines solchen Resultats (gemeint ist das Verständnis der mutterrechtlichen Erscheinungen – E. F.) hängt hauptsächlich von einer Vorbedingung ab. Sie verlangt die Fähigkeit des Forschers, den Ideen seiner Zeit, den Anschauungen, mit welchen diese seinen Geist erfüllen, gänzlich zu entsagen und sich in den Mittelpunkt einer durchaus verschiedenen Gedankenwelt zu versetzen. (...) Wer die Anschauungen späterer Geschlechter zu seinem Ausgangspunkt wählt, wird durch sie vom Verständnis früherer immer mehr abgelenkt.